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Erster Band
Das erste Buch
V

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Kalte, winddurchsauste Nacht senkte sich über den Landflecken Bergen. In dem elenden Orte, der zwei bis drei Wegstunden von dem Sassensitze entfernt auf der höchsten Erhebung der Insel kauerte, war Kirmes abgehalten worden. Zudem hatten sich Gaukler gezeigt, die vom Hofe des Wolgaster Herzogs zurück wanderten, hinten auf dem Ringelplatz hatten Roßtäuscher die Gelegenheit benützt, ihr Vieh zum Verkauf anzubinden, und die herbeigeeilten Fischer und Bauern versäumten nicht die seltene Gelegenheit zu Spiel und Feier. Noch jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit trieben grölende und trunkene Haufen ihre grobe Kurzweil, ja, durch das Heulen des Sturmes schrillten lauter und ohrenbetäubender als vorher die Posaunen, Flöten und Trommeln der Wandermusikanten und Gaukler, denn diese leichten Vögel marschierten tanzend und springend an der Spitze einer Rotte, die sich eben begeistert und freudentoll zum Höhepunkt allen Vergnügens anschickte – zum Rauchspiel. Man hatte gottlob einen verwachsenen, halbnackten Bettler dabei erwischt, wie er ein Huhn unter seinen Lumpen verschwinden lassen wollte, und jetzt jagte man den Armseligen, der nur mühsam an seiner Krücke sowie auf einem Holzbein daherhumpelte, mit Ruten- und Stockhieben nach dem »Schütting«. Als man in dieser ehemaligen Räucherkammer angelangt war, entzündeten junge Burschen, denen das Amt als Auszeichnung überwiesen sein mochte, das auf den Fliesen der Hütte aufgeschichtete Laubwerk; der Hühnerdieb wurde an einem Querbalken bis unter das Dach des Raumes emporgezogen, und nun knisterten die brennenden Zweige, dicker Qualm wälzte sich an den Wänden hinauf, und es war spaßhaft zu beobachten, wie das Opfer nieste und hustete und durch allerlei Verrenkungen gegen das Ersticken ankämpfte.

»Kuck, Fiek,« meinte ein junger Bauer zu seiner andächtig emporstarrenden Braut, »das Luder hat ein Loch im Strumpf. Ich will ihn ein wenig an den Zehen kitzeln«.

Düsterrot, in langen blutigen Streifen fiel der Widerschein des Feuers durch die Ritzen der Hütte auf die Straße. An der fensterlosen Kalkwand des benachbarten Häuschens lehnten zwei Gestalten in unbeteiligter Ruhe. Ihre braune Fischertracht und die derben Tuchkappen unterschieden sie keineswegs von dem sich drängenden Menschenknäuel. Nur wer sie genauer musterte, konnte trotz der Dunkelheit in ihren blassen Gesichtern lesen, wie wenig sie von der allgemeinen Lustbarkeit angesteckt waren. Spöttisch grinste der Kleinere auf das rohe Getümmel, und wenn die Schreie des Geräucherten lauter herausdrangen, dann zuckte sein schlanker Gefährte vor Unmut oder Mitleid zusammen und konnte nur durch den festen Griff des anderen davon abgehalten werden, über den abstürzenden Weg in der Nacht zu verschwinden.

Um sie herum war Streit, Gelächter und Aufregung. Der Gott der ehrbaren deutschen Lust gönnte seinen Gläubigen neue Freude. Unter der Linde, die vor dem Rauchhaus ihre nackten Äste im Winde knarren und stöhnen ließ, zeterte der Bader des Ortes wütend auf einen Tabulettkrämer ein, weil ihn der Hausierer angeblich mit einem stumpfen Schermesser betrogen. Jauchzend stieß der breite Haufe die beiden Widersacher gegeneinander, reizte sie zu immer heftigeren Tätlichkeiten und fiel schließlich über den ortsfremden Krämer her, um ihn zur Sühnung seines Vergehens zu dem beliebten ‘Rasieren’ zu zwingen. Auf einem Fußknorren der Linde hockend und von zahllosen Fäusten festgehalten, mußte es sich der Gerichtete gefallen lassen, bei Fackelschein von dem gereizten Bartkratzer nach strengen Regeln der Zunft eingeseift zu werden. Aber statt Schaum ward ihm Unflat ins Gesicht geschmiert, und als Messer diente eine schartige Sichel, die ihr Werk mit Kratzen und Geräusch verrichtete.

Tosender Beifall übertönte das Ächzen des Geschundenen, und die Nacht verschlang den tanzenden Wirbel, der um die Linde herum tollte.

»Komm,« fröstelte Claus, indem er sich gewaltsam losriß, »wir wollen heim.«

»Schürzenband,« spottete der andere und lehnte ruhig weiter an der kahlen Wand, »behagt es dir nicht bei den Deinen?«

Der Junge verzog die Stirn, wie immer, sobald seinem Willen ein anderer entgegengesetzt wurde, dann jedoch kratzte er aufbrausend gegen die Mauer.

»Warum quälen sie sich?« warf er verstört hin. »Weshalb halten sie nicht Eintracht untereinander, da sie doch alle arme Schächer sind?«

»Warum?« Ein bissiges Kichern antwortete auf diesen Notruf eines grübelnden Gewissens, und während der Kleine pfeifend die Hände in seinen Ledergürtel schob, schien er sich innerlich über die Bedrängnis seines Schülers zu ergötzen. »Bist zu viel zu den Pfaffen gelaufen,« gönnte er ihm endlich. »Weißt du nicht, daß Priester und Herren nur so lange auf dem Buckel des Haufens da zu reiten vermögen, als er roh und unbelehrt bleibt? Wenn der abgetriebene Gaul schreiben und lesen könnte wie du, dann würde er leicht um sich schlagen und fürchterlich werden.«

»Was würde er dann tun, Heino?« flüsterte der junge Mensch unruhig. Es feuerte vor ihm aus der Erde. Nebelhafte Gebilde stiegen plötzlich aus dem kotigen Boden der Landstraße vor dem Erschauernden auf. Das Heil und der Segen, die dieser fiebernde Knabe nicht für sich, sondern für kommende Geschlechter traumhaft in sich trug, sie zogen in wirren Gestalten, preisend und betend über eine grüne Flur an ihm vorüber. Weihrauchfässer schaute er, Baldachine, Wagen beladen mit Brot, Korn und Wein. Aber an der Spitze des Zuges erblickte er einen Hochgewachsenen, geschmückt mit allen Zeichen des Glücks, fürstlich in Gold und Purpur gekleidet – das war er selbst.

Nahe unter der Linde tobten die dunklen Schatten immer zügelloser, aus dem Schütting trug man den halbohnmächtigen Bettler gerade zur Erholung ins Freie, doch Claus Beckera durchstieß mit seinen Blicken jene taumelnde Menge und schritt geisterhaft durch sie hindurch ins Weite.

»Was würde der befreite Haufe tun?« murmelte er von neuem.

Mit einbohrendem Verständnis und doch beinahe belustigt hatte Heino Wichmann das Versinken seines Schutzbefohlenen beobachtet, jetzt rüttelte er ihn derb an der Schulter, denn der genießerische Sinn des Kleinen verachtete nichts so sehr als das Vergessen von Zeit und Gegenwart.

»Was weiß ich?« stieß er spitz zwischen den Zähnen hervor. »Vielleicht würden deine wackeren Landsleute, wenn man sie aufweckte, auf den Einfall geraten, anstatt Schweine und Kühe einmal das sanfte Fell von Gräfinnen und Herzoginnen zu streicheln. Oder sie könnten darauf bestehen, das herrschaftliche Land nach einer neuen Ordnung zu vermessen; am Ende aber begnügen sie sich auch damit, den roten Hahn fliegen zu lassen. Was willst du? Das ist ein schnelles und munteres Tier.«

»Halt ein – so nicht – so nicht,« stammelte Claus aus seinen hohen Himmeln herabgeschleudert und warf entsetzt beide Hände vor. Ohne Übergang entdeckte der Fischersohn plötzlich wieder die betrunkenen Bauern um sich her, und eine unnennbare Sehnsucht befiel ihn nach der Einsamkeit des Meeres, nach Vater und Mutter und nach seinen schönen, schimmernden Gedanken. »Komm,« rief er inbrünstig, »laß uns gehen.«

Allein den Magister verdroß das vornehme Absondern seines Zöglings. Mächtig stachelte es seine Eigenliebe, weil die Unverdorbenheit des Jüngeren sich noch standhaft weigerte, jenes leichtsinnige Lotterdasein anzubeten, wie es der Kleine ohne Scham noch Reue für den einzigen Trost, für die allein lindernde Salbe einer sinnlos in die Welt geschleuderten und sich nun in Knechtschaft und Zwang verzehrenden Menschheit erkannt hatte. Wie kam der Bursche dazu, etwas Besseres erstreben zu wollen als Buhlschaft, Prasserei und Rausch? Soviel Anmaßung eines Unmündigen durfte nicht geduldet werden. Mit beiden Händen umklammerte der Strohblonde daher den Arm des Unschlüssigen und riß ihn mit sich.

»Wohin gehst du, Heino?«

»Ins Himmelreich, Bübchen.«

»Heino, ich traue dir nicht.« Er wollte sich loszerren. Doch den Kleinen überwältigte die Wut, heftig krallte er sich in den anderen ein und schrie mit einer Stimme, die nichts mehr von Mädchenhaftigkeit an sich hatte:

»Pfui Teufel, zieh dir ein Jungfernhemd an. Wer wird dir fürder noch die Beinlinge glauben? Schmach und Schande! Meinst du, die Welt brauche Männer, die aus einem Rosentopf wachsen?«

Da hatte er den Leichtbeleidigten, Ehrsüchtigen soweit, wie er beabsichtigte. Als ob ihm ein Peitschenhieb rund um den Rücken geknallt wäre, so bäumte sich Claus auf. Nichts mehr von Besinnung war in ihm. In diesem Augenblick wäre er über die Leichen von Vater und Mutter fortgesprungen, nur um den brennenden Schimpf zu widerlegen. Aber noch mehr geißelten den Atemlosen die Furcht und das Grauen vor dem Verlust von etwas Kostbaren. »Was kann das sein?« durchströmte es ihn noch, als ihn Heino Wichmann hinter sich her um die Ecke der kahlen Mauer herumzog. Er wußte es ganz gut und wehrte sich doch voller Schrecken gegen seine eigene Erkenntnis. Heulend warf sich den beiden Vorwärtstappenden der Wind entgegen, aus ihrer nahen Hütte kläfften zwei bösartige Hunde, und ein langer gelber Lichtstreifen zeigte den späten Gästen eine erleuchtete Kammer an.

»Hier läßt sich's wohl sein,« bestimmte Heino beinahe herrisch. Dann schlug er ein paarmal gewaltsam gegen die Bohlen der Holztür. »Macht auf, Menscher! Es gibt fürnehme Leute.«

»Eia,« rief eine helle Stimme, als die beiden Ankömmlinge eintraten. Eine blaue Wolke von Kiendampf wälzte sich ihnen entgegen. Hinten aus dem umnebelten Ziegelherd tanzten für die Nacht bereits unruhige Flammen, und in ihrem springenden Flackerlicht richtete sich mitten von dem Estrich, wo sie bisher gelegen, eine junge Dirne bis zur Brusthöhe empor, stützte sich auf die Ellbogen und ließ ihre neugierigen grünblauen Augen musternd auf den beiden Männern ruhen. Allein bald mußte sie einzig von der unberührten Schönheit des großen schlanken Burschen gefesselt werden, von seiner deutlich bemerkbaren Scheu und Unruhe, denn sie ließ eine gelbe Katze, mit der sie bis dahin offenbar zur Ergötzung der Gäste eine kosende Neckerei getrieben, von ihrem Schoß herabspringen, setzte sich auf der Diele zurecht und wiederholte mit allen Zeichen der Befriedigung noch einmal:

»Eia.«

»Becke,« ermahnte eine rauhe Weibsstimme, deren riesenhafte starkknochige Besitzerin neben dem Herd hockte, wo sie unausgesetzt eine Holzkelle in dem Kupferkessel herumwandern ließ, »wie oft muß ich dir sagen, du sollst nicht herumliegen und faulenzen, wenn gute Herren kommen? Bei Gott, ich dresche dir noch den Buckel voll.«

»Haltet Euer Maul,« widersprach das Mädchen völlig ungerührt und streckte der Wirtin sogar die Zunge entgegen. »Hat Euch der Stadtschreiber nicht erst neulich bedeutet, daß der Rat mich nicht missen will? Wer seid Ihr ohne mich, Ihr garstige Hexe?«

»Nun, mein Püppchen,« schluckte das Weib am Herd und schlug sich mit der Linken auf die gewaltige Brust, als ob sie dort ihren süßsauren Grimm einmauern müßte, zumal ihre übrigen Gäste, die unter einer tiefen Wandeinbuchtung saßen, bereits aufmerksam zu werden begannen. »Es freut mich weidlich, weil dir der Rat so wohlgewogen ist. Mußt aber auch hübsch auf dich aufpassen, damit es lange dauert. Und nun, mein Engel, steh auf und erkundige dich, was den Herren willkommen sei? Ein Krug Met? Oder Mostwein? Oder ein heißes Süppchen? Oder gar etwas anderes? Wir werden es an nichts fehlen lassen.«

Damit zwinkerte Frau Sibba, die Wirtin, mit ihren blau unterlaufenen Augen, die gerade noch hinter dem schmutzigen Kopftuch hervorglotzten, nach einer kleinen Nebenkammer, in der Claus nichts als ein zerwühltes Strohsacklager wahrnahm. Von der Decke schaukelte eine trübe Ölleuchte in einem halbzerbrochenen Scherben herunter, und ganz im Gegensatz zu all der Dürftigkeit war über das Fußende des Bettgestells ein rotseidener Fetzen mit eingewirkten Goldfiguren geworfen. Ein sichtliches Zeichen dafür, wie dankbar irgendein unsteter Seemann von hier geschieden.

»Steh auf, mein Täubchen,« ermunterte die Wirtin nochmals mit ihrer harten Knechtsstimme, denn die stumme Verzauberung der am Boden gefesselten, zottelhaarigen Becke dünkte ihr zu viel Ehre für zwei armselig gekleidete Fischer. Was konnten solche Netzflicker auch anderes als ein paar erbärmliche Pfennige in ihren Ledertaschen bergen? Wie hoch stieg indessen das Befremden der Hausmutter, als der kleine strohblonde Ankömmling mit einer zwischen Frechheit und Herablassung schwankenden Gebärde, wie wenn das Haus und die Kammer, die Weiber und die Atzung sein unbestreitbares Eigentum wären, sich zu der liegenden Dirne niederwarf, um sie dort vertraulich zu umschlingen und der Überraschten einen Kuß auf den entblößten Busen zu pressen.

»Wonnige,« schrie Heino Wichmann schallend durch den gedrückten Raum, »Wonnige.«

Die Gäste unter dem Mauervorsprung meckerten und klopften mit den Zinnkrügen ihren Beifall auf den Tisch. Die Dirne jedoch schlug lässig nach der tastenden Hand des Frechen, obwohl die Entrücktheit von ihr so wenig gewichen war, daß sie noch immer wortlos auf dem Estrich kniete. Aber während sie sich die Haare zurückschob, saugten sich ihre glänzenden Augen auffordernd und hungrig an dem blassen Antlitz des erstarrten Burschen fest. Gerade seine ungläubigen, kindlich verstörten Züge schienen ihr Mitleid zu erregen, denn die gemalten Lippen der Becke bewegten sich, als ob sie diesem eigenartigen Besucher Trost zusprechen wollte.

»Fein's Bübchen,« murmelte sie unhörbar.

Da klammerte der Magister seinen Arm um den Hals des Mädchens, zwinkerte nur ihr verständlich nach seinem Begleiter hinüber und flüsterte der jetzt zur Aufmerksamkeit Gezwungenen etwas ins Ohr. Das mußte ihr glatt und lockend eingehen, lachend sprang sie empor, schob sich mit einem verstohlen wiegenden Gang bis zur Schwelle, wo sie dann plötzlich und unvermutet nach der Hand des unentschlossenen Gastes griff. Starke, pulsende Schläge hämmerten aus der weichen runden Frauenhand in die schreckgebundenen Glieder des Knaben hinüber, und doch – so unbändig wütete der letzte Kampf in dem zum Niederbruch Bestimmten, daß Claus noch in diesem Augenblick jähzornig die Faust hob, schwankend, ob er nicht die wohltuende und doch so peinigende Zärtlichkeit mit einem Hieb in das rotwangige Gesicht vergelten sollte.

Wirklich, schon spannte er den Arm. Die Becke aber drängte sich noch dichter an ihn heran, überstrich ihn von unten herauf mit ihren blaugrünen Augen und sprach kosend:

»Komm – du Schöner.«

Da stand er ganz still und horchte in schmerzlichem Erstaunen auf solche nie gehörten Laute. Und während die Becke seine Reglosigkeit benutzte, um ihm schmeichlerisch die flaumige Wange zu streicheln, bis sie es endlich sogar versuchte, ihren Arm um seinen Nacken zu schmiegen, da meinte der Verwandelte ganz deutlich einen Strom zu spüren, der sein früheres Bild und seine lichte Vergangenheit mit sich forttrug. Düsteren, verzweifelten Blickes verfolgte der Fischersohn das Forttreiben seiner verlorenen Wesenheit. Ja, noch unter dem höhnischen Gekicher des am Boden hockenden Magisters hätte er am liebsten vor Jammer laut aufheulen mögen. Allein der Strom ließ ihn nicht mehr auftauchen. Plötzlich empfand er spitze Zähne an seinem Ohr. Auf einen ungeduldigen Wink des Strohblonden war die Dirne gewandt an dem Fischer in die Höhe gesprungen, jetzt trug er die vollen Weibsglieder rittlings auf seinen Armen, und rechts und links trafen ihn die raschen schmerzhaften Bisse. Die fraßen den letzten Rest seiner Gegenwehr hinweg.

Ein wilder, unnatürlicher Schrei der Entfesselung war es, der aus der Kehle des Burschen raste. Selbst Heino Wichmann horchte überrascht auf, als dieses gellend grausame Signal von etwas Neuem, bisher Unerhörtem aus der Brust seines so schwer zu brechenden Zöglings herüberschmetterte. Gleich darauf jedoch schüttelte der Kleine leichtmütig, wie stets, den sich leise regenden Zweifel ab, und sein heller Diskant überschrillte sogar noch das wüste Toben der anderen, als er jetzt vor Begeisterung mit den Füßen auf dem Estrich trommelte, weil er wahrnahm, wie Claus von Glut übersiedet seine Last an den Tisch schleppte. Dort warf er das Mädchen, dessen Arme sich nicht von seinem Halse lösen wollten, mit einem Krach auf die Platte. Ringsum spritzte es aus Kannen und Bechern! Die Becke aber lehnte schnell ihre Wange an die ihres Ritters, versetzte ihm verliebt einen Nasenstüber und flüsterte erregt, jedoch von den anderen ungehört:

»Jetzt nicht, Lieber. Aber bleib hier. Ich zeig dir was.« Damit sprang sie von dem Tisch herab.

Es war ein Bild, wie es später die nordischen Maler aus dunklem Hintergrund herausleuchten ließen, sobald ihnen des Daseins derbe, überschäumende Lust aus keckem Pinsel floß. Aber damals strahlte über der Kunst ein strenger, heiliger Himmel, und auch in der Wirklichkeit versteckten sich solcherlei Begebenheiten noch verstohlen in den finsteren Ecken übel beleumundeter Schlupfwinkel.

Der Magister hatte sich inzwischen in die Höhe gefunden. Jetzt riß er sich die Kappe vom Haupt, daß ihm die langen gelben Haarsträhne wirr auf die Schulter fielen, und schleuderte die Kopfbedeckung in die Luft.

»Laßt uns das hochzeitliche Paar in Wein segnen,« piepste er mit seinem tollen Sperlingsgezwitscher. »Ersäufen wir in der Trauben Blut all die verruchte Plackerei. Riecht ihr es nicht? In Frau Sibbas edlem Haus verbirgt sich die Freiheit. Greift sie, ihr Schindluder, ihr findet sie sonst nirgends.«

»Greift sie,« schrie auch Claus Beckeras besessene Stimme. Flüchtig erschrak der Bube, als er sich selbst hörte, als das Fremde wie mit einer klirrenden Schere in seinen Gedanken herumschnitt, allein gleich darauf stürzte er umnebelt der entwischten Dirne nach. Die schaffte gerade am Herd, als er nach ihr tastete. Bissig schlug sie ihm auf die Rechte, funkelte ihn an, denn dies Gebaren des Gesellen war ihr nicht fremd, und herrschte hochmütig:

»Jetzt nicht, du unflügges Huhn. Ich hab's dir gesagt.«

Und abermals stand Claus behext, horchte verwundert auf und schüttelte das schmale Haupt.

Unwirsch hatte bis jetzt die Wirtin das Treiben der beiden Fremden gelten lassen, jetzt endlich riß ihr die Geduld. Mit einem ärgerlichen Gehüstel erhob sie sich von ihrem Herdsitz, und siehe da, als sie stand, streckte sie sich empor wie ein langer Pfahl, auf dessen oberer Kante schmutziger Schnee liegt. Langen Schrittes fuhr Frau Sibba sodann auf den Magister zu, wobei sie es für angebracht hielt, dem kleinen, scheinbar so ungefährlichen Kerlchen ohne weiteres mit der Knochenhand in den halboffenen Kragen zu greifen.

»Wie steht es mit der Zeche?« wollte sie gerade zwischen ihren Zahnlücken liebevoll hervorpfeifen, da pluderte sich ihr Faltenrock kreisrund in die Höhe, und die von ihm bekleideten Glieder flogen, gleichsam geschleudert, auf den Holzhaufen hinter den Herd zurück. Wie es geschehen, das konnte sich keiner erklären, da alles durcheinander lärmte, aber sobald man durch den aufgestörten Kienqualm wieder hindurchschauen konnte, da tanzte der Strohblonde wie von Sinnen mitten in der Schenke herum, während er ein abgerissenes Glied seiner Goldkette hoch über dem Gelbkopf schwang. Dazu flötete Heino Wichmann, sich freundlich nach allen Seiten verbeugend, mit seinen süßesten Tönen, ob man ihn vielleicht auch jetzt noch daran hindern wolle, die hier versammelte Hundeheit durch Wein und Liebe von ihren Stricken abzubinden?

»Durch Wein und Liebe,« wiederholte Claus sinnlos und versank völlig in die vor ihm geöffnete Grube von Qualm und Glut. Die Becke wischte an ihm vorüber und küßte ihn anfeuernd auf den Nacken.

Das alles verschwamm vor dem schon Nüchtern-Berauschten und drehte ihn nur noch hilfloser in den kreisenden Wirbel. Was dann geschah, das tanzte vor ihm auf und ab. Bald hoch flackernd, bald zusammenstürzend wie die blauen Flammen des Herdes. Er sah sich im engen Drang auf die Bank vor den Tisch geschoben, und aus dem Zinnkrug duftete ihm gärender Met entgegen. Er leerte den Becher mehrmals, und seine Sinne gaukelten fortan wie Schmetterlinge über dem süßen Trunk. Warum konnte er diesen oder jenen Gedanken nicht mehr festhalten? Aufgescheucht versuchte er es, aber es gelang ihm um keinen Preis. Statt dessen mußte er den Gängen der Becke nachspüren, die den Gästen immer von neuem das Trinkgeschirr auffüllte, es zog ihn, in ängstlicher Neugier ihren kurzen Rock zu streifen, ja einmal brüllte er drohend auf, als die Dirne sich verweilend auf die Knie eines alten, kahlköpfigen Mannes niederließ, dessen feiner blauer Bürgerrock keineswegs hierher zu gehören schien.

»Was schiert dich, Bübchen?« hörte er zwar gleich darauf die Aufwärterin lachen. Unhörbar war sie herangeschlichen, jetzt beugte sie sich über den Vernunftberaubten und ihre Augen funkelten, als sie merkte, wie Reife und Knabenschaft in ihm Würfel spielten. Da umklammerte er erbittert die von Met und Hitze dampfenden Weibsarme, und schwankend zwischen Wut, abgründiger Verachtung und stöhnender Besessenheit bettete er sein Haupt an ihre Brust.

»Dummkopf,« sträubte sich die Eingefangene, »du reißt mir ja das Hemd.« Aber es klang doch keuchend, und nur schwerfällig entzog sie sich.

Entzückt über dieses schwindelhafte Werben hatte sich Heino Wichmann auf den Tisch geschwungen. Hier preßte sich das berauschte Kerlchen, obwohl seine zwiefarbigen Augen noch immer so frostig wie früher blinkten, die Rechte aufs Herz und sang mit seiner bohrenden Stimme einen Kehrreim, welcher zur Zeit der fatalen Münzverhältnisse unter dem zur Verzweiflung getriebenen Volke durch Dorf und Stadt lief:

»Dirn im Bett und Wenzels2 Geld – «

Und sofort wieherte der Chor zur Antwort:

»Was ist falscher auf der Welt?«

»Ihr seid ein Spaßvogel, Kleiner,« sagte die Becke durchaus nicht beleidigt.

Der Sänger aber strich ihr gönnerhaft über die Zottelhaare.

»Und du, ein schöner, fetter Bissen, Herzlein,« entgegnete er überlegen, »jedennoch, ich gönne dir alles Gute.«

Quirlende Pfiffe, die aus der Ecke schrillten, belohnten jenen anzüglichen Witz.

Und wieder tanzten vor Claus die blauen Flämmchen, und die Schmetterlinge über dem Met taumelten schwer und flugtrunken –

Nach einer Weile ging die Becke und schlug in der Nebenkammer, öfter über die Schulter zurückspähend, das zerwühlte Lager zurecht. Diese Pause benützten die bäuerlichen Zecher zu Flüchen und Verwünschungen über die gotteszerrissene Zeit. Da war zuerst der feine blaue Ratsherrnrock. Am Tage hatte der nackenfette, ewig schmunzelnde Glatzkopf die Stadtwage, sowie Recht und Sitte wahrzunehmen. Aber da ihm zu Hause ein zänkisch Weib eignete, das ihn schlug, so verargte es ihm keiner, wenn er abends Frau Sibba und die Becke besuchte. Er galt als Stammgast, und allerlei Vorrechte wurden ihm eingeräumt. Deshalb war er auch der einzige, der zufrieden und stillbehaglich in seinen Krug blinzelte. Ganz anders die Bauern, deren fünf bis sechs in galgenfröhlicher Verbitterung hinter ihren Töpfen lagerten. Zwischen den haarigen Kerlen schwelte es wie die Lust zur Verschwörung. Denn der Conaer Graf hatte, da er mit der Stadt Bergen im Streit lag, einfach die umliegenden Hufen besetzt, und jetzt führte sein Troß Vieh und Getreide des Landmannes fort als Wehrgeld für den Zug gegen die Freibeuter, so hieß es.

»Es verstößt gegen das gemeine Huferecht,« stöhnten die Gepfändeten, und drohend schrien sie den Ratsherrn an. »Gibt's denn kein Recht? – Gott verdamm mich, gibt's kein Recht?«

Der Dicke jedoch zuckte die Achseln und schwieg. Er wußte, wie wenig gegen Spieße und Armbrüste ein Pergamentfetzen etwas ausrichtete.

Mit weit aufgestemmten Armen lag Claus über die Tischplatte geworfen, sein glühend Antlitz hatte er auf beide Fäuste gestützt; und das Klagen und Jammern der Landleute floß in die Adern des Jungen hinein wie zischendes Blei. Es zerstach ihm das Hirn, es zerriß ihm die Augen, so daß vorübergehend sogar das Bild der üppigen Dirne aus ihnen herausstürzte; das unverstandene Drängen und Jagen des Burschen nach vom Himmel strömendem Segen, nach einem Wohlstand, der jedem gleichmäßig die Hand reichte, über welche kümmerliche Scholle er auch schritt, diese gierige Sehnsucht, die sich so ungleiche Schwingen geborgt hatte, die eine von den demütigen Lehren des Pater Franziskus, die andere von den stachelnden Einflüsterungen des kleinen Magisters, jetzt rissen ihn die starken Fittiche über seine irdische Besessenheit hinaus.

Drinnen in der Kammer walkte die Becke das Bett kräftiger, Claus Beckera jedoch überhörte die aufreizende Hantierung, denn Zorn und Mitleid hatten ihn längst an diese entrechteten Bauern gekettet, deren Plage ihm widersinnnig und unmenschlich erschien. Es war eine geschnürte, drohende Unruhe in seiner Stimme, als er sich jetzt flüsternd erkundigte, ob sich denn keiner der Vergewaltigten gegen das schreiende Unrecht zur Wehr gesetzt? Da warfen die Landleute scheue, betretene Blicke auf den unreifen Buben, aber endlich steckten sie die Häupter zusammen und wiesen mit Fingern auf einen untersetzten Mann am Ende der Bank. Der saß in seinem braunen Bauerngewand in sich versunken da, über den violetten Halskragen, der ihm das gefurchte Antlitz zum Teil verhüllte, war noch ein unscheinbarer Tellerhut gedrückt, allein selbst durch diese Vermummung hindurch hatte Claus aufgefangen, wie der Mann, so oft er sich unbeobachtet wähnte, zuweilen schwer vor sich hinseufzte. Bald griff der Einsame tastend nach dem kurzen Schwert an seiner Seite und von dort wieder unsicher nach dem Stiel einer Axt, die er zwischen seine Knie gelehnt hatte. Kaum aber bemerkte der Grübler die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit, als er zusammenschrak und der Wirtin heftig winkte, er wolle seine Zeche bezahlen.

»Tummle dich, Weib,« drängte er, indem er sich mißtrauisch in den Ecken umsah, bis sein unsteter Blick endlich auf einem zusammengeduckten Sprenkelbart haften blieb, auf einem schmutzigen Juden, der in seinem gelben Schandrock und der roten Zwangskappe müde auf einem Holzblock neben dem Eingang hockte, wo er von allen übersehen, gleich einem Stück Niemand, ruhig ein Näpfchen Suppe schlürfte. Der Mann mit der Axt jedoch schrie hämisch auf und schlug sich, wie in nagendem Grimm, den flachen Hut tiefer über das Haupttuch. »Für den da, für den verfluchten Juden bezahle ich mit,« rief er schneidend, während die tiefen Furchen in seinem braunen Sorgenantlitz zuckten. »Komm, Mauschel, bist der richtige Gesell für mich. Leck deine Schüssel leer, und dann fort.«

»Was ist mit dem Hebraicus?« unterbrach Heino Wichmann von seinem Tischplatz aus spürend. Die feinen Nasenlöcher des Kleinen witterten dabei wie die eines Jagdhundes, und sein ungleiches Augenpaar sprang die beiden Weggenossen so lauernd und zerfleischend an, daß jeder von ihnen unwillkürlich nach seinen Habseligkeiten griff.

»Was soll sein?« stammelte der Jude, indem er sich mühsam emporraffte. »Ich wandere.«

»Ja, und ich will dir auch sagen, warum,« kreischte die Sibba und riß ihm die Schale aus der Hand. »In Potthagen, wo du wohnst, da hat das große Sterben schon wieder angehoben. Und was steckt dahinter? Ihr Krummnasen, ihr Herrgottsmörder habt die Brunnen vergiftet. Ist es etwa nicht wahr? Man sollte dich totschlagen, du garstiges Gewürm.«

Ein einziger, ein heulender Schrei kam von den gereizten Bauern. Geballte Fäuste fuchtelten in der Luft, und ein schwerer Steinkrug flog schmetternd gegen die Brust des Verhaßten. Welch eine Wollust, sein eigenes Leid abwälzen zu können. Stöhnend sank der Jude auf seinem Platz zusammen, und erst nach einer Weile vermochte er hervorzukeuchen:

»Gestern ist mein eigen Weib und mein Sohn verröchelt. Glaubt ihr –?« Er murmelte etwas Unverständliches.

Doch der Abscheu der Landleute tobte weiter.

»Stoßt ihn ins Feuer, den Mauschel, soll er uns vielleicht den schwarzen Gevatter an den Hals hetzen?«

Polternd sprangen die Männer hinter dem Tisch in die Höhe, ein fluchendes Getümmel umzüngelte alsbald das Opfer ihrer Wut, und der Angehörige eines aus den Reihen der Menschheit verwiesenen Stammes ließ seine schwarzen Augen ungläubig und doch bereits auf alles gefaßt von einem der Bedränger zum anderen rollen. Allein nirgends erspähte er Gnade, überall nur sinnlose Fremdheit und schäumenden Haß. Da – beinahe im letzten Augenblick – was war das? Da setzte etwas Wirbliges, Zappelndes, Strohblondes mit einem katzenhaften Sprung von dem Tisch bis dicht vor den Angegriffenen hin, ein helles Gelächter wurde aufgeschlagen, und merkwürdig, die kleine Kinderfigur schien plötzlich biegsam, wuchtig, stahlhart, wie eine gute Klinge, die sich zum Hieb erhoben. Im gleichen Moment freilich war auch Claus Beckera in das Gewühl geschossen. Ihn leitete kein besonderes Mitgefühl für diesen umstellten Juden, nur das stürmische Weh für alle Unterdrückten äußerte sich rückhaltlos auch hier. Es war eine wundervolle Bewegung, als sich jetzt die überragende Gestalt schutzbereit vorwarf, halb geschmeidig, halb gebieterisch. Dazu flammten die schwarzen Augen in einem dunklen, bannenden Feuer, und die metallische Stimme füllte das ganze Haus mit solch fortreißenden Wirbeln einer geschlagenen Trommel, daß selbst die Becke, die neugierig am Pfosten der Kammer lehnte, ihren Nacken von einem eigenartigen Schauder überkräuselt fühlte.

»Weh dem Armen,« schleuderte der zum erstenmal in eine wache Geisterwelt Entrückte seinen Angreifern entgegen, »weh dem Armen, der einen anderen Elenden entheiligt.«

Die Bauern sahen sich an, verstanden nicht und wichen vor der drohend gereckten Faust zurück. Eine Stille, ein Verstummen fiel in den Tumult, um gleich darauf durch ein quirlendes, sich überschlagendes Gelächter abgelöst zu werden.

»Hört – hört den Bußprediger,« schüttelte sich Heino Wichmann, und sein Lachen legte sich wie ein Wall vor den Juden. »Meint man nicht, das Bübchen möchte gleich Messe singen? Ja, das Pfaffendienern, das Kutten- und Pantoffellecken ist ein gut Ding. Aber nun verstattet auch mir ein Wörtlein, ihr Heufresser.«

»Was sagt er?« murmelten die Bauern, die es nicht begriffen, wie ein Zwerg es wagen könnte, sie zu beschimpfen.

»Ich sage,« fuhr der Kleine in ungetrübter Ruhe fort, während er gelassen vor dem Hebräer auf und ab wanderte, »daß ihr ein Querholz vor der Stirn tragt und Ochsen seid.«

Die Bauern rührten sich nicht und horchten. Selbst die Becke, die nur das Bild des glühenden Knaben verschlang, beugte sich vor.

»Ich dachte, ihr wolltet Edelwild jagen?« sprach der Magister schneidend weiter, und in seinen Augen funkelte eine aufreizende Flamme von Bosheit und verführerischem Aufruhr. »Ein Kesseltreiben gegen den zweibeinigen Schädling!? Oder meint ihr, diejenige Meute sei die beste, die sich selbst zerfleischt?«

Noch nie hatte Claus die aufwühlende Gewalt des Kleinen auf eine erregte Schar verzweifelter Männer überspringen sehen, jetzt fühlte er selbst, wie die glühende Aufreizung ihm den Atem stocken ließ und daß er im Moment nichts anderes war als ein zitterndes Blatt an einem Strauch, den der Wind zaust. Blätter, bewußtlos vom Sturm geschüttelte, raunende Blätter wurden auch die übrigen. Die Brüste dehnten sich, die wilden Augen richteten sich starr auf den einen, von dem eine unbegreifliche Losung auszugehen schien, selbst der Jude vergaß die ihm nahe Gefahr, denn taumelnd richtete er sich auf und ergriff seinen Ranzen.

»Wohin gehst du?« forschte Heino Wichmann unvermittelt wieder mit seiner weichen Mädchenstimme.

»Ich wandere,« versetzte der Gefragte hartnäckig.

»Ja, wir wandern,« wiederholte nun auch der Mann mit der Axt, der bisher wie im Traum gelauscht hatte. »Komm, Bruder.«

Allein ehe die beiden sich noch aus dem erstarrten Kreise lösen konnten, stand der Kleine plötzlich zwischen ihnen, und leise und doch mit unentrinnbarer Eindringlichkeit sagte er:

»Den einzigen, der dir die Flecken von der Axt fortwaschen kann, den findest du jetzt nicht. Der ist weit.«

Der Bauer wich einen Schritt zurück, stammelnd fragte er: »Wer ist das?«

»Wer?« Heino streckte ihm die Rechte entgegen, in die der andere, wie gezogen, einschlug. »Wer?« flüsterte der Kleine noch einmal. Und kaum verständlich, hinter Schauern von Anbetung und Geheimnis verborgen, hauchte er ihm ins Ohr:

»Der Gödeke – Gödeke Michael,

Der führt auf dem Schwarzschiff allein den Befehl.«


Eine Woge mußte in das Haus der Sibba geschlagen sein, die alles, was bis dahin aufrecht stand, unter sich begrub. Aus dem Strudel schlang es sich herauf wie die Stimmen von Ertrinkenden. Ein allgemeines brausendes Gebet, das brünstig durch das Dach gegen den Himmel stieg:

»Seine Brust ist wohl eine Elle breit,

Den Bedürftigen schenkt er Speise und Kleid!«


Noch heulte der Sturm, da geschah etwas Ungeahntes. Lallend, trunken von der Gewißheit, in eine Gemeinschaft eingeschlossen zu sein, so hatte der Hebräer die Axt an sich gerissen. Jetzt taumelte er auf den Holzblock, schwang die Waffe fieberhaft über die vielen Köpfe und besessen von einem starren, fanatischen Wahne kreischte er gellend:

»Und tragt ihr Armen am Leben schwer,

Das Recht und die Freiheit wohnt auf dem Meer.«


Und wieder erscholl es ihm zur Antwort, ernsthaft, schwer, feierlich, wie das Responsorium in der Kirche:

»Dort richtet die Reichen an Leib und Seel,

Der Gödeke – Gödeke Michael.«


Aber das letzte klang schon auf der Landstraße. Der Schwarm hatte sich, einer inneren Macht folgend, ins Freie ergossen. Alles, was sich ihm widersetzte, war fortgebrochen, nur die Becke und Claus befanden sich allein unter dem niedrigen Dach; beide angewurzelt, die Trümmer eines langsam sich fortspinnenden Traumes.

»Komm,« ermunterte endlich das Mädchen und streckte verstohlen die runde Hand nach dem Versunkenen aus. Allein schon die Berührung machte es lechzend und unsicher. Je länger sie mit dem schlanken, gänzlich inneren Liedern lauschenden Burschen allein blieb, desto mehr durchschlug sie das Bewußtsein, dieser große, stolze, widerwillige Junge mit den brennend schwarzen Augen, er gehörte nicht in das Geschlecht der sich am Boden wälzenden, viehischen Genüßlinge, die bis jetzt ihren Leib geplündert und verhöhnt hatten. In diesem wohnte noch eine verzweifelte Scham, eine gierige Andacht, die zugleich beten und doch das Muttergottesbild zerschlagen wollte. Und das lockte die Dirne über die gewohnten Grenzen hinaus, bis sie weich und nachgiebig wurde.

»Komm,« bat sie dringend, »du kannst nach deinem Willen tun.«

Es war eine heiße, betörte Menschenstimme, von der Claus aus seinen himmlischen Gärten hinweggejagt wurde. Wild, schmerzlich fuhr er auf.

»Was willst du?« stammelte er entsetzt, angewidert, denn in den brauenden Kiennebeln sah er, wie die entfesselte Brunst sich ihm gewohnheitsmäßig näherte. Nein, das nicht. Alles, was von Demut gegen seine Mutter in ihm lebte, alles, was er Feindliches in seinem eigenen Geschlecht barg, es empörte sich, und mit einem wuchtigen Stoß schleuderte er die Hingebungbereite vor sich nieder auf den Estrich. Ihren dumpfen Fall hörte er noch, dann befand er sich im Freien.

Draußen Dunkelheit, feuchte, pfadlose Nacht.

Aus den Erlen und Pappeln der Landstraße schwirrte es, feiner Sprühregen stäubte den abschüssigen Weg herauf, und vor den Füßen des Flüchtenden seufzte der aufgeweichte Lehm der Landstraße.

Wohin führte der Pfad? Claus wußte es nicht. Entschlußlos blieb er stehen, bot die Fieberstirn den kühlen Tropfen und lauschte. Von der Höhe züngelte ihm noch ein Feuerstreif aus den Fenstern des Häuschens nach, das er eben verlassen, und ganz weit, jenseits des Absturzes, wirbelten zerstückte Fetzen des sich entfernenden Bauerngesanges. Ja, das wollte er festhalten, daran wünschte er sich zu klammern. Aber während der Einsame versuchte, die bekannten Strophen aus keuchender Brust aufsteigen zu lassen, da verwirrte er sich. Vergessen, vergessen waren die Worte und Bilder, die er bis jetzt aufgebaut und errichtet. Dafür – er blickte sich wie gehetzt in der Finsternis um – dafür leuchteten überall aus den Schatten heraus weiße Arme, die ihn einfingen, und eine üppige Brust atmete, die ihn erdrückte. Er wollte sich wehren, er schrie wie ein Unsinniger, allein das weiße Gewoge erstickte ihn und kehrte ihn um. Vergebens, umsonst, getragen von flatternden Fittichen schoß er zurück – sprengte die Tür und sank wortlos der jauchzenden Dirne in die Arme.

Über dem Hause der Sibba erlosch das Sternbild des Jupiter.

2

König Wenzel von Böhmen.

Claus Störtebecker

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