Читать книгу Die Natur heilt - Georg Groddeck - Страница 5
Gelenke
ОглавлениеIch bin unversehens in die Besprechung der Gelenkerkrankungen hineingeraten, möchte aber, ehe ich darin weiter fortfahre, noch auf eine Form der Bruchverletzungen zurückkommen, die durch eigentümliche Umstände neuerdings häufig geworden ist, das ist das Abspringen eines Knorpelstücks innerhalb des Kniegelenks. Hier verbindet sich der Knochen- oder Knorpelbruch mit der Gelenkentzündung. Vorher muß ich jedoch einiges nachholen, was zum Verständnis nötig ist.
Jedermann hat wohl eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein Knochen gestaltet ist, daß man platte Knochen unterscheidet, wie sie am Schädel vorkommen, und Röhrenknochen, die den Gliedmaßen Halt geben. Der Röhrenknochen, mit dem wir es hier zu tun haben, trägt seinen Namen, weil er innen eine Höhlung hat. In ihr birgt sich das Knochenmark, das für die Blutbildung eine Bedeutung hat; umgeben ist der Knochen von der Knochenhaut, von der aus im wesentlichen die Neubildung des Knochens stattfindet. Da die Hauptaufgabe der Gliedmaßen nur durch ihre Beweglichkeit erfüllt werden kann, darf der Halt der Knochen nicht starr sein, wie es der Fall wäre, wenn ein einziger Knochen in ihrem Inneren läge, sondern es müssen mehrere Knochen aneinandergereiht sein, die dann mit Hilfe verschieden gestalteter Gelenke gegeneinanderbewegt werden. Dort wo zwei Knochen aneinanderstoßen, sind ihre Enden von einer glatten weißen Schicht überzogen, dem Gelenkknorpel. Damit die Bewegung ohne jede Reibung, so leicht wie möglich stattfindet, sind aber nicht nur die Knorpel spiegelglatt, sie sind auch noch durch eine Flüssigkeit, die Gelenkschmiere, geschmeidig gemacht. Das ganze Gelenk ist von einem starken Sack, der Gelenkkapsel, umgeben, die etwas oberhalb und unterhalb des Gelenks sich an die Knochen anheftet. Der Raum zwischen den beiden Knorpeln ist luftleer, so daß die Gelenkenden dicht aneinandergepreßt sind und nicht schlottern. Zweckmäßig geregelt wird die Arbeit des Gelenks durch Knochenvorsprünge, die die Bewegung auf bestimmte Richtungen beschränken und zu weite Ausschläge verhindern. In Gebrauch wird das Gelenk durch die Muskeln gebracht. Das ist in großen Zügen angegeben der Bau der Gelenke.
Für unsern Fall des Abspringens eines Knorpelstücks ist wesentlich, daß der Knorpel stets innerhalb der Gelenkkapsel liegt, daß also gleichzeitig der Knochen und das Gelenk verletzt werden. Die erste Folge des Unfalls ist ein Anschwellen des Kniegelenks durch Austritt von Flüssigkeit aus dem Kreislauf in die Gelenkhöhle. Es ist der übliche Anfang der Gelenkentzündung. Die Bedeutung der Verletzung liegt aber nicht in diesem Flüssigkeitserguß, der rasch zu beseitigen ist, sondern in dem Verhalten des abspringenden Knorpels. Legt sich das Stück gutwillig in irgendeiner Ausbuchtung der Gelenkkapsel zur Ruhe, so ist die Sache damit abgetan; es läßt sich dann auch leicht und verhältnismäßig gefahrlos entfernen, wenn die Bewegungsfreiheit allzusehr eingeschränkt ist. Schlimm wird es aber, wenn das Ding in dem Gelenk spazierengeht, sich bald hier bald da voll Tücke zwischen die Gelenkknorpel klemmt. Immer und immer wieder treten dann neue Ergüsse, neue Entzündungen auf. Dann ist wirklich schwer raten. Operation? Ja, damit ist man heutzutage rasch bei der Hand. Aber wer ein paarmal gesehn hat, was für böse Folgen die Operation unter Umständen hat, der entschließt sich kaum, dazu zu raten. Es ist nämlich manchmal sehr schwer, in den engen versteckten Räumen des Gelenks solch ein glibberiges, boshaftes Ding zu finden und zu fassen. So leicht die Operation ist, wenn das Knorpelstück festsitzt, womöglich von außen gefühlt werden kann, so gefährlich ist sie, wenn man es suchen muß. Das sind schwierige Entscheidungen, die den Arzt arg quälen können.
Ich sagte vorhin, daß diese Art der Unglücksfalle häufiger geworden ist. Wir verdanken diese Bereicherung unsrer Tätigkeit im wesentlichen den Schustern. Was ein richtiger Schuster ist, meint nämlich, daß die Zehen des Menschen überflüssige Anhängsel sind, die nur dadurch existenzberechtigt werden, daß sie mit Hilfe der Stiefelsohlen nach oben gebogen und für das Gehen unbrauchbar gemacht werden. Soviel ich weiß, kommt diese Mode, der Schuhsohle einen Schwung nach oben zu geben, aus Amerika. Tatsache ist aber, daß man schon durch zwanzig Städte reisen und alle Schusterwerkstätten abgrasen muß, um jemanden zu finden, der Stiefel mit flachen Sohlen bauen kann, mit Sohlen, die glatt auf der Erde ruhen. Es stimmt ganz fromm, wenn man abends spät durch die Korridore eines Hotels geht und da vor jeder Tür die Stiefel und Stiefelchen der mehr oder minder verschwenderischen und nichtstuenden Gäste ihre Spitzen flehend gen Himmel richten sieht, als wollten sie in nächtlicher Andacht gutmachen, was ihre Herren sündigten. Ab und zu sind allerdings durch irgendein sinnreiches und teuer bezahltes Holzinstrument die Spitzen niedergedrückt. Aber das hilft nichts; sobald der Schuh am Fuß sitzt, geht die Sohle nach oben und drückt die Zehen vom Erdboden weg. Sie ist eben falsch zugeschnitten.
Alle Sohlen werden falsch zugeschnitten; denn wer sich einbildet, für seinen Fuß werde extra eine Sohle zurechtgemacht, weil etwa der Schuster auf Papier den Umriß seines Fußes aufgezeichnet hat, der täuscht sich. Die Sohlen werden im großen mit der Maschine zugeschnitten und immer in einer Form, daß die Zehen nicht auf die Erde kommen können. Nun versuche man einmal, barfuß mit hochgezogenen Zehen zu gehen. Das ist ein sehr mühseliges Geschäft, und schon nach dem ersten Schritt erkennt jeder, daß die Zehen vom lieben Gott gemacht sind, damit sie die Erde gewissermaßen greifen. In dem modernen Schuh können aber nur die Fersen und die Ballen beim Gehn und Stehn benutzt werden, wie sich jeder überzeugen kann, wenn er seine nur einmal getragenen Schuhe ansieht. Der vordere Teil der Sohle ist auch nach stundenlangem Gehn noch wie neu. Anfangs ist das nicht unbequem, weil die aufwärts gekrümmten Zehen in dem Sohlenleder einen Halt haben. Auf die Dauer wird es aber unbequem, und dann geben mir die erfindungsreichen Schuster eine Einlage unter dem Vorwande, daß ich einen Plattfuß habe, eine Beleidigung, für die der Mensch keinen Sinn mehr hat. Im Gegenteil, er erzählt es noch andern, daß er eine Einlage trägt, mit andern Worten, daß er plattfüßig ist.
Abgesehn von der Unbequemlichkeit ist die Sache gefährlich, es ist ein wohl ausgesonnenes Attentat auf die Gesundheit der Menschen. Da ist zum Beispiel das Springen. Es wird freilich immer seltner, daß der Körper anders als spazierenstehend bewegt wird, wenigstens unter den Leuten, die denken, sie sind gemeint, wenn von der Allgemeinheit gesprochen wird, unter den Gebildeten. Aber hin und wieder springt doch noch jemand von einer Leiter oder einem Stuhl herunter. Das sollte nun ein jeder einmal mit hochgezognen Zehen probieren, dann würde er sofort einsehn, warum jetzt die Absplitterung der Knorpel im Kniegelenk häufiger geworden ist. Die Beine federn so nicht, beim Aufspringen gibt es einen gewaltigen Stoß, ein hartes Aufprallen. Nun denke man sich hinzu, was ich vorhin über die empfindlichen Stellen in der Fußsohle sagte, wie scharf der Fuß empfindet, ob irgendeine Unebenheit des Bodens seinen Schmerzpunkt bedroht. Er sucht auszuweichen. Er tut das auch im Moment des Aufspringens. Aber da ihm das wichtigste Hilfsmittel des Ausweichens, die Federkraft der Zehen, durch die verruchte amerikanische Mode genommen ist, führt er es ungeschickt aus, das Kniegelenk wird schiefgerichtet, und bei dem harten Aufprall splittert der Knorpel ab.
Schließlich sind solche Verletzungen immer noch selten, und vielfach nehmen sie einen gutartigen Verlauf. Schlimmer ist folgendes: Bei bestimmten Menschen – es handelt sich namentlich um solche, die einen ganz hellen Teint haben und leicht die Farbe wechseln, warum das gerade bei denen ist, werde ich später zu erklären suchen – werden diese aufwärts gekrümmten Zehen zum Ausgangspunkt für schwere Gelenkerkrankungen, die bald unter dem Namen Gicht, bald Polyarthritis, Arthritis deformans, chronischer Gelenkrheumatismus und so weiter gehn. Sie haben dann dasselbe Amt, das vor etwa zehn Jahren und auch jetzt noch vielfach die nach innen abgedrängte große Zehe hatte, der vortretende Ballen des Fußes, wie man es wohl nennt. Der ist recht alt, ich besinne mich, ihn auf Gemälden von Perugino und Raffael bei Engeln gesehn zu haben, ein Zeichen, wie lange schon an den Menschen herumgeschustert wird. Aber daß gleich alle fünf Zehen mißhandelt werden, ist außer der Zeit der Schnabelschuhe wohl bloß unsrer hohen Kultur vorbehalten geblieben.
Bei diesen Folgen künstlicher Verkrüppelung länger zu verweilen, lohnt sich deshalb, weil sie wenigstens für einen Augenblick, etwa wie ein Blitz wirkt, den Weg ahnen lassen, der zu den Tiefen menschlicher Dinge führt. Mehr als ein Gewahrwerden dieses Weges ist unsrer Zeit noch nicht gestattet, und es fragt sich, ob überhaupt irgendwer tief hinabsteigen wird. Aber genug Klarheit, um im Leben sich als tätiger Mensch zurechtzufinden, die kann man erwerben, und darauf kommt es für Menschen, wie wir es sind, Leute ohne außerordentliche Gaben und Aufgaben an.
Ich brauchte schon bei früherer Gelegenheit das Bild des Einrostens. Mit der Vorstellung eines seit langem nicht gebrauchten Türschlosses, an dem der Rost sich eingefressen hat, so daß es sich eher zerbrechen als schließen läßt, kann man sich die Vorgänge allenfalls verständlich machen. Wird ein Zehengelenk jahrelang nicht ausgiebig gebraucht, so lagern sich in seinen äußersten Teilen und Taschen, an denen eine Reibung nie stattfindet, feste Bestandteile ab, Reste unvollkommener Verbrennungsprozesse, Asche oder Schlacke, wie man es nun nennen will. An solchen Überbleibseln aus dem chemischen Leben des Körpers fehlt es nie. Sie bilden sich immer von neuem aus der Verwertung der Nährsäfte zum Aufbau und Wirken der Zellen, nur werden sie auch fortwährend von den Stätten ihrer Entstehung durch die kreisenden Flüssigkeiten des Organismus weggespült und schließlich von Nieren, Haut, Darm und so weiter ausgeschieden. In den Gelenken ist aber bei dem Mangel an Blutgefäßen der Flüssigkeitsstrom, der Schlacken wegspülen könnte, sehr langsam, sein Gefälle wird durch die Bewegung der Gelenke ersetzt, die teils wie eine Pumpvorrichtung, teils wie fein gestellte Mühlen wirken. Fällt diese Arbeit der Gelenkflächen längere Zeit fort, so bleibt in irgendeinem Winkel ein Aschenkrümchen sitzen, und an dieses schließen dann neue Kristalle an. Schließlich ist der Winkel mit Schlackenstoffen vollgepfropft, und wenn sich noch mehr ablagern, geraten sie zwischen die notwendig gebrauchten Gelenkflächen. Das kann der Körper nicht dulden, und er versucht sofort, das Korn, das auf den Knorpel drückt, loszuwerden, genauso wie wir den Kiesel, der in den Schuh geschlüpft ist, entfernen.
Das Verfahren, das er dazu einschlägt, ist ähnlich dem, das wir am Auge beobachten können, wenn auf der Eisenbahn oder sonstwie Ruß hineingeflogen ist. Das Auge schmerzt, rötet sich und tränt. Es sucht den fremden Körper wegzuschwemmen, was auch meist gelingt, wenn der Mensch nicht täppisch durch Reiben das Werk der Natur stört; meist ist nichts weiter nötig, als daß man das untre Augenlid herunterzieht und längre Zeit stark nach oben sieht, das übrige besorgt das Auge selbst. Ähnlich geht es zu, wenn ein Salzkorn, ein Aschenteilchen zwischen den Gelenkflächen sich festsetzt. Zunächst entsteht der Schmerz, der den Organismus benachrichtigt, daß etwas in Unordnung geraten ist. Sofort erweitern sich die Blutgefäße in der Umgebung des Gelenks, um mehr Flüssigkeit herbeizuschaffen, das Gelenk wird rot und prall, und in das Innere wird Flüssigkeit ausgeschieden. Das fremde Korn soll aufgelöst oder weggeschwemmt werden. Das geht aber nicht so leicht wie beim Auge, wo die Tränen nach außen abfließen und dabei leicht das Stückchen Kohle mit wegnehmen. Denn das Gelenk ist nach außen ganz durch die Gelenkkapsel abgeschlossen. Nach tagelangem Abmühen – der Gichtanfall, um den es sich hier handelt, dauert unter günstigen Bedingungen immerhin mehrere Tage, kann sich aber bis zu Wochen und Monaten hinziehen –, nach vielen Mühen ist endlich das Stückchen Salz aufgelöst oder weggeschwemmt oder wenigstens von der Flüssigkeit in einen Winkel des Gelenks getragen, in dem es die gewohnten unentbehrlichen Bewegungen nicht mehr stört. Damit tritt Ruhe ein, bis sich von neuem etwas Schlacke zwischen die Bewegungsflächen verirrt und das Spiel wieder beginnt.
Nun ab und zu einen Gichtanfall, das kann der Mensch schon vertragen, kann es als Strafe für seine Sünden ansehn, pflegt ja auch dann eine Zeitlang das Saufen zu lassen, was ihm in vieler Beziehung nur nützlich sein kann. Aber leider geht es oft nicht so glatt ab. Es gelingt dem Körper nicht immer, das Salzteilchen wegzubringen, und wenn das eine spitzige Form hat, eine Kristallnadel ist, dann bohrt es sich in den Knorpel ein. Sowie das geschehn ist, stellt der Körper seine Spülversuche ein, der Anfall verklingt, das Endchen Kristall, das aus dem Knorpel herausragt, bricht ab und die Bewegung wird wieder frei. Allerdings im Knorpel bleibt die Spitze des Kristalls stecken, die glatte Fläche des Knorpels ist an dieser einen Stelle für immer zerstört, und es dauert nicht lange, so hat sich dicht daneben oder gegenüber ein zweites Nädelchen eingebohrt, und so geht es fort, bis Hunderte davon eingespießt sind, ja bis die ganze Knorpelfläche zerstört ist. Es gehört nicht viel dazu, um zu begreifen, daß solch ein Gelenk ohne Knorpel wenig oder gar nicht zu brauchen ist. Ja es wird, sich selbst überlassen, bald ganz steif sein, da sich nun unter der Wirkung des beständigen Reizes massenhaft Salze in dem Hohlraum ablagern, die schließlich das Gelenk ummauern, ihm durch starre Massen von innen aus ganz ähnlich seine Bewegungsfähigkeit nehmen, wie das der Gipsverband von außen tut.
Auch das läßt sich noch ertragen. Was liegt daran, wenn ein paar Zehengelenke steif werden? Bei unserm niederträchtigen Schuhwerk gehört das zum Alltäglichen. Der Körper ist geschickt genug, er weiß sich ohne die Zehen zu behelfen, und der Mensch merkt nicht einmal etwas davon. Er merkt es oft jahrzehntelang nicht. Denn wohlverstanden, die ersten Anlange solcher Verkrüppelungen der Gelenke liegen etwa im dreizehnten, vierzehnten Lebensjahr, die Folgen aber – man kann sie sich vielfach nicht schlimm genug vorstellen – kommen meist erst in der großen Wendezeit des Lebens zwischen vierzig und fünfzig Jahren zum Vorschein. Denn um das gleich vorwegzunehmen, nicht nur Frauen haben ihr gefährliches Alter, ihr Klimakterium, ihre Wechseljahre oder wie man es sonst nennen will; die Männer haben dasselbe zu durchleben, nur fehlen bei ihnen die stürmischen und jedem sichtbaren Erscheinungen. Warum diese unheimlichen Gelenkerkrankungen gerade in den Wechseljahren auftreten, wird später einigermaßen verständlich werden.
Man kann sich die Folgen nicht schlimm genug vorstellen, sagte ich. Es kann nämlich sein – und es ist recht häufig –, daß solch ein steifes oder schwer bewegliches Gelenk doch einmal bewegt werden muß, dann brechen unregelmäßige Stücke der Ablagerung ab und gelangen in den Kreislauf der Säfte. Meist werden sie dort rasch vernichtet. Aber da dieses Abbröckeln ein alltägliches Vorkommnis ist, so kommt es im Lauf der Jahre einmal dazu, daß solch ein abgebrochenes Stück vor seiner Zerstörung in ein anderes Gelenk verschlagen wird, etwa in das Kniegelenk oder in die Handgelenke, in die Ellenbogen oder Schultergelenke. Dann setzt sofort derselbe Prozeß, der sich in den Zehen abgespielt hat, auch dort ein, nur verläuft er sehr viel rascher, da das abgebrochene Stück, das in das Gelenk hineingerät, viel größere Dimensionen hat als die allmählich gebildeten Salzkörnchen in den Zehen. Auch das Gelenk wird gichtisch und erkrankt bald öfter, bald seltner, bald kürzer, bald länger, aber es wird kaum je wieder gesund, und je kleiner, enger es ist, um so leichter wird es steif. Daher die vielen steifen Handgelenke. Bald kommt ein drittes, ein viertes Gelenk an die Reihe, und schließlich gibt es kaum ein einziges gesundes mehr. Diese unglücklichen Menschen können – vom Gehn gar nicht zu reden – nicht mehr sitzen und liegen, denn ihre Knie sind spitzwinklig gekrümmt, die Hüftgelenke versteift, sie können nicht mehr die Arme regen, sind ganz auf fremde Hilfe angewiesen, sie können den Kopf nicht drehn oder heben, sie schrumpfen zusammen, verkrümmen in ihrer ganzen Gestalt und haben dabei unausgesetzt Schmerzen. Sie sind die elendesten Wesen, die man sich denken kann, und gehn elend zugrunde.
Ich bin kein Freund vom Bangemachen, aber ich sollte denken, wenn unter tausend Menschen nur einer so schauderhaft erkrankt, bloß weil es den Schustern einfällt, schlechte Schuhe zu bauen, so wäre das schon genug, um meinen ausgeprägten Haß zu begründen. Ich möchte hier auch noch ein Wort an die Frauen und was ihnen ähnlich ist, richten, die sich so liebevoll des Spruchs vom Jahrhundert des Kindes und vom Recht des Kindes annehmen. Nächst Nahrung und Wohnung hat das Kind vor allem ein Recht auf Kleidung. Mit diesen Dingen fängt die Erziehung an, und wer zu faul oder zu geizig ist, seinen Kindern Schuhwerk zu verschaffen, dem würde ich raten, sie lieber barfuß herumlaufen zu lassen. Es ist nicht bequem und auch nicht billig, für wachsende Füße passendes Schuhwerk zu finden, das weiß ich. Aber es ist immerhin noch ein Gutteil wichtiger als die Kunst des Kindes zu pflegen oder ihm gutes Benehmen beizubringen. Man bedenke, daß Kinder sich nicht selber Schuhe aussuchen können, und daß sie es den lieben Eltern zu danken haben, wenn sie gichtbrüchig werden.
Das ist die eine Seite der Sache, die ich so ausführlich besprochen habe. Ich wollte einmal Front gegen die Phrase machen, mit der der gesunde Menschenverstand der Eltern durch vielschreibende Erziehungspäpste verwirrt wird. Der andre Grund für meine Weitschweifigkeit ergibt sich von selbst. Der Verlauf der gichtischen Erkrankungen ist ein typisches Beispiel für sogenannte Naturheilungen. An ihnen kann jeder, nicht bloß der Arzt, lernen, wie behandelt werden soll. Die Aufgaben liegen zutage. Zunächst kommt es darauf an, die Ablagerungen zu verhindern, wenn sie aber schon da sind, sie aus dem Gelenk herauszuschaffen und schließlich den Körper ganz von Schlackenstoffen zu befreien. Das erste Ziel ist kaum zu erreichen, da die Fehler der Kleidung und Ernährung meist schon im frühesten Alter begangen werden. Immerhin ließe sich manches darüber sagen, und es ist ja bekannt, daß die Diätvorschriften eine große Rolle in der ärztlichen Behandlung dieser Leiden spielen, eine allzu große; denn nicht alles, was säuft, bekommt Gicht, und nicht alles, was Gicht bekommt, säuft. Und mit dem Verbot gewisser Fleischsorten ist auch noch nicht viel getan. Da lohnt sich das Hochlagern der Füße und die Sorge für das Schuhwerk besser. Auf die Mittel und Wege, die Verbrennungsprozesse so anzuregen, daß möglichst wenig Reste übrigbleiben und die Asche rasch hinausbefördert wird, werde ich noch oft zu sprechen kommen.
Die wichtigste der drei Aufgaben – sie sind alle wichtig – aber die wichtigste ist die, die erkrankten Gelenke wieder frei beweglich zu machen. Wenn man nun bedenkt, daß die beliebteste Behandlung von Gelenkentzündungen der Gipsverband oder irgend etwas ähnliches ist, dann möchte man fast die Geduld verlieren. Fast, man gewöhnt sich als Arzt an vieles. Das Ruhigstellen des Gelenks auf längere Zeit ist oft – man kann fast sagen – ein Verbrechen. Ab und zu hat es ja Sinn; bei bestimmten Erkrankungen – etwa tuberkulösen – ist es sogar notwendig. Meist aber ist es falsch. Sind Ablagerungen in den Gelenken, so können sie nie und nimmer durch Ruhe beseitigt werden, sie können auch nie und nimmer durch Trinkkuren aufgelöst werden, auch nicht, wenn man dem Objekt der Mißhandlung sämtliche Wässer der Welt durch die Nieren jagt, sie können nur durch rücksichtsloses, unter Umständen brutales Bewegen der Gelenke nach allen Richtungen, vor allem nach den schmerzhaften, zerrieben, abgebrochen, zermalmt werden. Drehen, Biegen, Strecken selbst beim größten Schmerz, selbst bei der höchsten Entzündung, das ist erstrebenswert. Vielleicht muß man einen Tag warten, vielleicht für Stunden das Gelenk feststellen, aber um das Bewegen kommt man nicht herum. Und man vergesse nicht, auch die gesunden Gelenke zu bewegen, sonst hat man auf einmal bei der Überschwemmung des Körpers mit abgelagerten Schlackenstoffen die schönste Entzündung in einem bisher gesunden Gelenk.
Gelenke müssen gebraucht werden, das ist die Hauptsache. Unsre Zivilisation, die sich Kultur nennt, im Grunde aber nur der Faulheit der Menschen Vorschub leistet, hat eine ganze Reihe von notwendigen Gelenkübungen aus dem täglichen Leben verbannt; sie müssen wieder absichtlich in unsere Gewohnheiten eingefügt werden. Ich möchte an einigen Beispielen klarmachen, was ich meine. Da ist der Stuhl, gewiß ein sehr bequemes Möbel. Aber er hat eine zu große Anziehungskraft, der Mensch bleibt darauf kleben, er versitzt sein Leben. Man sollte alles, was sich im Liegen oder Umhergehn tun läßt, auch so ausführen, etwa den Unterricht möglichst ins Freie legen und im Wandeln, peripatetisch erteilen. Die Alten taten es vielfach. Sie aßen auch liegend, und wir täten gut, ihnen darin nachzuahmen. Die Gewohnheiten unterbrechen, das ist eins der vornehmsten Heilmittel.
Der Mensch ist in gewissem Sinne das Produkt seines Lebens. Seine Gewohnheiten machen ihn krank. Und wie kann sich irgendwer rühmen, frei zu sein, wenn er der Sklave seiner Gewohnheiten ist? Da sind die guten Wege, die elektrischen Bahnen, die Eisenbahnen. Warum soll der Mensch noch steile Pfade bergauf und bergab klettern, wenn er das gleiche Ziel auf gebahnter Chaussee gleichsam spazierenstehend oder gar im Wagen sitzend erreichen kann? Warum soll er den Graben überspringen, wenn ein Steg da ist, vorsichtig über das Moor sich tasten, wenn ein Fahrdamm gebaut ist? Warum soll er Treppen steigen, wenn in jedem Hause ein Lift fährt? Warum vom Brunnen Wasser schleppen, wenn im Nebenraum die Wasserleitung liegt? Warum hungern und dursten und seine Zähne an harten Rinden abmühn, wenn er Nahrung vollauf hat und der Bäcker ihm morgens weiches, weißes Brot in die Wohnung schickt? Aber der Mensch braucht die Anstrengung, wenn er nicht bei lebendigem Leibe verfaulen will. Er ist wie ein Apfel, der auf dem Stroh zum Reifen liegt, er muß gewendet werden, damit nicht immer nur eine Stelle gedrückt wird.
Das Schlimmste jedoch ist die Einseitigkeit der Arbeit, die uns die Kultur gebracht hat. Man suche es doch zu verstehn, was es heißt, daß der Mensch seine Finger und Knie stets gebeugt hält, das muß zur Versteifung führen, es geht gar nicht anders, es führt auch zu schlimmerem, wie ich schon früher erwähnte. Und jener russische Arzt, der seinen Patienten täglich eine bestimmte Anzahl Gebete zu den Heiligen verschrieb, war nicht dumm; denn die griechische Kirche befiehlt, daß der Betende sich bei bestimmten Worten auf den Boden wirft und mit der Stirn die Erde berührt. Das ist ein Mittel, mehr wert als alle -ine, -ale und -ole, mit denen uns die Chemie beglückt.
Einen wichtigen Punkt in der Behandlung von Knochen- und Gelenkleiden der Beine, der oft übersehn wird, möchte ich noch erwähnen, das ist die Frage nach dem Körpergewicht des Kranken. Eine mehr oder minder starke Gewichtsabnahme ist unter Umständen für die Genesung entscheidend. Niemandem wird es einfallen, mit einem vollbeladnen Wagen weiter zu fahren, wenn eins der Räder unsicher wird. Er wirft die Ladung des Wagens erst einmal heraus, ehe er irgend etwas mit dem Rade anfängt. Leider gibt es nur wenige, die auf eine so einfache Sache auch beim Menschen achten. Und doch ist es klar, daß man ein krankes Bein nicht ebenso belasten kann, wie ein gesundes. Man bleibt ja auch nicht auf einem Stuhl sitzen, dessen Bein wackelt. Ist es da so schwer zu begreifen, daß ein verletztes Bein leichter seine alte Gebrauchsfähigkeit erlangt, wenn es zehn Pfund weniger zu tragen hat, ja daß es vielleicht gar nicht gebraucht werden kann, ehe nicht diese zehn Pfund – oder fünfzig, je nachdem – weggehungert sind? Man stelle sich nur einmal zehn Pfund Butter vor, man schaue sich die Schwerfälligkeit einer Frau kurz vor der Entbindung an, oder man hänge sich als gesunder Mensch einen Sack von zehn Pfund auf den Buckel. Man wird den Unterschied schon merken.
Was tut aber der gebildete Mensch, wenn er mit gebrochnem Bein ein paar Wochen lang im Bett liegt? Er frißt sich voll. Schon aus Langerweile tut er es. Und dann sind ja die lieben Verwandten und Freunde da, die allerhand Leckerbissen mit bringen, oder zur Gesellschaft mit dem armen Bettlägrigen einen feuchtfröhlichen Bierskat spielen. Daß ein Beinkranker mit schlankem Körper ins Bett kommt und als plumper Koloß mit Bauch wieder aufsteht, ist nicht selten. Und dann wundert er sich noch, daß er nicht sofort wieder gehn kann. Seid nicht Diener des Bauchs, heißt es in der Bibel.
Auch gegen das Stocktragen der Lahmen muß ich mich verwahren. Manchmal ist er unentbehrlich, aber dann ist er eben ein notwendiges Übel. Meist verlangsamt er die Heilung und gehört ins Feuer, direkt ins Feuer, wie der Schnürleib auch, sonst greift der Kranke doch wieder danach. Und dann tut dem Manne auch die symbolische Handlung, in der gleichsam die Erkrankung mit verbrannt wird, seelisch gut. Er macht sich mit frischem Mut und guter Zuversicht ans Gehnlernen, und was nur langsam fortschritt, wird nun von Stunde zu Stunde besser.
Ein krankes Bein will geübt sein. Nur müssen die Übungen von kurzer Dauer sein und häufig wiederholt werden. Zehnmal fünf Minuten gehn ist für den Lahmen nützlicher, als einmal eine Stunde. Es kommt nicht darauf an, das Bein zu ermüden, sondern es durch Übung zu kräftigen.