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Vom gesicherten und ungesicherten Leben
ОглавлениеSeit Jahren habe ich den Wunsch, über das gesicherte und ungesicherte Leben zu schreiben; aber ein inneres Bangen hat mich immer wieder davon abgehalten, es zu tun. Denn ich fühlte, es stand viel dabei für mich auf dem Spiel. Mehr als viel: alles. Es war ‚meine‘ Sache, die ich hier führen wollte, meine eigenste Lebenssache, war der letzte schlummernde Grund meines Seins, den ich hiermit aufrühren wollte. Etwas war es, das einmal gesagt werden musste und von dem ich doch stets empfand, dass ich ihm nicht die gehoffte Form geben konnte — weil ich es eben nur wie einen Albdruck gefühlt und nie im reinen Licht der Erkenntnis erblickt hatte. Und trotzdem, weiss ich, würde es mich noch in letzter Stunde reuen, mit stummen Lippen geblieben zu sein, als hätte ich eine Lüge und Feigheit damit begangen.
Aber immer fragte ich mich, wie sollte ich über das gesicherte und ungesicherte Leben mich äussern können, da ich ja das eine, das gesicherte, nie kennen gelernt habe, davon reden würde, wie der Blinde von der Farbe, mit Übertreibungen, mit Unmöglichkeiten, mit Ungerechtigkeiten.
Und weiter sagte ich mir, die, alle die vom gesicherten Leben würden ja gar nicht verstehen, was ich eigentlich meinte, und die wieder vom ungesicherten Leben werden nicht begreifen, warum ich über so alltägliche Dinge spreche, die sie sich längst an den Schuhen abgelaufen haben, und die ihnen so selbstverständlich sind, dass sie es sich abgewöhnt haben, darüber nachzudenken. Denn das eine schien mir erwiesen: genau so wie die Erde in eine nördliche und in eine südliche Hälfte zerfällt, und es auf der einen Sommer ist, zur Zeit, da es auf der anderen Winter ist, so ist die Menschenwelt in zwei Hemisphären geteilt, die vom gesicherten und die vom ungesicherten Leben. Und bei der einen ist Sommer, wenn es bei der anderen Winter ist — und umgekehrt. Sie verstehen sich nicht, sie kennen sich nicht, sie leben nebeneinander her und reden verschiedene Sprachen des Gefühls. Jedes Wort hat andere Resonanz, wächst aus anderem Urgrund — und keinen Sachs-Villatte gibt es, mit dessen Hilfe man es von der einen Sprache in die andere übertragen könnte. Ein Äquator trennt beide Welten. Nicht unüberschreitbar, aber man wird getauft, wenn man ihn passiert. Gewiss, es bleibt noch eine dumpfe nebelhafte Erinnerung an die alte Ursprache des Seins zurück, so wie unsere Eichen unten im Süden noch ein paarmal die Blätter abwerfen, wenn es in ihrer alten Heimat Herbst wird, und Bananen bei uns vielleicht blühen, aber kaum Frucht ansetzen. Gewiss ... aber das wird schnell übertönt durch die neue Gegenwart.
Scharf getrennt also — so sage ich — ist das gesicherte und das ungesicherte Leben. Geschieden durch Welten und Meere sind ihre Anhänger und Bekenner. Das heisst, sie sind meist Anhänger und Bekenner, ohne es sich gewählt zu haben, hineingeboren, hineingestellt. Der Kolibri flatterte und schwirrte nicht in der ganzen Welt umher und suchte sich endlich Brasilien als Heimat aus, sondern Brasilien schuf sich den Kolibri, ebenso wie Spitzbergen sein Weidengestrüpp und seine Zwergbirken, die einen kurzen Sommermond zwischen Steinen und am Rande der Gletscher den melancholischen Kreislauf ihres Daseins erfüllen.
Ja, wird man fragen, wie kann der hier denn mit Begriffen hantieren, die ganz vage und ungeklärt sind! Was heisst denn gesichertes und ungesichertes Leben? Ist es nicht tief in der Wesenheit alles Lebens begründet, dass es ungesichert ist? Ist nicht jedes Leben ein Gehen über schwankem Sumpfboden? Einmal kommt doch die Stelle, da man durchbricht und ins Bodenlose versinkt. Selbst eine Riesenschildkröte, solch ein lebendes Panzerfort, das durch Jahrhunderte den gleichen milden Stumpfsinn seines kühlen Daseins verträumt, selbst ein Drachenbaum, der durch ein Jahrtausend die brennende Glut Teneriffas in sich eintrinkt, sind endlich genau so ungesichert wie ein Käferchen, dessen Dasein sich an einem hellen Frühlingstag vollendet. Zum Schluss sind sie alle den gleichen Mächten unterworfen, und nur Gradunterschiede sind es, die jene halben Ewigkeiten von fliehenden Sekunden trennen. Also wie kann man da von einem gesicherten Leben sprechen?!
Und ist es nicht oft der Trost der Armen, dass in dieser Welt die Ersten wie die Letzten den gleichen Lebensgesetzen unterworfen sind? Wie oft habe ich nicht von einfachen Frauen gehört: „Gott sei Dank, dass die wenigstens ihre Kinder allein kriegen muss, und es sich nicht auch noch von uns anderen abnehmen lassen kann.“ ‚Ob Hoch, ob Niedrig — das Menschliche muss jeder ausbaden.‘
Also bedeutet das gesicherte Leben wirklich nichts anderes als Reichtum, generationengehütete Wohlhabenheit, gutbürgerliche Existenz, Scheckbuch, Bankkonto, Zinsen, Landhaus, nichts: als ausserhalb des Bannkreises direkter oder indirekter Not stehen? Sind wirklich nur so grobmaterielle Dinge letzten Endes bestimmend über Wohl und Wehe? Schaffen sie die zwei Hemisphären der Menschenwelt? Läuft es nur zum Schluss auf die alte Geschichte von den hungrigen und den satten Ratten hinaus? Und dann — wo sollten die Grenzen sein? Bestimmt man die nach den Steuerstufen? Und sind nicht je nach der Lebenshaltung für den einen zehntausend Mark eine Summe, die ihn und die Seinen scheinbar für ewige Zeiten sicherstellt, während sie für den anderen als Jahreseinkommen im günstigsten Fall nicht mehr bedeutet, als eine löchrige Decke, die an allen Ecken zu kurz ist, wie er sich auch drehen und wenden mag. — Also?! —
Und fühlt sich nicht auch der Arbeiter, der Samstags in der Kneipe auf den abgehobelten Tisch mit der Faust schlägt, breitbrüstig, gewaltig, geladen mit Kraft, im Augenblick ebenso gesichert, wie jene?
Und das Bettlerkind, das auf dem Hof in einer Ecke mit ein paar Holzknebeln spielt, — hat es nicht eine Sorglosigkeit und Sicherheit, die durch keinen Besitz zu erkaufen ist?
Ersetzt nicht das Gefühl von Kraft, von Gesundheit oftmals alle Empfindungen von Geborgenheit, die der Besitz zu geben weiss?
Kann nicht der Weise so gut wie der Gläubige durch die Selbsttäuschung des Denkens oder des blinden Sichhingebens sich unverlierbar-eingefügt in das Weltganze fühlen?
Oder man brauchte den Schutzmann nur anzusehen, der an der Strassenkreuzung mit erhobener Hand den Verkehr lenkt, um an ihm und in ihm den Ausdruck des gesicherten Lebens in strahlendster Blütenfülle offenbart zu finden. Nicht das Einzelleben, das doch Zufälligkeiten ausgesetzt ist, nein, den Staat, bestehend, ungebunden an menschliche Schwäche, vertritt er; nicht das simple gesicherte Leben des Villenbesitzers, — das für Jahrhunderte garantierte Leben vertritt er. Er ist zuerst Uniform, zu zweit nebensächliche Füllung dieser Uniform und zu dritt erst Mensch, Einzelner, Individuum, armseliges, zweizinkiges Wesen. Und gewiss ist, dass sein zweites und drittes für ihn im Augenblick ebensowenig bedeutet wie für uns. Ein gut Teil der Menschheit aber ist in diese Uniform gesteckt, die nicht immer buntfarbig mit Litzen und blanken Knöpfen zu prunken brauchen, aber vom Schullehrer so gut und sichtbarlich getragen werden, wie vom Kanzleirat, vom Referendar und vom Herrenhausmitglied so gut wie vom ordentlichen Professor der Nationalökonomie.
Also was ist es um das gesicherte Leben? Ist es Reichtum, gutbürgerlich, generationengehütet, Handel, Geschäft, Leitung, Selbständigkeit? Ist es der Vollbesitz von Kraft, der nach Entladung sich sehnt? Ist es die himmelblaue Sorglosigkeit des Kindes? Ist es die Erkenntnis des Denkers: mir kann nichts geschehen; nichts geht verloren; alles rollt weiter von Ewigkeit zu Ewigkeit? Ist es das gläubige Sichhingeben, das Schwimmen im All, eine Autosuggestion, der der geistig Arme unterliegen kann und gegen die der Intellekt sich sträubt? Ist es Gesundheit? Der ungehemmte Ablauf des Lebensprozesses mit Schlaf und Wachen, Essen und Ausscheiden, mit erfülltem Wunschleben, in dem alles sich ausbalanciert und immer noch ein Plus bleibt? Ist es das Eingegliedertsein in den Bienenstock des Staates, der Glaube an ihn — als reale Macht, das Sicheinsfühlen mit ihm: l’état c’est moi?
All das ist es wohl ... jedes ist es wohl ... aber es braucht es nicht zu sein. Ist im besten Fall doch nur eine Begleiterscheinung des gesicherten Lebens, eine Voraussetzung. Ist das Fundament, aus dem das gesicherte Leben sich aufbaut — nicht mehr. Das gesicherte Leben selbst ist eine Gefühlsbetonung, ein Sehwinkel, eine unbewusste Philosophie, die man bewusst nicht erwerben kann, ein Fluidum, eine Aureole, die man nicht durchbrechen kann, denn wohin man auch gehe, man trägt sie mit sich. Es ist ein Schutzwall gegen tausende von Eindrücken und ein Gradmesser für hunderte von Handlungen.
Ich kann schwer sagen, woran man die Leute vom gesicherten Leben erkennt; aber man erkennt sie. Nicht an der Gesichtsfarbe, nicht an der Kleidung, trotzdem die auch mitspricht. Ein Mann vom ungesicherten Leben zum Beispiel kann sich wohl eleganter, reicher, besser kleiden, wird oft mehr auf Kleidung geben müssen; aber der Mann vom gesicherten Leben trägt seine Sachen selbstverständlicher auf dem Leib, bezahlter, er bewegt sich gleichgültiger darin. Auch wenn er nichts auf Kleidung gibt, wird man ihn nie mit jemand verwechseln, den eben die Not zwingt, sich ärmlich oder nachlässig zu kleiden.
Also nicht an der Kleidung erkennt man den Mann vom gesicherten Leben, sondern an den Augen. Auch nicht an den Augen, sondern am Blick. Auch eigentlich nicht am Blick — den können hunderterlei Äusserlichkeiten beeinflussen ... überhaupt nicht an irgend etwas, was diese Augen haben, sondern nur an etwas, was ihnen fehlt, was bei ihnen nicht da ist und das den anderen — den Ungesicherten — auf dem Grund der Augen (und nur da) schwimmt, als ein Flackern, ein Nachinnenleuchten, als der Reflex einer Frage, einer Ungewissheit, einer Angst, eines Nichtvergessenkönnens, als ein steter (gleichsam sich selbst belauschender) Unterton leiser Nachdenksamkeit. An dem Fehlen dieses Untertons im Blick erkennt man den Mann vom gesicherten Leben. Denn die Augen sind die einzige Stelle, an der das lederne Futteral der Seele so dünn ist, dass der Inhalt durchschimmert.
Gewiss, man erkennt ihn auch an anderen Dingen. Ein Mann vom gesicherten Leben, ein Mann in einem Automobil ‚beiläufig‘ zieht sich schon anders die Handschuhe an als unsereiner. Er hat so eine wunderbar unnachahmliche Art, dabei ins Leere, an den Dingen und Menschen vorbei, durch die Dinge und Menschen hindurch zu sehen, als wäre die Welt aus Glas. Er raucht auch anders seine Zigarre, als wir. Er schmaucht nicht daran, wie der Arbeiter, der vom Bau kommt; er bläst wohlgesetzt, leicht und nachdenklich vor sich hin. (Sieht man doch sogar einem Mann in einer Wirtsstube an, ob er seine Alltagszigarre raucht, oder sich einmal eine bessere Sorte gegönnt hat — die ihn für eine halbe Stunde in das gesicherte Leben sich hinüberträumen lässt.)
Gewiss, ich erwähnte schon, dass ja das Menschliche jeder ausbaden muss. Zugegeben, Herr von Goethe. Und es wäre närrisch, anzunehmen — (wie es die Ungesicherten oft in stiller Wut glauben): das gesicherte Leben kenne keine Sorgen, keine Fährnisse, lebe in eitel Lust und Unbekümmertheit dahin.
Nein, nichts macht vor seiner Türe Halt. Aber — und das scheint mir ziemlich beachtenswert! — es zieht sich draussen Filzschuhe an und geht über Teppiche. Da dem gesicherten Leben von den Realitäten der Welt ein grösseres Tortenstück gehört, so hat er auch Sorgen, die an ihnen hängen, wie das angebackene Kantenpapier am Tortenstück — mehr Sorgen als jener vom ungesicherten Leben, der nur heimlich, im Vorbeigehen, sich mal ein Bröckelchen von der Verzuckerung oder ein Blättchen vom Früchtekranz stiebizt. In schlaflosen Nächten denkt er daran, wie er sein Kapital vermehren oder vor Verminderung schützen mag, sein Geschäft heben, seine Stellung in Staat oder Gesellschaft festigen soll, wälzt Transaktionen, Aktien, Anteilscheine, Grundstücke und Hypotheken.
Aber — wenn er diese Gedanken ausschaltet, dann hört er im Hintergrund so ein leises, beruhigendes, einlullendes Rieseln, wie das Sandfliessen einer Eieruhr: Sein Kapital, sein Geschäft, seine Häuser, sein Besitz — all das, was draussen für ihn arbeitet, fern irgendwo in der Welt, ohne sein Zutun, selbsttätig ... und das ihm garantiert, dass das Morgen wie das Heute sein wird, keineswegs allzu wesentlich verschieden. Unbewusst empfindet er dann die beiden Grundworte aller Grammatik: Sein und Haben! Jedes Verb, jedes Zeitwort lässt sich damit biegen, bewegt sich nur durch sie und ist ohne sie nur Schall und Fiktion. Und dank dieser Grundempfindung bestehen eben für den Mann vom gesicherten Leben die Dinge, sind Realitäten: der Staat, das Leben, der Besitz.
Warum in aller Welt soll der Mann vom gesicherten Leben nicht an den Wert des Besitzes glauben, auf den er seine Hände legen kann? und soll nicht mit Giusti sagen:
Ich glaube an des Goldes heil’ges Wesen
Und auch an seinen Sohn, geprägt in Gulden,
Ich glaube an die Trinität der Spesen,
Der Konsols und der indirekten Schulden!?
Warum nicht an den Staat, der ängstlich über das seine wacht, wo er es nicht selbst bewachen kann, der ihn ehrt, und mit dem er sich eins fühlt? und warum nicht an das Leben, das ihm — wenn auch unter Vorbehalt — Garantieen bietet, die das Morgen nicht mehr problematisch machen, das auch für den vom ungesicherten Leben stets problematisch bleibt, selbst wenn es für diesen nicht mehr im wortwörtlichen Sinne zu nehmen ist, sondern einen Monat, ein halbes Jahr, ja sogar Jahr und Tag heisst ... Was ändert das? Immer noch wirft es als ‚Morgen‘ seine bänglichen Schatten voraus.
Gewiss — der Mann vom gesicherten Leben kann ebenso vom Dasein ausser Gefecht gesetzt werden und ist ebenso zum Schluss allen blöden Zufälligkeiten ausgesetzt, die den Gang der Maschine hemmen, in Unordnung bringen und aufheben; wenn auch — das wollen wir doch nicht vergessen: — der Kuppler auf dem Rangierbahnhof, die Spiegellegerin, der Glasschleifer, der Barchentzuschneider, der Drucker bei seinen Bleidämpfen, der Maschinist, der zwischen den schnurrenden Transmissionen auf einem Quadratmeter Beton seinen Tag und oft auch seine Nacht verbringt, von diesen blöden Zufälligkeiten ein ganz klein wenig stärker umlauert ist.
Aber — auch das wollen wir betonen! — der Mann vom gesicherten Leben kann mit ziemlicher Bestimmtheit darauf rechnen, dass alle Katastrophen seines Daseins sich in annehmbaren Formen vollziehen werden. ... So kommt zum Beispiel der Kampf zweier Menschen, die in ein Gespann sich gezwängt haben und nun sich an den Geschirren und aneinander wundreiben, bei denen vom gesicherten Leben doch nicht bis zu den letzten Tiefen seelischer Bitterkeit. Die meisten meiner Bekannten haben — sofern sie zum gesicherten Leben gehörten — den Luxus zum mindesten einer Ehescheidung sich leisten können, während die Ehe bei denen vom ungesicherten Leben naturgemäss stets eine Quälerei ohne Ende bedeutete.
Selbst der Tod wird erst bei dem Mann vom gesicherten Leben fünf Professoren und einen grossen Operateur fragen, ob er anklopfen darf, oder ob er vielleicht in einem Vierteljahr in irgend einem Sanatorium, fernab inmitten von Tannenwäldern, in der Nachbarschaft der Gletscher, in der Sonne Ägyptens oder über den zackigen Klippen der Adria noch einmal nachfragen soll ... allwo für ihn alles vorbereitet ist, damit sich seine Arbeit geräuschloser und weniger störend für die Umgebung vollziehen kann. Während er bei dem Mann vom ungesicherten Leben sich nicht erst lange mit der Vorrede aufhält, der Tod, sondern meist fest zupackt, ohne jenem Zeit zu lassen, die Sielen von den müden Schultern zu werfen. Und das ist gut so. — Denn es wäre selbst für eine Institution, wie der Tod ist, allzu grausam, wenn sie dem Manne vom ungesicherten Leben noch viel Zeit zum Rückdenken über sein Dasein liesse.
Alle äusseren Formen des Daseins also vollziehen sich anders im gesicherten Leben, als im ungesicherten. Und sie haben — darauf kommt es mehr an, ein anderes seelisches Widerspiel.
Der Mann vom gesicherten Leben kann sogar mit dem Dasein, der Zeit, dem Bestand der Dinge schmollen, ohne wie der andere seine Existenz zu gefährden. Er kann die Maschine stoppen, wenn sie drauf und dran ist, sich heiss zu laufen. Ja — er braucht nicht einmal etwas zu werden. ‚Ich bin nicht gezwungen, etwas zu werden, wenn ich etwas bin‘. Das ist eine Erkenntnis, die sich dem gesicherten Leben sehr früh einprägt.
Ein Bekannter von mir, der in einer Industriestadt die Schule besucht hat, sagte mir, er hätte gefunden, dass die Söhne reicher Fabrikanten meist frische, helle, nette Jungen gewesen wären, die es ziemlich frühzeitig erfasst hätten, dass es recht wenig darauf ankäme, was sie gerade hier in der Schule erreichten, da das Bett so und so für sie gemacht sei und schon bereit stände. Und die ferner ebenso frühzeitig auch erfasst hätten, dass solch ein Lehrer, der sich hier als Jupiter tonans aufspiele, eigentlich ein armes Luder wäre, solch eine Art von Angestellter, der nicht viel mehr verdiene als ein Werkmeister, den Papa nach Wunsch und Willen an die Luft setzen könne.
Der Mann vom gesicherten Leben kann sich sogar mit Bewusstheit abseits stellen und mit der eisernen Stirn des konsequenten Denkers philosophieren, indem er denen Recht gibt, die sowieso schon Recht haben. Ach, wie mir diese Millionärsphilosophie à la Carnegie und Rathenau zuwider ist, die glaubt wunder, was sie tut, wenn sie sich nicht als Individuum fühlt — (nichts leichter als das, wenn meine Individualität gesichert und unbezweifelbar ist!) und die nun in Gruppen, Staaten, Zusammenhängen und Entwicklungsmöglichkeiten seelenlos wie eine Rechenmaschine darauf losbaut. Das Wort Armut hat für sie eine ähnliche Gefühlsbetonung wie das Wort Krankheit für den Gesunden ... nämlich als eins Sache, von deren naturgesetzlicher Notwendigkeit sie für die anderen überzeugt sind, und an die sie im besten Fall mit einem freundlichen Schauder von Mitleid denken, wenn sie es nicht vorziehen, an ihr vorbei und um sie herumzudenken — oder mit Ruskin eine wohl begründete und vernünftige Verachtung für sie hegen. Ich hasse die Menschen, die über zerstampfte Individuen fort, in grossen Einheiten denken. Es ist so leicht, heroisch zu sein für die Kinder anderer Leute. Ich glaube fast, zum Schluss ist es für den Millionär ebenso leicht, sich den Mantel des Philosophen umzuhängen, als hunderttausend Mark im Jeu klein zu kriegen; beides ist eine angenehme Sensation und trifft ihn nicht im Kern. Aber, dass der Mann vom gesicherten Leben mit dem Dasein schmollt oder es aus der Vogelschau betrachtet, ist doch nur eine abwegige Erscheinung. Der ganze Staat, die ganze Welt wird ja doch von Leuten vom gesicherten Leben betreut. Nein, der Mann vom gesicherten Leben wird immer etwas. Er wird Arzt oder Rechtsanwalt, Fabrikant, Beamter, Offizier, Bankmensch oder Kaufmann, Professor oder Richter — und er wird in einem genau vorgeschriebenen Rhythmus alle seine Examina erledigen, mit kürzerem oder längerem Anlauf alle Hürden nehmen, um dort anzukommen, wo er zu landen vor zehn Jahren und länger schon beabsichtigte.
Wenn man so in Gedanken seine Jugendbegleiter, sofern sie in das gesicherte Leben hineingeboren waren, vorüberdefilieren lässt ... sie wollten das und jenes werden, und sie wurden das und jenes. Mit der Sicherheit einer Uhr, eines guten Glashütter Werks, von dem man genau weiss, um 12 Uhr 5 wird es 12 Uhr 5 zeigen, erreichten sie ihre Ziele, und man hörte nie wieder etwas von ihnen.
Nur in Romanen entgleisen die Leute dutzendweise, werden abgeschoben, kommen in den Strudel, gehen unter, werfen einer Liebesleidenschaft Vermögen, Karriere und sich selbst nach, suchen in wilder Abenteurerlust nach neuer Existenz in fernen Ländern — — im Leben dagegen bleiben von den Gesicherten von hundert neunundneunzig bei der Stange. Vielleicht, dass man dann mal in einem Villenvorort an irgend einer netten Besitzung ihren Namen findet, oder an der Firmentafel eines Bureauhauses der Innenstadt, und sich halb bewundernd halb mitleidig sagt: ‚Das kann kein anderer sein, als der kleine so und so. Schade — der versprach etwas.‘ — Es liegt etwas Tragisches darin — meint jemand irgendwo — dass so eine ungeheure Zahl junger Leute ihr Leben in Schönheit beginnt, um schliesslich einen nützlichen Beruf zu ergreifen.
Wenn man sie aber selbst fragt, haben sie den Mund voll Bonhommie, ein Lächeln auf dem Gesicht, Zufriedenheit im Blick, sagen, sie wären das und das und stellen ihre Frau vor, die so wundervoll zu ihnen passt, als wäre sie aus derselben Form gepresst und aus derselben Fabrik bezogen. Mit sich — (sie sagen sich logisch: ich muss doch etwas sein, da ich etwas bin) der Familie, dem Staat, dem Leben hatten sie sich in vorbildlicher Weise abgefunden. Vielleicht eröffnen sie uns in später Stunde beim Glase Wein, dass dem nicht ganz so wäre, — aber das sind zumeist doch nur akademische Erörterungen.
Das gesicherte Leben ist das, was am meisten gedacht wird. Die Gedanken aller Welt pendeln ständig um das gesicherte Leben. Es wird sogar noch mehr gedacht als Frauen, von denen doch gleichsam jedem Manne das ganze Geschlecht als Gedankenreservat zugeteilt ist. Der Mann vom ungesicherten Leben ist fast zwangsläufig dazu verdammt, an das gesicherte Leben zu denken. „Der Arme kann nichts denken als Geld,“ sagt Wilde — und er macht für seine Person dem gesicherten Leben die allertiefste Verbeugung, wenn er sich zu der Äusserung bekennt: „Besser ein ständiges Einkommen haben, als zu faszinieren.“ Der Mann vom gesicherten Leben aber vergisst nie, dass er das gesicherte Leben besitzt, und nur die eine Aufgabe kennt, es zu bewahren. Und der Mann vom ungesicherten Leben vergisst noch weniger, dass er es nicht besitzt und dass es — wenn irgendwie angängig — seine einzige Aufgabe ist, es zu erringen, ganz gleich, mit welchen Mitteln.
So ist das gesicherte Leben das Ideal aller, die Sehnsucht, der Kampf, der Traum. Der Arbeiter, der Kaufmannsgehilfe — meist übler bestallt als jener — der arme Student, der Bohême, der Künstler, das Laufmädchen, die Ladnerin — alle kennen nur ein Ziel: das gesicherte Leben. Jeder will es anderer Zwecke wegen. Der möchte sich satt essen, gut wohnen, sich ausschlafen, den wahnwitzigen Tagesfron mit anderer Beschäftigung vertauschen, die ihm sinnvoller erscheint. Dem anderen soll es nur Mittel zum Zweck sein, um frei zu atmen, zu reisen, Kunst zu sehen, um nach Wunsch und Willen an den Schönheitsgütern und dem Geisteserbe Anteil zu haben ... gar nicht, um sie zu besitzen, nur um sie sich zu eröffnen. (Spanien! Velazquez! die Volksfluten der Neuen Welt!) Nein, die Automobilwünsche des Lebens, nach denen andere jampeln und jagen, um die lässt er gern Schieber, Spekulanten und Kokotten sich prügeln!
Selbst die Ehe, die doch eigentlich nach anderen Motiven geregelt werden sollte, ist — und hierin stimmen alle Kulturstufen vom Buschmann bis zu den Mayflowerleuten überein — in der Idee zum mindesten eine Spekulation auf das gesicherte Leben. Man braucht nicht einmal die Heiratsannoncen unserer Tageszeitungen heranzuziehen, in denen ganz unumwunden immer wieder mit fettem Druck das Wort ‚Sicher‘, ‚Gesichert‘, ‚Lebensstellung‘ hervorgehoben werden, und Zahlenangaben fast nie fehlen, um das bestätigt zu finden. Alle Mädchenträume von Grafen und reichen Liebhabern, die dann die Geliebte ‚ehrlich machen‘, gipfeln ebenso darin, wie die Heiratsideen der Junggesellen und die landesübliche Goldfischjagd der Adelskreise. Alle pendeln, wenn sie es auch nicht wahr haben wollen, um den einen Punkt der Lebenssicherheit, wie die Motte ums Licht. So weiss ich zum Beispiel einen nicht allzu begüterten, schon ein wenig angejahrten Junggesellen, bei dem ich wohl schon Zeuge von einem Dutzend Heiratsprojekten war, die sich alle in von ihm blutig ernst gemeinten Verliebtheiten austobten, ohne dass es ihm je gelungen wäre, seine Neigung an ein Mädchen von unter einer halben Million mutmasslicher Mitgift zu verschwenden.
Die meisten unserer schönen, sentimentalen oberbayrischen Stücke beruhen, um es prosaisch zu umschreiben, auf dem dort landesüblichen Herkommen, dass der Dienstknecht zuerst einmal mit allen — auch den am wenigsten einwandsfreien — Mitteln versucht, die Tochter seines Dienstherrn zu schwängern. Und was ist das anderes, als eine etwas rigorose Art, um in das gesicherte Leben hinüberzuvoltigieren?
Man spricht ja ganz offen davon: die oder der haben ihr ‚Glück‘ gemacht. Das heisst, sie haben sich durch die Ehe in das gesicherte Leben hinübergeflüchtet. Kein Mensch wird unter dieser Redewendung etwas anderes verstehen, als eitel materielle Dinge. Und wenn zum Schluss doch nicht alle Ehen — weder die der Gesicherten noch die der Ungesicherten — unter dem Gesichtswinkel zustande kommen, so liegt das daran, dass die unerklärlichen Mächte der Anziehung vielfach noch stärker als die Hemmungen bewusster oder unbewusster Überlegungen sind; und dass die Zahl derer vom gesicherten Leben auf beiden Seiten so klein ist, dass notgedrungen, selbst bei niedriger Summe der zu schliessenden Ehen, in dieser auf so ungünstiger Grundlage sich aufbauenden Lotterie die Mengen der Nieten ganz ungeheuerlich überwiegen muss.
Und da diese Zahl der Lebensnieten so überwiegt, so ist man daran gegangen, irreale Ausgleiche zu schaffen. Die landläufige Romanliteratur, die Erzählungen aller Länder, wie sie Leihbibliotheken, Tageszeitungen, Zeitschriften mit grosser Verbreitung beherrschen, trägt diesen Wünschen nach dem gesicherten Leben Rechnung. Von Leuten, die auf der Nordhälfte des Daseins stehen, wollen auch die Ungesicherten nichts hören — es sei denn, sie machen sich als Aussenseiter des Lebens selbstherrlich und verbrecherisch beachtenswert! — Warum lesen die vom ungesicherten Leben denn? Doch nur, um eine irreale Wunscherfüllung zu erfahren, sich zu illusionieren, gesichert zu fühlen. Ergänzungsphilosophie! Sie wollen reich, edel, begabt, kleinlichen Sorgen enthoben, mit Inbrunst geliebt in ihren Buchträumen sein. Deshalb ziehen jährlich mehr Fürsten, Grafen, Barone, Prinzen durch die Blätter unserer Romane, als der Gotha sich in einem Jahrzehnt leistet. Und nebenher wimmelt es noch von berühmten Künstlern, die in Frauengunst, Ruhm, Erfolg, Geld nur so plantschen, aber es (man merke!) auch einmal anders gekannt haben.
Zu ihnen gesellt sich weiter in Heuschreckenschwärmen der Grubenbesitzer, der mit eiserner Energie Millionenpläne wälzt. (Früher war er selbst noch Arbeiter gewesen; jetzt begnügt man sich damit, wenigstens den Vater zum einfachen Arbeiter zu degradieren.) Ich habe noch nie einen Grubenbesitzer gesehen. Ich glaube, es gibt gar keine. Denn wie eine Wolke von unfassbaren Nebeln wallt über den Gruben eine unqualifizierbare Menge von steigenden oder sinkenden Aktien, Papieren, Obligationen, um den ganzen Erdkreis verflatternd. Aber man kann kaum einen ‚Roman‘ in die Finger kriegen, ohne dem Grubenbesitzer in die Arme zu laufen, (während man Besitzern von Leimsiedereien, Engros-Rossschlächtern, Fabrikanten von Kanalisationsröhren, die doch weit häufiger sind, und die gewiss auch zum gesicherten Leben gezählt werden müssen, in Romanen nur selten begegnet und sie auch nur ungern dort antrifft).
Ein stets wiederkehrender Vorwurf dieser Erzählungen ist es auch, dass Menschen vom ungesicherten Leben in das gesicherte sich hinein kämpfen, sich dort nicht halten können, und wieder in das ungesicherte zurückfallen. Sie finden dann dort ihr eigentliches Glück — wie im ‚Fallissement‘; — oder sie vermögen (und das ist häufiger) den Wechsel nicht mehr zu ertragen. Beides, glaube ich, soll letzten Endes bedeuten, dass die Weltordnung, so wie sie ist, gut ist, sich nichts erzwingen lässt, und dass der ‚Gotha des gesicherten Lebens‘ besser unter sich bleibt.
So die vom ungesicherten! Aber auch die vom gesicherten hören nicht gern vom ungesicherten Leben etwas. Vor zwanzig Jahren liebte man das noch, (schon weil das die anderen Rinnsteinkunst nannten), heute nicht mehr. Ich, der ich einmal ein solches Buch der Hintertreppe schrieb, keineswegs bitter, eher lachend und leichtsinnig und skrupellos — (man griff mich deswegen von sozialistischer Seite genug an!) machte hier eine seltsame Erfahrung: Frauen besserer Stände, eifrige Romanleserinnen sonst, sagten mir, sie mochten es nicht, wollten es nicht lesen. Nicht etwa, dass sie kritische Ausstände machten, — nein: sie hätten einfach keine Lust, noch in ihren Mussestunden von Dienstmädchen zu hören. Sie hätten schon so genug von ihnen. An ihren persönlichen Sorgen wollten sie nicht teilnehmen.
Das bedeutete: sie lehnten das Buch ab, einzig, weil es ihnen keine Wunscherfüllung bot. Nicht einmal eine Spiegelung; auch keine Lebenssicherheit; noch weniger Helden, auf die sie ihre Scheingefühle übertragen konnten; und erst recht keine Heldinnen, mit denen sie sich gleichsetzen wollten. Die tiefe Lebensunsicherheit des Urgrunds berührte sie doppelt peinlich, weil er doch ihrer eigenen Lebenssicherheit räumlich so unerhört nahe war, und deshalb für sie auch nichts von dem geheimen Reiz einer fernab liegenden und asiatischen Lebensunsicherheit (wie bei ‚Nachtasyl‘!) haben konnte, nach der man — schlichtweg bis ins letzte Mark durchrüttelt und erschüttert — bei Kempinski gedankenvoll und sanft schmatzend, seine Hummermayonnaise in sich einverleiben kann.
Ähnlich wie unser Schrifttum weiss der Staat genau, was er tut, wenn er, — was dieses doch nur in der Suggestion kann — das gesicherte Leben als Köder auswirft, es zur Grundlage für fast jede Anstellung, für Militär und Beamtenhierarchie macht. Er bietet wenig — der Staat; aber er bietet in dem Wenigen das gesicherte Leben; was private Unternehmungen, die oft mehr bieten, weil sie gezwungen sind, intensiveres Menschenmaterial an sich zu fesseln, nur selten tun! Er stellt aber an, der Staat, lebenslänglich, zahlt bei Alter, Invalidität, erleichtert die Ehen dadurch, garantiert noch Witwen und Waisen eine, sei es auch kümmerliche, Lebenshaltung. Und wenn man auch tausenderlei dabei in Kauf nehmen muss, bei dem man oft sein Ich, seine Meinung, die Logik seines Denkens aufzugeben genötigt ist, der schmackhafte Wurm, der so verlockend am Köder sich ringelt, macht immer wieder, dass die Fische sich um die Angel drängen. (Rückwirkend macht es sich zum Beispiel auch so bemerkbar, dass für die Ehe ein kleiner Beamter höher bewertet wird, als ein gut verdienender Agent oder Verkäufer, der als Mann des ungesicherten Lebens doch — wie günstig seine Lage auch im Augenblick sein mag, — vorerst in zweiter Linie kommt.)
Man kann den Staat, das gesicherte Leben und das Gesetz fast identifizieren. Und da der Staat wieder in Militär und Beamtentum seinen Ausdruck findet, in denen nur der Mann bisher Platz hat, so weiss eigentlich das Gesetz noch nichts von der Existenz der Frau und vergewaltigt ihre Existenz in tausend Paragraphen, ohne überhaupt sich dieser Einschränkung bewusst zu werden. Zudem sind die Gesetze vom Besitz gemacht, vom gesicherten Leben, sind von einem Tausendstel der Menschheit ersonnen und der Empfindung eines Zwanzigstels angepasst; und deshalb verstehen es auch die übrigen neunzehn Zwanzigstel — die vom ungesicherten Leben — nicht. Sie sehen im Gesetz stets nur eine ihnen feindliche, ewig unheimlich-arbeitende Sortiermaschine, die sie weder nach Zweck, noch nach Mechanismus begreifen — eine Maschine von der Art derer, die die grossen Konservenfabriken aufstellen, um die grünen Erbsen nach der Grösse zu sondern. Die kleinen Erbsen fallen eben durch die Löcher der Siebe, und die grossen Erbsen nicht. Mögen sich die kleinen Erbsen immerhin eine Weile halten, angstvoll hin und her kullern, sich in die Ecken klemmen, mal purzeln sie eben doch durch. Was können sie dafür, dass sie zu klein sind!
Den Ausdruck der Gesetze des gesicherten Lebens nennt man Moral oder vielleicht umgekehrt: die Gesetze sind der Ausdruck der Moral des gesicherten Lebens. Keine Haarspaltereien! Genug — Moral ist ein Luxus, den man sich erst von einer gewissen Steuerstufe an leisten kann. Man nenne nicht die Leute unter dieser Steuerstufe unmoralisch. Sie haben nur eine andere Moral, und gegen jene verstossen die Leute vom gesicherten Leben genau so, wie diese gegen die der anderen. So, wie erst bei Wohnungen von gewisser Grösse an sich Badeeinrichtungen für den täglichen Gebrauch vorfinden, grade so wird auch erst bei einem Einkommen von einer gewissen Höhe an eine Moral für den täglichen Gebrauch mitvermietet. Und es ist nicht anzunehmen, dass zum Beispiel in der rund einen Viertelmillion Wohnungen in Berlin, die nur aus einem Zimmer bestehen, aber meist von vier und mehr, ja sogar manche glatt und rund von dreizehn Personen zugleich bewohnt werden — dass sich in diesen Wohnungen allzuhäufig Badeeinrichtungen vorfinden.
Der falsche Bürgermeister von Köslin, der sich mit etwas unerlaubten Mitteln (doch ohne besondere Schädigung anderer) in das gesicherte Leben hineinschwindeln wollte, in das er nach Aussage aller vermöge seiner Leistungen und Fähigkeiten wohl gehörte, und der das nun hart genug zu büssen hat, hat vor den Richtern ein paar nette Worte zu unserm Thema gesagt, die naturgemäss wirkungslos verhallten.
Selbst die körperliche Moral, die doch bei allen nur wenig unterschieden zu sein brauchte, differiert im gesicherten und im ungesicherten Leben bedeutend. So mag es zum Beispiel in gewissen Schichtungen des ungesicherten Lebens als ein Vorzug angesehen werden, den die Frau vor dem Manne hat, dass die Frau im Falle der Not (oder auch ohne sie) fast ungestraft ihr Geschlecht verkaufen kann — eine Sache, die dem Manne doch nur unter sehr komplizierten Voraussetzungen in ehelicher Form straflos erlaubt ist — (siehe Wolzogen ‚der verkaufte Assessor‘).
Auch was wir vielleicht für die Moralbegriffe eines Kindes als Norm betrachten, mag ja — wie ich gern glaube, von der dreizehnjährigen Tochter eines wohlgestellten Arztes im Grossen erfüllt sein; während wir auf diese Erfüllung bei der dreizehnjährigen Tochter einer Schlafstellenvermieterin doch nur in sehr unvollkommenem Masse rechnen können. Und trotzdem wird niemand daran zweifeln, wer etwa numerisch in der Überzahl ist. Also auch hier gab wieder das gesicherte Leben die moralische und gesetzliche Grundlage ab.
Es muss also doch etwas gar nicht Auszudenkend-Wertvolles um das gesicherte Leben sein, da es das einzige Ziel von Millionen Ungesicherter ist. Selbst Leute von Einblick in die Vollziehungsart des Daseins kämpfen mit der ganzen Wucht ihrer Persönlichkeit darum. Balzac’s Lebenslauf ist ein Paradigma der ins Wahnsinnige gesteigerten Jagd nach dem gesicherten Leben ... mit Tagträumen und Illusionen der Erfüllung, die er nicht allein in Romanen von Finanzgenies und Finanzherrschern, von klingenden Goldwellen austönen lässt, nein, um die er wie ein Berserker mit dem ganzen Leibe und seiner ganzen mächtigen Verstandesfülle für sich, für seine Person ringt. Niemand weiss, was dieser Zyklop der Arbeit damit wollte, der, wie er selbst schreibt, nicht einmal für Frauen die Zeit fand. ‚An all dem muss ich Anteil haben, in all das mit Augen, Worten und Sinnen mich einfressen, es soll mir gehören, soll mir durch Verdienst oder Gnade in den Schoss fallen‘. Und davon träumt Balzac, während er in Wuchererhänden sich windet und immer hoffnungsloser sich verstrickt. Und um das zu erreichen, schleudert er eines seiner Werke nach dem anderen aus sich heraus — die für ihn — einzig und allein in der ganzen Welt für ihn! — nicht um ihrer selbst willen da sind.
Auch Maupassant sagte, wie man weiss, hundertmal — und es ist möglich, dass er es selbst glaubte! — er schreibe nur des Verdienens wegen. Und er war ein kaum minder guter Kaufmann als Schriftsteller.
Und mit welcher geschäftlichen Umsicht kämpfte sogar Schopenhauer, der tiefer als irgendeiner vor oder nach ihm in das ungesicherte Leben hinabgelotet hat, um sein bisschen Lebenssicherheit, (das ihm die Unabhängigkeit des freien Denkers garantieren sollte), als der Bankier, der in Zahlungsschwierigkeiten geraten ist, ihm einen Akkord auf sein Guthaben anzubieten wagt. „Sie gehen jetzt bankerott,“ schreibt er ihm, „und Ihre Enkel werden noch in der Equipage an mir vorüberfahren und mich mit Strassenschmutz bespritzen, wenn ich, als altes Männchen, zur Universität humpele.“
Man müsste also danach — und ich nehme an, mit Recht — der Meinung sein, dass alles Bedeutsame, alles Grosse, jede Bewegung, jedes Fortschreiten, jede Kunst, jede Schönheit, jede Leistung, jede Erhöhung, kurz alle schöpferischen Werte aus dem gesicherten Leben emporblühen, und dass die letzte bejahende Sehnsucht alles Daseins in Wahrheit nach dem gesicherten Leben geht. Ja — man müsste es wohl!
Und was ist es nun um das ungesicherte Leben?!
Ist er euch noch nie aufgefallen dieser eigentümliche, überspringende Funke von Elektrizität, wenn sie beide durch Zufall zusammenprallen. Erinnert ihr euch, wenn ihr von einem Maskenfest kommt, überhitzt am Wintermorgen, und plötzlich an allerhand Gesindel oder Bettlern oder ersten Arbeitern, die in Nacht und Nebel schon zur Arbeitsstelle marschieren, vorüber müsst — und dass ihr da plötzlich so etwas wie ein fernes, dumpfes, feindliches Brodeln zu vernehmen glaubt?! Erinnert ihr euch?!
Oder, sofern ihr vielleicht an einem so recht verliebten, zarten Frühlingsabend, nach dem Regen, wenn alles duftet von Gärten und Flieder, in der Zeit der weissen Kleider und Goldbroschen, des Lachens aus übermütigen Mündern — sofern ihr vielleicht dann in einer offenen Strassenbahn fahrt, und an irgend einer Haltestelle eine Krankenschwester zwischen den Sitzen hindurchschreitet und sich irgendwo einen Platz sucht, leicht ermüdet, die Augen gerändert, und den Geruch ‚Hinterhaus‘ noch um sich — und der und jener fröstelnd mit den Schultern zuckt — Erinnert ihr euch?!
Oder man geht durch den Vorraum einer Klinik. Da steht im weissen Kittel ein hübscher, rotbäckiger, junger Mensch mit einem netten Durchzieher, hantiert an einem Mikroskop herum, unterhält sich über Dolomitenkletterei, Tango und Weiber. Dann dreht er an einer Schraube, schiebt ein Glasplättchen, dreht wieder an einer Schraube, — plötzlich bekommt er eine kleine, steile Falte über dem einen Auge, wird angespannt, interessiert, schweigt mitten im Satz, schreibt etwas auf — und stellt den Ablauf eines Menschenlebens fest.
Oder habt ihr einmal den Blick verstanden, mit dem das Alter so einem Schwarm von Wandervögeln nachsieht? Einundsechzig Jahr bin ich! ... Einundsechzig! ... Denken wir einmal: 62 — 61 = 1 ... Glatt, schlicht, simpel: Eins. Fatale Algebra! — Wenn man das nur eine Stunde noch vergessen könnte!
Mir fällt ein, wie ich einmal durch den Kohlendistrikt fuhr. Da waren Schutthügel unter nie endenden Reihen schwebender Kippwagen, Schlackenberge, rauchend und glimmend, Zechen, Schuppen mit Feueraugen, Senkungen und Erdrisse und ausgekaufte Dörfer, Schienen, Bahnwälle, Dämme und wieder Schienen, Ziegen, Katen, Qualm und geröteter Himmel. Und oben über eine Brücke zog eine Schicht Bergleute, grau, und sich schiebend wie eine Herde Hammel. Und unten auf einem zerstampften Rasenflecke, auf einem Dreieck zwischen sich schneidenden Bahnsträngen inmitten von Kohlenbergen und Russ spielte eine Schar dreizehn- und vierzehnjähriger Jungen Fussball. Ganz, ganz langsam tappte mein Zug sich vorwärts. Man hörte im Speisewagen nur das Klirren der Gabeln und das Klappern der Teller, das mit dem leisen Singsang der zitternden Scheiben zu einer stets sich gleich bleibenden Melodie verschmolz. Ich aber, der noch unbeschäftigt war, starrte in die Melancholie des heraufziehenden Abends. Und plötzlich schnürte mir die wehe Frage würgend und gallebitter die Kehle zu und machte mir die Augen brennen: was wird aus denen da?! Tief in die unterhöhlte Erde drang ich mit den Blicken, und ich sah, wie sie immer wieder neue Massen von Jugend und Leben in sich einfrass, nur um sie alsbald — halb betäubt, grau, stumpf und verbraucht und verkümmert, und mit jenem Glanz in den Augen, den nur das ungesicherte Leben kennt — nur um sie alsbald wieder auszuspeien und zu den anderen da zu werfen, die wie eine schiebende Herde von Hammeln über die Brücke trotteten.
Das ungesicherte Leben, ... ‚die Besitzlosen haben weiter kein Angebot als ihren Dienst‘ meinen die Nationalökonomen in feiner Umschreibung. ‚Sie handeln mit ihren Knochen,‘ sagen wir etwas weniger verklausuliert. Sie gehen durch die Welt, die ungesicherten: jedes Haus, jeder Flecken Land, jedes Stück Holz, das Gras am Wegrain, der Wagen, der vorüberfährt gehört jemandem — Schön! — es soll nicht dem gehören, von dem man glaubt, sondern irgend jemandem, der dahintersteht, einer Bank, einer Genossenschaft, einem Geldleiher. Zum Schluss gehört es doch wem!! Sie aber haben nur ihre Knochen. Was wunder, dass der Arme stets ein Tier ist, das an der Kette zerrt?! Was wunder, dass der vom ungesicherten Leben jede Stunde die tiefe Zwecklosigkeit alles Seins empfindet und immer daran gemahnt wird, und alle Zeit von der Sehnsucht erfüllt ist, dem Sein einen Sinn zu geben?! Ach — Er kennt ja nur das Heute; ob und wieviel ihm noch vom Morgen gehört, weiss er nie! Und das lastet über ihm als eine Wolke, ein Schatten, der sich nie hebt, etwas, das bitter macht, ungerecht, ewig seinen Geschmack behält.
Aber, wenn ihm wirklich von dem Morgen noch irgend etwas gehören soll, ja dann dürfte es doch nicht diesem Heute gleichen, wenn es auch nur den geringsten Sinn haben sollte, es zu besitzen.
Wie könnten denn Millionen von Menschen dieses Dasein ertragen, wenn sie nicht sich immer wieder von neuem damit täuschen, dass sie in einem halben Jahr andre sein würden — reicher, klüger, dass sie dann irgend einen neuen Teil der Welt kennen, ein Lebensziel erreichen, mit einem Werk sich vor den staunenden Augen all derer, die sie verachteten, dokumentiert hätten?! — so dass sich in ihnen Wunsch und Wille — (auch unter den stärksten Beschränkungen nach Möglichkeiten suchend) — immer regsam erhält, grade wie das aufgehende Samenkorn gegen die auf ihm lastende Steinplatte presst, ob sie nicht weichen will, ganz gleich, ob dieses Vorhaben als hoffnungslos sich zeigt, oder ob Aussicht vorhanden ist, dass es ihm gelingen wird, die Steinplatte zu zersprengen.
Das gesicherte Leben ist also — wie ich sagte — eine unbewusste Philosophie; das ungesicherte Leben ist eine bewusste Philosophie. Das gesicherte Leben findet immer seinen Ausgleich mit der Welt, das ungesicherte nie. Und es will mir fast scheinen, als ob das doch zum Schluss ein tieferes Lebensgefühl gibt.
Aber ich fürchte, es wurde noch vergessen, die Grenzen des ungesicherten Lebens abzustecken. Nehmet sie mir nicht zu eng. Das ungesicherte Leben hat so viel Abstufungen wie — nun wie die Prostitution. Noch niemand hat den Begriff des Wortes Armut ausgeschöpft, alle waren nur wie Kinder, die am Meeresstrand spielen und sich ein bisschen Wasser in ihre Burgen leiten. Es geht von der Elendswelt tief unten, in der nur noch Zahlen reden, und von der uns nur so ein ferner Hauch anweht, wenn wir abends an den Themsebrücken oder an dem Hafenviertel Neapels vorübergehen oder in das Buch von Hunter über den ‚Pauperismus in Amerika‘ blicken — geht in tausend Stufen von da über viele Stände und Berufe fort, bis zu den Lachend-melancholischen in den Nekropolen des Engadins, bis zu den Hospitälern — — das Leben jubelt, aber die Hospitäler sind überfüllt. Am ungesichertsten in dieser Welt ist vielleicht der Knecht, der frei ist. Schon Freiligrath warnt, die Grenzen des ungesicherten Lebens nicht zu eng zu ziehen:
... doch auch dessen
Der mit Schädel, mit Hirn
Hungernd pflügt, sei nicht vergessen ...
Habt ihr einmal den Kopf eines Arbeiters gesehen, der erfindet, der weiter will — hart, gelb, unruhig den Blick? Kennt ihr die Augen der Freischüler in den Gymnasien? Den Stolz des hungernden Studenten, der alles Wissen in sich einfressen will.
Aber wer diesen Blick richtig analysiert, der sieht doch noch ganz andere Dinge darin, als den Ausdruck der Not und den des Vorwärtsstrebens: werde etwas, suche dir die Tür zum gesicherten Leben aufzuklinken! Ganz etwas anderes! — Sagte ich nicht, dass das ungesicherte Leben, wie es zum Beispiel Mitfühlen an die Stelle von dem simplen Mitleid des gesicherten Lebens setzt — ein tieferes Lebensgefühl gibt? Und wird man mich verstehen, wenn ich nun sage, dass es auch, wie es grössere Schaffens möglichkeiten gibt, einen grösseren Besitz gibt, so wie die irreale Welt grösser ist als die reale. Wem etwas gehört, gehört etwas. Wem nichts gehört, gehört alles.
Als für Hamsun einmal öffentlich gesammelt wurde, und 3 Mark 30 Pfennige ungefähr zusammenflossen, schrieb Peter Altenberg dazu ein paar nette Worte von den hungrigen Lebenswölfen in ihren weissen Villen, die ganz recht täten, diesem Hamsun nichts zukommen zu lassen, da er ja der Schlemmer und Besitzer wäre, reich und gesegnet mit jedem Blick in die Welt, und jene ihm gegenüber die eigentlich Besitzlosen; (das heisst letzten Endes er der Mann vom gesicherten Leben, und sie die vom ungesicherten Leben).
Ich gehe sogar weiter: Alle Voraussetzungen und Fortschritte des gesicherten Lebens kommen aus dem ungesicherten Leben. Das ungesicherte Leben hat immer Ziele, das gesicherte nicht immer. Die Schwachen haben mehr Geist als die Starken. Und was ist Geist anders, als in das Seelische umgesetzte Zielstrebigkeit? Man kann auch weitergreifend ruhig sagen: die Schöpfer der schönen Dinge in dieser Welt haben in den seltensten Fällen die Möglichkeit, sich in den Besitz der schönen Dinge zu setzen. Die Häuser der Gesicherten sind meist von Arbeitern errichtet und von Architekten ersonnen, die jeden Wunsch des gesicherten Lebens vorahnen, ohne sich selbst auch nur einen davon verschaffen zu können.
Ja ich möchte noch darüber hinausgehn und behaupten: dass alles Grosse und Wertvolle aus dem ungesicherten Leben kommt. Alles Grosse in der Welt ist auf der Nordhälfte geboren.
Kunst — ihr meint, sie ist ein Überschwang? Sie ist ein Schrei aus der Lebensnot. Religionen — jede Religion, fast jede Religion steigt aus der Lebensangst, aus dem ungesicherten Leben empor und beginnt mit einer Horde Wahnsinniger. Fanatiker sind kleine Tiere, in deren Hirn nur eine Idee Platz hat. Und sie haben immer wieder die Tendenz — die Religionen — wenn das gesicherte Leben, der Staat, sie in die Hand nahm, sich von neuem für das ungesicherte zurückzubilden. Literaturen, Völker, Parteien des ungesicherten Lebens gibt es, und immer sind sie gross — im Wort- und Nebensinn.
Man könnte für alles Kulturgeschehen — in der Zeit und über die Zeiten fort — das Bild des Champagnerkelches nehmen, in dessen saturierter, leicht sich abstehender, vielleicht ohne sie allzu süsslicher Flüssigkeit immer von unten und nur von unten feine silberne Perlen hochsteigen, eine kleine Weile auf der Oberfläche treiben und versprühen. So steigen vom Boden aus dem ungesicherten Leben immer neue Kräfte in die Sphäre des gesicherten Lebens hinauf, die sich die Zeit zu Dank verpflichten, sie umformen, die Seele einer Zeit werden — Esprit, Duft, Schärfe des Getränks. Die gewaltigsten Dinge und Menschen, deren wir uns erinnern, kommen aus dem ungesicherten Leben. Napoleon! Welche tiefe Ungesichertheit liegt doch über der Jugend Friedrich des Grossen, der fast das Beil im Nacken klirren hörte?! Beethoven ist für die Kunst des ungesicherten Lebens so gut ein Beispiel, wie Rembrandt. Der Entdecker des Tuberkelbazillus war ein Landarzt und besass nur ein Mikroskop, das man heute keinem Studenten im ersten Semester mehr andrehen könnte.
Vielleicht kommt auch in die Nähe dieser Erwägungen das wundersame Schauspiel, das wir in diesen Monaten erlebten, das einzige, weswegen ich nicht bedauere, ein Zeuge dieser Zeiten gewesen zu sein, und das jeden überraschend erschütterte, nämlich: dass in dem gesicherten Leben eine ebenso tiefe Sehnsucht nach Ungesichertheit steckt, wie im ungesicherten nach Gesichertheit — und dass diese Sehnsucht nur eines Anstosses bedarf, um elementar wie Deichbruch sich über das Land zu stürzen. Viele Hunderttausende haben sich plötzlich ohne Mühe, ja mit Enthusiasmus von dem gesicherten Leben getrennt, es mit Jubel von sich geworfen und sind mit fliegenden Fahnen in das Lager des ungesicherten Lebens übergegangen.
Und vielleicht kommt auch — wenn selbst anders! — in die Nähe dieser Erwägungen die Erinnerung an zwei Leute, die von dem am stärksten gezimmerten aller gesicherten Leben kamen, um später ganz andere Lieder zu singen: an Moritz von Egidy, den prächtigen Phantasten, der im Wort die Menschheit zu dem bekehren wollte, was der Hauptmann Fritz von Uhde der Welt mit seinem Pinsel predigte. In Italien traf ich einmal einen alten Mönch, der mir sagte, dass er einst in Spandau Reiteroffizier gewesen, und dass sein Jetzt und sein Einst keineswegs unüberbrückbar getrennt wären.
Religionen des ungesicherten Lebens gibt es! So habe ich eigentlich nie recht verstanden, wie das Christentum im Süden entstehen konnte. In einem winterlosen Götterland des gesicherten Lebens. Es ist weit mehr eine nördliche Religion, das Herzensbedürfnis einer armen, sonnenlosen, sorgengequälten Welt. Man male sich aus, sie wäre in den Tropen entstanden oder in Tahiti! Welch ein Nonsens! In Rom konnte sie nicht entstehen, im strahlenden, scheinbar gesicherten. Im hellen Licht griechischen Geistes nicht. Draussen aber, fern draussen in einer versklavten, verkümmerten Provinz, am Rande der Welt, aus einem Volk, das einst gross war, das seit Jahrhunderten schon von Leiden und Armut und durch mächtige Nachbarvölker zerkautet war, das widerhallte vom düstern Gestöhn ekstatischer Propheten — da konnte diese nordische Religion — nichts von glücklichem Heidentum des Südens, lichtarm, sonnenlos, kunstfremd, eine Proletarierreligion, ein Ursozialismus, Antistaat, Mitleidsreligion, diese Religion des ungesicherten Lebens entstehen. Und da sie all das auf einmal war, trug sie jene unerhörte Werbekraft in sich (als die erste, die sich vom Staat, vom König fort an die Massen wandte). Sie war wie eine Pflanze mit geflügeltem Samen, der über die ganze Erde vom Wind getragen wird. Vom Wüstenboden kam sie kahl, zäh, salzig, ausgedörrt, und konnte deshalb einfach überall Wurzel schlagen.
Ach Gott — sie hatte so einen überzeugenden Gedanken, diese Religion: Das gesicherte Leben muss es geben. Es ist uns versprochen, verbrieft, versiegelt. Es wäre sonst Betrug, unser ganzes Sein. Aber wir finden es nicht. Es wird uns nicht. Wie ist das Exempel zu lösen?! Wie ein Ausgleich zu schaffen?! Alles hat sein Widerspiel, seine Vollendung in irrealen Welten. (Indien, Ägypten lehrt dies.) Der Gedanke der ewigen Gerechtigkeit, des Ausgleichs liegt tief in uns, das Gefühl von den beiden Schalen der Wage, die sinken und steigen: Gott und Welt, Geist und Stoff, Leib und Seele. Was hier halb war, wird dortganz. Die Ungesicherten hier werden ihr gesichertes Leben dort finden. Und die Gesicherten (die Reichen, die Starken, die Harten, die Bedrücker, die Sklavenhalter, die ‚blonden Bestien‘, die Herren über Leben, Brot und Tod der anderen) — nun, die werden dann ihr ungesichertes Leben finden. Jede Hemisphäre rundet sich so zur Sphäre. Das ist ja das erste Bild, das über jeder alten Domtür dem Eintretenden entgegenspringt. Und fast stets zeigen diese Reliefs in den Bogen über den Portalen, wie Könige, Äbte, Ritter, die, von den Ketten des Bösen umschnürt, von wilden Teufeln zur Hölle gezerrt werden; während die Guten, die Armen mit seligem Grinsen, das ja in der Gotik der Ausdruck des Vorgeschmacks der himmlischen Freuden ist, sich um ihren Gott scharen. Den Gesicherten wird auf diese Art mit dem Finger gedroht, nicht allzu üppig zu werden, da die Sache sonst zu allerhand peinlichen Unzuträglichkeiten im Jenseits führen könnte. Dem Ungesicherten aber wird der erschütterte Glaube an die Welt zurückgegeben — eine schöne Illusion vermittelt, ohne die er der Hoffnungslosigkeit und Unerträglichkeit des Seins in die Augen sehen müsste. Und zugleich wird ihnen noch jene volle Genugtuung gewährt, die Gesicherten zu den Ungesicherten herabgezogen zu sehen, sich also erhoben und andere aber degradiert zu fühlen. Sie selbst, die Religion, aber behält sich auch die Gesicherten durch Angst und Drohung in der Hand, kann die Schraube fester anziehen, sie lockerer lassen, wie es ihr behagt — — sie schwebt über allem.
Die spätere Spaltung zwischen Norden und Süden in Katholizismus und Protestantismus zeigt weiter nichts, als eine neue Scheidung zwischen gesichertem und ungesichertem Leben. Der Katholizismus, der aus dem Christentum eine Religion des gesicherten Lebens gemacht hatte, und es zwangsläufig machen musste in dem Augenblick, als das Christentum von einer bedrückten Aussenprovinz in das Zentrum der Welt rückte, — der Katholizismus mit seiner Macht, seinem Götterheer von Heiligen, seiner Schönheit, stand im Gegensatz zum harten, engen, ungesicherten, freudlosen Leben vom Norden, das im Schnee als Kurrendejunge vor die Häuser zog, und das instinktiv nach den Erlösungen des Urchristentums wieder suchte.
Und wenn heute im Protestantismus (Jatho!) sich ähnliche Spaltungen vorbereiten, so beweist das nur wieder, dass auch für ihn heute eine ähnliche Konstellation wieder gegeben ist.
Ich sagte, es gäbe Völker des ungesicherten Lebens. Viele. Gewiss viele. Auch die Deutschen muss man nach ihrer Geschichte dazu zählen, und sie haben in der Welt ihre grosse Mission erfüllt und noch zu erfüllen, von der Idee ausgehend — wie mir scheinen will — nicht von der Macht wie andere, (wenn sie auch gewiss recht daran tun, sich ihren bescheidenen Platz an der Sonne nicht verdunkeln zu lassen). — Sie haben diese Aufgabe zu erfüllen, weil sie letzten Grundes ein Volk des ungesicherten Lebens waren und sind, und weil ihre ganze weltumformende Lebenstüchtigkeit bisher in dieser Lebensunsicherheit wurzelte.
Aber, wenn man von Völkern des ungesicherten Lebens spricht; — wer dächte da nicht gleich an die Juden, die Jahrtausende schon als staatenbildendes Volk verschwunden sind, und doch bis heute sich ihre Stosskraft als Rasse (sofern es noch jene Mittelmeerrasse ist, und nicht irgend welches dem Juden assimilierte halbe Slaventum) — als Rasse bewahrt haben; und die — sowie ihnen Entfaltungsmöglichkeiten geboten sind, (wo sie auch sein mögen!) — ein vorwärts drängendes Element der Kultur werden! Man will dem Juden stets einreden, er ist konservativ in der Seele, staatserhaltend, stände auf der Seite des gesicherten Lebens, und kleine saturierte Kreise jüdischer Hochfinanz mögen dem aus Opportunitätsgründen — mit einem leichten Schuss Liberalismus — in der ganzen Welt nicht fernstehen. In Wahrheit gehört wohl auf dem ganzen Erdenrund kein Volk so in seinen allerletzten Wurzeltiefen zum ungesicherten Leben wie die Juden.
Das Beste an den Juden — das hat Tolstoi richtig erkannt, als er sich gegen den Zionismus wandte — liegt darin, dass er nicht staatenbildend ist und dadurch, wenn er zu einer gewissen Stufe gelangt ist, all seine kulturfördernden Kräfte freibekommt, statt sie in Rückständigkeiten staatlicher Institutionen zu verzetteln und sich in tausend staatlichen Hemmungen zu verbrauchen.
Immer in freier Konkurrenz mit Sonderklauseln stehend, ist der Jude — auch in der Wissenschaft, selbst in der Kunst — gezwungen zu Qualitätsleistungen. Von Natur vorwärts drängend, Organisator, ohne Herrennatur zu sein, ohne die fesselnde Tradition eines Landes, ist er darauf angewiesen, neue Wege zu bahnen, da ihm die alten ja auch verschlossen sind. Die Gerechtigkeit erfordert, sie ihm zu öffnen — aber ein geheimes Bedenken sagt uns dabei, dass wir dadurch die Juden und den Staat, in dem sie gerade eingebettet sind, um ihren besten Gewinn betrügen werden.
Ich sagte, es gäbe Parteien des ungesicherten Lebens. Von den Gracchen an, und gewiss längst vor ihnen hat es sie gegeben. Von allen politischen Parteien, die heute im Wettstreit stehen, hat die Sozialdemokratie, als die Partei des ungesicherten Lebens, den weitesten Pendelschwung, den stärksten Elan — ist die Partei. Wenn man von einer Partei spricht, denkt man nur an sie. Sie ist die einzige, von der wir — ob wir für sie oder gegen sie sind! — Zukunftsarbeit erwarten; die einzige, die über beschränkte staatliche Grenzen hinausreicht und letzten Grundes die Sehnsucht nach Lebenserhöhung alles ungesicherten Menschendaseins umfasst ... oder in der Idee (besteht sie noch?) umfassen sollte. Keine Partei hat so den Glauben an eine Sache für sich und ist ihren Anhängern gleich stark zur Religion geworden. Wie oft hat man schon auf den Parallelismus zwischen Urchristentum und Sozialismus hingewiesen! Er erklärt auch dessen werbende Kraft.
In diesem Augenblick, da alles Bestehende wankt, wird auch die Sozialdemokratie von schweren Fieberschauern geschüttelt; und sie vielleicht von noch schwereren als irgend etwas sonst. Denn sie steht vor der Frage, ob sie Ja und Amen zu Dingen sagen soll, die auf die Dauer selbsttätig ihren Lebensnerv durchschneiden müssen. Es wäre vielleicht (?) tief zu bedauern, wenn die deutsche Sozialdemokratie eine nationale Partei würde, denn das würde beweisen, dass sie für ihre eigenen Grundgedanken noch nicht reif wäre. Oder es wäre vielleicht (?) für Deutschland eine sehr glückliche Lösung.
Das sind augenblickliche politische Erwägungen. Die Gedanken, die Mächte selbst aber werden von diesen nicht tangiert. Die Partei des ungesicherten Lebens hat nämlich unerschöpflichtiefe Brunnen, — die versiegen nicht. Das Seil kann brüchig werden, der Eimer kann in Stücke gehen. Nun — dann wird eine spätere Generation ein neues Seil einziehen und neue Eimer heranhängen, die das silberne, quellklare Kristallwasser aus der Tiefe schöpfen.
Ich meinte, es gäbe Kunst und Literatur des gesicherten und des ungesicherten Lebens. Ich will noch weitergehen: man kann Kunst und Literatur fast wie durch einen Schwerthieb in diese beiden Hälften zerteilen, und es wird nur wenige geben, die man damit nicht trifft, und deren letzter Zauber darin beruht, dass sie eben beide Hälften untrennbar in sich vereinen, wie zum Beispiel ein Oskar Wilde es tut. Die tiefe — und meist unbegründete — Verachtung, die auch der Kunstfremde gegen Ästhetentum hat, bedeutet ja nichts weiter als eine Absage an die Kunst des gesicherten Lebens. Sie erscheint uns so wurzellos und überflüssig, eine Sache, die sich an sich selbst berauscht, eine Spielerei, die uns letzten Grundes nichts hilft und nur leer zurücklässt.
Man könnte eine Skala aufstellen. Beispiel und Gegenbeispiel ausbalanzieren. Schopenhauer und Nietzsche. Schopenhauer, der seine ganze Philosophie auf dem ungesicherten Leben aufbaut mit den Marmorquadern seiner Sätze, und der seine Feder dazu tief in jede brennende Wunde des ungesicherten Lebens hinabtaucht, und aus dem doch letzten Endes schon — wenn er es auch nicht Wahrheit haben will! — die Worte des Fr. Th. Vischerschen Glaubensbekenntnisses hervorbrechen:
In Seelen, die das Leben aushalten /
Und Mitleid üben / und menschlich walten /
Mit vereinten Waffen / wirken und schaffen
Trotz Hohn und Spott / da ist Gott!
Schopenhauer, der reinste Bekenner des ungesicherten Lebens auf der einen Seite. Und Nietzsche dagegen, der zum Schluss doch weiter nichts tut, als denen Recht zu geben, die schon so Recht behalten; der meint, dass das Gesindel den Born des Lebens vergiftet, von der blonden Bestie, dem Übermenschen und seiner Herrenmoral träumt. Die intellektuellen Franzosen beschäftigen sich gerade viel mit ihm, als mit dem deutschen Philosophen der Gegenwart und der heutigen Generation, und sie schmieden aus seiner Lehre Pfeile gegen uns. Wir lachen darüber. Es sollte uns zu denken geben. Nietzsche hat keine Achtung vor dem Leben; er nimmt es als eine gleichgültige Tatsache hin, die erst sich Berechtigung erwirbt dadurch, dass sie sich als Kraft manifestiert. Schopenhauer ist das Leben an sich viel zu sehr Problem, um es nicht in jeder, auch der gebrechlichsten Form als geheimnisvoll und heilig zu achten.
Ich weiss natürlich: ein Proteus, wie Nietzsche, ist nicht in ein Schema zu klemmen, und ich schätze ihn viel zu sehr, um das zu tun. Man verstehe mich darum nicht falsch: das ist eine Feststellung hier und kein Werturteil.
Ich habe viel Nietzsche in den letzten Jahren gelesen, nicht der Sprache, nicht des Baues wegen — sondern der Späne wegen, einzig der köstlichen Späne wegen, die nebenher abfallen, wenn er die Balken zu seinen Gerüsten schlägt. Und doch nur zwei Seiten Schopenhauer mal wieder, und da plötzlich aus all diesem doktrinären Ernst heraus irgend ein Wort von der wehen Kreatur, von der tiefen Ungesichertheit des Lebens, hart, verknurrt und doch schwellend von Mitfühlen, zitternd vor Durchfühlung — eine einzige Zeile nur, die einen im Innersten trifft — Und wo war der ganze Nietzsche hingeschwunden, wo all sein griechisches feuertrunkenes Tänzertum und seine dünne, eisigklare, champagnerprickelnde Gletscherluft des Geistes, der Rasse, der Kultur des Herrentums?! Wenn nicht Nietzsche zuerst und zuletzt die Philosophie des gesicherten Lebens verträte — wie hätte er dann auch durch den ‚Antichrist‘ gegen das ungesicherte Leben den flammendsten Bannstrahl schleudern können, den dieser Zeus in seinem Mantel verborgen hatte! Auch das nehme man etwa nicht als mein Werturteil über den Antichrist, und als mein Für oder Gegen, denn man würde sonst zu sehr falschen Schlüssen kommen! — sondern nehme es nur als Eideshelfer für meine Argumentationen vom gesicherten und ungesicherten Leben.
Schade, dass Nietzsche nicht das Wort Walt Witmans gekannt hat: „Hast du gehört, es sei gut, den Sieg zu gewinnen. Ich sage, es ist gut, zu fallen. Schlachten können verloren werden in demselben Geiste wie gewonnen. Ein Hoch allen, denen es fehlschlug. Für die, deren Kriegsschiffe in der See versanken. Und den zahllosen unbekannten Helden, gleich den grössten Helden, die man kennt.“ Ich glaube, das hätte ihm zu denken gegeben.
Rembrandt und Raphael. Man hat gerade viel darüber geschrieben: hat sie als germanisch und romanisch gegenübergestellt. Als Protestantismus und Katholizismus, als Gefühlskunst und Formkunst. Kaum ein Einsichtiger ist heute im Zweifel, wessen Schale tiefer sinkt. Und es bedarf ja wohl keiner Kommentare, wenn ich sie die Kunst des ungesicherten und des gesicherten Lebens nenne.
Als Langbehn seinen ‚Rembrandt als Erzieher‘ schrieb, jenes Buch, das sich las, — ein witziger Philosoph sagte es — wie ein ‚toll gewordenes Konversationslexikon‘, und von dem doch jetzt mit einem Mal wieder soviel gesprochen wird, da waren es sicherlich ähnliche Ideenkreise, die ihn instinktiv dazu trieben. Nur dass er weiter ging und in Rembrandts Wesen die Essenz des Germanentums sah — und aus ihm soziale und Menschheitsaufgaben ableitete, die zu lösen dem Germanentum vorbehalten sein sollten.
Beethoven und Wagner. Es ist seltsam, wie stark sich jetzt mit einem Mal eine Ablösung von Wagner vollzieht. Nietzsche, der aus dem gleichen Ideenkreis kam (den er in einer Hinsicht wohl nie überwand), aber einen untrüglichen Gradmesser für alle Kunst trotzdem in seinen feinen, kranken Nerven hatte, war hierin seiner Gegenwart um dreissig Jahre voraus. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch, das ich in den neunziger Jahren — ich verkehrte damals viel mit Musikern — mit einem Komponisten hatte. „Wagner,“ sagte ich, „ist nur etwas für Glückliche, Beethoven ist auch etwas für Unglückliche, weil sich aus urgründlichen Schmerzenstiefen sein jubelndes Dennoch emporringt.“
„Ja,“ sagte der Komponist und wurde nachdenklich — „da scheint im Kern etwas Wahres daran zu sein, weil wohl Beethoven absolute Musik macht, und der andere eigentlich nur im höchsten Sinne musikalischdekorativ ist.“
Sprach ich nicht schon da unbewusst aus, was mir heute zur Gewissheit geworden ist, dass alle Kunst in die Kunst des gesicherten und des ungesicherten Lebens sich scheidet, — und dass die grössten bleibenden Werte aus dem ungesicherten Leben hervorblühn mit ihrer endlichen Bejahung aus der Verneinung? Nicht nur alles was weh und wund, Nerv, Zittern und Mitfühlen ist: Die letzten Verse Günthers, Verlaines, Heines Romancero und Lazarus?!
Die gesicherte und ungesicherte Kunst braucht nicht immer einem gesicherten oder ungesicherten Leben seines Schöpfers konform zu gehen, zuletzt steckt in dem Patriziersohn Goethe, dem nie das Wasser bis zum Halse stand, unendlich viel mehr von der Kunst des ungesicherten Lebens, als in dem Sohne des Feldscheers aus Marbach, der es leider sehr früh lernte, von sich selbst zu abstrahieren, um auf kaltem Wege die Wesensmöglichkeiten auszunützen, die in ihm waren. Man hat ihn immer als das Urbild des deutschen Idealisten hingestellt, weil er in einsamer Dachstube mit den Gekrönten dieser Welt Zwiesprache hielt. Ein Unsinn — ganz abgesehen davon, dass das doch nur eine schöne Mythe ist. Ich höre immer noch den alten famosen Hermann Grimm, wie er im Kolleg so in seiner freundlich-drastischen Art vor sich hinmeckerte: ‚ich versichere Sie, meine Herren, bei Schiller im Hause ging der Champagner nie aus.‘ Aber hat denn noch niemand darauf aufmerksam gemacht, dass Schiller eigentlich viel romanisches Pathos hat, das dekorativ um seiner selbst willen da ist, Beweislosigkeit, Kritiklosigkeit eines durch kein Nachdenken getrübten Temperamentes, dass er durchaus unlyrisch ist — (alle Kunst des ungesicherten Lebens ist im letzten Sinne lyrisch) und mit seinem Sinn für Rhetorik, Versprunk, Hinrollen jenem romanischen Geist, der sich in Racine und Corneille verkörpert, verwandt ist? Immerhin auch diese Kunst des gesicherten Lebens stieg aus dem ungesicherten Leben empor. Und das steht ja eigentlich hier nur zur Diskussion.
Grade in dem Lande jedoch, in dem der Staat am härtesten und niederdrückendsten die Form des gesicherten Lebens aufzeigt — ein Staat, der es fertig bekam, innerhalb eines Jahrzehnts zweimal seinen Völkern die wahnsinnigsten Blutopfer aufzuerlegen (eine Sache die einzig in der Weltgeschichte ist!) — grade in dem Land ist in der Literatur am reinsten die Kunst des un gesicherten Lebens zu finden. Ich kenne keinen russischen Schriftsteller, der auf der Seite des gesicherten Lebens stände und wohl keinen Staat, der sich so bemühte (im Bild- und Wortsinn) seine Literatur zu strangulieren wie Russland es tut. Ich bewundere es, dass in Russland die Kunst so rückhaltslos und fast ohne Ausnahme eine Kunst des ungesicherten Lebens ist. Es spricht das nichts Schlechtes für ein Land, von dem wir ja so wenig wissen. Wenn auch die Rückschlüsse von ein paar Männern auf ein Volk, dem ja zu wohl neunzig Prozent aus Mangel an Schulbildung die Werke eben dieser paar Männer nicht zugänglich sind, kaum allzu viel Beweiskraft haben mögen.
Man könnte eine Skala aufstellen: Gogol, Turgenjew, Tschechow, Tolstoi, Gorki, Dostojewski. Turgenjew wäre da zum Beispiel der Aristokrat, der das ungesicherte Leben sieht, Kunstaristokrat dabei bleibt, und dem doch aus seinem Mitleiden Wundervolles erblüht. Tschechow ist der schwindsüchtige Arzt (die beiden Worte sind stärker als alle Erklärungen). Tolstoi ist der Gesicherte, der das ungesicherte Leben spielt und noch mit seinem Tode ein seltsames Schauspiel von angstvoller Flucht vor dem gesicherten Leben gibt, an das Tier gemahnend, das sich ins Gebüsch verkriechen will, um zu verrecken. Gorki ist der Landstreicher aus der Hefe, und endlich Dostojewski ist der Spieler, Epileptiker, Anrüchige, kleinhirnige Fanatiker, der Sträfling aus dem Totenhaus — er, dem alle die Palme reichen, und den man sich mit seinem seelischen Neuland aus der Literatur keines Landes mehr fortdenken kann, nicht wie Turgenjew ein Mensch des Mitleids, sondern ein Dichter des Mitfühlens.
Ich will die Beispiele nicht häufen, nicht von Verlaine sprechen, dem deutschen Lyriker, der sich nach Frankreich verirrte. Von Charles Louis Philippe, den das jüngste Frankreich abgöttisch verehrt, und der ohne Dostojewski undenkbar wäre. Ich will nur noch Richard Dehmel erwähnen und Thomas Mann. Bei Thomas Mann pendelt die Dichtung stets um das eine Problem, im gesicherten Leben das ungesicherte aufzuweisen, von ‚Lobgott Piepsam‘ an, an dem ‚das Leben‘ (sic!) vorüberradelt, bis zum ‚Tod in Venedig‘. Und Richard Dehmel bekam plötzlich (wohl unter dem Einfluss äusserer Lebensumstände: ‚Mispeln und Autoren müssen auf Stroh liegen‘ meint Heine irgendwo — ‚Es wird Ihnen nie wieder so gut gehen als damals, da es Ihnen schlecht ging‘ — hörte ich letzthin einen klugen Kopf sagen) — Richard Dehmel bekam ja wohl so irgendwie einen Knax, schwenkte vom ungesicherten Leben zum gesicherten in der Grundtendenz über, und verlor literarisch den seltsam-faszinierenden Glanz des ungesicherten Lebens aus seinen Augen. Eine Tatsache, der selbst seine besten Verehrer auf die Dauer sich nicht verschliessen konnten.
Aber keine Beispiele mehr. Man kann — ich meine trotz Herrn Blei — sagen, dass alles, was wirklich grosse Kunst und grosse Literatur ist, — Literatur, nicht jene Erzählungen des gesicherten Lebens, von denen vorher gesprochen wurde — — aus dem ungesicherten Leben emporblüht. Es ist eben doch zum Schluss ein Schiff mit grösserem Tiefgang als das gesicherte. Und selbst wenn einmal so wundervolle Gebilde wie Hofmannsthal, in glücklicher Mischung von Romanentum, Judentum und Germanentum, aus dem gesicherten Leben sich erschliessen — ist es dann doch zum Schluss traurig, zu sehen, wie sie, ohne neue Kräfte einsaugen zu können, fast in Angst vor ihrer eigenen Schönheit dahinwelken.
Die einen sind Walderdbeeren, den allerletzten vergleichbar, die hoch oben am Rand der Vegetation, unterm Knieholz, zur Reife kommen, langgestreckt, grazil, mit zierlichen Tupfen der Samen, — feurig, süss und säuerlich zugleich, und in deren Aroma alle Sonnenglut des Hochgebirges, die Kälte der Nächte, die Bitterkeit der Schneestürme, alle verfliegende Klarheit der metallisch-dünnen Luft, alle Fernblicke über die Hügel fort und alle Tiefblicke in die Täler hinab wiederklingen. Und die andern sind Gartenerdbeeren, fleischig, versüsst, hochgetrieben, gewiss gut im Geschmack, aber auf die Dauer fade, ohne neue Segnungen und Überraschungen.
Man lasse mich nicht den gleichen Gedanken durch irgendwelche wissenschaftlichen Disziplinen weiterverfolgen. Jedes Buch der Erfindungen brächte tausendfaches Illustrationsmaterial dazu. Immer wieder sind es die Aussenseiter gewesen, jene, die von unten, von draussen kommen, die die Welt vorwärtsbrachten. Und da selbst, wo man den andern — wie in der Philosophie — breite Betten an den Universitäten bereitete, wurden die lebensfähigen Kinder meist abseits hinter irgend einem Zaun geboren. Man führe mir nicht Kant an. Der Staat wusste wohl, warum er ihn beliess und nur ab und zu ein wenig rüffelte und die Kandare fester anzog, wenn er etwas sagte, was er nicht für seine Zwecke — wer denkt da nicht an Nietzsches lustige philosophisch-kantische Examensfragen für preussische Beamte?! — nicht für seine Staatszwecke benutzen konnte.
Der Staat — nicht unser Staat, nein, rein kantisch: der Staat an sich! ... Lucia Dora Frost, sicherlich eine der überragenden unter den heute schreibenden Frauen in Deutschland, hat in ihrem Essay ‚Preussische Prägung‘ ein paar feine Worte über den Staat gesagt, wie er sich gegen das Einzelleben stellt, gegen seine Begabung, mit tiefem Misstrauen jedes natürliche Können betrachtet, und stets ein Bild des Kampfes bietet, den die Macht mit dem undisziplinierten Genie führt, um sich doch nachher — ein Klein Zaches, genannt Zinnober — dessen Erfolge gutzuschreiben.
Ich weiss nicht, was der Staat ist; ich weiss aber, dass er von je ein retardierendes Moment war, dass er überall und immer das Unglück der Völker war, —
Armes Volk! Wie Pferd und Farren
Bleibst du angeschirrt im Karren
Und der Nacken wird gebrochen,
Der sich nicht bequemt in Jochen.
— das Unglück der Völker war, weil er stets auf der Seite des gesicherten Lebens stand, — eins Macht, der jeder Zollbreit Weiterentwicklung abgerungen werden musste und die stets, wenn sie sich notgezwungen darauf verstand, die Leine hier mal ein Stückchen lockerer zu lassen, sie auf der anderen Seite dafür wieder gehörig anzog, so dass sie immer das blieb, was sie war: eine Einschnürung für alle geistige, seelische, kulturelle Expansion. Eine Sache war sie, diese Macht, die in jeder Neuerung, jeder Fortentwicklung, die aus dem ungesicherten Leben emporstieg, ihren natürlichen Feind roch, den sie so lange wie irgend angängig niederhalten musste. Stellt sich doch sogar der Staat eigentlich von jeher auch gegen Dinge, die scheinbar mit der Staatsräson — — ein Wort, das Bände spricht! — — gar nichts, nicht das geringste, zu tun haben, wie, ein Beispiel, die Weiterentwicklung der bildenden Künste. Nirgends war der Staat ein Kleid, das mit dem Körper wuchs, ihn umhüllend, wärmend, schützend; nicht einmal in Athen, das einen Sokrates — der heutige Philosoph des gesicherten Lebens frohlockt darüber; er hasst diesen Plebejer, diesen Mann vom ungesicherten Leben — — einen Sokrates gegen die Einsicht aller zum Giftbecher verurteilen konnte — sondern stets und immer war er nur allzu enge Eisenfessel, die solange unerträglich ins Fleisch schnürte, jede Bewegung des ungesicherten Lebens hemmend, bis sie gesprengt wurde. Und die sich in kurzem immer wieder von neuem herumlegte um den Körper der Völker; vielleicht ein wenig weiter als vorher, jedoch nie ein Kleid, sondern immer nur wieder eine Eisenfessel.
Ob die heutigen Staats- und Gesellschaftsformen von andern abgelöst werden?! Man grübelt oft darüber nach. Man glaubt auch ein ganz klein wenig daran; denn irgendwo muss doch diese Lage einmal der Menschheit zur Erkenntnis kommen. Nicht wahr? Es wäre doch sonst eine zu wahnwitzige Sinnlosigkeit des Erdgeschehens, wenn zum Beispiel ein Zustand wie der jetzige: dass sich Völker, die eigentlich kaum geographische Vorstellung voneinander haben — geschweige denn andere! — auf Befehl generationsweise hinschlachten — wenn ein solcher Zustand hoffnungslos verewigt würde. Dann wäre man ja einem Erfinder dankbar, der es ausklügelte, wie man diesen ganzen alten Kasten auf einmal mit allem, was drauf geht und steht, in Atome zersprengen könnte. —
Ach, ich fürchte fast, man wird glauben, ich sei gehässig gegen das gesicherte Leben; ungerecht, mache Vorwürfe, klage die Zeit, den Staat, die Gesellschaft an; will das unterste zu oberst kehren, eine Menschenhälfte gegen die andere ausspielen; bin Sozialist, gar Anarchist der Idee nach, träume von neuen Gesellschaftsordnungen. — Nichts liegt mir ferner! Ich sage nicht Ja und ich sage nicht Nein. Ich stelle fest. — Ach, ich bin nicht einmal derart anspruchsvoll, um meine Mutmassungen über das Wesen irgendwelcher Dinge ‚Feststellungen‘ zu nennen, oder gar anzuklagen, verantwortlich zu machen. Wie blind müsste man durch dieses Leben gegangen sein, wenn man nicht einmal das gesehen hätte, dass die Menschen unverantwortlich sind. Vielleicht auch unwandelbar! Endsummen aus langen Reihen komplizierter Faktoren, die sich immer fast gleichbleiben, so lange nur die Faktoren im grossen und ganzen sich gleichen. Das wusste schon Aristophanes, als er seinen Plutos schrieb, dieses unsterbliche Gelächter, wie der blinde Gott des Reichtums sehend wird, die Schlechten enterbt, die Guten begütert, und die nun im Augenblick zu genau den Kerlen umschafft, die die andern vorher waren.
Ich bin weder für, noch gegen. Ich bin keineswegs altruistisch. Man glaube nicht, dass mir die Menge, oder der Einzelne irgendwie angenehm ist. Ich bin im besten Falle: unbeteiligt. Mich interessieren Staaten und Religionen so ungefähr wie den jungen griechischen Sprachlehrer in Shaws ‚Major Barbara‘, der sagt, dass er ‚Religionen sammelt‘, ähnlich wie ein Amateur altes Porzellan. — Mich beschäftigt alles nur in Beziehung auf mich selbst. Ich liebe den Menschen nicht, und ich hasse ihn nicht. Ich bete nur das Leben an — der Güter höchstes — trotz aller gegenteiligen Phrasen; und trotzdem es heute millionenfach verspritzt wird, als ob es Plunder wäre. Ich bete das Leben an, als Macht, als Schönheit, als Sinnlichkeit, als Schmerz, als Unsicherheit, als Ungeklärtheit, als zwanzig- und vierzigjähriges zu begrübelndes Rätsel, das jedem vorgelegt wird und für dessen Sphinx noch kein Ödipus kam. Denn jeder wurde noch von ihr zum Schluss vom Felsen gestürzt. Ich habe eine Vorstellung von ihm als etwas, das geheiligt ist, das sich erfüllen will, das nicht vernichtet werden darf. Und ich sehe es dagegen doch nur gehetzt, gequält, gemordet, verjämmerlicht, versklavt, verkommen und vertiert — schlimmer als vertiert! Ich glaube, dass Millionen und Millionen von Menschen weit trauriger durch die Welt gehen als irgend ein anderes tierisches Leben, das sich zum Licht ringt.
Das aber schmerzt mich. (Nicht der Menschen wegen.) Da quälen wir einander und peitschen einander und knechten einander und halten nieder, bedrücken, bekämpfen, Leib gegen Leib, Volk gegen Volk. Und zum Schluss ist der Mensch — wer er auch immer sei — hüben und drüben — ein so armes, schwaches, unverantwortliches, durch seine Körperlichkeit und seine Unwissenheit vor dem All zerquältes Luder — ein solch flackerndes Fünkchen Dasein, irgend einmal für Sekunden auf irgend einem Winkel irgend eines Erdkorns entzündet, um nach endloser Nacht in endlose Nacht zu verlöschen; ein Theaterbesucher ist er, — vielleicht im Parterre, vielleicht im viertem Rang — der vor Anfang des Stückes gerade sich mal den Vorhang besehen darf, ehe der Logenschliesser ihm bedeutet, dass sein Billett heute keine Gültigkeit hat; solch ein wunder Hund ist er, — — — dass man ihm wirklich dieses Fünkchen Leben lassen, diese paar Blicke, diese paar Schlucke und Bissen, die er erraffen kann, diese vierzig Jahre Fron und Ungewissheit nicht noch vergällen, missgönnen und erschweren soll.