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Kapitel 1

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Der fünfte Oktober

Am 5. Oktober sollten die Brotkarren aus der Provence

nach Paris kommen. Der Stadtrat hatte es an allen

Straßenecken in seinen großen roten Lettern anschlagen

lassen. Und das Volk trieb sich den ganzen Tag vor ihnen

herum wie vor den Toren einer neuen und ungeheuren

Offenbarung. Ausgehungert bis in die Knochen träumte

es da von Paradiesen der Sättigung, ungeheuren

Weizenfladen, weißen Mehlpasteten, die in allen

Garküchen prasseln würden.

Alle Schlote sollen rauchen. Man wird die Bäcker an

die Laternen hängen, man wird selber braten, man wird

seinen Arm bis über die Ellenbogen in Mehl tauchen.

Das weiße Zeug wird die Straßen wie ein fruchtbarer

Schnee überziehen, der Wind wird es vor der Sonne

hintreiben wie eine dicke Wolke.

Auf allen Straßen werden große Tische aufgestellt

werden, Paris wird ein großes, gemeinsames Mahl

abhalten, einen gewaltigen Sabbath.

Die Menschen drängten sich vor den verschlossenen

Kellern der Bäckereien und schielten herab auf die leeren

Backtröge, die hinter den Gitterfenstern standen, sie

sahen vergnügt auf die schwarzen Mäuler der riesigen

Backöfen, die ohne Feuer standen, und wie sie, nach Brot

hungerten.

An einer Straße eines Viertels am Mont Parnasse

wurde eine Bäckerei erbrochen, mehr aus Langerweile,

um sich die Zeit zu vertreiben, als aus der Hoffnung, in

den Kästen noch Brot zu finden.

Drei Mann, Kohlenträger aus St. Antoine, brachten

den Bäcker heraus. Sie warfen ihm seine weiße Perücke

hinunter und stellten ihn unter die verbogene Lampe

seiner Tür. Der eine riß seinen Hosenbund ab, drehte

eine Schlinge und warf sie dem Bäcker um den Hals.

Dann hielt er ihm seine schwarze Faust unter das Gesicht

und schrie ihn an: »Du verfluchter Mehlwurm, jetzt

werden wir dich aufhängen.«

Der Bäcker fing an zu jammern, und sah sich unter

den Umstehenden nach Beistand um. Aber er sah nur

lauter grinsende Gesichter.

Der Schuster Jacobus trat vor und sagte zu den

Vorstädtern: »Meine Herren, wir wollen das Schwein

laufen lassen, aber er muß mir erst ein Gebet

nachsprechen.«

»Ja, ein Gebet nachsprechen«, wimmerte der Bäcker.

»Lassen Sie mich ein Gebet nachsprechen.«

Jacobus fing an: »Ich bin der verfluchte Saubäcker.«

Der Bäcker sprach nach: »Ich bin der verfluchte

Saubäcker.«

Jacobus: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich stinke

auf tausend Meter.«

Der Bäcker: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich

stinke auf tausend Meter.«

Jacobus: »Ich bete alle Tage zu den vierzehn

Nothelfern, daß niemand merken soll, was ich alles in das

Brot tue.«

Der Bäcker wiederholte auch das.

Das Publikum wieherte. Eine alte Frau setzte sich auf

die Treppenstufen und gackerte vor Lachen wie eine alte

Henne beim Eierlegen.

Jacobus konnte selber vor Lachen nicht mehr weiter.

Eine Weile ging dieses komische Anathema noch fort,

zuletzt wurde die erbärmliche Gestalt den Leuten zu

langweilig. Man ließ ihn stehen mit seinem Strick um den

Hals.

Es begann stark zu regnen, die Leute traten unter die

Dächer. Der Bäcker war fort. Nur seine weiße Perücke

lag noch mitten auf dem Platze und begann, sich im

Regen aufzulösen. Ein Hund nahm sie in das Maul und

schleppte sie fort.

Allmählich ließ der Regen nach, und die Menschen

traten wieder auf die Straße. Der Hunger begann sie

wieder zu beißen. Ein Kind fiel in Krämpfe, die

Umstehenden sahen zu und gaben gute Ratschläge.

Auf einmal hieß es: »Die Brotkarren sind da! Die

Brotkarren sind da!« Die ganze Straße hinab lief das

Geschrei. Und die ganze Straße begann, sich aus den

Toren hinauszudrängen. Sie kamen an das Land, in die

kahlen Felder, sie sahen einen verlassenen Himmel und

die lange Reihe von Pappelbäumen der Chaussee, die

hinten in dem armseligen Horizont der Ebenen

untertauchten. Ein Stoß Raben flog über sie vor dem

Winde her, den Städten zu.

Die Menschenströme gossen sich in die Felder.

Manche hatten leere Säcke auf den Schultern, andere

Fleischermollen, Kessel, um das Brot fortzubringen.

Und sie warteten auf die Karren, den Rand des

Himmels durchforschend, wie ein Volk Astronome, das

nach einem neuen Gestirn sucht.

Sie harrten und harrten, aber sie sahen nichts als den

Wolkenhimmel und den Sturm, der die hohen Bäume

hin- und herbog.

Von einer Kirche schlug es in die stummen Massen

langsam die Mittagsstunde. Da begannen sie, sich zu

besinnen, daß sie sonst um diese Zeit um volle Tische

gesessen hatten, auf deren Mitte wie ein dicker König ein

weißer Laib Brotes geprangt hatte. Und das Wort »Pain«

zwang sich mit seiner ganzen Weiße, seiner Fette, in das

Gehirn der Masse, und lag darin wie ein Stein in der

Sonne, riesig, groß, knusprig, zum Anschneiden. Sie

schlossen die Augenlider, und sie fühlten den Saft des

Weizens über ihre Hände tröpfeln. Sie fühlten die

Wärme, die heilige Wolke der Backöfen, eine rosige

Flamme, die die weißen Brotlaibe röstete und schwärzte.

Und ihre Hände zitterten vor Verlangen nach dem

Mehl. Sie fröstelten vor Hunger, und ihre Zungen

begannen, im leeren Munde zu kauen, sie begannen, die

Luft zu schlucken, und ihre Zähne schlugen willenlos

aufeinander, als zermalmten sie die weißen Bissen.

Manchen hingen ihre Sacktücher aus dem Munde, und

ihre großen Zähne kauten darauf herum, langsam, wie

Maschinen. Sie hatten ihr eingefallenes Auge geschlossen

und wiegten ihre Köpfe über ihren Zulp im Takte einer

geheimnisvollen, quälerischen Musik.

Andere saßen auf den Prellsteinen an der Straße und

weinten vor Hunger, während sich um ihre Knie große

magere Hunde herumtrieben, denen die Knochen fast

durch das Fell stachen.

Eine schreckliche Müdigkeit befiel die regungslosen

Massen, eine ungeheure Apathie fiel lähmend wie eine

dicke Decke auf ihre weißen Gesichter.

Ach, sie hatten keinen Willen mehr. Der Hunger

begann ihn langsam zu ersticken und sie in einem

schrecklichen Schlaf und der Marter seiner Träume zu

entmannen.

Weit um sie herum lief die Ebene Frankreichs herab,

verzäumt von gespenstigen Mühlen, die rings um den

Horizont standen wie Türme oder riesige Gottheiten des

Kornes, die mit den Armen ihrer großen Flügel

Mehlwolken aufstäubten, als dampfe Weihrauch um ihre

großen Häupter.

Ungeheure Tafeln standen am Rande Frankreichs, die

unter der Last der großen Schüsseln zu schwanken

begannen. Man winkte sie her. Aber sie waren auf große

Folterbetten gebunden, und ihr Blut hatte das furchtbare

Opium des Hungers betäubt und in schwarze Schlacke

erstarrt. Sie wollten schreien: »Brot, Brot, nur einen

Bissen, Erbarmen, Barmherzigkeit, nur einen Bissen,

lieber Gott.« Aber sie konnten ihre Lippen nicht

aufmachen, schrecklich, sie waren stumm. Schrecklich,

sie konnten kein Glied rühren, sie waren gelähmt.

Und die schwarzen Träume flatterten über die

Haufen, die zu Klumpen geballt beieinander standen und

lagen wie ein Heer, verurteilt zum ewigen Tode,

geschlagen mit ewiger Stummheit, verflucht, wieder in

den Bauch von Paris unterzutauchen, zu leiden, zu

hungern, geboren zu werden und zu sterben in einem

Meer der schwarzen Finsternis, der Fronden, des

Hungers und der Sklaverei, erdrückt von blutgierigen

Steuerpächtern, ausgemergelt von der ewigen

Auszehrung, entnervt von dem ewigen Rauch der Gassen

und wie ein altes Pergament verwelkt von der beizenden

Luft ihrer niedrigen Höhlen, verdammt, einst zu erstarren

im Schmutze ihrer Betten und in einem letzten Seufzer

den Priester zu verfluchen, der gekommen war im

Namen seines Gottes, im Namen des Staates und der

Autorität, ihnen zum Dank für die Geduld ihres elenden

Lebens die letzten Groschen zu Kirchenvermächtnissen

abzupressen.

Niemals schien eine Sonne in ihre Gräber. Was

kannten sie von ihr in ihren gräßlichen Löchern? Sie

sahen sie manchmal mittags über die Stadt hinschweben,

betäubt von ihrem Qualm, in dicke Wolken gehüllt, eine

Stunde oder zwei. Und dann verschwand sie. Die

Schatten kamen wieder unter den Häusern hervor und

krochen an ihnen hoch, schwarze Polypen der Gasse mit

ihrer kalten Umarmung.

Wie oft hatten sie an den Gärten von Luxembourg

gestanden, und durch die Spaliere der Grenadiere auf die

weiten sonnigen Wiesen geschaut. Und sie hatten die

Tänze der Hofdamen angeglotzt, die Hirtenstöcke der

goldbetreßten Kavaliere, die Bücklinge der Mohren, die

Tabletten voll Orangen, Biskuits, Konfekt, die goldene

Karosse, in der die Königin langsam durch den Park fuhr

wie eine syrische Göttin, eine ungeheure Astarte, starrend

von weißer Seide und glitzernd wie eine Heilige von

tausend Perlen.

O, wie oft hatten sie von dem Duft, der Würze des

Moschus getrunken, wie oft waren sie beinahe erstickt

von den Wohlgerüchen des Ambra, die aus dem Park des

Luxembourg zogen wie aus einem geheimnisvollen

Tempel. O, man hätte sie doch einmal hereinlassen

können, einmal auf einem solchen Samtstuhl zu sitzen,

einmal in einem solchen Wagen zu fahren. Sie hätten mit

Vergnügen die ganze Nationalversammlung

totgeschlagen, sie hätten dem König die Füße geküßt,

wenn er sie einmal für eine Stunde ihren Hunger und die

kahlen Felder verzweifelter Ernten hätte vergessen

machen.

Und sie zerpreßten sich ihre Nasen an den

Eisenstäben der Gitter, sie steckten ihre Hände hindurch,

Scharen von Bettlern, Herden von Ausgestoßenen und

Wimmernden. Und ihr schrecklicher Geruch zog in den

Park wie eine Wolke düsteren Abendrotes, das einem

schrecklichen Morgen voraufgeht. Sie hatten sich an das

Gitter gehängt wie gräßliche Spinnen und ihre Augen

waren weit in den Park hinausgewandert, in seine

abendlichen Wiesen, seine Hecken, seine Lorbeergänge,

seine Marmorfiguren, die von ihrem Postament herab

ihnen ihr süßliches Lächeln zukehrten. Kleine

Liebesgötter, Putten, dick wie gemästete Gänse, mit

Armen, die weißen ausgestopften Würsten glichen,

zielten nach ihrem aufgerissenen Mund ihre Liebespfeile

und winkten ihnen mit dem steinernen Köcher, während

auf ihre Schultern wie ein Klotz die Arme der

Gerichtsvollzieher fielen, die gekommen waren, sie in die

Schuldtürme zu werfen.

Die Schläfer stöhnten, und die Wachenden beneideten

sie um ihren Schlaf.

Sie sahen vor sich hin, voraus, die Straße hinab nach

den Brotkarren, die ausgestorbene Straße, die die

Schrecken der Revolution verödet hatten und die wie ein

toter Darm keine Zufuhren mehr in den Bauch

Frankreichs hineinwarf. Sie war weiß und lief endlos in

einen tauben Himmel, der, fett wie ein Pfaffengesicht,

feist wie eine Bischofsbacke und ohne Runzeln wie ein

gemästeter Bettelmönch, seine fahle Stirn am Horizont

zeigte. Er war friedlich wie eine Dorfmesse, er war von

kleinen, grauen Nachmittagswolken sanft eingerahmt wie

ein alter Abbé, der nach dem Mittagessen in seiner

Sakristei, im Lehnstuhl sanft versargt, schlummert,

während ihm die Locken seiner Perücke in die Stirn

fallen.

Die Lumpen der Menschenherden verbreiteten einen

entsetzlichen Gestank. Ihre schmutzigen Halsbinden

flatterten um ihre grauen Gesichter. Ersticktes Weinen

verflog durch das entsetzliche Schweigen. Soweit man

sah, stachen ihre durchlöcherten Dreispitze in die Luft,

auf denen manchmal schmutzige Straußfedern tanzten.

Die zerstreuten schwarzen Figuren der Massen glichen

den erstarrten Pas eines düsteren Menuetts, einem Tanze

des Todes, den er mit einem Male hinter sich hatte

erstarren lassen, verwandelt in einen riesigen, schwarzen

Steinhaufen, gebannt und erfroren von den Qualen,

Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die die Flamme

eines höllischen Gomorra in ewige Starre geschmolzen

hatte.

Hoch über ihnen in dem kalten Oktoberhimmel ging

der eiserne Pflug der Zeit, der seine Felder ackerte mit

Kummer, besäte mit Not, auf daß daraus eines Tages die

Flamme der Rache aufginge, auf daß eines Tages die

Arme dieser Tausende leicht würden, beschwingt und

fröhlich wie leichte Tauben beim Schnitterdienste der

Guillotinenmesser, auf daß eines Tages sie wie Götter der

Zukunft unter den Himmel treten könnten, barhäuptig,

in dem ewigen Pfingsten einer unendlichen Morgenröte.

Aus dem weißlichen Himmel am fernen Ende der

Landstraße löste sich ein schwarzer Punkt.

Die Vordersten sahen ihn, sie machten einander

aufmerksam. Die Schläfer erwachten und sprangen auf.

Alle sahen die Straße hinab. War dieser schwarze Punkt

das Mekka ihrer Hoffnung, war das ihre Erlösung?

Für einige Augenblicke glaubten sie alle daran, sie

zwangen sich, daran zu glauben.

Aber der Punkt wuchs zu schnell. Jetzt sahen es alle,

das war nicht der langsame Zug vieler Karren, das war

keine Mehlkarawane. Und die Hoffnung verlor sich im

Winde und verließ ihre Stirnen.

Aber was war das? Wer ritt so toll? Wer hatte in dieser

toten Zeit einen Grund, so zu reiten?

Ein paar Männer kletterten auf die dicken Weiden und

spähten über die Köpfe der Massen.

Jetzt sahen sie ihn und schrien seinen Namen herab.

Es war Maillard. Maillard von der Bastille. Maillard vom

14. Juli.

Und da kam er heran, mitten unter die Volkshaufen.

Er hielt an, und dann bekam er nur ein Wort heraus.

»Verrat!« schrie er.

Da brach der Orkan los. »Verrat, Verrat!« Einige zehn

Mann faßten ihn an und hoben ihn auf ihre Schultern. Er

stand oben, mit der einen Hand sich an einen Baum

stützend, ohnmächtig vor Anstrengung, fast blind vom

Schweiß, der ihm aus seinem schwarzen Haar um die

Augen lief.

Maillard will reden, hieß es. Da trat eine furchtbare

Ruhe ein. Alle warteten, warteten mit dem furchtbaren

Warten der Massen vor dem Aufruhr, in den furchtbaren

Sekunden, in denen die Zukunft Frankreichs gewogen

ward, bis die Schale voll Fesseln, Kerkern, Kreuzen,

Bibeln, Rosenkränzen, Kronen, Zeptern, Reichsäpfeln,

gebettet in die falsche Sanftmut bourbonischer Lilien,

voll hohler Worte, Versprechungen, Tafeln voll

königlicher Eidbrüche, ungerechter Urteile, harmloser

Privilegien, dieser ungeheure Berg alles dessen, mit dem

die Jahrtausende Europa betrogen hatten, langsam zu

sinken begann.

Maillard schwang sich in den Baum herauf.

Aus seiner kahlen Kanzel herab warf er seine

furchtbaren Worte über die Menschen dahin, über die

kahlen Felder, die düsteren Wälle, die schwarzen

Zugbrücken, überladen von Menschen, in die Tunnels

der Tore, über die Dächer von Paris, in die Höfe und

Gäßchen der düsteren Faubourgs, in alle die Burgen des

Elends weit hinaus, wo unter der Erde in den Kanälen

bei den Quartieren der Ratten noch ein verdammtes Ohr

war, das seine Worte vernahm.

»An die Nation! Ihr Armen, ihr Verfluchten, ihr

Ausgestoßenen! Man verrät euch. Man preßt euch aus.

Ihr werdet bald nackt herumlaufen, auf den Treppen

werdet ihr sterben, und aus euren starren Händen werden

die Steuerpächter, die Schergen des Capets, Bluthunde

des Bluthundes, Spinnen der Spinne, eure letzten

Groschen reißen.

Wir sind verlassen, wir sind verstoßen, und es geht

mit uns zu Ende. Sie werden uns bald den letzten Rock

vom Leibe reißen. Aus unseren Hemden werden sie uns

Stricke drehen. Wir werden mit unserem Leibe die

kotigen Straßen pflastern, damit die Wagen der Henker

trocken darüber fahren. Warum sollten wir auch nicht

sterben? Denn wir verpesten mit unsern Leibern die Luft,

wir stinken, man faßt uns nicht an, nicht wahr? Warum

sollten wir nicht sterben? Was können wir auch tun? Wir

können uns ja nicht wehren? Wir sind mürbe gemacht,

wir sind stumm gemacht.

Man hat künstliche Teuerungen erzielt, man hat uns

ausgehungert, der Hunger hat uns totgemacht.«

Jedes Wort fiel wie ein schwerer Stein in das Volk. Bei

jeder Silbe warf er seine Arme nach vorn, als wollte er

mit dem Bombardement seiner Worte den Horizont

selber ins Wanken bringen.

»Wißt ihr, was diese Nacht geschehen ist? Die

Königin –«

»Ha, die Königin«, und die Massen wurden noch

stiller, als sie den verhaßten Namen hörten.

»Die Königin, wißt ihr, was die alte Hure getan hat?

Drei Regimenter Dragoner hat sie nach Versailles

kommen lassen. Die liegen in allen Häusern, und die

Leute der Versammlung wagen kaum noch zu reden.

Mirabeau ist klein geworden wie ein Zwerg, und die

anderen alle können sich kaum noch zu einem dürftigen

Räuspern aufschwingen. Es ist eine Schande, das zu

sehen. Wofür haben sie im Ballhause geschworen, diese

Komödianten der Freiheit? Wofür habt ihr euer Blut bei

der Bastille gelassen? Es war alles umsonst, hört ihr,

umsonst.

Ihr müßt wieder in eure Höhlen kriechen, die

Freiheitsfackel ist ein kleines Nachtlicht geworden, eine

kleine Tranfunzel. Gut genug, um euch wieder in eure

Löcher zu leuchten.

In drei Tagen wird Broglie mit seinen Truppen hier

sein. Die Versammlung wird nach Hause geschickt, die

Folter wird wieder aufgerichtet. Die Bastille wird wieder

aufgebaut. Die Abgaben werden wieder gezahlt. Alle

Kerker sperren schon ihre Mäuler auf.

Euer Hunger wird nicht gestillt werden, verzweifelt

getrost. Der König hat die Brotkarren noch vor Orleans

anhalten lassen und sie wieder nach Hause geschickt.«

Seine Worte gingen unter in dem Schrei der Wut. Ein

ungeheurer Sturm geballter Fäuste schüttelte sich in der

Luft. Die Massen begannen zu schwanken, wie ein

ungeheurer Malstrom, rund um seinen Baum.

Und der Baum ragte heraus aus dem Meere der

Schreie, aus den kreisenden Flüchen der verzerrten

Gesichter, aus dem Echo des Zornes, das wie ein

schwarzer, riesiger Wirbelwind vom Himmel zurückkam

und ihn im Kreise zu erschüttern begann, daß er dröhnte

wie der Klöppel einer ehernen Glocke.

Der Baum ragte heraus wie von düsteren Flammen

angezündet, eine kalte Lohe, die ein Dämon aus dem

Abgrund hatte aufschießen lassen.

Hoch oben in seinem fahlen Geäst hing Maillard wie

ein riesiger schwarzer Vogel und warf seine Arme im

Kreise hin und her, als wollte er sich zum Fluge über die

Menschenmassen anschicken in den Abend hinaus, ein

Dämon der Verzweiflung, ein schwarzer Belial, der Gott

der Masse, der düstres Feuer aus seinen Händen warf.

Aber in seiner Stirn, die das dunkle Licht wie mit

überirdischer Weiße übergoß, spiegelte ein goldener

Strahl, der durch die Wolken kam, hoch über dem Chaos

aus dem Zenith des Himmels.

Nur ein kleiner Streifen am Westhimmel war hell

geworden, dort war der Himmel über die Felder gespannt

wie ein Teppich von seidener Bläue, der noch von den

Erinnerungen eines verschwiegenen Schäferspiels

träumte.

Aus dem Toben der Massen heraus schallte plötzlich

zweimal von einer lauten Stimme gerufen im Paroxysmus

eines gellenden Diskantes der Ruf: »Nach Versailles, nach

Versailles!« Es war, als hätte es die riesige Masse selber

gerufen, als hätte ein Wille das ausgesprochen, was in den

Tausenden der Köpfe sich wälzte. Da war ein Ziel. Das

war kein Chaos mehr, die Menschenmassen waren mit

einem Schlage ein furchtbares Heer. Wie ein riesiger

Magnet riß der Westhimmel ihre Köpfe herum, wo

Versailles ihrer harrte. Diese Straße würden sie jetzt

gehen, sie würden nicht mehr warten. Die Kräfte, die der

Sturm der Verzweiflung in ihnen aufgewühlt hatte, hatten

einen Willen, einen Weg. Der Damm war gebrochen.

Die ersten Reihen setzten sich spontan in Marsch. In

Reihen zu vieren, zu fünfen, soweit die Breite der Straße

es erlaubte.

Maillard sah das. Er kletterte, so schnell er konnte,

von seinem Baum herab, rief drei Mann, die er kannte, zu

sich und rannte mit ihnen über die Felder an den Massen

entlang, bis er ihre Spitze erreichte. Da stellte er sich mit

seinen Leuten dem Strome entgegen und versuchte, auf

sie einzureden, sie sollten einen Führer wählen, Waffen

holen. Aber er wurde nicht gehört. Jetzt war seine

Stimme wie die eines jeden anderen, der diese eisernen

Bataillone hätte aufhalten wollen. Die Massen stießen ihn

zur Seite, sie überschwemmten die kleine Mauer der vier

Mann und rissen Maillard und seine Leute mit sich die

Straße hinab.

Ein unsichtbarer Führer führte sie, eine unsichtbare

Fahne wehte vor ihnen her, ein riesiges Panier wallte im

Winde, das ein ungeheurer Fahnenträger vor ihnen

hertrug. Ein blutrotes Banner war entfaltet. Eine

gewaltige Oriflamme der Freiheit, die mit einem

purpurnen Fahnentuche im Abendhimmel ihnen

vorausflackerte wie eine Morgenröte.

Sie alle waren unzählige Brüder geworden, die Stunde

der Begeisterung hatte sie aneinandergeschweißt.

Männer und Weiber durcheinander, Arbeiter,

Studenten, Advokaten. Weiße Perücken, Kniestrümpfe

und Sansculotten, Damen der Halle, Fischweiber, Frauen

mit Kindern auf dem Arm, Stadtsoldaten, die ihre Spieße

wie Generale über der Masse schwangen, Schuster mit

Lederschürzen und Holzpantoffeln, Schneider,

Gastwirte, Bettler, Strolche, Vorstädter, zerlumpt und

zerrissen, ein unzähliger Zug.

Barhäuptig zogen sie die Straße hinab, Marschlieder

erschallten. Und an Spazierstöcken trugen sie rote

Taschentücher wie Standarten.

Ihre Leiden waren geadelt, ihre Qualen waren

vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.

Das war der Abend, wo der Sklave, der Knecht der

Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt in die

Abendsonne erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer

in seinen Händen trug.

Sie waren waffenlos, was schadete das, sie waren ohne

Kommandanten, was tat das? Wo war nun der Hunger,

wo waren die Qualen?

Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre

Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen

Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße

brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer,

ein urewiges Meer.

Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre, in der

Asche der Mühsal erstickt waren, fingen wieder an, zu

brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot.

Sie gaben sich die Hände auf dem Marsche, sie

umarmten sich. Sie hatten nicht umsonst gelitten. Sie

wußten alle, daß die Jahre der Leiden vorbei waren, und

ihre Herzen zitterten leise.

Eine ewige Melodie erfüllte den Himmel und seine

purpurne Bläue, eine ewige Fackel brannte. Und die

Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie

entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. Und

wie göttliche Schiffe, bemannt mit den Geistern der

Freiheit, segelten große Wolken in schnellem Winde vor

ihnen her.

Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie

große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die

weite Straße ihres Ruhmes hinab.

Der Irre

Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte

ihm sein Geld aus, der Türsteher schloß vor ihm die

große eiserne Tür auf. Er war im Vorgarten, er klinkte die

Gartenpforte auf, und er war draußen.

So, und nun sollte die Welt etwas erleben.

Er ging die Straßenbahnschienen entlang, zwischen

den niedern Häusern der Vorstadt durch. Er kam an

einem Feld vorbei und warf sich an seinem Rande in die

dicken Mohnblumen und den Schierling. Er verkroch

sich ganz darein, wie in einen dicken grünen Teppich.

Nur sein Gesicht schien daraus hervor wie ein weißer

aufgehender Mond. So, nun saß er erst einmal.

Er war also frei. Es war aber auch höchste Zeit, daß

sie ihn herausgelassen hatten, denn sonst hätte er alle

umgebracht, alle miteinander. Den dicken Direktor, den

hätte er an seinem roten Spitzbart gekriegt und ihn unter

die Wurstmaschine gezogen. Ach, was war das für ein

widerlicher Kerl. Wie der immer lachte, wenn er durch

die Fleischerei kam.

Teufel, das war ein ganz widerwärtiger Kerl.

Und der Assistenzarzt, dieses bucklige Schwein, dem

hätte er noch mal das Gehirn zertreten. Und die Wärter

in ihren weiß gestreiften Kitteln, die aussahen wie eine

Bande Zuchthäusler, diese Schufte, die die Männer

bestahlen und die Frauen auf den Klosetts

vergewaltigten. Das war ja rein zum Verrücktwerden.

Und er wußte wirklich nicht, wie er da seine Zeit

ausgehalten hatte. Drei Jahre oder vier Jahre, wie lange

hatte er da eigentlich gesessen, dahinten in diesem weißen

Loch, in diesem großen Kasten, mitten unter Verrückten.

Wenn er da morgens in die Fleischerei ging, über den

großen Hof, wie sie da herumlagen und die Zähne

fletschten, manche halbnackt. Dann kamen die Wärter

und schleppten die fort, die sich besonders schlecht

aufführten. Sie wurden in heiße Bäder gesteckt. Da war

mehr wie einer verbrüht worden, mit Absicht, das wußte

er. Einmal wollten die Wärter einen Toten in die

Fleischerei bringen, daraus sollte Wurst gemacht werden.

Das sollten sie dann zu essen bekommen. Er hatte es

dem Arzt gesagt, aber der hatte es ihm ausgeredet. So,

der hatte also mit unter der Decke gesteckt. Dieser

verfluchte Hund. Wenn er ihn jetzt hier hätte. Den würde

er in das Korn schmeißen und ihm die Gurgel abreißen,

diesem verfluchten Schwein, diesem Sauhund,

verfluchten.

Überhaupt, warum hatten sie ihn eigentlich in die

Anstalt gebracht? Doch nur aus Schikane. Was hatte er

denn weiter gemacht? Er hatte seine Frau ein paarmal

verhauen, das war doch sein gutes Recht, er war doch

verheiratet. Auf der Polizei hätte man seine Frau

rausschmeißen sollen, das wäre viel richtiger gewesen.

Statt dessen hatten sie ihn vorgeladen, verhört, lauter

Theater mit ihm aufgestellt. Und eines Morgens war er

überhaupt nicht mehr fortgelassen worden. Sie hatten ihn

in einen Wagen gepackt, hier draußen war er abgeladen

worden. So eine Ungerechtigkeit, so eine

Unverschämtheit.

Und wem hatte er das alles zu verdanken? Doch nur

seiner Frau. So, und mit der würde er jetzt abrechnen.

Die stand noch hoch im Konto.

Er riß in seiner Wut von dem Feldrande ein Büschel

Kornähren ab und schwenkte es wie einen Stock in der

Hand. Dann stand er auf, und nun wehe ihr.

Er nahm das Bündel mit seinen Sachen über seine

Schultern, dann setzte er sich wieder in Marsch. Aber er

wußte nicht recht, wo er hingehen sollte. Ganz hinten

über den Feldern rauchte ein Schornstein. Den kannte er,

der war nicht weit von seiner Wohnung.

Er verließ die Straße und bog in die Felder ab, mitten

hinein in die Halme. Geradeswegs auf sein Ziel zu. Was

das für ein Vergnügen war, so in die dicken Halme zu

treten, die unter seinem Fuß knackten und barsten.

Er machte die Augen zu, und ein seliges Lächeln flog

über sein Gesicht.

Es war ihm, als wenn er über einen weiten Platz ginge.

Da lagen viele, viele Menschen, alle mit dem Kopfe auf

der Erde. Es war so, wie auf dem Bild in der Wohnung

des Direktors, wo viele tausend Leute in weißen Mänteln

und Kapuzen vor einem großen Stein lagen, den sie

anbeteten. Und dies Bild hieß Kaaba. »Kaaba, Kaaba«,

wiederholte er bei jedem Schritt. Er sagte das wie eine

mächtige Beschwörungsformel, und jedesmal trat er dann

rechts und links um sich, auf die vielen weißen Köpfe.

Und dann knackten die Schädel; es gab einen Ton, wie

wenn jemand eine Nuß mit einem Hammer entzweihaut.

Manche klangen ganz zart, das waren die dünnen, das

waren die Kinderschädel. Da gab es einen Ton, wie

Silber, leicht, duftig wie eine kleine Wolke. Manche

wieder schnarrten, wenn man auf sie trat, ähnlich wie

Waldteufel. Und dann kamen ihre roten, flatternden

Zungen aus dem Munde heraus, wie es bei den

Gummibällen war. Ach, es war wunderschön.

Manche waren so weich, daß man gleichsam einsank.

Sie blieben an den Füßen kleben. Und so ging er mit zwei

Schädeln an den Beinen dahin, als wäre er eben aus zwei

Eierschalen ausgekrochen, die er noch nicht ganz

abgeschüttelt hatte.

Am meisten freute es ihn aber, wenn er irgendwo den

Kopf von einem alten Manne sah, kahl und blank, wie

eine marmorne Kugel. Da setzte er erst ganz vorsichtig

auf und wippte erst ein paarmal zur Probe, so, so, so.

Und dann trat er zu, knacks, daß das Gehirn ordentlich

spritzte, wie ein kleiner goldener Springbrunnen.

Allmählich wurde er müde. Er erinnerte sich plötzlich an

den Verrückten, der glaubte, er hätte gläserne Beine, und

er könnte nicht laufen. Er hatte den ganzen Tag auf

seinem Schneidertisch gesessen, aber die Wärter hatten

ihn immer erst hintragen müssen. Allein war er keinen

Schritt gegangen. Wenn sie ihn auf seine Beine stellten,

ging er einfach nicht weiter. Dabei waren seine Beine

ganz gesund, das sah doch jeder. Sogar auf das Klosett

war er nicht einmal allein gegangen, nein, wie einer doch

so verrückt sein konnte. Das war ja zum Lachen.

Neulich war der Pfarrer zu Besuch gewesen, und da

hatte er mit ihm über den Verrückten gesprochen: »Sehen

Sie mal, Herr Pastor, der da, der Schneider, der ist doch

zu verrückt. So ein dämliches Aas!« Und da hatte der

Pastor gelacht, daß die Wände gewackelt hatten.

Er trat aus den Halmen heraus, allenthalben klebte

Stroh an seinem Anzug und an seinem Haar. Sein

Kleiderbündel hatte er unterwegs verloren. Die Ähren

trug er noch in seiner Hand, und er schwenkte sie vor

sich her wie eine goldene Fahne. Er marschierte stramm

aus. »Rechten, Linken, Speck und Schinken«, summte er

vor sich hin. Und die Kletten, die an seiner Hose saßen,

flogen in weiten Bögen ab.

»Abteilung halt«, kommandierte er. Er steckte seine

Fahne in den Sand des Feldwegs und warf sich in den

Graben.

Plötzlich bekam er vor der Sonne Angst, die auf seine

Schläfe brannte. Er glaubte, sie wollte über ihn herfallen,

und steckte sein Gesicht tief in das Gras hinein. Dann

schlief er ein.

Kinderstimmen weckten ihn auf. Neben ihm standen

ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Als sie sahen,

daß der Mann aufgewacht war, liefen sie weg.

Er bekam eine furchtbare Wut auf diese beiden

Kinder, er wurde im Gesicht rot wie ein Krebs.

Mit einem Satze sprang er auf und lief den Kindern

nach. Als die seine Schritte hörten, fingen sie an zu

schreien und liefen schneller. Der kleine Junge zog sein

Schwesterchen hinter sich her. Das stolperte, fiel hin und

fing an zu weinen.

Und weinen konnte er überhaupt nicht vertragen.

Er holte die Kinder ein und riß das kleine Mädchen

aus dem Sande auf. Es sah das verzerrte Gesicht über

sich und schrie laut auf. Auch der Junge schrie und wollte

fortlaufen. Da bekam er ihn mit der andern Hand zu

packen. Er schlug die Köpfe der beiden Kinder

gegeneinander. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, zählte er,

und bei drei krachten die beiden kleinen Schädel immer

zusammen wie das reine Donnerwetter. Jetzt kam schon

das Blut. Das berauschte ihn, machte ihn zu einem Gott.

Er mußte singen. Ihm fiel ein Choral ein. Und er sang:

»Ein feste Burg ist unser Gott,

Ein gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not,

Die uns jetzt hat betroffen.

Der alt-böse Feind,

Mit Ernst er's jetzt meint,

Groß Macht und viel List

Sein grausam Rüstung ist,

Auf Erd ist nicht sein'sgleichen.«

Er akzentuierte die einzelnen Takte laut, und bei jedem

ließ er die beiden kleinen Köpfe aufeinanderstoßen, wie

ein Musiker, der seine Becken zusammenhaut.

Als der Choral zu Ende war, ließ er die beiden

zerschmetterten Schädel aus seinen Händen fallen. Er

begann wie in einer Verzückung um die beiden Leichen

herumzutanzen. Dabei schwang er seine Arme wie ein

großer Vogel, und das Blut daran sprang um ihn herum

wie ein feuriger Regen.

Mit einem Male schlug seine Stimmung um. Ein

unbezwingliches Mitleid mit den beiden armen Kindern

schnürte ihm von innen heraus fast den Hals ab. Er hob

ihre Leichname aus dem Staub des Weges und schleppte

sie in das Korn hinüber. Er wischte mit einer Handvoll

Unkraut das Blut, das Gehirn und den Schmutz aus dem

Gesicht und setzte sich zwischen die beiden kleinen

Leichen. Dann nahm er ihre Händchen in seine Faust

und streichelte sie mit blutigen Fingern.

Er mußte weinen, große Tränen liefen langsam über

seine Backen hinunter.

Ihm kam der Gedanke, daß er vielleicht die Kinder

wieder zum Leben bringen könnte. Er kniete sich über

ihre Gesichter und blies seinen Atem in die Löcher ihrer

Schädel. Aber die Kinder rührten sich nicht. Da dachte

er, es wäre vielleicht noch nicht genug, und wiederholte

den Versuch. Aber auch dieses Mal war es nichts. »Na

denn eben nicht«, sagte er, »tot ist tot.«

Nach und nach kamen unzählige Mengen von Fliegen,

Mücken und anderem Ungeziefer aus den Feldern heraus,

hinter dem Blutgeruch her. Sie schwebten wie eine dichte

Wolke über den Wunden. Ein paar Mal machte er den

Versuch, sie fortzutreiben. Als er aber selbst gestochen

wurde, wurde ihm die Sache zu unbequem. Er stand auf

und ging fort, während sich die Insekten in einem dicken

schwarzen Schwarm auf die blutigen Löcher der Schädel

stürzten.

Ja, wo nun hin?

Da fiel ihm seine Aufgabe wieder ein. Er hatte ja mit

seiner Frau abzurechnen. Und im Vorgefühl seiner Rache

leuchtete sein Gesicht wie eine purpurne Sonne.

Er bog in eine Landstraße ein, die auf die Vorstadt

zuführte. Er sah sich um.

Die Straße war leer. In der Ferne verlor sich der Weg.

Oben auf einem Hügel hinter ihm saß ein Mann vor

einem Leierkasten. Jetzt kam über den Hügel eine Frau

herauf, die einen kleinen Handwagen hinter sich herzog.

Er wartete, bis sie heran war, ließ sie an sich vorbei

und ging ihr nach.

Er glaubte, sie zu kennen. War das nicht die

Grünkramfritzen von der Ecke? Er wollte sie

ansprechen, aber er schämte sich. Ach, die denkt, ich bin

ja der Verrückte aus Nr. 17. Wenn die mich

wiedererkennt, die lacht mich ja aus. Und ich lasse mich

nicht auslachen, zum Donnerwetter. Eher schlage ich ihr

den Schädel ein.

Er fühlte, daß in ihm wieder die Wut aufkommen

wollte. Er fürchtete sich vor dieser dunklen Tollheit. Pfui,

jetzt wird sie mich gleich wieder haben, dachte er. Ihn

schwindelte, er hielt sich an einem Baum und schloß die

Augen.

Plötzlich sah er das Tier wieder, das in ihm saß. Unten

zwischen dem Magen, wie eine große Hyäne. Hatte die

einen Rachen. Und das Aas wollte raus. Ja, ja, du mußt

raus.

Jetzt war er selber das Tier, und auf allen vieren kroch

er die Straße entlang. Schnell, schnell, sonst läuft sie weg.

Wie die laufen kann, aber so eine Hyäne ist noch

schneller.

Er bellte laut wie ein Schakal. Die Frau sah sich um.

Als sie da einen Mann auf Händen und Füßen hinter sich

herlaufen sah, das wirre Haar in dem dicken Gesicht,

weiß von Staub, da ließ sie ihren Wagen stehen und laut

schreiend rannte sie die Straße hinunter.

Da sprang das Tier auf. Wie ein Wilder war es hinter

ihr her. Seine lange Mähne flog, seine Krallen schlugen in

die Luft, und aus seinem Rachen hing seine Zunge

heraus.

Jetzt hörte es schon den Atem der Frau. Die keuchte,

schrie und jagte davon, was sie konnte. So, noch ein, zwei

Sätze. Nun springt das Tier ihr auf den Hals mitten

hinauf.

Die Frau wälzt sich im Sand, das Tier schmeißt sie

herum. Hier ist die Kehle, da ist das beste Blut; man

trinkt immer aus der Kehle. Es haut seinen Rachen in

ihre Gurgel und saugt das Blut aus ihrem Leibe. Pfui

Teufel, ist das aber schön.

Das Tier läßt die Frau liegen und springt auf. Da oben

kommt noch einer. Ist der aber dumm. Der merkt ja gar

nicht, daß hier Hyänen sitzen. So ein Idiot, na.

Der alte Mann kam heran. Als er nahe war, sah er aus

seiner großen Brille die Frau, die im Sande lag mit ihren

verrutschten Röcken und ihren Knien, die sie im

Todeskampf auf den Leib gezogen hatte. Auch um ihren

Kopf war eine große Blutlache.

Er blieb neben der Frau stehen, starr vor Bestürzung.

Da teilten sich die hohen Kornblumen, und heraus kam

ein Mann, verwüstet und zerrissen. Sein Mund war ganz

voll Blut.

»Das ist sicher der Mörder«, dachte der alte Mann.

In seiner Angst wußte er nicht recht, was er machen

sollte. Sollte er fortlaufen oder sollte er stehenbleiben?

Am Ende wollte er es zuerst einmal mit

Freundlichkeit versuchen. Denn mit dem da war es doch

nicht ganz richtig, das sah man ja.

»Guten Tag«, sagte der Verrückte.

»Guten Tag«, antwortete der alte Mann, »das ist ja ein

schreckliches Unglück.«

»Ja, ja, das ist ein schreckliches Unglück, da haben Sie

ganz recht«, sagte der Verrückte. Seine Stimme zitterte.

»Aber ich muß weitergehen. Entschuldigen Sie nur.«

Und der alte Mann ging zuerst ein paar Schritte

langsam. Als er etwas weiter fort war und merkte, daß der

Mörder ihm nicht nachlief, ging er schneller. Und endlich

fing er an zu rennen wie ein kleiner Junge.

»Nein, sieht der komisch aus, wie der da rennt. Ist das

ein verrücktes Haus.« Und der Irre lachte über das ganze

Gesicht, das Blut zog sich in den Falten zusammen. Er

sah aus wie ein furchtbarer Teufel.

Aber schließlich, mochte der laufen. Der hatte ja ganz

recht. Er würde es auch so machen. Denn hier konnten

gleich wieder die Hyänen aus dem Korn kommen.

»Aber pfui, bin ich schmutzig.« Er besah sich. »Wo

kommt denn das viele Blut her?«

Und er riß der Frau ihre Schürze ab und wischte sich

das Blut ab, so gut es ging.

Sein Gedächtnis verlor sich. Er wußte zuletzt nicht

mehr, wo er war. Er ging wieder querfeldein, über

Feldwege, durch Felder, im brennenden Mittag. Er

erschien sich wie eine große Blume, die durch die Felder

wandert. Etwa eine Sonnenrose. Genau konnte er es

nicht erkennen.


Der Dieb

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