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TARVISIO CENTRALE

ENDSTATION

Für Tarvisio Centrale ist der Zug abgefahren. der Grenzbahnhof ohne Anschluss ist seit der Jahrtausendwende dem Verfall preisgegeben. Wo einst Luxuszüge haltgemacht haben, kommen heute nur mehr Radfahrer vorbei.


Wenn es stimmt, dass die Kaffeemaschine das Allerheiligste einer italienischen Bar ist, dann hat man diesen Ort entweiht. Das Gerät der Marke „La San Marco“ wurde brutal aufgerissen und regelrecht ausgeweidet. Ein einsames Kabel baumelt aus seinem verchromten Bauch. Wie viele schnelle „caffè“ haben Reisende und Bahnmitarbeiter hier getrunken? Insgesamt werden es wohl „ein paar“ Hektoliter gewesen sein, bis am 26. November 2000 endgültig Sperrstunde war. Nicht nur für die Bar in der Halle, sondern für den gesamten Grenzbahnhof Tarvisio Centrale. Er wurde geschlossen, weil die Züge nun auf einer neuen Trasse durchs Kanaltal rollen.

Schienen und Schwellen der alten Strecke sind verschwunden. „Rückgebaut“, wie man es im österreichischen Amtsdeutsch nennen würde. Der Bahnhof ist, weil deutlich sperriger, geblieben. Und mit ihm ein Teil des Inventars. Was in der Bilanz der italienischen Staatsbahn längst abgeschrieben war, ließ man beim Auszug anno 2000 einfach stehen und liegen. Eine nichts besonders brillante Idee, wie wir eineinhalb Jahrzehnte danach auf den ersten Blick feststellen: Unbekannte Besucher haben eine Spur der Verwüstung durch das verlassene Gebäude gezogen. Keine Fensterscheibe, keine Glastür ist mehr heil. Den Boden bedecken Zollpapiere, die aus Aktenordnern und Kanzleikästen gefetzt wurden. Ein Kopierer liegt – ähnlich geplündert wie die Kaffeemaschine – auf dem ehemaligen Bahnsteig 1.


Noch verhältnismäßig „fit“: der Fernschreiber im Postamt

Manchmal war das Material allerdings stärker als die Aggression. Der Tresor im Bahnhofspostamt hat sich keinen Millimeter bewegt, das obere Fach ist sogar noch verschlossen. Auch der Fernschreiber macht, obwohl der Fußboden des Schalterraums nicht sein Stammplatz gewesen sein dürfte, einen beinahe unversehrten Eindruck. Und der sicherste Ort des Areals hat sich ebenfalls bewährt: Die Tür zur Arrestzelle im alten Wachzimmer der Bahnhofspolizei lässt sich keinen Millimeter öffnen. Durch das vergitterte Fenster sehen wir, dass der Raum leer ist – ein Glück für den letzten Insassen, wenigstens ihn hat man mitgenommen. Im Wachzimmer selbst waren Scherzbolde oder vielleicht sogar ehemalige Einsitzende mit Schadenfreude am Werk. Ausgerechnet auf dem vormals polizeilichen Schreibtisch steht nun eine leere Flasche Wein. Ein „Doppler“ – es gab offenbar etwas zum Feiern.

Früher geschah das innerhalb dieser Mauern mit mehr Stil. Dafür bürgte schon der ursprüngliche Name der vorbeiführenden Strecke. Es war die Kronprinz-Rudolf-Bahn, kurz Rudolfsbahn. Die zunächst privat betriebene und später verstaatlichte Linie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtet. Sie verband die Kaiserin-Elisabeth-Bahn (später Westbahn) über Selzthal, St. Veit, Feldkirchen und Villach mit Laibach ebenso wie mit dem damaligen Königreich Italien. Dem zu diesem Zeitpunkt noch österreichischen Tarvis kam als Kreuzung eine Schlüsselrolle zu. Hier ging es entweder links nach Laibach weiter oder geradeaus über die bis heute so genannte Pontebbana nach Udine. Dementsprechend groß war der 1873 eröffnete Bahnhof inklusive Hotel und „Restauration“. In Zeitungsannoncen wurde dafür ordentlich die Werbetrommel gerührt: „Comfortabel eingerichtete Fremdenzimmer, zu jedem Zuge frische Küche, echte Getränke, mässige Preise.“


Auch im Postamt wurden Akten zurückgelassen.

Auf der Strecke verkehrten Güter-, Personen- und ab 1895 auch Luxuszüge. Sie verfügten über Schlaf-, Speise- und Salonwagen und wurden hauptsächlich im Fernverkehr eingesetzt. Ohne umzusteigen konnte man mit ihnen von Wien-West nach Nizza und später nach Cannes reisen. Ab 1898 wurde die Verbindung einmal wöchentlich ab St. Petersburg geführt. Der Luxuszug quer durch Europa, in dem es ausschließlich Wagen erster Klasse gab, bekam den klingenden Namen „St. Petersburg – Wien–Nizza – Cannes Expreß“. Die Fahrzeit von der damaligen russischen Hauptstadt über Tarvis bis an die Côte d’Azur betrug 64 Stunden.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete 1914 das Aus für die Luxuszüge und dennoch eine vorübergehende Aufwertung des Bahnhofs Tarvis. Weil Österreich den baldigen Kriegseintritt Italiens befürchtete, der im Mai 1915 tatsächlich erfolgen sollte, zog man tonnenweise Kohle und Wasser aus dem damaligen Grenzbahnhof Pontafel (heute Pontebba) ab. Bei einem Angriff sollte den Feinden so wenig wie möglich in die Hände fallen. „Von Tarvis wurden Dampfloks und Tender nur mehr mit der für die kurze Strecke notwendigen Kohle nach Pontafel geschickt, um dort randvoll beladen zu werden und so wieder zurückzufahren“, erklärt uns der Kärntner ÖBB-Pressesprecher Christoph Posch in seiner „Privatfunktion“ als begeisterter und belesener Eisenbahnhistoriker.


Die Flasche dürfte erst nach der Schließung ihren Weg auf den Schreibtisch im Wachzimmer gefunden haben.


Keine Fensterscheibe ist mehr heil.


Verschlossen, aber leer: die Arrestzelle


Die Natur erobert die Bahnsteige zurück.

Nach dem Ersten Weltkrieg zogen die Siegermächte Österreichs Grenzen neu. Das Kanaltal sprach man Italien zu, aus Tarvis wurde Tarvisio und aus dem Bahnhof Tarvisio Centrale. Bis zur Schließung im Jahr 2000 wickelte man nun hier den Grenzverkehr ab. Dazu gehörte neben Kontrollen und Zollformalitäten vor allem das Wechseln der Loks: Züge nach Italien bekamen italienische, Züge nach Österreich österreichische. An der Bar in der Halle standen deshalb – natürlich nur in den Pausen und offiziell bei einem „caffè“ – Eisenbahner aus beiden Ländern. Einen letzten Modernisierungsschub gab es 1969 mit dem Totalumbau des Bahnhofsgebäudes zu der Form, in der es jetzt verlassen herumsteht.

Warum die Schienen mittlerweile auf der anderen Talseite und dort hauptsächlich in Tunnels verlaufen, hat vor allem geologische Gründe: Auf die alte Pontebbana gingen immer wieder Murenabgänge oder Steinschläge nieder. Völlig „verkehrsfrei“ ist die frühere Bahntrasse aber nicht. Teile wurden zur „Ciclovia Alpe Adria“ ausgebaut, jenem Radweg also, der in Salzburg beginnt und in Grado endet. Die asphaltierte Strecke führt direkt am Lost Place Tarvisio Centrale vorbei. Von den verlassenen Gebäuden nehmen allerdings die wenigsten Radfahrer Notiz, die gen Süden strampeln. Wer den Weg kennt, freut sich schon auf die Küche von Lucia Mischkot. Die hervorragende Köchin betreibt im alten Bahnhof des 11 Kilometer entfernten Örtchens Ugovizza die beliebte „Trattoria Alla Vecchia Stazione“. Ein Musterbeispiel dafür, wie – im Unterschied zu Tarvis – eine gelungene Nachnutzung aussehen kann.

AM RANDE

Auf dem Hügel östlich des ehemaligen Bahnhofs thront unübersehbar das 1909 errichtete Denkmal für die in den napoleonischen Kriegen in Kärnten gefallenen Soldaten. Das Monument liegt an einem Wanderweg, der in seinem weiteren Verlauf auf Stegen und Treppen durch die malerische Slizza-Schlucht führt. Slizza ist der slowenische Name für den Fluss Gailitz, der sich hier tief ins Gestein gegraben hat.


Ausgangspunkt für die rund eineinhalbstündige Rundwanderung ist der Parkplatz in der Via Bamberga unterhalb des Bahnhofs Tarvisio Boscoverde (dem „Nachfolger“ von Tarvisio Centrale). Von dort folgt man dem Radweg nach Kranjska Gora – er verläuft hier ebenfalls entlang der alten Bahntrasse – zirka 200 Meter in nördlicher Richtung, bis eine Tafel links den Weg zum Kriegerdenkmal und zur Slizza-Schlucht weist.

Wichtig ist gutes Schuhwerk. Nach Niederschlägen sind die Holzstege noch rutschiger als sonst.

Die Trattoria Alla Vecchia Stazione befindet sich in Ugovizza direkt am Ciclovia Alpe Adria, ist aber auch mit dem Auto erreichbar (Via Stazione). Küche von 12 bis 19 Uhr, Mittwoch Ruhetag.


LOST PLACE

➜ Der verlassene Bahnhof Tarvisio Centrale liegt zwischen der Staatsgrenze und Tarvis direkt an den Staatsstraße SS13 beziehungsweise, wenn man mit dem Fahrrad kommt, unmittelbar an der Ciclovia Alpe Adria. Das Betreten des Gebäudes ist verboten. Einblicke sind aber von den nicht abgesperrten ehemaligen Bahnsteigen möglich, die sich auf der Ostseite des Areals befinden.

➜ Weitere Informationen über den Radweg: www.alpe-adria-radweg.com


Verfallen & Vergessen

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