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»WIE EINST, LILI MARLEEN« Ein Jahrhundert-Schlager entsteht
ОглавлениеMein auf Mallorca lebender Freund Ferry Hirschmann rief mich eines Tages aus Salzburg an, wo er gerade Urlaub machte. Als wir einen Termin zum Abendessen in Hallein vereinbarten, fügte er noch an: »Du wirst meinen Nachbarn aus Mallorca kennen lernen, der ist auch da.«
»Deinen Nachbarn aus Mallorca?«, fragte ich ein wenig überrascht.
»Ja, er heißt Norbert Schultze und ist der Komponist von Lili Marleen.«
Von da an ging mir die Melodie nicht mehr aus dem Kopf. Lili Marleen, das ist eines der meistgespielten Lieder aller Zeiten. Ein Lied, das wie kein anderes die Sehnsucht von Millionen jungen Männern ausdrückte, die Tag für Tag an der Front ihr Leben aufs Spiel setzten. Es war die Sehnsucht dieser in den Krieg getriebenen Soldaten, endlich wieder zu Hause, endlich wieder bei ihrem Mädchen sein zu können.
Ich hatte es nicht zu bereuen, Herrn Schultze getroffen zu haben. Erzählte er mir doch, während des gemeinsamen Abendessens in Hallein, die unglaubliche Geschichte seines weltberühmten Liedes. Und welcher weltpolitischen Tragödie es bedurfte, um es so erfolgreich werden zu lassen.
»Die paar Noten hatte ich in wenigen Minuten niedergeschrieben, das ganze Lied war in einer Viertelstunde fertig«, schilderte er die Entstehung des Schlagers. Gerade neunzig Jahre alt und von erstaunlicher Frische, legte der Komponist gleich los: »Den Text zu Lili Marleen gab es schon seit 1915. Ein junger Schriftsteller namens Hans Leip hatte damals unter dem Titel Kleine Hafenorgel mehrere Gedichte geschrieben, von denen eines Lili Marleen hieß. Das lag dann mehr als zwanzig Jahre lang herum, ohne dass sich ein Mensch darum gekümmert hätte.«
Zufällig fielen dem aus Braunschweig stammenden Norbert Schultze 1938 in einer kleinen Bar in Berlin-Charlottenburg die Zeilen in die Hände:
Vor der Kaserne, vor dem großen Tor,
Stand eine Laterne, und steht sie noch davor,
So wolln wir uns da wiedersehn,
Vor der Laterne wolln wir stehn
Wie einst, Lili Marleen …
»Mir gefiel der Text so gut, dass ich mich noch in der Bar ans Klavier setzte und sofort die passende Melodie fand«, sagte Schultze. »Dann spielte ich das Lied mehreren Sängern, Musikverlegern und Plattenproduzenten vor. Doch keiner mochte es.«
Nur Schultze selbst glaubte daran. »Das Chanson war ja für einen Mann geschrieben, als Liebeserklärung an ein Mädchen namens Lili Marleen. Da sich nun aber kein Sänger fand, der es aufnehmen wollte, schickte ich die Noten meiner Freundin Lale Andersen.«
Norbert Schultze lächelte verschmitzt. »Ich hatte einige Jahre davor eine Liaison mit Lale, die damals noch Liselotte Wilke hieß. Sie war ein nettes Mädchen, nein, die große Liebe war’s nicht.« Doch das spielte keine Rolle, als die junge Sängerin das Chanson unter dem etwas sperrigen Titel Lied eines jungen Wachtpostens aufnahm.
»Die Platte war ein totaler Flop, ganze siebenhundert Stück wurden verkauft«, erinnerte sich Norbert Schultze, und er wunderte sich auch gar nicht darüber: »Der Textdichter Hans Leip hatte die Worte im Ersten Weltkrieg geschrieben. 1938 war Frieden, da konnte das Lied eines Mädchens, das vor dem Kasernentor auf seinen Liebsten wartet, nicht unter die Haut gehen.«
Wieder vergingen Jahre. Und die Lili-Marleen-Platten verstaubten in den Archiven.
Doch inzwischen tobte der Zweite Weltkrieg.
Was nun folgte, war weniger der preußischen Präzision, als einem zutiefst österreichischen Wesenszug zu danken. »Einige junge Soldaten gründeten 1941 im Auftrag der Deutschen Wehrmacht in Belgrad einen Soldatensender. Da sie nicht wussten, woher sie die Musik für ihre Sendungen nehmen sollten, wurde ein Bote zum nächstgelegenen Reichssender nach Wien geschickt. Der Mann sollte Platten aus dem Funkhaus in der Argentinier Straße, dem Gebäude der ehemaligen RAVAG, mitbringen.«
Wie’s so ist in Wien, erhielt der Bote »unter der Hand« einen Koffer voll verbotener Schellacks – darunter fanden sich Operettenmelodien von Emmerich Kálmán und Paul Abraham, Lieder, die von Richard Tauber und Joseph Schmidt gesungen wurden, amerikanische Tanzmusik, aber auch alte, ausrangierte Platten, die nie gespielt wurden. Eine davon war Lili Marleen.
Am 26. April 1941, kurz vor 22 Uhr, ging das Lied via Belgrad auf Welle 437,5 zum ersten Mal über den Äther. Und nun geschah das Unglaubliche: In den Tagen danach langten in der Redaktion des Soldatensenders Tausende Briefe aus Griechenland, Dalmatien, Kroatien, Kreta und sogar von der Afrika-Front ein, wo der Sender über Kurzwelle mit Richtstrahl zu empfangen war. Und wo immer das Lied zu hören war, gab es nur den einen Wunsch: »Wir wollen Lili Marleen wieder hören!«
»Das Lied traf die armen Frontsoldaten im dritten Kriegsjahr ins Herz«, erkannte Schultze. »Der Text war ihr Schicksal, jeder hatte die gleiche Sehnsucht, die gleiche Sorge: ob er je wieder seine Frau, seine Eltern, seine Kinder sehen würde.« Oder seine Braut … wie einst, Lili Marleen.
Das Echo war so gewaltig, dass Lili Marleen zur Kennmelodie einer täglichen Sendung wurde, in der ein Sprecher die Briefe von zu Hause an die Front und von der Front in die Heimat verlas. In einer Zeit, da man von den Ehemännern und Söhnen oft nur die Feldpostnummer kannte, war diese Verbindung die schnellste und sicherste, um persönliche Grüße und Nachrichten zu übermitteln. Oder, um zu erfahren, dass der Geliebte überhaupt noch am Leben ist.
Dass man das Lied, das so lange keiner hören wollte, jetzt an allen deutschen Fronten spielte, lag nahe. Dass es aber auch von den Truppen der Alliierten geliebt wurde, grenzt an ein Wunder. Es wurde, in alle Sprachen übersetzt, von Franzosen ebenso gesungen wie von Engländern und Amerikanern. »Denen war es ganz egal, dass das Lied aus einem feindlichen Land kam«, meinte Schultze. »Als es dann von Marlene Dietrich aufgenommen wurde, war’s über Nacht ein Welterfolg …«
»… der Sie wohl sehr reich gemacht hat?«, vermutete ich.
»Das glauben alle«, entgegnete der Komponist. »Aber so war’s nicht. Das Copyright wurde als Kriegsbeute beschlagnahmt, und nach dem Krieg gingen die Einnahmen an Hilflose und Veteranen. Erst seit 1963 erhalte ich die Tantiemen, aber sie sind natürlich lange nicht mehr so hoch, wie sie es früher gewesen wären.«
Norbert Schultze erzählte seine Geschichte ruhig und uneitel. Und meinte dann noch: »Ich möchte Ihnen aber sagen, dass ich froh bin, durch das Lied nicht reich geworden zu sein. Denn Lili Marleen konnte nur infolge dieses schrecklichen Krieges ein so großer Erfolg werden. Und ich möchte nicht an diesem Krieg Geld verdient haben.«
Das hatte er auch gar nicht nötig. Norbert Schultze hat die Musik zu mehreren Opern – Schwarzer Peter heißt die bekannteste – und zu siebzig Filmen geschrieben, darunter auch mehrere Lili-Marleen-Verfilmungen. Ein anderer seiner populären Schlager wurde durch die Interpretation von Hans Albers zum Welthit: Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise.
Im Vollererhof bei Hallein, in dem Norbert Schultze seinen Sommerurlaub verbrachte, steht ein altes Pianino. Ehe ich mich von ihm verabschiedete, setzte er sich noch ans Klavier und spielte ein paar Takte seiner Lili Marleen.
»Nach dem Krieg hat man mir vorgeworfen, dass dies ein ›Durchhaltelied‹ gewesen sei. Doch das stimmt nicht«, meinte er. »Das kleine Lied kann nichts dafür, dass es in einer schrecklichen Zeit zum Symbol für Heimweh, Trennung und Sehnsucht wurde. Und doch möchte ich sagen: Darauf stolz zu sein, wäre töricht.«