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14 Die Schlucht des Vergessens

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Der Pangûl hatte das Hochland von Alba-Re erreicht. Die zerklüftete, felsige Landschaft forderte seinem von der langen Reise erschöpften Rappen alles ab. Immer wieder geriet das Tier auf dem unebenen, steinigen Grund ins Stolpern. Zum Glück waren sie am Morgen auf ein kleines Rinnsal gestoßen, das sich durch das Gestein hindurch­kämpfte und den entkräfteten Reisenden mit seinem klaren, frischen Wasser eine willkommene Erfrischung bot. Und auch dass von hier oben in der Ferne bereits die Umrisse der sieben Türme von Elibur sichtbar waren ließ den Pangûl neue Hoffnung schöpfen. Zwar waren sie, wie immer, von Dunst verschleiert, aber in ihrer unvergleichlichen Pracht gleichwohl erkennbar, jetzt, da eine kräftige Morgensonne sie beschien. Konnte er bis an die Schlucht des Vergessens vorstoßen, wie es jetzt den Anschein hatte, vielleicht ließ sie sich doch irgendwie überwinden. Vielleicht gelang es ihm hernach, eine Audienz beim Allerhöchsten zu erwirken. Vielleicht würde der König ihn anhören und sich von ihm die Augen öffnen lassen über die unhaltbaren Zustände in Oberreich. So wie die Dinge jetzt standen, war der König jedenfalls der Einzige im ganzen Reich, der seinem raff- und mordgierigen, seinem von allen guten Geistern verlassenen Vetter noch Einhalt gebieten konnte.

Das waren die Gedanken, die der Pangûl in seinem Kopfe hin- und her wälzte, als sich die tödliche Gefahr näherte.

Seit der Schlacht um Eissel­gaard, die ihn viel mehr Männer gekostet hatte, als er es sich in seinen schlimm­sten Alb­träumen ausge­malt hatte, gab es für den Erl nur noch ein Ziel: die Vernichtung seines Groß­vetters, des Pangûls. Mit seinem Tode wäre der Fall von Eissel­gaard besiegelt, egal, was noch geschah. Niemand wäre mehr da, der ihm die Eroberung je wieder streitig machen könnte. Schließlich waren er und der Pangûl Bluts­verwandte. Was lag also näher, als dass das Pangûltum an ihn fiel?

Schon den ganzen Tag waren seine Suchhunde kaum zu bremsen gewesen. Drei Tage hatten sie unter freiem Himmel zugebracht. Aber als sie an diesem Morgen Witterung aufgenommen und kaum mehr zu bremsen gewesen waren, da hatte sich eine untrügliche Gewissheit des Erls bemächtigt: Er war seinem Ziel so nahe wie nie. Heute noch würde sein Vetter ihm in die Hände fallen.

Als sein Ross plötzlich zweimal nervös den Kopf hob und senkte, wusste der Pangûl, dass er schnellstens aufbrechen musste. Und endlich vernahm er auch selbst, was seinen Rappen schon viel früher beunruhigt hatte: Es waren die Spürhunde seines werten Vetters Dino, die mit sich überschlagenden Stimmen, jaulend und japsend, klagend und kläffend näherkamen. Und da drangen auch schon die ersten von ihnen durchs Gebüsch. Der Pangûl konnte gar nicht so schnell aufsitzen, wie sie, im Lauf den Geifer verspritzend, der von ihren Lefzen rann, herangestürmt kamen. Er ließ den unruhigen Rappen los, zog sein Schwert aus der Scheide und tötete mit zwei Hieben drei der Bestien. Sie fielen mit einem kläglichen Fiepen um wie Gläser bei einem Festgelage, wenn ein Betrunkener sie vom Tisch wischt. Jetzt sprang der Pangûl auf sein Ross und galoppierte davon. Doch er merkte rasch, dass das Tier der sich anbahnenden Verfolgungs­jagd nicht gewachsen war. Die Meute würde sich nicht abschütteln lassen. Das kleine Wäldchen, das sich auf mittlerer Höhe des Hangs befand, den der Pangûl jetzt hinabritt, kam wie gerufen. Der Pangûl stieg auf den Rücken seines Rappens. Und als er nah genug war, sprang er auf den dicken Ast, der weit ausladend über den Weg ragte, den er entlangritt, und ließ sein Ross herrenlos weiterlaufen. Rasch kletterte er hinauf in die Krone der kräftigen Ben­harzie und wartete auf seine Verfolger. Die ließen auch nicht lange auf sich warten. Wild und aufgehetzt rauschten die Spürhunde heran, doch die starken Düfte, die von den Ben­harzien ausgingen, von denen noch zwei weitere zwischen den niedrigen Bäumen des Wald­stücks empor­wuchsen, schienen ihre Witterung zu beein­trächtigen. Verwirrt und ohne klares Ziel preschten sie an Bäumen und Felsen vorbei durch das unübersichtliche Gelände. Bald folgten ihnen die Reiter, vorneweg der Erl. Und als dieser Anstalten machte, unmittelbar unter ihm vorbeizureiten, konnte der Pangûl dem plötzlich aufwallenden Drang nicht widerstehen: Er sprang von der Benharzie auf das Ross seines Widersachers, umklammerte noch im Fluge dessen Rumpf und riss ihn mit der Wucht des Aufpralls aus dem Sattel. Verknäuelt zu einem abson­derlichen Doppelleib, rollten die Vettern über den Boden. Der Erl, noch völlig benommen, war der Heftigkeit und des unerwarteten Angriffs nicht gewachsen. Überdies schmerzte ihn seine linke Schulter, denn mit diesem Körperteil war er vor dem Pangûl auf dem Boden aufgekommen und hatte ihn sich heftig geprellt. Der Pangûl hingegen war vergleichsweise weich gelandet, denn die Leibesfülle des Erls hatte seinen Sturz abgefedert. Mit gezücktem Dolch bedrohte der Pangûl seinen Erzfeind und stieß die drohenden Worte aus: »Was wollt Ihr, grausamer Vetter? Was wollt Ihr von mir? Sprecht oder seid des Todes!«

Dino von Serpieri konnte seine Zähne kaum auseinander bewegen, denn unmittelbar unter seinem Kinn drohte die scharfe Klinge des Pangûls seine Haut zum tödlichen Stich zu durchdringen. »Du ... du Wahnsinniger!«, brachte er mühsam hervor. »Weißt du, mit wie vielen Männern ich angerückt bin?«

»Was willst du? Warum hast du den Frieden gebrochen und die Lande verheert mit deinen mordgierigen Horden? Equinox-Dekaden des friedlichen Beiein­anderlebens und der Eintracht zwischen Serpieri und Eissel­gaard sind dahin. Wofür?«

»Für mich.«

»Was willst du, Vetter?«

»Alles. Und für dich nichts.«

»Du bist irrsinnig. Du hast den Verstand verloren.«

»Und du wirst alles verlieren«, antwortete der Erl, dem etwas wohler zumute war, da der Pangûl unter dem Eindruck seiner Worte die Klinge gesenkt hatte. »Deinen Verstand lasse ich dir, wenn er dir danach noch etwas nützt. Eissel­gaard ist gefallen.«

Bei diesen Worten sank dem Pangûl der Mut und wie zur äußeren Bekräftigung dessen trafen im selben Augenblick die Männer des Erls ein und richteten von ihren Rössern aus sofort alle ihre Wurf- und Schuss­waffen auf ihn. Der Pangûl erfasste den Ernst der Lage sofort und setzte die Klinge seines Dolches wieder dichter an Dinos Hals. »Keine falsche Bewegung. Sonst ist euer werter Erl tot«, erklärte er. Dino machte seinen Leuten beschwich­tigende Zeichen und fügte sich fürs Erste in sein Geschick. Sein Vetter erhob sich und riss ihn mit sich empor. Die Klinge weiterhin an seiner Kehle gehorchte der Erl seinem Vetter, der ihn vor sich hertrieb. Gemeinsam stolperten sie den steilen Hang hinab. In sicherer Entfernung folgten ihm Dinos Söldner, unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten. Als in der Ferne bereits der Rand der Schlucht des Vergessens sichtbar wurde, stießen der Pangûl und seine Geisel auf drei der Hunde und den Rappen des Pangûls. Die drei geifernden Tölen hatten das edle Reittier umzingelt und versuchten es durch lautes Bellen einzuschüchtern. Doch der Rappen benutzte immer wieder seine Hufe, um sich Respekt zu verschaffen. Der Pangûl näherte sich, erschlug mit dem Schwerte eines der Tiere, woraufhin die anderen beiden die Schwänze einzogen und jaulend das Weite suchten. Dem Erl gab er einen Tritt, der diesen taumeln und zu Boden stürzen ließ. »Ich will dich nicht töten«, warf er seinem Vetter zu, während er nach den Zügeln seines Rosses griff und in einer einzigen fließenden Bewegung aufsaß. »Ich will in Frieden mit denen von Serpieri zusammenleben. Wie früher.« Doch er erntete nur einen verächtlichen Blick seines am Boden liegenden Feindes. Er trieb sein Pferd an, doch er konnte nicht rasch genug den nötigen Abstand zwischen sich und seine Verfolger bringen. Schon hörte er die ersten Pfeile über sich hinweg zischen. Dann ein plötzlicher starker Schmerz im Rücken. Der Pangûl war getroffen. Der edle Rappen, der sich kaum hatte erholen können, schien zu erahnen, wie gefährlich die Lage war, in der sich Ross und Reiter befanden und mobilisierte die letzten Kräfte. Schnell wie der Wind preschte er über Stock und Stein talwärts, während sein verletzter Herr den Kopf gegen seinen Hals legte und ihm zuflüsterte: »Gib alles, Braver, gib dein Letztes für das Höchste deines Herrn!« Ein Ross wie dieses, bereit, bis zum letzten Atem­zug alles für seinen Reiter zu geben, hatte der Pangûl noch nicht erlebt. Rein­hard hatte wahrlich einen beson­deren Hengst für ihn ausgewählt.

Die Schlucht des Vergessens lag vor ihnen. Und wenn hier von einer Schlucht die Rede ist, so könnte ein falscher Eindruck entstehen. Die Schlucht des Vergessens war kein kleiner Spalt in der Erde, den ein entschlossenes Ross mit einem einzigen Sprung zu überwinden in der Lage gewesen wäre. Die Schlucht des Vergessens war ein gewaltiger Riss in der Landschaft, die monumentale und unüberwindliche Hinter­lassenschaft eines gewaltigen Erdbebens. Und nirgends war sie unüberwindlicher als hier, in unmittelbarer Nähe von Elibur. Der Riss im Erdgestein war so breit, dass es, wenn man in Alba-Re am Rand der Schlucht stand, an den meisten Tagen nicht möglich war, die andere Seite zu sehen. Nur bei ganz klarem Wetter konnte man von hier aus bis nach Königsland blicken. Es war auch nicht möglich, bis auf den Grund der Schlucht zu sehen. Dunst­schwaden hüllten sie in einen für das menschliche Auge undurch­dringlichen Schleier. Es wusste daher auch niemand, wie tief die Schlucht war. Die Wände der Schlucht des Ver­gessens waren so schroff und so steil, dass auch noch nie jemand versucht hatte es herauszufinden. Und falls es doch irgend­wann einmal jemand gewagt haben sollte, so hatte man nie etwas darüber erfahren. Schließlich war dies die Schlucht des Vergessens: Niemand, der die Schlucht betrat und, was unwahr­scheinlich genug war, hernach lebendig wieder herauskam, konnte anschließend noch wissen, wer er war. All diese zum Allgemein­gut gewordenen Kenntnisse und Über­lieferungen über die Schlucht standen dem Pangûl in bedrückender und erschreckender Klarheit vor Augen, als er auf sie zuritt, die erbar­mungslosen Jäger seines Todfeindes im Rücken und diesen selbst, seinen Groß­vetter, den Erl von Serpieri, aufgepeitscht durch Hass, Zorn und Rachedurst. Wie hatte er glauben können, dass die Schlucht des Vergessens für ihn die Rettung bedeuten könnte? Und doch – es blieb ihm keine Wahl. Er konnte nicht mehr anhalten. Er musste weiterreiten. Er musste hoffen auf ein Wunder, ein königliches Wunder im Schatten von Elibur. Und sein Ross durfte ihn jetzt nicht im Stich lassen.

Da. Gleich war es so weit. Vor ihm gähnte der dunstige Abgrund, die unsägliche Tiefe, die uferlose Weite. Erst im aller­letzten Augenblick alarmierten seine Instinkte das Tier, das, geblendet durch die schwefligen Dämpfe, die zu dieser Tageszeit auch über der Schlucht durch die Luft waberten, die tödliche Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte. Jetzt aber bäumten sich alle Kräfte des Lebens in ihm auf. Es scheute, bremste jäh ab, wollte einen Haken nach links schlagen, kehrtmachen, verlor das Gleichgewicht, stürzte, warf im Sturz seinen Reiter ab, verlor den Halt, sank mit den Hinterläufen in den Abgrund, wurde von Panik gepeinigt, krallte sich mit den Vorder­läufen in den felsigen Boden, kämpfte verzweifelt gegen das Verhängnis an, fand Halt, fand wider alle Wahrscheinlichkeit Halt in dem harten Gestein der steilen Felswand, mobilisierte letzte Kraftreserven, um sein todge­weihtes Leben doch noch zu retten, und wand sich schließlich heraus, entriss mit der Kraft der Vorderläufe die beiden Beine, die ihm fast zum Verderben geworden wären, dem Höllenschlund. Aufrecht stand es da, noch auf wackligen Beinen, und schüttelte sich, schüttelte das Grauen ab, dem es so knapp entronnen war. Sein schwarzes Fell war nass von Dunst und Schweiß. Dann entsann es sich der Verfolger, nahm aber­mals die kläffende Meute wahr, die schon wieder ganz nah war, und brauste davon, galoppierte durch Alba-Re wie von Nirganen gehetzt. Von seinem Reiter fehlte jede Spur.

Das Lied von Licht und Finsternis (Lickie-Edition)

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