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7 Der Plan von Jonathan

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»Unsere Lage ist hoffnungslos«, sagte Reinhard, das Ober­haupt der zwölf Eisernen. »Wir können uns ergeben oder alle sterben.«

Jonathan, der die ganze Zeit zu Boden geblickt hatte, sah ihn an und meinte: »Sterben.«

»Aber wir dürfen nicht zulassen«, sprach der erste Ritter weiter, »dass der Pangûl ihnen in die Hände fällt. Wir können kämpfen. Wir können Dino die Stirn bieten. Wir können sterben. Aber wenn der Pangûl stirbt, stirbt das ganze Reich. Der Erl wird sein Regiment des Schreckens auf­richten und alle unter­drücken, die sich ihm nicht auf Gedeih und Verderb aus­liefern. Wir werden das nicht verhindern können. Aber solange der Pangûl lebt und die Hoffnung besteht, dass er nach Eissel­gaard zurück­kehrt, wird das Volk nicht in Ver­zweiflung und Trübsal leben, sondern in der Ferne ein Licht sehen. So wird die Kraft zum Wider­stand gegen Serpieri als Keim in ihm schlummern, um eines Tages erweckt zu werden, sich zu neuer Blüte zu entfalten und Dino zu vernichten.«

»Gut gesprochen«, sagte Bracket, einer der anderen elf Ritter, die sich im Turm­zimmer des mittleren Haupt­turms von Eissel­gaard versam­melt hatten, um Kriegsrat zu halten. Draußen vor den Toren von Eissel­gaard lag die über­mächtige Armee des Erls, die die Festung des Pangûl­tums seit Wochen belagerte und niemanden aus Eissel­gaard heraus- und niemanden hinein­ließ. Viele der Belagerten waren geschwächt durch Hunger, Skorbut und Durchfall­erkran­kungen, die auf das faule Obst und Gemüse zurückzu­führen waren, das sie wegen der Bela­gerung zu sich nehmen mussten. Auch die zwölf Eisernen von Eissel­gaard, die Ritter am Hofe des Pangûls, waren ausge­mergelt, gezeichnet von den Auswir­kungen der Bela­gerung.

»Wir könnten den Herrn hinausschmuggeln«, schlug Jonathan vor. Trotz seiner Jugend wurde er regel­mäßig im Rat der Zwölf geduldet, weil alle seinen wachen Geist und seinen Einfalls­reichtum schätzten.

»Eine gute Idee«, sagte Erik, der Ritter, der den mittleren Platz auf der linken Tisch­seite einnahm. Sein Urteil hatte Gewicht in der Runde. »Es ist keine Frage, dass der Pangûl um jeden Preis geschützt werden muss. Aber wie sollen wir den Pangûl unbe­merkt an den geschlos­senen Reihen der Feinde vorbei­bringen?«

Jonathan lächelte verschmitzt. Es war die Vorfreude auf das, was er den tapferen, kampf­erprobten Männern gleich vorführen und damit alle verblüffen würde. »Seht Ihr dieses kleine Härchen? Was wird geschehen, wenn ich es über die Kerze da vorne halte?«

»Es wird verbrennen.«

Jonathan erhob sich und löste die Kerze aus der Halterung an der Wand. Dann hielt er das winzige Haar, das mit bloßem Auge kaum auszu­machen war, über die Kerze und ließ es los. Zum Erstaunen der Ritter sank das Härchen nicht sogleich hinab in die Kerzen­flamme, um den von Erik prophe­zeiten raschen Feuertod zu sterben, sondern blieb in der Luft stehen, schwebte wie von Geister­hand gehalten im freien Raum und stieg, von einem unbekannten Wind bewegt, sogar ein wenig höher. Jonathan freute sich diebisch über seine gelungene Vor­führung. »Die Hitze der Flamme lässt leichte Gegen­stände nach oben steigen«, belehrte er die Männer, die alle viel älter und erfah­rener waren als er.

»Willst du uns erzählen, Junge«, unterbrach Reinhard mit gerunzelter Stirn seinen Knappen, »dass du einen ausge­wachsenen Mann wie dieses kaum mit bloßem Auge erkennbare Haar zum Schweben bringen willst?«

»Der Junge scheint zu glauben, dass der Pangûl nach sieben Wochen Magerkost dünn geworden ist wie ein Strich«, spottete ein älterer Ritter und brachte damit alle zum Lachen.

Jonathan ließ sich davon nicht beeindrucken. Er fuhr mit seinen Ausfüh­rungen fort, als hätte er nichts gehört. »Natürlich kann ich den Pangûl nicht mit einer Kerze zum Schweben bringen. Aber je mehr Hitze ich erzeuge, desto schwerer kann auch der Gegen­stand sein, der durch die heiße Luft in die Höhe steigt wie eben dieses kleine Haar.«

Reinhard schüttelte den Kopf. »Junge, du hast eine rege Vor­stellungs­kraft. Aber was du dir da jetzt ausgedacht hast, ist unmöglich.«

»Sagen wir mal so, edler Ritter: Es sieht unmöglich aus. Aber wir brauchen eigent­lich nur einen großen Feuer­platz und eine gewaltige Stoff­hülle, in der sich die warme Luft fangen kann. Nach meinen Berech­nungen würde diese sich dann nach einer gewissen Zeit von selbst zu heben beginnen. Und dann müssten wir den Pangûl nur noch irgendwie an dieser Hülle befestigen und er würde Eissel­gaard ent­schweben wie ein Flug­drachen mit großer Spann­weite.«

»Hahaha«, lachte der feiste Ritter Bracket, »der Pangûl als Flug­drachen! So einen Unfug habe ich lange nicht gehört!«

»Zugegeben, Euch würde mein Fluggerät nicht tragen, edler Ritter Bracket, Ihr seid zu wohl­genährt!«, schoss Jonathan frech zurück. Nun lachten alle anderen Ritter und Bracket schwieg verdrossen.

»Ich meine es nicht böse, entschuldigt, edler Ritter. Entschei­dend ist tat­sächlich das Ver­hältnis zwischen Auftriebs- und Zug­kräften«, dozierte Jonathan weiter.

Viele der Ritter machten große Augen. »Junge, wenn man dir so zuhört«, sagte Erik mit schlep­pender Stimme, »dann könnte man dir fast glauben, dass du es schaffst.«

»Wie groß muss denn deiner Meinung nach diese Hülle sein?«

»Ich fürchte, riesig groß«, seufzte Jonathan. »Das ist der schwierige Teil.«

»Und wie sollte sie beschaffen sein?«, fragte ein anderer Ritter.

»Die Hülle darf keine Luft entweichen lassen und sollte nicht rasch entflamm­bar sein.«

»Gut«, sagte Reinhard, »denken wir alle eine Weile nach und wenn einer von euch eine Einge­bung hat, wie wir den Plan meines Knappen umsetzen können, kommt er zu mir. Ich versuche inzwischen mit dem Pangûl zu sprechen und Jonathan kommt mit mir.«

Der Ritter und sein Knappe verließen das Turmzimmer. Jonathan schloss die Tür hinter sich. Sie gab ein wider­spenstiges Knarren von sich.

»Du solltest deine Einfälle nicht dort ausbreiten, wo die Wände Ohren haben«, schalt der Ritter seinen Knappen mit gedämpfter Stimme.

»Wie meint Ihr das, edler Ritter?«

»Es gibt Anzeichen dafür, dass wir verraten wurden«, flüsterte Reinhard.

»Wie bitte? Wer sollte ...?«

»Ich bin mir selbst der zwölf Eisernen nicht mehr ganz sicher.«

»Was? Ihr wollt sagen ...?«

»Pst! Nicht so laut! Wie war es möglich, dass selbst Isidora, die wir durch den Eisselsee nach draußen schmuggeln wollten, dem Feind sogleich in die Hände fiel? Es konnte doch niemand damit rechnen, dass eine einfache Gänse­magd eine geheime Bot­schaft mit sich führt!«

»Isidora? Was ist mir ihr geschehen?«

»Ihr Kopf steckt auf einer Lanze jenseits des Burg­grabens.«

Entsetzt schlug sich Jonathan die rechte Hand an den Mund. »O nein! Das ... das wusste ich nicht.«

»Und das Sonderbare ist, dass der Plan, sie mit einer Bot­schaft nach Kunth zu senden, nur im Kreis der Ritter bespro­chen wurde. Niemand war einge­weiht als die zwölf Eisernen und der Pangûl. Nicht mal du wusstest etwas davon.«

»Ich hatte keine Ahnung ... Arme Isidora. Sie war ein mutiges Weib. Aber vielleicht hat sie sich selbst verraten?«

Der Ritter sah Jonathan an, als hätte er soeben eine besonders dumme Bemerkung gemacht. Dann sagte er: »Und was deinen ver­wegenen Flucht­plan angeht: Der Pangûl wird niemals einver­standen sein.«

»Er wird es nicht müssen.«

»Du willst den Pangûl allen Ernstes durch die Luft fliegen lassen, und das gegen seinen erklärten Willen? Der Pangûl soll fliegen lernen?«

»Er wird es nicht müssen«, wiederholte Jonathan. »Und dass wir den möglichen Verräter mit in den Plan einge­weiht haben, könnte uns sogar noch zum Vorteil gereichen, wenn wir es nur geschickt genug anstellen.«

»Ich fürchte, mein Junge, ich kann nicht mehr folgen. Aber das spielt im Augen­blick auch keine Rolle. Entschei­dend ist allein, was der Pangûl sagt. Ich eile jetzt zu ihm ins Regenten­zimmer.«

Jonathan stieg die Treppen hinab, bis er auf Höhe der Wehr­gangs war. Dann eilte er zum Süd­turm der Mauer, die den inneren vom äußeren Burghof trennte. Von hier aus ließ sich das Gelände rund um Eissel­gaard hervor­ragend über­blicken. Wandte Jonathan seinen Kopf nach rechts, blickte er auf den äußeren Burghof mit dem üblichen Treiben: Markt­weiber, die ihre Waren feil­boten (doch das Angebot war karg) oder Mahl­zeiten für den schnellen Verzehr zube­reiteten, Söldner, die sich die Zeit bis zum nächsten Dienst­beginn vertrieben, und überall dazwischen herum­tollende Kinder, die keine Ahnung vom Ernst der Lage zu haben schienen. Schaute er in die entgegen­gesetzte Richtung, sah er unter sich die gewaltige Außen­mauer der Burg, den Burg­graben und dahinter die Süd­flanke des Belage­rungs­rings. Überall wimmelte es von Streit­kräften des Erls, Berittenen und Fußvolk, Söldnern der verschie­denen Waffen­gattungen, dazwischen Karren mit schweren Geschützen und Feldzelte für die Truppen­führer. Das gesamte leicht ansteigende Gelände zwischen dem Wald von Ebenoth und dem Burg­graben glich einer belebten Straße in der Mitte einer großen Stadt. Mit dem Unter­schied, dass eine gewisse Ordnung herrschte und alle dieselbe Kleidung trugen: die Rüstung der schwarzen Reiter. Sie vertrieben sich die Zeit auf ähnliche Weise wie die Menschen im Inneren der Festung. Es ist der Krieg doch ein seltsames Ding, dachte Jonathan, während er seinen Blick am Belage­rungs­ring entlang nach Westen schweifen ließ: Diesseits und jenseits der Mauern sind es dieselben Sachen, die den Menschen bewegen und nach denen er strebt, und doch müssen sie einander gegen­über­stehen, als wäre der jeweils andere ein gefräßiger sieben­mäuliger Drache und nicht einer derselben Art und desselben Geblüts wie er.

Jetzt sah Jonathan nach vorn. Er über­blickte die Südwest­seite des äußeren Burghofs mit den Zinnen und Wehr­gängen auf der Außen­mauer. Dort wachten die schwer bewaff­neten Söldner, die gerade Dienst hatten. Verborgen hinter den unzähligen Schieß­scharten neben den Zinnen ließen sie die Belagerer nie länger aus den Augen als für die Dauer eines Wimpern­schlags, jederzeit bereit, Alarm zu schlagen und zu ihren schweren Waffen zu greifen, falls sich jenseits des Burg­grabens etwas Bedroh­liches tat. Doch beherrscht wurde auch diese Ansicht von dem unermess­lichen grünen Meer des Walds von Ebenoth, der sich bis zum Horizont erstreckte und auf dessen Hinter­grund die Türme und Zinnen von Eissel­gaard nur unbe­deutende graue Farb­tupfer waren.

»Hier steckst du«, stöhnte Reinhard, als er seinen Knappen endlich gefunden hatte. Mit hängen­den Schultern eilte er über die Wehr­mauer auf ihn zu. »Ich hätte es mir denken können. Der Pangûl hat mich für verrückt erklärt. Und dich gleich mit.«

»Wir werden es trotzdem machen«, sagte Jonathan.

»Der Pangûl ist ein hellsichtiger Mann. Du bist verrückt.«

Das Lied von Licht und Finsternis (Lickie-Edition)

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