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2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen

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Gut und Böse und der Auszug aus dem Paradies

Nach der Erzählung des Alten Testamentes begann die Vertreibung aus dem Paradies mit einem Versprechen, das den beiden ersten Menschen das Wissen des Guten und des Bösen in Aussicht stellte, so dass sie wären wie Gott. Die Einsicht, die Adam und Eva dazu brachte, vom Baume der Erkenntnis zu essen, und die sie so hoch schätzten, dass sie wegen ihr sogar im Paradies noch ein Verlangen nach etwas Besserem verspürten, war im Grunde die Fähigkeit zu einer Unterscheidung, die sie im Zustand des Glücks nicht zu kennen brauchten. In der Vollkommenheit, die im Alten Testament den Namen ‚Paradies‘ trägt, erscheint das Verlangen nach einer solchen Unterscheidung zunächst widersinnig. Vom Bösen können wir nur in einer Welt wissen, die nicht vollkommen ist, wir könnten sogar sagen: das Böse ist ein wesentlicher Teil der Unvollkommenheit der Welt. Wir könnten auch noch einen Schritt weitergehen und das Böse als Synonym für die Unvollkommenheit der Welt auffassen. Der Begriff des Bösen gibt uns die Möglichkeit, ein Defizit im Guten auszudrücken. Wenn das Böse in der Welt ist, so kann sie nicht mehr vollständig gut sein. Damit ist der Status der Vollkommenheit verlassen und nur noch als Wunschvorstellung und als anzustrebendes Ziel präsent.

Die biblische Erzählung beginnt also damit, dass die Schlange einen merkwürdigen und paradoxen Wunsch in den ersten Menschen erweckte. Dieser Wunsch muss bereits in ihnen vorhanden gewesen sein, denn im anderen Fall hätte die Schlange ihn erzeugt und die Verantwortung wäre nur ihr angelastet worden, so dass der alttestamentarische Gott nur sie aus dem Paradies vertreiben hätte müssen. Er machte aber Adam und Eva selbst für diesen Wunsch verantwortlich, und, so geht die Erzählung weiter, mit ihnen alle ihre Nachkommen bis zum heutigen Tage. Am Anfang der Menschheitsgeschichte, wie wir sie inzwischen kennen, steht nach dieser Legende also ein Wunsch, der eigentlich nicht hätte vorkommen können. Im Stande der Vollkommenheit wünschten sich die ersten Menschen die Unvollkommenheit, jene Unvollkommenheit nämlich, die mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbunden ist. Wir könnten etwas vorsichtiger sagen, sie wünschten sich nur das Wissen von der Unvollkommenheit, als sie nach der Erkenntnis über das Gute und das Böse strebten. Aber das ist ein sophistischer Vorbehalt. Wenn wir wissen, was gut und was böse ist, so ist die Welt nicht mehr im Stande der Unschuld. Bereits in ihrer einfachen Wahrnehmung beginnen wir zu unterscheiden – wir ‚sehen‘ sie unter den Vorzeichen einer Unterscheidung, die ihr die Vollkommenheit raubt. Wir blicken auf sie und unterscheiden in ihr das Gute und das Böse. Mit diesem Blick hat sie ihre Vollkommenheit verloren.

Was bringt zwei Menschen im Stande der Vollkommenheit dazu, wissen zu wollen, was gut und was böse ist? Die Paradoxie der biblischen Erzählung geht jedoch noch weiter. Das Versprechen des Verführers lautete auch, damit würden sie sein wie Gott. Dass zu einem Gott, was immer wir uns innerhalb und außerhalb der Restbestände von Religionen in der westlichen Welt darunter vorstellen mögen, ein Wissen über Gut und Böse gehört, ist uns heute eine selbstverständliche Vorstellung. Aber sie versteht sich nur deshalb von selbst, weil wir ebenso sicher davon ausgehen, dass dieser Gott über eine unvollkommene Welt wacht oder herrscht oder richtet oder wie immer wir uns das Verhältnis des Gottes zur Welt vorstellen mögen. Die Vorstellung von der Unvollkommenheit der Welt ist unter den Vorzeichen des Gottesglaubens nicht von der Vorstellung zu trennen, zu einem Gott gehöre in seinem Verhältnis zur Welt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Stellen wir uns die Welt dagegen in einem radikalen Sinne als vollkommen vor, d. h. phantasieren wir sie uns nicht nur so zurecht, dass sie unseren Wünschen entspricht, so können wir den Unterschied zwischen Gut und Böse aus unserer Vorstellung über das Verhältnis des Gottes zur Welt entfernen.

Das zweite Element in der Paradoxie der biblischen Erzählung von dem Wunsch der ersten Menschen, das Gute und das Böse zu kennen, finden wir also in dem Versprechen des Verführers, die Realisierung dieses Wunsches werde sie dazu bringen, zu sein wie Gott. Diese Paradoxie liegt darin, dass Adam und Eva diesen Wunsch im Stande der Vollkommenheit hegen und ihrem Gott doch ein Verhältnis zu seiner Welt unterstellen, das er nur zu einer unvollkommenen Welt unterhalten kann. Sie leben in einer vollkommenen Welt und nehmen doch an, der Gott verhalte sich zu seiner Welt gemäß der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, d. h. als ob sie unvollkommen wäre. Sie wollen sein wie ein Gott, der sich zu einer Welt verhält, die im Stande der Unvollkommenheit ist, und dessen Stellung zu dieser Welt deshalb durch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bestimmt wird. Sie wollen sein wie Gott, aber sie wollen sich wie ein Gott zu einer unvollkommenen Welt verhalten. Nur deshalb trifft das Versprechen der Schlange, sie könnten das Gute und das Böse kennen und damit sein wie Gott, auf fruchtbaren Boden. Hätten sie dies nicht gewollt, so wäre die Verantwortung bei dem Verführer geblieben und es hätte keine Vertreibung aus dem Paradies gegeben.

Das dritte Element der Paradoxie in der alttestamentarischen Erzählung liegt darin, dass die ersten Menschen in einer vollkommenen Welt überhaupt den Wunsch entwickeln, zu sein wie Gott. In der uns bekannten unvollkommenen Welt ist den meisten Menschen dieser Wunsch nicht ganz fremd. In der Regel stellen wir uns dann Gott als einen Machthaber vor, der die Welt so einrichten könnte, wie wir sie uns gerne vorstellen möchten, und, wenn wir altruistisch gestimmt sind, wie wir sie auch allen anderen Menschen zumuten möchten. Aber warum sollte man sich in einer in einem radikalen Sinne vollkommenen Welt, von der die biblische Erzählung vom Paradies berichtet, wünschen wollen, zu sein wie Gott? Es gab nichts zu verändern oder zu verbessern, es fehlte an nichts, Konkurrenz oder Feindschaft waren unbekannt, und der Löwe lag friedlich neben dem Lamm. Die ersten Menschen lebten in einem Glück, in dem sie nichts von der Möglichkeit des Unglück wussten. Warum also konnte die Schlange bei ihnen auf Resonanz stoßen, als sie ihnen in Aussicht stellte, sie könnten sein wie Gott?

Wir könnten sogar noch eine vierte Seite der Paradoxie in der Erzählung über den Anfang vom Ende des Paradieses erkennen. Warum konnte bei Menschen der Wunsch nach einem Wissen vom Guten und Bösen entstehen, wenn sie in einem Zustand lebten, in dem die Erde so vollkommen war, dass alles gut und nichts böse war? Die biblische Legende stellte zuvor ausdrücklich fest: ‚und Gott sah, dass es gut war‘. Damit wird nicht gesagt, es wäre relativ gut gewesen, oder: angesichts der Umstände war es ziemlich gut gelungen, sondern der Satz lautet einfach: ‚es war gut‘. Wer will in einer solchen Lage etwas von der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen wissen? Es geht hier nicht um eine bloße persönliche Motivation, die psychologisch zu erklären wäre. Die Psychologie war noch lange nicht erfunden, und wir sollten vermeiden, die biblische Legende auf solche einfachen Modelle des Verstehens zu reduzieren. Die Frage, die diese Paradoxie zum Ausdruck bringt, lautet deshalb genauer: wie kann in einer Lage, in der alles vollkommen ist, der Wunsch nach einem Wissen über das Gute und das Böse entstehen, wenn die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Problematik überhaupt nicht gegeben sind?

Die Paradoxie des unvollkommenen Paradieses

Die Erzählungen des Alten Testaments haben für uns heutige Menschen eine sehr verschiedene Bedeutung. Menschen, zu deren Selbstverständnis das Bewusstsein einer religiösen Verpflichtung gehört, werden darin auf die eine oder andere Weise Berichte vom Wirken Gottes in der Welt sehen. Wer eine solche Weltorientierung nicht für sich gelten lassen will, der kann diese Erzählungen als Teil eines der ältesten und folgenreichsten Texte der literarischen Selbstvergewisserung der Menschheit auffassen. Niemand wird heute mehr gezwungen, darin die Verkündung göttlicher Wahrheiten zu lesen. Zu den wichtigsten Errungenschaften des Abendlandes spätestens seit der Aufklärung gehört die Freiheit, selbst auf die eine Weise zu lesen und andere nach ihrer eigenen Façon lesen zu lassen. Selbst wer mit religionskritischem Bewusstsein die Texte des Alten Testaments auffasst, muss jedoch zugeben, dass es sich hier um einen der Texte handelt, in dem Menschen ihr Selbstverständnis so zum Ausdruck gebracht haben, dass ihm Bedeutung nicht nur im Sinne des individuellen Ausdrucks eines Autors in einem literarischen Text zukommt. Anders ist es nicht zu erklären, dass diese Erzählungen zum Teil des abendländischen Selbstverständnisses geworden sind.

Es ist deshalb eine sinnvolle Unterstellung, dass die Paradoxien in der Geschichte über den Beginn der Vertreibung aus dem Paradies nicht einfach auf Denkfehler des Autors bzw. der Autoren des Textes zurückgehen, die an seiner Niederschrift und Weitergabe über viele Jahrhunderte hinweg beteiligt waren. Wir können deshalb feststellen, dass zu unserem abendländischen Selbstverständnis an einem prominenten Ort eine Erzählung gehört, die an zentraler Stelle eine komplizierte Paradoxie über das Wissen vom Guten und Bösen und die Bedeutung dieses Wissens für den Menschen enthält. Wir können weiter vermuten, dass gerade diese Paradoxie mit gutem Recht ein wichtiges Stück des menschlichen Selbstverständnisses ausdrückt, wie es sich in der christlich-abendländischen Kultur entwickelt hat. Wenn dem so ist, so kann die Struktur einer solchen ‚Fundamentalerzählung‘ auch eine Einsicht über die Bedeutung anbieten, die wir mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbinden, um die es in dieser Erzählung geht.

Die Paradoxie besteht zunächst darin, dass sich die ersten Menschen im Stande der Vollkommenheit die Unvollkommenheit wünschten, die mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbunden ist. Die Paradoxie liegt weiter darin, dass die ersten Menschen bereit waren, in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Auszeichnung ihres Gottes in seinem Verhältnis zu ihrer Welt zu sehen, obwohl diese Welt doch in einem radikalen Sinne vollkommen war, so dass sie dem Gott in seinem Verhältnis zu ihrer Welt eine solche Unterscheidung der Unvollkommenheit eigentlich überhaupt nicht hätten zuschreiben können. Eine weitere Seite dieser Paradoxie können wir darin sehen, dass die ersten Menschen in einer vollkommenen Welt den Wunsch hegten, zu sein wie Gott, obwohl es doch nichts zu wünschen gab, was nur ein Gott hätte gewähren können. Wir könnten die Paradoxie nach einer anderen Seite schließlich noch durch das Problem umschreiben, wieso in einer vollkommenen Welt überhaupt der Wunsch nach einem Wissen über das Gute und das Böse entstehen konnte? Die Welt des biblischen Paradieses bot keine Grundlagen, die als Bedingungen der Möglichkeit eines Problems gedacht werden könnten, für das diese Unterscheidung eine Lösung anbieten hätte können.

Es gibt nur eine Möglichkeit, die Paradoxie in der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies zu beheben und die Wahl der ersten Menschen, sein zu wollen wie Gott und das Gute und das Böse zu kennen, aus den Bedingungen ihrer eigenen Situation zu verstehen. Wir müssen zugestehen, dass das Leben im Paradies ganz vollkommen doch nicht gewesen sein kann, wenn die ersten Menschen darin die Unterscheidung zwischen Gut und Böse vermissten und bereit waren, der Schlange zu folgen, die ihnen in einem diese Einsicht und zu sein wie Gott versprach. Wäre das Paradies ein Ort gewesen, an dem Adam und Eva wunschlos glücklich hätten sein können, so hätte nie der Wunsch in ihnen keimen können, sich wie der Gott zu einer unvollkommenen Welt zu verhalten, in der der Unterschied zwischen Gut und Böse Wirklichkeit geworden ist, und sie hätten keine Einsicht in das Gute und das Böse verlangen können. So paradiesisch kann das Paradies nicht gewesen sein, das uns die biblische Erzählung als den Anfang der Welt der Menschen schildert.

Aber das Alte Testament beschreibt uns auch den Zustand nach dem Sündenfall nicht als einen angenehmen Ort. Adam und Eva werden von dem Engel mit dem flammenden Schwert aus dem Paradies gejagt und, so lautet ihr Urteil, sie und ihre Nachkommen werden künftig ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes essen und, so können wir hinzufügen, sie werden es ebenso erarbeiten. Der Fortgang der Geschichte entspricht dieser Prophezeiung und übertrifft sie sogar noch. Es beginnt die Geschichte der Menschen mit Besitzgier, Neid, Hass und Mord; es beginnt eine Geschichte, in der ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit dazu führen, dass der Bruder zum Mörder seines Bruders wird. Es ist die Geschichte, in der die Menschen nicht mehr Brüder und Schwestern sind, sondern sich durch viele Umstände vermittelt zu einander verhalten, so dass sie im anderen nicht mehr sich selbst erkennen, sondern sich fremd und in vielen Fällen feindselig gesonnen sind. Man könnte auch sagen: es beginnt die Geschichte der Welt der Menschen, wie wir sie kennen.

Der Auszug aus dem Paradies und der Beginn der Geschichte

Wenn zum Begriff der Geschichte eine Entwicklung gehört, in der sich Situationen, Strukturen und Beziehungen verändern, so beginnt die Geschichte der Menschen erst mit der Vertreibung aus dem Paradies. Das Paradies gehört nicht zur Geschichte. In ihm war alles gut. Deshalb konnte es keine Entwicklung geben. Sie hätte nur zum Schlechteren oder zum Besseren führen können. Im ersten Fall wäre nicht alles gut gewesen, weil in ihm die Bahn zum Schlechteren vorgezeichnet gewesen sein musste. Auch im zweiten Fall wäre nicht alles gut gewesen, sondern nur relativ gut, also unvollkommen, so dass Raum für das Bessere war. Eine Entwicklung innerhalb des vollkommen Guten können wir nicht denken. Deshalb beginnt die Geschichte erst mit dem Ende des Paradieses auf Erden. Sie beginnt also mit der Herausforderung durch die Schlange und mit der Bereitschaft der ersten Menschen, ihr zuzuhören und ihre Versprechungen ernst zu nehmen. Sie beginnt mit dem neuen Blick auf das Paradies, der mit dieser Bereitschaft in die Welt kam. Der Anfang der Geschichte ist die neue Perspektive, der neue Standpunkt, den die ersten Menschen gegenüber ihrer vollkommenen Welt einnehmen wollten.

Die Geschichte der Menschen beginnt nach der biblischen Erzählung also mit dem Wunsch, das Gute und das Böse zu kennen und auf diese Weise zu sein wie Gott. Wir würden diese Erzählung ungenügend verstehen, würden wir sie nur als eine Erzählung von der Vermessenheit der ersten Menschen auffassen. So einfach ist es nicht. Zwar wollten Adam und Eva sein wie Gott. Aber sie wollten einem Gott gleichen, der eine Beziehung der Unvollkommenheit zu seiner Welt unterhält, d. h. eine Beziehung zu einer Welt, die unvollkommen ist, also nicht gottgleich, wenn wir Gott als das vollkommene und deshalb höchste Wesen auffassen. Im Grunde wollten sie nicht so sein wie der Gott des Paradieses. Dieser Gott bezog sich auf seine Welt – die gleichzeitig die Welt der ersten Menschen war – nicht in einem Verhältnis, das die Differenz zwischen Gut und Böse und damit die Unvollkommenheit enthielt. Er war der Gott in seiner Vollkommenheit, an der er die Welt und die ersten Menschen teilhaben ließ. In seiner Welt war alles gut und nichts böse. Er war der Gott vor der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Zwar wollten die ersten Menschen sein wie Gott, aber nicht wie der Gott des Paradieses. Wenn die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies den Beginn der Geschichte der Menschen schildert, so erzählt sie auch von einer folgenreichen Verwandlung der Vorstellung von Gott, die ebenso an diesem Anfang unserer Geschichte stand wie der Wunsch, zu sein wie Gott. Es sollte nicht der Gott sein, der sich in Identität mit seiner göttlich vollkommenen Welt befand. Dieser Gott verwandelte sich in der Bereitschaft der ersten Menschen, auf die Versprechen der Schlange zu hören, in einen Gott, der mit seiner Welt zerfallen war und zu ihr in einem Verhältnis stand, das nicht durch Identität, sondern durch Differenz bestimmt war. Dieses Verhältnis war nicht mehr dasjenige der Welt des Paradieses zum Gott des Paradieses. Der Gott, dem die ersten Menschen gleichen wollten, sollte ein Gott sein, dessen Welt in Gut und Böse zerfällt, so dass sie sich nur zum Teil zu ihm verhält, während sie sich zum anderen Teil von ihm abwendet. Die ersten Menschen wollten sein wie ein Gott, von dem sich die Welt abgewandt hatte.

Diese Abwendung können wir im Grunde nicht auf einen Teil der Welt beschränken. Wenn die Welt sich zu ihrem Gott verhält, indem sie in sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse trägt, so ist auch die Seite dieser Welt, nach der sie gut ist, nicht mehr die gleiche wie in einer vollkommenen Welt, die sich in Identität mit ihrem Gott befindet. Das Gute in der Welt ist nun in ein Verhältnis zum Bösen in der Welt getreten und es kann sich nicht mehr aus dieser Beziehung lösen. Zwar ist das Gute weiterhin gut, aber nicht mehr auf die gleiche Weise wie zuvor im Stande der Gnade in der vollkommenen Welt des Paradieses. Seine Qualität bemisst sich nun aus seiner Relation zu dem Bösen. Es kann nicht mehr in sich und vollkommen für sich gut sein wie in der Welt des Paradieses, die den Unterschied zwischen Gut und Böse noch nicht kannte. Wenn die ersten Menschen also sein wollten wie ein Gott, dessen Welt in Gut und Böse zerfällt, so wünschten sie nicht, so zu sein wie der Gott des Paradieses, sondern wie ein Gott, von dem sich die ganze Welt abgewandt hat, die ihm nun unter den Vorzeichen von Gut und Böse gegenüber steht.

Nach der biblischen Erzählung steht am Beginn der Geschichte der Menschen also der Wunsch nach einem anderen Gott. Wir könnten darin das Prinzip des Sündenfalls sehen. Viel später wird eine andere Geschichte von einem Gott handeln, der den Menschen sein Gebot gibt, dessen erstes lautet: Du sollst keinen Gott haben neben mir. Wir könnten dieses Gebot auch so formulieren: Du sollst Dir keinen anderen Gott wünschen, oder: Du sollst Dir nicht wünschen, ich wäre anders als ich bin. Eigentlich expliziert dieses Gebot damit nur den hebräischen Namen Jahwe, d. h. ‚Ich bin, der ich bin‘, d. h. auch: ich bin nicht der, den sich die Menschen wünschen, und ich bin nicht der, den sie einmal so und einmal anders beschreiben, sondern ich bin der Gleiche, der deshalb allen Beschreibungen entgeht, d. h. der Unbeschreibliche. Vielleicht könnte man die Deutung noch weiter treiben und sagen, dass dieses Gebot ein später Reflex auf den ursprünglichen Sündenfall ist, der in seinem Wesen darin bestand, sich den Gott anders zu wünschen, d. h. einen anderen Gott zu wollen.

In eins mit dem Wunsch nach einem anderen Gott beginnt die Geschichte der Menschen, wenn man der biblischen Erzählung folgen will, mit dem Wunsch nach der Erkenntnis des Guten und Bösen. Wir haben bereits die Paradoxie eines solchen Wunsches in der Situation des Paradieses, in dem alles gut war, betont. Wir können deshalb jetzt sagen, die Geschichte beginnt mit der Unzufriedenheit mit dem Paradies. Auch dies ist ein Begriff, der die ursprüngliche Paradoxie noch einmal zum Ausdruck bringt. Wenn wir vom Paradies sprechen, so ist eigentlich die vollendete Zufriedenheit in diesem Begriff eingeschlossen und es scheint keinen Sinn zu machen, von der Unzufriedenheit mit dem Paradies zu sprechen. Wenn es tatsächlich das Paradies war, so konnte niemand unzufrieden damit sein; war tatsächlich jemand auch nur im Geringsten unzufrieden, so konnte es sich nicht um das Paradies handeln. Nach der Erzählung des Alten Testaments beginnt die Geschichte der Menschen jedoch genau mit dieser Paradoxie. Man könnte auch sagen: sie beginnt damit, dass die ersten Menschen einen in der Schöpfung eigentlich nicht vorgesehenen Begriff fanden.

Gut und Böse und der Beginn der Freiheit

Der Wunsch nach einer Kenntnis des Guten und des Bösen ist nur eine andere Ausdrucksweise für die Erfindung eines solchen ‚unmöglichen‘ Begriffes. Unmöglich war dieser Begriff allerdings nur in der Welt des Paradieses. Vielleicht mussten die ersten Menschen die ursprüngliche Sünde begehen, um solche unmöglichen Begriffe denken zu können. Die Paradoxie der Unzufriedenheit mit dem Paradies ist das Ungenügen an einer Situation, in der alles gut war, und zwar so, dass es nicht etwa gut im Unterschied zum Bösen war, sondern für sich und absolut gut. Demnach beginnt die Geschichte der Menschen damit, dass sie einem Guten, das nur in Bezug auf das Böse gut ist, jenem Guten, das für sich und absolut gut ist, den Vorzug gaben. Sie wollten nicht einfach das Gute wissen, sondern das Gute und das Böse. Sie wollten wissen, was das Gute in seinem Verhältnis zum Bösen ist, und wie das Böse in seiner Beziehung auf das Gute zu verstehen ist. Sie wollten den Unterschied kennen, nicht nur das Gute und das Böse isoliert voneinander.

Wer das Gute in seiner Beziehung zum Bösen kennen will, der muss in Kauf nehmen, dass damit diese Relation zum Guten selbst gehört. Das gleiche gilt auch umgekehrt: wer wissen will, was das Böse in seinem Verhältnis zum Guten ist, der muss als Preis bezahlen, dass das Böse damit eine Relation zum Guten einschließt. Auf diese Weise gehört zum Guten in gewisser Weise das Böse, und zum Bösen gehört auch das Gute. Das heißt nicht, dass das Gute nicht mehr gut ist, sondern vielleicht böse, und es bedeutet auch nicht, dass das Böse nicht mehr böse ist, sondern vielleicht gut. Der einfache Bezug führt nicht dazu, dass die Begriffe verwechselt oder gar ausgetauscht werden könnten. Aber das Gute und das Böse können nicht mehr unabhängig von einander verstanden werden. Die Situation ist also nicht mehr so eindeutig wie zuvor, als das Gute isoliert und an sich gelten konnte, ohne neben sich das Böse gelten lassen zu müssen, in der Abgrenzung von dem es sich nun definieren lassen muss. Das Gute hat seine alte Herrlichkeit eingebüßt und ist nun in eine Abhängigkeit von seinem Widerpart geraten.

Am Beginn der Geschichte der Menschen, die nach der biblischen Erzählung mit dem ersten Sündenfall beginnt, steht damit auch ein Wandel in dem Begriff des Guten. Am Anfang der Geschichte steht der Verlust der Herrlichkeit und Selbstmächtigkeit des Guten. Es kann sich nicht mehr vom Bösen fernhalten, sondern ist von ihm infiziert, weil es ohne seine Beziehung auf das Böse nicht mehr bestimmt werden kann. Diese Herabsetzung des Guten in ein Gutes, das nur im Verhältnis zum Bösen gilt, ist ein Teil des Preises, den die ersten Menschen dafür bezahlen mussten, dass sie das Gute und das Böse kennen wollten. Weil dieses Ziel zusammen mit dem Wunsch entstand, zu sein wie Gott, deshalb beginnt die Geschichte mit dem Willen, einem Gott zu gleichen, der nicht nur in einem Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt steht, die sich in Gut und Böse unterscheidet, sondern der in diesem Verhältnis auch nur ein minderes Gutes bewahren kann. Die Geschichte beginnt nicht nur mit dem Wunsch nach einem anderen Gott als dem Gott des Paradieses, sondern zu diesem anderen Gott gehört auch eine andere Beziehung zum Guten, als es die Beziehung zum Guten des Paradieses war.

Wenn die Geschichte der Menschen also mit dem Begehren beginnt, zu sein wie Gott und das Gute und das Böse zu wissen, so beginnt sie mit einer vielschichtigen Paradoxie. In dieser Paradoxie wählen sich die Menschen einen anderen Gott und bringen das Gute in ein Verhältnis zum Bösen. Sie tun etwas, was in der Konzeption des Paradieses nicht vorgesehen war. Sie ermächtigen sich zu der Unmöglichkeit, einen anderen Gott zu wollen, und sie setzen das Gute herab zu einem Guten, das gut nur im Verhältnis zum Bösen ist. Der Gott der Geschichte der Menschen ist nicht mehr der Gott des Paradieses, und das Gute in der Geschichte ist das im Anspruch reduzierte und ambivalente Gute, das sich gegen das Böse behaupten und abgrenzen muss. Die Bedeutung der biblischen Erzählung vom ursprünglichen Sündenfall liegt am Ende in dieser Erklärung des Grundes und des Anfangs der Geschichte der Menschen aus der Wahl eines anderen Gottes und eines anderen Guten. Der Gott der Geschichte der Menschen ist der Gott, von dem sich die Welt abgewandt hat, zu der er sich nun in ein Verhältnis setzen muss, das durch die Unterscheidung von Gut und Böse bestimmt ist.

Die Geschichte der Menschen ist demnach nicht mehr zu unterscheiden von der Geschichte von Gut und Böse. Sie ist die Geschichte eines Verhältnisses, das nur durch den Auszug aus dem Paradies erkauft werden konnte. Sie ist aber auch die Geschichte einer Freiheit, in der eine unmögliche Entscheidung getroffen wurde. Am Anfang standen Menschen, die mit dem Paradies unzufrieden waren und dem Wissen vom Guten und vom Bösen den Vorzug gaben. Beides zusammen konnte ihnen auch ihr Gott nicht gewähren. Sie wählten den unvollkommenen Gott, von dem sich die Welt abwenden musste, die nun ein neues Verhältnis von Gut und Böse zu ihm aufnehmen konnte. Die menschliche Freiheit beginnt am gleichen Punkt wie die Geschichte der Menschen: sie beginnt mit dem Auszug aus dem Paradies in der Entscheidung für ein herabgesetztes Gutes, das sich nur noch in der Relation zum Bösen bestimmen kann. Der ursprüngliche Sündenfall war eine Entscheidung. Der Auszug aus dem Paradies war nicht die Strafe für diese Wahl, sondern ihr Ziel. Es war die Wahl für die menschliche Geschichte und damit für die Geschichte von Gut und Böse.

Die biblische Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall berichtet also von der ursprünglichen Entscheidung des Menschen zur Geschichte. Sie behauptet, die Wahl der Geschichte sei die Wahl des Wissens vom Guten und Bösen gewesen. Sie erklärt darüber hinaus, dass dieses Wissen am Grunde der Geschichte wirkt. Zu diesem Wissen gehört die Reduktion des Guten zum Guten im Verhältnis zum Bösen und die Herabsetzung des Gottes des Paradieses zum Gott im Verhältnis zur Welt. Dieses Verhältnis wird durch die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen angetrieben. Die ursprüngliche Entscheidung des Menschen zur Geschichte ist demnach die Entscheidung zum Guten und Bösen. In dieser Wahl begann der Auszug aus dem Paradies und damit das menschliche Leben, wie wir es kennen. Wir können uns den Auszug aus dem Paradies vorstellen als eine Katastrophe, die ein Engel mit flammendem Schwert inszeniert, und in der Tat mussten die ersten Menschen das Paradies verlassen, weil sie den ursprünglichen Sündenfall begangen hatten. Aber sie hatten die Sünde begangen, einen anderen Gott und das Gute und das Böse zu wollen, um das Paradies verlassen zu können.

Der Geist des Westens

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