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Besiegtes Volk

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Das weiße Eckhaus mit dem spitzen karmesinroten Giebel im Kölner Stadtteil Rodenkirchen leuchtete in der morgendlichen Augustsonne. Wie gewöhnlich war das hohe eiserne Gartentor nur angelehnt. Mein Großvater stand im Garten und pinkelte gerade in einen der rosa Hortensienbüsche neben der Veranda. Seinen ockerfarbenen Kaftan hatte er vorne hochgezogen, und ich sorgte mich um seine braun karierten Filzpantoffel.

„Hallo Opa“ sagte ich. Es störte ihn nicht, dass ich gerade in diesem Moment auftauchte.

"Klaus, Karl, Hans, Josef, Gregor, Georg mein Junge, schön, dass du da bist", begrüßte er mich und lächelte mich auf seine liebevolle Art durch seine silberne Brille an. Ich war es gewöhnt, dass er die Namen seiner Brüder, Söhne und Enkel wahllos nacheinander aufsagte, bis er auf den Richtigen kam.

"Ist deine Toilette kaputt?", fragte ich.

"Nein", sagte er, zog die Augenbrauen zusammen und hob den Zeigefinger, "es ist viel natürlicher und gesünder, in der Natur zu urinieren. Die frische Luft wird von der Haut im Genitalbereich aufgenommen und führt zu einer besseren Sauerstoffversorgung der Sexualorgane. Das ist gut gegen Prostatakrebs.“

„Aha, und wieso wolltest du, dass ich vorbeikomme?", fragte ich.

„Deshalb trage ich auch diesen Kaftan. Die Naturvölker wissen viel über Medizin. In einem Kaftan wird man von unten belüftet. Diesen hier habe ich mir aus Tunesien mitgebracht“, sagte er.

Naturvölker? fragte ich mich. Lass das keinen Araber hören.

Wir gingen ins Haus. Er wusch sich die Hände und trocknete sie gründlich ab.

„Weißt du eigentlich, dass die Russen sich nur mit fließendem Wasser waschen? Auch wenn sie es nur von einer Schüssel in die andere kippen und dann wieder zurück.“

"Ja, das hast du schon erzählt."

Er schien den leicht genervten Unterton in meiner Stimme zu bemerken, was mich wunderte.

"Komm, ich zeige dir, was ich vorhabe", sagte er und eilte los.

Wir stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf. Wieder einmal bestaunte ich die Dynamik, die er in seinem Alter von fast 80 Jahren hatte. Er war gedrungen und früher mal 1,69m groß gewesen. Guter Durchschnitt für einen deutschen Mann, wie er behauptete. Vielleicht war das ja früher einmal so.

"Die Ausgaben der Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift der Jahre 1952 bis 1968 stehen zu weit oben, da komme ich nur mit dem Hocker dran, könnten wir die nicht in das Regal dort drüben stellen und die Bücher dafür nach oben?“

„Wir?“, fragte ich mich, denn ich erwartete nicht, dass er mit anpackte. Aber im Krankenhaus wird ja auch gefragt "wie geht´s uns denn heute?", obwohl der Arzt meist recht gesund ist.

Die Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift befand sich in endlosen Reihen auch im Haus meiner Eltern. Eigentlich bestand die ganze Familie aus Ärzten. Alle vier Geschwister meines Großvaters waren Ärzte, sowie jeweils deren Kinder. Bis auf ein paar schwarze Schafe, die es in den Augen meines Großvaters zu nichts gebracht hatten. Einen Augenoptiker und ein paar Lehrerinnen. Glücklicherweise waren die Geschwister meines Großvaters über Deutschland verteilt, so dass wir Enkel nur zu großen Festen erleben durften, dass nur über Medizin gesprochen wurde und diese eine scheinbar vollkommen willkürliche Wissenschaft war, zu der jeder unserer verwandten Ärzte eine vollkommen individuelle Auffassung hatte. Daher studierte die nächste Generation, soweit naturwissenschaftlich interessiert, keine Pseudowissenschaft wie Medizin, sondern z.B. Maschinenbau oder Physik.

Nachdem ich die Sammelbände der Zeitschriften umgeräumt hatte, fragte mein Großvater mich, ob er uns etwas kochen solle.

Seit Omas Tod war Opa sehr selbständig geworden und ich willigte ein. Er kippte etwas Öl in eine Pfanne und schlug vier Eier hinein.

Glücklicherweise war es kein Kuba-Öl. Das befand sich in rostigen, roten 1Liter Dosen im Keller. Kuba-Öl stammte allerdings nicht aus Kuba. Es war nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges zu Beginn der Kuba-Krise 1962 eingelagert worden und lagerte auch noch heute,1988, dort. Und da aus den Dosen nichts auslief, konnte auch nichts rein, so dass es bei Hochwasser auch nicht aus dem Keller geräumt wurde, weshalb die Dosen etwas rostig waren.

„Du schaffst doch auch zwei Eier?“, fragte er.

„So grade noch“ antwortete ich. Ich hatte gut gefrühstückt und die zwei Eier würden den Appetit nicht zu sehr anregen. Während ich den Küchentisch deckte, suchte Opa nach etwas im Spind.

Endlich zog er einen kleinen hellblauen Karton hervor, schüttete etwas Salz in seine Hand und warf es über der Pfanne hoch in die Luft. Es verteilte sich gleichmäßig über den Herd. Er sah meinen erstaunten Blick.

"Ich kann den Salzstreuer nicht mehr finden", sagte er "aber ich habe eine Entdeckung gemacht: Indem ich das Salz hochwerfe, verteilt es sich fast noch gleichmäßiger über das Essen als mit einem Salzstreuer. Man kann also von einem echten Fortschritt sprechen. Wissenschaftlicher Fortschritt ist sehr wichtig ".

Ich lachte nicht. Ich war Opa gewohnt und immun gegen solche Erkenntnisse. Ein Koch der heiße Töpfe anfasst, verbrennt sich irgendwann auch nicht mehr.

Geschickt bugsierte er die Eier von der Pfanne auf die Teller. Als er sich vorbeugte, sah ich, dass sein silbergraues Haar oben um den Wirbel lichter wurde.

Wir setzten uns und er begann zu essen.

„Das ist unter 75 Pfennig, da braucht nicht gebetet zu werden“, sagte er.

„Kennst du die Geschichte mit den 75 Pfennig?“, fragte er und begann, bevor ich es bejahen konnte.

„Mein Bundesbruder Pater Herbert Berrenrath, der war zu einem großen Essen in einem feinen Restaurant eingeladen. Und als er gefragt wurde, warum er denn nicht vor dem Essen gebetet habe, hat er geantwortet, dass man erst ab 75 Pfennig beten müsse.“

Hastig schlang er drei Bissen runter.

„Jeden Bissen 32-mal kauen und gut einspeicheln“, sagte Opa. „Das Essen muss zu einem dünnflüssigen Brei werden, damit der Magen weniger Arbeit hat.“

Wie er auf die 32 gekommen war, hat er uns nie gesagt. Vielleicht weil ein Erwachsener 32 Zähne hat und jeder Zahn etwas davon haben sollte. Zu jedem Essen wies er darauf hin wie wichtig dies sei, und wir trafen Opa meist beim Essen. Zu Sonn- oder Feiertagen, Familienfesten oder Trauerfeiern. Zu Mittag- oder Abendessen oder zu Kaffee und Kuchen.

Nach dem Essen versuchte ich mich schnellstens zu verdrücken, bevor neue Arbeit anstand. Aber Opa hatte eine Überraschung für mich.

„Was hältst du davon, wenn wir beide für eine Woche nach Berlin fahren?“ fragte er und lächelte. Ich staunte, schaute ihn an und konnte keine Hinterlist in seinem Blick erkennen. Es war Dienstag, der 30. August. Die Semesterferien meines Maschinenbaustudiums in Aachen dauerten noch über einen Monat und ich hatte Zeit.

„Ja gerne, wann soll´s denn los gehen?“, fragte ich.

„Nächsten Mittwoch. Wir fahren mit dem Auto.“ Er strahlte.

„Und was machen wir in Berlin?“ Ich hatte nur eine vage Vorstellung von Berlin.

„Wir sehen uns die Stadt an, betreiben wissenschaftliche Studien und treffen Kollegen auf einem Kongress“, sagte er ohne mich anzuschauen. Irgendwas stimmte nicht. Aber das war mir egal. Eine Reise nach Berlin wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Er schnäuzte sich kurz und steckte sein Stofftaschentuch wieder ein.

„Wir treffen uns am besten am Sonntag, um alles genau zu planen“, sagte er.

Unvermittelt wechselte er das Thema. „Ich habe noch ein paar Lebensmittel für euch, die schaffe ich alleine nicht", sagte er, zog eine Plastiktüte aus dem Kühlschrank und drückte sie mir in die Hand.

„Danke. Wann soll ich am Sonntag kommen?“ Die Tüte war schwer und roch.

„Sagen wir um vier. Und bring etwas Kuchen mit.“ Er lächelte.

Ich machte mich auf den kurzen Weg nach Hause. Während der Semesterferien wohnte ich in meinem alten Kinderzimmer bei meinen Eltern. Ich wagte einen vorsichtigen Blick in die Plastiktüte. Natürlich war alles verdorben, aber wenigstens bewegte es sich noch nicht.

Opa hatte im Krieg in russischer Gefangenschaft viel Hunger erlebt und brachte es nicht fertig, Lebensmittel wegzuschmeißen. Also schenkte er uns die alte Leberwurst und alles, was sonst noch im Kühlschrank zu weit nach hinten gerutscht war. Wir warfen es für ihn weg.

„Wir sind ein besiegtes Volk“, pflegte er zu sagen. Und besiegte Völker können es sich nicht leisten, Lebensmittel wegzuschmeißen.

Transit Berlin und zurück

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