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Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit? Tote Glaubenssätze beerdigen

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Alles habe ich verkehrt gemacht, vor Jahren. Etwas mehr als 100 Kilometer vor Santiago de Compostela machte ich mich auf den Weg, um den echten Pilgerstatus zu erreichen (100 gelaufene Kilometer sind dafür die Voraussetzung). Anscheinend wusste jede und jeder außer mir, dass man auf dem Camino den Hinweisschildern – einer stilisierten Jakobsmuschel – in Richtung der gelben Strahlen folgt. Ich lief zunächst entgegengesetzt. Am ersten Morgen um 6 Uhr früh bei Regen gestartet, um sieben durchnässt wieder am Ausgangspunkt angelangt, wollte ich bereits frustriert aufgeben.

Ziemlich dumm waren auch die neuen Wanderschuhe – teuer und funktional, aber eben nicht eingelaufen; meine Schmerzen durch die fetten Blasen an den Füßen werden mir hoffentlich vom Fegefeuer abgezogen. Vor allem jedoch trug ich im Rucksack für eine Woche mehr als 15 Kilo Gepäck mit mir herum: sieben T-Shirts, ebenso viel Unterwäsche und Sockenpaare, außerdem mehrere Pullover und Hosen, dazu drei Bücher (von denen ich lediglich ein einziges auf dem Hinflug mal in der Hand hatte, sonst war ich zu erschöpft zum Lesen). Auf dem Pilgerweg erfuhr ich dann von anderen, wie man es richtig macht: mit Funktionswäsche, die über Nacht trocknet; zwei Garnituren genügen also, eine am Leib, eine andere zum Wechseln nach dem Duschen.

Falsch gedeutete Zeichen, schlechtes Schuhwerk, Umwege, viel zu viel Gepäck – obendrein meine Naivität, ich könne ja notfalls ein Taxi rufen, das mich zur nächsten Herberge bringt … wo doch über weite Strecken überhaupt kein Handyempfang möglich war und erst recht kein Fahrdienst bereitstand.

Ich lief schlecht vorbereitet. Aber ich lief. Und kam an.

Es wurde dann eine Woche mit wunderbaren Begegnungen; Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen waren unterwegs. Die Gespräche mit der Finanzspezialistin aus der Schweiz, der Krankenschwester aus England, dem Lehrer aus Polen und vielen anderen, bei Pausen, in der Herberge, abends beim Essen dienten der Völkerverständigung und dem Bewusstsein, wir alle sind fragile Wesen in Bewegung.

Als ich mir in Santiago das Pilgerzertifikat ausstellen ließ, musste ich in einer Liste meinen Namen und meine Motivation eintragen. Hatte ich mich aus religiösen, sportlichen oder anderen Gründen auf den Weg gemacht? Ich war an diesem Tag der Erste, der „religiös“ ankreuzte. Für sportliche Aktivitäten muss ich nicht nach Spanien reisen. Ich wollte Gott begegnen. Und begegnete mir selbst: Die Erfahrung von Erschöpfung und Kraftlosigkeit zeigte mir meine engen Grenzen auf; an einem Tag konnte ich kaum sprechen, nur still den Rosenkranz beten. Aber es gab eben auch den Drang durchzuhalten, nicht aufzugeben und schließlich die Tränen des Glücks, das Ziel erreicht zu haben, in der Kathedrale die Messe zu feiern, die Reliquien des heiligen Jakobus zu verehren und mit Körper, Seele und Geist zu spüren: „Ich hab’s geschafft!“

Ich bin auf mich selbst gestoßen bei dieser Tour, und das war eine sehr religiöse Erfahrung. Mir war auch vorher bewusst, Gott ist in Santiago nicht näher als an meinem Wohnort zu Hause. Aber ich bin pilgernd ein anderer. Aus dem Kopf ist diese Erkenntnis in den Bauch gerutscht: Gott ist in mir. Ich bin in Gott. – Keine Frucht des Denkens, sondern des Laufens.

Die Wanderung ist von alters her ein Bild für den Glauben. Abraham (damals noch Abram genannt) wird von Gott zur Auswanderung aus seiner Heimat aufgerufen, nicht einmal wissend, wohin die Reise geht: „Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (1 Mose / Genesis 12,1). Abraham, schon 75 Jahre alt, hört, was Gott zu ihm spricht. Er hört, er horcht, und weil er und Gott zusammengehören, gehorcht er dem Befehl: „Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (1 Mose / Genesis 12,4). Er geht zuversichtlich los und wird dadurch eine Symbolfigur des Gottvertrauens.

Das Gottvertrauen des Volkes Israel wurde später ziemlich auf die Probe gestellt. Denn nach ihrem erfolgreichen Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens zog sich der Weg der Israeliten in die Freiheit in die Länge. 40 Jahre dauerte die Wanderung ins Gelobte Land. Unterwegs durch die Wüste gab es zu wenig Wasser, zu wenig Essen, dafür zu viel Konflikte, zu viel Enttäuschung. Das anfängliche Vertrauen ging verloren. Und wer blieb überhaupt so lange am Leben und kam an?

Die Zahl 40 ist im biblischen Erzählen ein Sinnbild für den Übergang. Wenn ich mit meinen nun 57 Lebensjahren 40 Jahre zurückdenke, so sehe ich Kontinuitäten und Unterschiede zu meinem damaligen Glauben als Jugendlicher. Ich bin immer noch unterwegs, aber als ein anderer, der sich doch in vielem gleichgeblieben ist. Schleppe ich als Glaubenswanderer nicht nach wie vor zu viel Glaubensgepäck mit mir herum? Wäre es nicht sinnvoll, mich von manchem nun endlich zu trennen? Damit der Weg leichter wird. Damit meine Kräfte nicht von einem „Für-wahr-halten-Glauben“ absorbiert werden?

Wer wie ich von klein auf christlich sozialisiert wurde, hat viele Glaubensinhalte verinnerlicht. Wir können Gebete und Lieder auswendig, orientieren uns am Kirchenjahr, sind mit biblischen Texten vertraut, wissen um theologische Wahrheiten und verfügen über Grundkenntnisse der Kirchengeschichte. Das ist ein großer Schatz.

Aber darin liegt auch die Gefahr der Erstarrung. Wir bleiben in den (Er)Kenntnissen unserer Kindheit und Jugend stecken. Machen es immer so weiter, wie wir es gelernt haben. Die Macht der Gewohnheit ist gewaltig. Sollten wir dennoch spüren, das passt ja gar nicht mehr zu mir und meiner Zeit, dann kann es sein, dass wir nicht nur Einzelheiten verändern, sondern den ganzen alten Zopf auf einmal abtrennen. Es gibt heute zahlreiche Menschen, die im fortgeschrittenen Alter ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen. Das mag spezielle Gründe haben, doch meistens geht dem auch eine lange Phase der Entfremdung vom Glauben voraus. Da ist der Glaube nicht mitgewachsen, konnte nicht erwachsen werden.

Mein Glaube ist durch meine Herkunft geprägt, durch die Zeit, in der ich groß wurde, wie seinerzeit eben Familie, Kirche, Schule und Gesellschaft strukturiert waren und organisiert wurden. Ich hatte das Glück (oder, in der Sprache des Glaubens, mir wurde die selige Fügung zuteil), eine Mutter zu haben, die zwar traditionell im Ausdruck, aber liberal im Herzen war. Sie ermutigte mich, meinen eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Auch in Sachen Religion. Mit 16 mochte ich den Satz im Glaubensbekenntnis, „geboren von der Jungfrau Maria“, nicht mitsprechen, er schien mir im wahrsten Sinne unglaublich zu sein. (Dank eines lyrischen Verständnisses des Credos habe ich heute keine Probleme mehr damit.) Und wenn früher beim Beichten der Herr Pastor fragte, ob es da noch Dinge gebe, die ich vor Scham nicht wagen würde auszusprechen (offensichtlich spielte er auf sexuelle Themen an, die ich in der Tat nie erwähnte, obwohl sie mich bewegten, weil damals ja alles verboten war), dann schüttelte ich sachte den Kopf. Diese innere Freiheit besaß ich bereits, manches ging nur Gott und mich direkt an.

Der Glaube schenkte mir Kraft und Selbstvertrauen. Doch ich benutzte Gott auch für meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zugehörigkeit. Das musste früher oder später zu Spannungen führen. Mit der Kirche, die mich ihre Sicht auf Gott gelehrt hatte. Aber auch mit Gott selbst, weil ich zunächst meine kindliche Haltung als rundum versorgter Nesthocker nicht aufgeben wollte. Im Prozess des Erwachsenwerdens zeigte sich: Der „liebe“ Gott hat ausgedient. Der überkommene Glaube war überfordert, mir angemessene Antworten auf meine Fragen zu geben. Oder er gab Antworten auf Fragen, die ich nicht stellte.

Es scheint nahezuliegen, dass ich deswegen den Weg der vergleichenden Religionswissenschaft und Theologie einschlug. Ich wollte mehr wissen. Wissen eröffnet Horizonte. Es brauchte eine Zeit, bis ich wusste: Wissen allein bringt mich nicht zu Gott. Ich suchte Gott. Doch wo soll man suchen? In Büchern? Im Gottesdienst? Im Gespräch mit Glaubenden? In der Stille? In der Natur? In der Musik und der Kunst? In der leidenden Kreatur? Suchen kann man dort, vielleicht sogar finden. Heute ist mir klar: Wer sucht, verliert. Es geht weniger ums Finden als vielmehr ums Gefunden-Werden. Nicht ich habe Gott gefunden, sondern Gott mich. Auf meiner Glaubenswanderung bin ich oft in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Oder ganz vom Weg abgekommen. Ich dehnte Gelegenheiten zur Rast über Gebühr aus und trat auf der Stelle. Aus Versehen. Weil ich verpeilt bin. Weil ich vor Gott fortlief wie Jona. Ich kam nicht voran, weil mir das Ziel so unendlich weit entfernt erschien. Weil es mir am Vertrauen mangelte, das Abram mutig losziehen ließ. Und ich kam nicht recht vom Fleck, weil mein Glaubensrucksack zu schwer wog. Zu vieles, was wichtig und richtig und unaufgebbar sein wollte. Das musste sich ändern.

Denn nach wie vor lodert in mir die Sehnsucht nach Gott. Inmitten meiner seltsamen Diesseitigkeit hungere ich nach Transzendenz. Ich wünsche, alles, was mich hier bindet, zu überwinden. Ich dürste nach dem Himmel – gerade weil ich manchmal gewahr werde, ich bewege mich bereits darin. Diese Empfindung habe ich in einem kleinen Text für ein Kinderlied des Liedermachers Robert Haas versucht in Worte zu fassen:

Wie der Fisch im Wasser schwimmt, leben wir in dir.

Wie die Wolke oben schwebt, hängen wir an dir.

Sehen können wir dich nicht, dennoch wissen wir:

Du bist überall, du bist hier.

Hätte ich mehr Mystik gewagt, hieße es am Schluss nicht nur „du bist hier“, sondern „du bist in mir“. Gott in mir – das klingt so anders als die religiösen Sätze, die ich als Kind und Jugendlicher zu Hause, in der Kirche oder in der Schule gehört habe. Es klingt auch anders als die Inhalte meines theologischen Studiums. Anders als die Predigten, die ich in den Gottesdiensten hörte und höre, wenn ich sie als Teilnehmer besuche. Anders als die Predigten, die ich selbst halte.

Als Pfarrer versuche ich die große Tradition des Christentums mit meiner persönlichen Gotteserfahrung und der konkreten Situation, in die ich hineinspreche, übereinzubringen; ich bemühe mich, das in verständliche Worte und Zeichen zu übersetzen, um so Glauben für andere fruchtbar zu machen oder, wie es in der evangelischen Kirche heißt, das „Evangelium zu kommunizieren“. Diese Herausforderung überfordert mich aus Prinzip. Karl Barth brachte das schon vor 100 Jahren auf den Punkt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“

Viel radikaler hat das fast 600 Jahre zuvor der Dominikanerpater Johannes Tauler formuliert: „Denn Gott ist nichts von alledem, was du von ihm aussagen kannst. Er ist jenseits aller menschlichen Vorstellung von Form, Wesen oder Gut.“

Damit verbieten sich per definitionem alle Aussagesätze über Gott. Schweigendes Gegenwärtigsein wäre angemessen. Aber wir wollen eben auch singen und beten und die Bibel lesen und Predigten hören und über Gott nachdenken und uns austauschen. Das ist auch nicht unnütz, schon gar nicht verboten, doch wir müssen uns klarmachen: Wir befinden uns im Zustand des Herantastens. Wir ahnen, aber wissen nicht. Wir gehen über dünnes Eis.

Für diese Wanderung möchte ich mich besser zurüsten als für meine Santiago-Pilgerreise. Ich kann jetzt die Zeichen besser deuten, ich fürchte keine Umwege mehr, meine Schuhe sind eingelaufen, aber der Rucksack ist noch immer zu schwer. Aus Pietät und Furcht habe ich manches über lange Strecken mit mir herumgeschleppt. Davon will ich mich nun trennen. Die etwas großspurige Formulierung für dieses Ansinnen ist der Titel dieses Buches: „Requiem für meinen Glauben. Was ich getrost begraben darf und dadurch an Leben gewinne.“

Requiem ist natürlich ein überdimensioniertes Wort, es meint ja die Messe für Tote; doch die etwas pathetische Formulierung verdeutlicht den Ernst der Sache. Feierlich muss es gar nicht zugehen, aber mit Abschied hat es tatsächlich zu tun. Ich mag Beerdigungen, habe selbst an die anderthalbtausend als Trauerredner oder Geistlicher geleitet. Sie haben etwas schwer Erträgliches, aber auch beruhigend Endgültiges an sich. Da ist ein Leben zum Abschluss gekommen, das dennoch oft genug weiterwirkt. Wir bleiben ja von den Verstorbenen geprägt, so oder so, und auf unbeschreibliche Art bleiben wir auch mit ihnen verbunden. Aber tot sind sie eben doch!

Das Requiem für meinen Glauben bestattet nicht mein Vertrauen auf Gott, sondern es begräbt ein paar Sätze, die mir den Glauben erschweren. Auch diese Sätze wirken noch weiter. Um einige trauere ich sogar, muss aber anerkennen: Es ist vorbei. Es gibt Beerdigungen, von denen man erleichtert heimgeht. Andere lassen einen mit Bitterkeit zurück.

Früher hieß es in der Trauerbegleitung, man müsse die Verstorbenen loslassen. Das sagen wir schon lange nicht mehr, denn sie gehören dennoch zu uns. So ist es auch nicht ganz leicht, sich von Glaubenssätzen zu trennen. Aber es ist notwendig.

Wem nahegelegt wurde: „Du kannst das nicht“ oder „Das ist nichts für dich“, der muss sich von diesen Botschaften lösen und sie begraben unter zwei Metern Erde, sonst kann er sich als Mensch nicht entfalten. Auch in meinem Glauben gab es Botschaften, die mich auf der Wanderung zu Gott nicht förderten, sondern hinderten. Sie darf ich getrost begraben. Hiermit werfe ich ein paar Blumen nach.

„Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.“ Diese Zeile aus dem Lied „Großer Gott, wir loben dich“ schmettere ich an Festtagen inbrünstig mit. Aber sie trifft nicht zu. Das heißt, kann sein, Gott ist tatsächlich so unwandelbar, aber ich bin es nicht. Ich verändere mich dauernd, nicht nur mein alternder Körper, sondern auch meine Lebenseinstellung, meine Träume, Wünsche, Sorgen, mein Glauben, meine Beziehung zu Gott.

Vielleicht kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, all das, was ich hier beschreibe. Dann sind Sie herzlich eingeladen, mich auf der Wanderung über den Friedhof meiner toten Glaubenssätze zu begleiten. Es ist ein Ort der Auferstehung! Auferstehung bedeutet: Alles wird verwandelt. Leben und Glauben sind möglich, hier und jetzt, weit über das hinaus, was wir üblicherweise als Leben und Glauben bezeichnen. Mitunter wird manche Wegstrecke unangenehm. Ich dämpfe meine Angst, denn ich vertraue: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23,4).

Requiem für meinen Glauben

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