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Vorwort

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Autismus nimmt in den letzten Jahren immer mehr zu. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass der Anteil autistischer Menschen an der Gesamtbevölkerung bei etwa 1 Prozent liegt. Das betrifft in Deutschland ungefähr 800.000 Menschen im Autismus-Spektrum. Von diesen Personen sind aber längst nicht alle als autistisch diagnostiziert. Insofern haben wir es weniger mit einem „realen“ Anstieg an autistischen Menschen zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen „Nachholeffekt“, der mit einer genaueren Diagnostik, mit besseren Kenntnissen und häufig mit einer Beseitigung von bisherigen Fehldiagnosen einhergeht. Dass Autismus keine seltene Erscheinungsform ist, hatte bereits Hans Asperger erkannt: „Wenn wir die charakteristischen Manifestationen von Autismus genauestens studieren, stellen wir fest, dass sie keineswegs selten sind“ (zit. n. Steve Silberman 2015, S. 82).

Demgegenüber betrachtete Leo Kanner Autismus als ein eher seltenes Syndrom. Beide Autoren gelten als „Erstbeschreiber“ von Autismus. Während Leo Kanner von einem „engeren Bild“ ausging, beschrieb Hans Asperger eine breiter angelegte Symptomatik. Nach Erkenntnissen der weltweit bekannten britischen Autismusforscherin Lorna Wing war das Modell von Hans Asperger valide und tragfähiger. Vor diesem Hintergrund gab sie der Autismusforschung wichtige Impulse, Autismus im Rahmen eines Spektrums zu betrachten und zu erfassen.

Heute wissen wir, dass es zwischen dem Autismus-Bild von Leo Kanner und dem von Hans Asperger beschriebenen Syndrom mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Ebenso wissen wir, dass die meisten Menschen aus dem Autismus-Spektrum keine kognitiven Beeinträchtigungen im Sinne einer sogenannten geistigen Behinderung haben. Ferner haben alle autistischen Personen spezifische Stärken, und viele von ihnen zeigen Spezialinteressen und besondere Fähigkeiten. Daher gilt es ihre „autistische Intelligenz“ zu erkennen, zu würdigen und zu unterstützen. Das war viele Jahre nicht selbstverständlich. Heute wissen wir, dass mit der sogenannten Stärken-Perspektive der wohl beste Weg zu mehr Lebensqualität für autistische Personen geebnet werden kann.

Gleichwohl ist es wichtig, Autismus nicht nur im Lichte von Stärken zu betrachten. Ebenso wichtig ist es, Probleme mit in den Blick zu nehmen, die mit Autismus einhergehen. Das betrifft zum Beispiel verschiedene Besonderheiten in der Wahrnehmung, in der Motorik, in der sprachlichen Kommunikation und in der Interaktion mit anderen Menschen.

Heute wissen wir, dass vor allem eine biologisch bedingte erhöhte Reizempfindlichkeit autistischer Menschen Stress und Ängste erzeugen kann, die es zu bewältigen gibt. Hierbei kommt es häufig zu Verhaltensweisen, die als herausfordernd wahrgenommen werden. Das betrifft zum Beispiel Wutanfälle, Schreien, Schlagen, Wegrennen, sich selbst mit dem Kopf schlagen oder sich zurückziehen und abkapseln. Solche herausfordernden Verhaltensweisen wurden viele Jahre unmittelbar mit Autismus in Verbindung gebracht. Oft wurden sie als Ausdruck von Autismus betrachtet. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Verhaltensreaktionen auf bestimmte Situationen, die für die betreffende autistische Person unerträglich sind. Darauf hatte schon Grunja Evimovna Ssucharewa aufmerksam gemacht. Ihr Verdienst ist es, schon vor L. Kanner und H. Asperger eine sogenannte funktionale (verstehende) Problemsicht im Zusammenhang mit Autismus angedacht zu haben.

Heute wissen wir, dass es zum Verständnis von Autismus wichtig ist, zwischen autistischen Merkmalen und Verhaltensreaktionen zu unterscheiden. Von zentraler Bedeutung ist die funktionale Sicht autistischen Verhaltens und Erlebens sowie der Reaktionen auf bestimmte Situationen. Sie bietet die Chance, nicht nur Menschen aus dem Autismus-Spektrum besser zu verstehen, sondern ihnen zugleich auch Unterstützung zur Bewältigung von Problemen anzubieten. Zudem trägt die funktionale Sicht zu einem angemessenen Umgang mit autistischen Menschen bei. Das gilt vor allem für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen.

Gerade herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Autismus-Spektrum stellen vor allem für nicht-autistische Bezugspersonen oder Mitmenschen eine hohe Belastung dar. Als besonders belastend werden insbesondere stark ausgeprägte autistische Merkmale und zusätzliche (schwere) kognitive Beeinträchtigungen (geistige Behinderung), schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten oder Begleiterscheinungen (z. B. ADHS, Depressionen, Angst-, Zwangs- oder Essstörungen) wahrgenommen.

Daher ist der Wunsch nach Hilfe oder einer angemessen Unterstützung groß. Hierzu gibt es mittlerweile zahlreiche therapeutische oder pädagogische Konzepte und Vorschläge. In der vorliegenden Schrift geht es diesbezüglich ausschließlich um spezielle pädagogische Maßnahmen.

Spezielle pädagogische oder sogenannte pädagogisch-therapeutische Maßnahmen beziehen sich in erster Stelle auf den Umgang mit herausforderndem Verhalten. Fragen des Umgangs mit herausfordernden Verhaltensweisen bei Autismus stehen somit im Vordergrund. Folglich geht es nicht um Fragen des Umgangs mit eng umschriebenen Begleiterscheinungen oder zusätzlichen psychischen Störungen wie zum Beispiel ADHS, Depressionen, Angst-, Zwangs-, Ess- oder Schlafstörungen.

Mehrere Studien und Forschungsarbeiten aus dem angloamerikanischen Raum lassen den Schluss zu, dass es derzeit nur wenige umfassende pädagogisch-therapeutische Konzepte gibt, die im Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Autismus als Erfolg versprechend eingeschätzt werden dürfen. Das gilt vor allem für die Positive Verhaltensunterstützung (PVU). Sie stammt unter der Bezeichnung positive behavioral support (PBS) ursprünglich aus den USA und wurde hierzulande im Rahmen eines Gesamtkonzepts verfeinert und weiterentwickelt.

Inzwischen gibt es mehrere deutschsprachige Schriften zur Positiven Verhaltensunterstützung. Sie beziehen sich zumeist auf den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten oder Problemverhalten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (geistiger Behinderung). Es gibt jedoch auch einige Beiträge über Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum (vgl. Dodd 2007; Theunissen 2014a;b; Theunissen und Paetz 2011). Diese Beiträge sind allerdings stellenweise unvollständig oder eher theoretisch aufbereitet und dadurch für die Umsetzung auf handlungspraktischer Ebene zum Teil schwer zugänglich.

Was bisher fehlt, ist eine konkrete Arbeitshilfe für die Praxis. Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende, leicht zugängliche Schrift an. Sie wurde als Praxisleitfaden für Personen konzipiert, die sich Hilfe oder Unterstützung beim Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen aus dem Autismus-Spektrum wünschen.

Mit dieser Arbeitshilfe soll zugleich dem Wunsch aus der Praxis entsprochen werden. Denn viele Lehrkräfte, pädagogische oder therapeutische MitarbeiterInnen aus dem außerschulischen Bereich sowie Eltern autistischer Kinder beklagen immer wieder das Fehlen konkreter Anregungen und Anleitungen für die Praxis.

Wer sich an dem vorliegenden Praxisleitfaden orientiert, wird alsbald feststellen, dass die Positive Verhaltensunterstützung gut durchdacht sowie sorgfältig geplant sein muss. Zudem verlangt sie ein systematisches Vorgehen. Darüber hinaus reflektiert sie Rahmenbedingungen und zieht Kontextveränderungen mit in Betracht. Ungünstige Bedingungen erschweren oder blockieren jede noch so gut gemeinte Hilfe oder Intervention. Unabdingbar für eine erfolgreiche Praxis ist die Zusammenarbeit aller an der Unterstützung interessierten und beteiligten Bezugspersonen.

Ebenso wichtig ist die Haltung oder Einstellung autistischen Menschen gegenüber. Die Positive Verhaltensunterstützung möchte autistischen Menschen dienen und ihnen so gut wie möglich zu einem „Leben mit Autismus“ verhelfen. Zugleich achtet sie dabei auch auf die Zufriedenheit der Bezugspersonen. Folglich bedarf es nicht nur einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum, sondern gleichfalls Respekt gegenüber ihren Bezugspersonen.

Der vorliegende Praxisleitfaden ist systematisch angelegt und klar gegliedert: Er beginnt mit dem Verständnis von Autismus unter Berücksichtigung der „Erstbeschreibungen“ durch G. E. Ssucharewa, H. Asperger und L. Kanner, der klinischen Betrachtung und der Sicht von autistischen Menschen. Abgerundet wird dieser erste Teil durch eine kurze Übersicht aktueller Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Autismusforschung.

Anschließend wird der Begriff des herausfordernden Verhaltens unter Berücksichtigung von Parallelbezeichnungen definiert und reflektiert. Wichtig ist dabei die Abgrenzung zu psychischen Störungen. Diese sind nämlich kein Thema der vorliegenden Schrift.

Das nächste Hauptkapitel stellt das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung vor. Nach einer kurzen Einführung werden ihre drei Stufen beschrieben. Diese stehen für ein Gesamtkonzept. Die erste Präventions- und Interventionsstufe bezieht sich auf die Alltagsarbeit und Ebene der Institutionen (v. a. Schule). Die zweite Stufe befasst sich mit gruppenspezifischen Angeboten. Die dritte Stufe steht für Einzelhilfe. Alle Stufen und vor allem die methodischen Schritte der Einzelhilfe werden genau beschrieben. Dadurch entsteht letztlich ein Leitfaden für die Praxis.

Dieser wird abschließend durch Beispiele und Empfehlungen für Eltern und Familien angereichert, sodass ein plastisches Bild über konkrete Handlungsmöglichkeiten entsteht.

Grundsätzlich versteht sich die Arbeitshilfe nicht als ein Rezept für die pädagogisch-therapeutische Arbeit; und ebenso wenig kann sie eine Feuerwehrfunktion erfüllen. Wohl aber ermöglicht sie durch ihre Übersichtlichkeit und verständliche Sprache einen raschen Zugang zu Fragen des Umgangs mit autistischen und zusätzlichen herausfordernden Verhaltensweisen.

Bedanken möchte ich mich bei allen, die die Schrift unterstützt haben, vor allem bei Gee Vero für ihr tolles Bild, das das Thema der Schrift sehr gut trifft, bei Vico Leuchte für seine wertvollen Studien zu G. Sschurarewa und H. Asperger, die für mich eine wichtige Orientierungshilfe waren, bei Henriette Paetz für ihre Zuarbeit in Bezug auf Beiträge von L. Kanner, bei Isabell Drescher für Textübersetzungen aus dem angloamerikanischen Sprachraum, bei Hanna Rosahl-Theunissen und Mieke Sagrauske für die Durchsicht und Diskussion einiger Kapitel der vorliegenden Arbeit, bei Frau Sabine Winkler vom Lambertus-Verlag für das verlegerische Interesse sowie bei Frau Maria Kaminski für das Interesse an einer Veröffentlichung im Rahmen von autismus Deutschland e. V.

Besonders erfreut haben mich die positive Resonanz und der rasche Verkauf des Buches. Dafür möchte ich mich bei allen, die sich für diesen Praxisleitfaden interessert haben, bedanken. Die vierte Auflage ist bis auf wenige Korrekturen und Präzisierungen sowie eine Aktualisierung einiger Literaturangaben unverändert geblieben.

Georg Theunissen

Freiburg (im Breisgau)

im September 2020

Autismus und herausforderndes Verhalten

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