Читать книгу Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen - Georg W. Bertram - Страница 6

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Stellen wir uns Christiane vor. Sie war mit zwei Freundinnen im Kino und wundert sich nach dem Film, was das denn gewesen ist. Sie beschwert sich lauthals, die Story sei an den Haaren herbeigezogen und alle Figuren des Films seien ganz unnatürlich gezeichnet. Die Freundinnen teilen diese Sichtweise nicht. Eine wendet ein, zwar gebe es zweifelsohne einige Übertreibungen, aber nun sehe man, was wirklich in Beziehungen los sei. Ehe sie sich versehen, beginnen die Freundinnen sich darüber zu streiten, was unter einer guten Beziehung zu verstehen ist. Filme lösen solche Streitigkeiten immer wieder aus.

Christiane geht auch einmal die Woche zur Therapie. Dort bespricht sie vor allem das Verhältnis zu ihren Eltern, mit denen sie in ihrer Jugend immer wieder große Konflikte hatte. Aktuelle Beziehungsprobleme sucht Christiane aus der Therapie herauszuhalten. Dafür hat sie ihre besten Freundinnen, von denen sie sich in dieser Hinsicht besser verstanden fühlt. Christianes Leben besteht also nicht nur daraus, den Alltag zu bestehen, die Freizeit zu gestalten, ab und zu Essen zu gehen und in den Urlaub zu fahren. Christiane fühlt sich nicht wohl, wenn sie über Wochen hinweg nicht mehr ernsthaft mit einer Freundin hat sprechen können. Sie braucht den wöchentlichen Gang zur Therapie als Ausgleich, und sie geht ins Kino, so oft sie kann.

Die Diskussionen nach dem Kino, die Therapie und die ernsthaften Gespräche mit den besten Freundinnen – genau um solche Praktiken soll es in diesem Buch gehen. Sie sind uns weithin vertraut. Aber das heißt nicht, dass uns auch vertraut ist, was diese Praktiken insgesamt bedeuten. Es handelt sich um Praktiken, mittels deren wir uns fragen, wer wir sind. Diese Frage klingt erst einmal ziemlich abstrakt. Und tatsächlich: So wird diese Frage ja auch meist nicht gestellt. Sie tritt eher in der Form auf, dass Christiane sich fragt, was sie unter einer gelungenen Beziehung versteht oder unter einem angemessenen Verhältnis zu ihren Eltern und zu ihrem Sohn. In solchermaßen konkreten Weisen stellt sich für sie die Frage, wer sie ist. Oder anders gesagt: Sie stellt die Frage in vielen Varianten, in vielen spezifischen Zusammenhängen.

Das ändert aber nichts daran, dass es überall dort, wo Filme auf das, was sie uns sagen, hin befragt oder zwischenmenschliche Beziehungen in ihren Problemen beleuchtet werden, um unser Verständnis des Menschseins geht – auch dort, wo wir Tagebuch schreiben, wo wir miteinander auf einem Rave tanzen, wo wir miteinander feiern und wo wir die Unterschiede politischer Systeme diskutieren. Zu unserem normalen Leben gehört in diesem Sinn die Frage nach uns selbst: Was ist der Mensch? Oder in konkreter Gestalt: Was ist eine gelungene Beziehung? Was ist ein angemessenes Verhältnis zu den eigenen Eltern? Was ist eine gerechte politische Ordnung?

Gerade wenn man davon ausgeht, dass die Frage, wer wir sind, uns ständig begleitet, stellt sich eine weitere schlichte Frage, nämlich die, warum dies so ist. Warum fragen wir uns, wer wir sind? Welche Bedeutung hat diese Frage für uns? Erst einmal mag es so aussehen, als seien Menschen einfach Menschen. Warum sollten sie sich also fragen, wer sie sind? Menschen leben, so könnte man geneigt sein zu denken, auf eine menschliche Weise. Sie führen Beziehungen, erziehen Kinder, stehen in Beziehungen zu ihren Eltern und leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Praktiken, die hier jeweils im Spiel sind, legen, so scheint es, fest, was Menschen sind.

Wenn man entsprechend ansetzt, liegt es nahe, folgendermaßen zu denken: Wir fragen uns, wer wir sind, weil wir wissen wollen, wer wir sind. Wenn wir so fragen, dann schauen wir uns also einfach an, wie wir leben und vieles andere mehr. Eine solche Verhaltensweise wäre einfach zu erklären. Wir sind ja Lebewesen mit kognitiven Fähigkeiten – Fähigkeiten, die wir selbstverständlich auch auf uns selbst anwenden können. Es ist uns möglich zu erkennen, was einzelne Lebewesen genetisch voneinander unterscheidet. So ist es uns doch sicher auch möglich zu erkennen, wer wir selbst sind – zumindest in Maßen. Es sieht also erst einmal so aus, als ob es wenig zu erklären gibt. Wir sind Wesen, die zu Erkenntnissen gelangen können. Wir können die Welt um uns herum und natürlich auch genauso uns selbst erkennen. Man könnte also denken, dass die Frage, die der Untertitel formuliert, einfach zu beantworten ist:

(Naheliegende Antwort)

Wir fragen uns, wer wir sind, weil wir wissen wollen, wer wir sind.

Auch wenn diese Antwort erst einmal plausibel zu sein scheint, lässt sich ihre Plausibilität doch schnell untergraben. Dazu genügt ein Blick auf die Praktiken, die ich bislang erwähnt habe. Wer mit anderen nach dem Film diskutiert, wer in eine Therapie geht und wer sich mit anderen über Fragen der Kindererziehung auseinandersetzt, will nicht einfach etwas über sich feststellen. Gefragt wird hier vielmehr in unterschiedlicher Weise, wie zu sein richtig ist. Wie kann eine Beziehung gelingen? Welches Verhältnis zu den eigenen Eltern ist angemessen? Wie sollte man als Eltern mit Kindern umgehen, um ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen? Wie muss ein Gemeinwesen organisiert sein, damit es innerhalb seiner gerecht zugeht? Hinter diesen Fragen steht allgemein die Frage, wie Menschen sein sollen. Es geht dort, wo sie gefragt werden, darum zu klären, wie ein menschliches Leben richtig zu gestalten ist.

Warum aber machen wir das? Auch hier kann man eine naheliegende Antwort zu geben suchen und sagen:

(Frage nach dem richtigen Leben)

Wir fragen uns, wie Menschen ihr Leben richtig zu gestalten haben, um ein richtiges Leben zu leben.

Das ist so korrekt, wie es zugleich wenig klärt. Wer fragt, was richtig ist, will klären, was richtig ist. Das stimmt, sagt aber letztlich nichts darüber aus, worum es in einer solchen Klärung geht, welche Bedeutung sie hat. Man kann antworten wollen: Weil es uns um das Richtige geht. Aber das wirft wiederum nur die Frage auf, warum dies so ist. Es ist zweifelsohne so, dass Menschen am Richtigen im Sinne des Wahren, Guten und Schönen orientiert sind. Doch das erklärt noch nichts. Entscheidend ist die Beantwortung der Frage, warum das so ist. Man könnte versucht sein, es mit Immanuel Kant (1724–1804) zu halten, und einfach vom »Faktum der Vernunft«4 sprechen. Doch auch ein solcher Verweis trägt wenig zur Klärung bei. Warum sind wir an Vernunft orientiert? Warum wollen wir das Wahre erkennen, das Gute realisieren und uns mit dem Schönen umgeben?

An diesem Punkt der Überlegungen können wir diese Fragen noch nicht beantworten. Aber wir können jetzt schon ein typisches Fehlverständnis der Frage nach dem Menschen feststellen. Ganz im Sinne der angesprochenen naheliegenden Antwort wird die Frage, wer wir sind, oft so verstanden, als gehe es darum, uns von Tieren zu unterscheiden. Entsprechend legt man die klassische Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Tiers (auf die ich in meinen Überlegungen noch mehrfach zurückkommen werde) so aus, dass sie die spezifische Differenz des Menschen artikuliert. Von einer »spezifischen Differenz« spricht man im Anschluss an Aristoteles (384–322 v. Chr.), wenn man Arten im Rahmen von umfassenderen Gattungen voneinander unterscheiden will. Der Mensch gehört demnach zur Gattung der Tiere. Innerhalb dieser Gattung unterscheidet er sich durch Vernünftigkeit. Auf diese Weise kann man, so scheint es, den Menschen von anderen Tieren unterscheiden. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob man Vernünftigkeit oder etwas anderes für das unterscheidende Merkmal hält, das Menschen ausmacht. Wer überhaupt nach einer festen Unterscheidung des Menschen vom Tier fragt, setzt oft im Sinne der Gattung-Art-Struktur etwas voraus, das den Menschen (als eine besondere Art) wesentlich ausmacht.

Wenn allerdings die Frage danach, wer wir sind, nicht als eine kognitive Frage zu verstehen ist, dann sind entsprechende Versuche, uns von Tieren abzugrenzen, zum Scheitern verurteilt. Und tatsächlich: Wir können uns nicht stabil von Tieren unterscheiden. Wie nicht zuletzt die Diskussionen zum Beispiel um die Intelligenz von Tieren und ihren Zeichengebrauch zeigen,5 gibt es immer wieder gute Gründe, keine strikten Unterscheidungslinien zwischen Menschen und Tieren zu ziehen. Dass in entsprechenden Diskussionen immer wieder mit großer Verve für unsere Verwandtschaft zu und für unsere Unterschiedenheit von Tieren gestritten wird, gibt einen ersten Hinweis darauf, worum es geht: Wir positionieren uns in unseren Antworten auf die Frage, wer wir sind, immer wieder auch Tieren gegenüber. Diese Positionierung ist im Sinne einer Selbstfestlegung zu verstehen. Wir legen uns auf eine bestimmte Nähe beziehungsweise Entfernung Tieren gegenüber fest.

Noch einmal zugespitzt gesagt: Wer nach dem Unterschied des Menschen vom Tier fragt, der stellt nicht einfach etwas fest, sondern gestaltet den Unterschied durch die Antwort, die er auf die Frage hin gibt, selbst mit. Nun darf man aber diese These nicht in den falschen Hals bekommen. Wenn man in ihr den antirealistischen Zungenschlag hört, demzufolge wir aus Zusammenhängen der Wirklichkeit einfach machen können, was wir machen wollen, dann versteht man sie falsch. Dass wir unsere Unterschiede zu Tieren durch unsere Antworten auf die entsprechende Frage gestalten, bedeutet, dass wir uns selbst in bestimmter Weise gestalten, indem wir uns Tieren gegenüber positionieren. Das, was uns als Menschen ausmacht, steht demnach nicht einfach so fest, sondern unterliegt einer konstanten Neubestimmung. Eine solche Neubestimmung leisten wir unter anderem durch die Art und Weise, wie wir uns als Tiere oder als von ihnen entfernt verstehen. So ist unser Unterschied zu Tieren aufschlussreich für uns, allerdings nicht in dem Sinn, dass dieser Unterschied sich einfach nachvollziehen ließe, sondern so, dass wir mittels seiner klären, um was es uns als Menschen geht.

Wir gewinnen durch die Überlegungen zur Differenz von Mensch und Tier einen ersten Fingerzeig darauf, wie die Frage, wer wir sind, zu verstehen ist. Die Frage führt dazu, dass wir uns in bestimmter Weise festlegen. Wir machen etwas aus uns, indem wir die Frage, wer wir sind, beantworten. Oder anders gesagt: Wir gestalten uns in bestimmter Weise. Diese Selbstgestaltung ist praktischer Natur.

In allgemeiner Form können wir aus den bisherigen Überlegungen folgende Quintessenz ziehen: Die Frage, wer wir sind, hat keinen kognitiven, sondern einen praktischen Charakter. Unsere Antworten auf diese Frage geben wir nicht aus der unbeteiligten Zuschauerperspektive, sondern aus der Perspektive derjenigen, die praktisch in das Projekt der Realisierung des Menschen verwickelt sind. Wie aber können wir das verstehen? Worin hat die Frage nach uns selbst in diesem praktischen Sinn ihre Wurzeln? Meine weiteren Ausführungen sollen hierauf eine Antwort geben. Sie sollen klären, inwiefern die Frage danach, wer wir sind, für unsere praktische Selbstgestaltung relevant ist.

Die folgenden Überlegungen gehen von nun an in sieben Schritten voran:

Im ersten Schritt setze ich bei der klassischen philosophischen Bestimmung vom Menschen als einem – zumeist im Kontrast zum Tier als solches gefassten – Mängelwesen an. Auch wenn dieser Begriff des Menschen als eines (noch) »nicht festgestellten«, eines »unbestimmten Tiers«6 vielfach das Selbstverständnis von Menschen prägt, wird er sich doch als unangemessen erweisen.

Der zweite Schritt bringt aus diesem Grund den bereits erwähnten Begriff des Menschen als eines vernünftigen Tiers ins Spiel. Aber auch hier zeigen sich Probleme, deren Kern – so werde ich argumentieren – darin liegt, die für den Menschen charakteristische Unbestimmtheit zu denken.

Um dies möglich zu machen, gilt es im dritten Schritt erst einmal, den wesentlich geschichtlichen Charakter der Realisierung von Vernunft nachzuvollziehen.

Dazu aber gehört, wie ich im vierten Schritt darlege, besonders die stete Drohung, dass vernünftige Praktiken erstarren. Diese Feststellung soll uns zu dem Gedanken führen, dass Vernunft durch selbstkritische Praktiken realisiert wird.

Vor diesem Hintergrund besteht der fünfte Schritt darin, Selbstkritik zu durchdenken. Sie kommt, so argumentiere ich, nur dadurch zustande, dass man die eigenen Überzeugungen und das eigene Handeln an dem misst, was man für bedeutungsvoll erachtet, wobei das, was bedeutungsvoll ist, selbst in eigenen Praktiken etabliert wird.

Im sechsten Schritt vollziehe ich nach, inwiefern selbstkritische Praktiken die für den Menschen charakteristische Unbestimmtheit verständlich machen. Sie ergibt sich gleichermaßen aus der durch Selbstkritik realisierten Öffnung zur Welt, zu anderen und zur Zukunft hin.

Auf Grundlage der ersten sechs Schritte gebe ich dann eine Antwort auf die zentrale Frage, die ich hier schon einmal vorwegnehme, damit zumindest andeutungsweise klar ist, wohin die Reise geht: Wir fragen uns, wer wir sind, um uns auf das festzulegen, was für uns bedeutungsvoll ist und uns so selbstkritisch auf die Welt, die anderen und die Zukunft hin zu öffnen.

Am Ende dieses Essays kehre ich dann zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Was ist der Mensch? Warum wir nach uns fragen

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