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III. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

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Ich kehre auch heute immer noch gerne zurück in die Kirche des Luxemburger Bahnhofsviertels, da ich mich dort so heimisch fühle. Da steh ich dann vor dem Hauptaltar und dem Chor, dessen Wände und Fenster sich durch ihre Gradlinigkeit auszeichnen. Keine Rundungen, keine Bögen, was der ganzen architektonischen Ausführung eine gewisse Strenge verleiht. Dunkelgelber Marmor, nuanciert durch unregelmäßige tiefbraune Streifen, die senkrecht verlaufen, verkleidet den Chor bis zu einer bestimmten Höhe. So kann ich die riesige Freske von Otto Linnemann betrachten, die ein monumentales Herz-Jesu-Bild enthält. Dieser Christus ist majestätisch, er thront auf einem hellblauen Sitz, der mit prunkvollen, gelbgrünen Chrysoliten besetzt ist. Aber die Blicke der Gläubigen – der Besucher – richten sich besonders auf das große, leuchtend rote Herz, das sich im Zentrum des gesamten Werkes befindet. Um die Strahlung auszudrücken, die ausgeht von diesem glühenden Herzen, dem Symbol einer unendlichen, ewigen Liebe, hat der Künstler ausnahmsweise Gold verwendet. Dieses Gold glänzt in der Beleuchtung des Chores, ob elektrisch angestrahlt, ob im hellen Tageslicht, das durch das farbige Mosaik der hohen Seitenfenster eindringt.

Cuius regni non erit finis – „dessen Reich kein Ende nehmen wird“: Dieser Versteil des Credo der Kirche breitet sich mit ockergelben Buchstaben in Majuskelschrift auf dem schwarzen Balken aus, der die Decke von der Freske trennt. Hier erscheint, ganz verhalten allerdings, die Idee der Gerechtigkeit, zumindest in den Augen desjenigen Besuchers, der daran denkt, dass der entsprechende Vers folgendermaßen beginnt: Et iterum venturus est cum gloria; iudicare vivos et mortuos – „Und er wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Es handelt sich zweifellos um das Thema des Jüngsten Gerichtes, des unwiderruflichen Urteils.

Urteile jedoch enthalten unweigerlich Belohnungen oder Strafen. So und nicht anders will es die menschliche Justiz. Anderenfalls hätte sie keinen Sinn. Aber die göttliche Gerechtigkeit? Diejenige Christi am Ende der Geschichte, beim Jüngsten Gericht? Rationales Denken verlangt, dass belohnt oder bestraft werde. Sollte die menschliche Rationalität – schließlich ist sie auch nur eine Art des Denkens unter mehreren – aber nicht überwunden werden durch die unendliche Barmherzigkeit, von der gerade das Herz Jesu Zeugnis ablegt?

Widersprechen sich diese beiden Konzeptionen der Gerechtigkeit? Ja, wenn es der menschlichen nicht gelingt, sich zu der göttlichen hin zu erheben. Die göttliche Weisheit ist mit Geheimnissen erfüllt, sie geht unendlich weit über die unsere hinaus. Von Luther berichtet man, dass er entsetzt war über das Bild eines Richter-Gottes. Er habe das eines barmherzigen Gottes vorgezogen. Letztlich sind es nicht unsere Vorlieben, die zu entscheiden haben, doch wir können uns vorstellen, dass dank der Liebe Gottes der anthropomorphe Schein unserer Auffassung der Gerechtigkeit untergeht. Der gläubige Mensch sagt dann – wie Georges Bernanos am Ende seines von einem Landpfarrer geschriebenen Tagebuches (Journal d’un curé de campagne) –, dass „alles Gnade ist“. Alles, ohne Ausnahme. Wie sollte man noch annehmen, dass, im Angesicht der Ewigkeit, und wäre es auch nur in einem einzigen Fall, das Letzte, was über ein Menschenleben ausgesprochen würde, sei es auch noch so abstoßend und verächtlich gewesen, Worte der Verdammung sein könnten?

Ist Christus nicht der Erlöser? Ja, die göttliche Liebe und ihr Verzeihen müssten das letzte Wort haben. Barmherzig sein, das heißt, ein Herz haben für Leidende, für diejenigen, die sich in Not und Elend befinden. „Mitleid“ ist nicht das passende Wort, denn mit seinem Gebrauch läuft man Gefahr, denjenigen, auf den es sich bezieht, zu erniedrigen. In der christlichen Sprache wird es deshalb auch wenig gebraucht. Man kann noch einen Schritt weiter tun und behaupten, das Mitleid sei überhaupt kein christlicher Begriff, selbst wenn der Ausdruck noch hie und da in Texten der Kirche – zu Unrecht, wie mir scheint – auftaucht.

Also sagen wir „Barmherzigkeit“, was nahe an „Herzlichkeit“ herankommt und viel weniger Gefahr läuft, beleidigend zu wirken. Wer leidet, im Elend ist, sogar in einem Abgrund –Abgründe gibt es leider so viele und von verschiedenster Art –, darf deswegen nicht der eigenen Würde, nicht des stets unantastbar geheiligten Charakters seiner menschlichen Person verlustig werden. So will es die christliche Botschaft. Wir sollten nicht vergessen, dass sie jeden Menschen als ein Ebenbild Gottes ansieht. Zu diesem Thema kann man die Lektüre der Genesis empfehlen und ebenso einzelner Briefe des heiligen Paulus. Es handelt sich also um eine jüdisch-christliche These. Sie ist absolut grundlegend in unserer geistlichen und moralischen Tradition. Deshalb dürfte ein Christ nicht von einem Mitleid Gottes mit den Menschen sprechen. Die Menschen verdienen Respekt noch bis hinein in die tiefste Verkommenheit, sei sie moralisch oder physisch. Dies werten die Menschenrechte übrigens genauso. Die menschliche Würde ist in jedem von uns prinzipiell unveräußerlich und unzerstörbar. Es gibt sie in jedem menschlichen Wesen, wie es auch immer sein mag. Der Liberalismus hat sicher dazu beigetragen, diese Idee zu propagieren, doch ist er nicht deren Urheber. Auch er zehrt von der geistigen Substanz des Christentums.

Der luxemburgische Christus von Linnemann erinnert sehr an die orientalische christliche Kunst. Man denkt im Besonderen an den Pantokrator, der in vielen orthodoxen Kirchen und auf zahllosen Ikonen dargestellt wird. Der orthodoxe Glaube hat bekanntlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die europäischen Länder ausgeübt. So gibt es beispielsweise in der Krypta des Benediktinerklosters vom Marienberg im Südtiroler Vinschgau unter den Fresken aus dem 12. Jahrhundert ebenfalls einen als Pantokrator thronenden Christus.

Otto Linnemanns Werk lässt uns den Weg der Erlösung ahnen, der zu guter Letzt abhängig ist von der Liebe Gottes. In der gesamten Haltung Christi äußert sich die göttliche Allmacht. Der Hintergrund dieser Fresken, die Kulisse aus drei Reihen von Engeln, ist geprägt von einer mathematischen Strenge, die sich auch in der quasi absoluten Symmetrie manifestiert. Wir sprechen von einem geometrischen Hieratismus. Metaphorisch weist er hin auf eine universale und ewige Ordnung. Alle natürlichen Gesetze der Schöpfung, sowohl die physischen als auch die moralischen, enthalten ein Moment des Zwangs. Die Liebe dagegen ist vor allem ein Geschenk. Sie besteht aus einer freien Energie, die sich weder in Zahlen noch in Formen ausdrücken lässt. Man kann dafür keine Maßeinheit benutzen, kein Dyn und kein Erg. Ihr Wesen erlaubt es nicht, an ihr Messungen und Kalküle vorzunehmen.

Heutzutage allerdings, unter dem Einfluss eines entfesselten Kapitalismus und einer sich stark verbreitenden Globalisierung der liberalen Wirtschaft, bemächtigt sich das Rechnen immer mehr unseres Lebens. Es wird dann schwer, zu verstehen, dass es eine Kraft gibt, die davon gänzlich frei ist und sich jedwedem Kalkül entzieht. Ohne die Liebe aber wäre menschliches Leben nicht denkbar. Weder gäbe es Zeugung, noch könnten Menschen gedeihen ohne Liebe zu erfahren und Liebe zu schenken.

Liebe und Gerechtigkeit: zwei fundamentale Werte. Welche der beiden soll letztlich dominieren? Die Liebe, wird man sagen, denn sie stellt die universale Kraft dar, ohne die das Leben erlöschen müsste. Andererseits wissen wir aber auch, dass das Leben in der Gesellschaft nicht ohne Gerechtigkeit auskommt. So sollte im Rechtsstaat der Gesetzgeber unter den ihm gegebenen Umständen so gut wie möglich eine auf den Menschenrechten basierende Gerechtigkeit erfassen. Die Gesetzgebung sollte eine Aktualisierung dieser Gerechtigkeit sein. Insofern dies nicht der Fall ist, laufen wir Gefahr, uns in ein Chaos zu stürzen, in dem nur das Gesetz des Stärkeren herrscht.

Die Botschaft des Künstlers ist vielsagend, was diese beiden Werte – Liebe und Gerechtigkeit – betrifft. Unverkennbar ist die Haltung seiner Christusgestalt diejenige eines Königs, der zu Gericht sitzt. Seine linke Hand hält einen Stab, der an seinem Ende ein Kreuz bildet. Dieser erinnert an eine Fahnenstange, an den Stab eines Abtes oder eines Bischofs, ja sogar an das Szepter eines Monarchen, was uns an Macht und Gerechtigkeit denken lässt. Seine rechte Hand dagegen erhebt sich zum Segnen. Segnen heißt beschützen, und jedwede schützende Geste ist mit der Liebe zumindest verwandt. Man darf folglich behaupten, dass diese Christusfigur einlädt zum Leben, zum Gedeihen, zum Heil, zur Seligkeit –, aber auch indem sie hinweist auf die Notwendigkeit, das Gesetz zu achten und sich ihm zu unterwerfen.

Noch andere Erinnerungen aber tauchen in mir auf, plötzlich stärker als die vorherigen. Sie beziehen sich auf den Palmsonntag, den ich 1991 in Dubrovnik verbracht habe. Bilder, zuerst fragmentarisch und zusammenhanglos, dann immer deutlicher werdend, erfüllen allmählich mein Inneres. Sie erheben sich aus dem kontinuierlich sich verändernden Fluss des Bewusstseins. Unwillkürlich steigt Sehnsucht in mir auf.

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling

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