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Dass niemand mehr in ihrer Gegenwart von diesem Nichtsnutz spricht«, hatte Monsieur Grandvalet ein für alle Mal angeordnet. »Juliette ist noch ein Kind. Sie weiß noch gar nicht, was Liebe ist.«

Und in den ersten Tagen verhinderte er auch mit allen Mitteln, dass Zeitungen ins Haus kamen, aus Angst, es könnte von Bachelin die Rede sein. Aber diese Mühe hätte er sich ruhig sparen können. Wann hatte man das junge Mädchen je beim Versuch ertappt, zu lesen oder auch nur eine Frage zu stellen?

»Gib acht, dass sie sich nicht am Fenster zeigt!«, hatte der Schalterangestellte des Crédit Lyonnais seiner Frau eingeschärft.

Wenn er abends nach Hause kam, nahm er sie beiseite, ängstlich wie ein Verschwörer.

»Was hat sie gemacht?«

»Wie immer sechs Stunden Klavier geübt, dann hat sie an ihrer Stickerei weitergearbeitet.«

»Und gesagt hat sie nichts?«

»Sie sagt nie etwas.«

»Sie ist noch ein Kind«, sagte der Vater einmal mehr.

Er blieb seinem Entschluss treu: Er tat so, als hätte er den Zwischenfall vergessen. Er machte niemals auch nur die kleinste Anspielung auf dieses Ereignis. Wenn er abends nach Hause kam, mimte er übertrieben gute Laune. Fast immer brachte er seiner Tochter eine Leckerei mit, oder er bedachte sie zumindest mit einer Aufmerksamkeit.

Sie aßen unter dem Lampenschirm zu Abend. Aus Angst vor der Stille am Tisch erzählte er Geschichten, die er sich tagsüber in der Bank ausgedacht hatte, und malte sogar schon die Reisevorbereitungen für die nächsten Ferien aus.

»Du hörst mir gar nicht zu, Juliette.«

»Warum sollte ich denn nicht zuhören?«

Sie behielt stets ihren ernsten, gleichgültigen und kindlichen Ausdruck. Wenn man mit ihr sprach, konnte man nie sicher sein, ob sie der Unterhaltung wirklich folgte.

»Hast du brav geübt?«

»Wie immer.«

Es war keine Böswilligkeit dahinter. Vielleicht war sie schon immer so gewesen, und es fiel nur plötzlich stärker auf. Ihr Vater setzte schnell ein Lächeln auf, als gäbe es etwas, für das er sich entschuldigen müsste.

»Spielst du mir eine Polonaise von Chopin vor?«

»Wenn du Wert darauf legst.«

Man hätte nicht sagen können, dass sie traurig war. Monsieur Grandvalet überlegte sogar, ob sie traurig genug war, aber dann beruhigte er sich gleich wieder, indem er sich in Gedanken wiederholte:

Sie ist ja noch ein Kind!

Nach dem Essen setzte sich Juliette ans Klavier. Er ließ sich neben ihr nieder. Das war das abendliche Ritual, seit sie als Sechsjährige mit dem Klavierunterricht begonnen hatte. Der Vater blätterte die Seiten um. Manchmal nickte er oder verzog, wenn sie bei einem Akkord danebengriff, das Gesicht, und Juliette seufzte vor Ungeduld.

»Sehr gut! Du machst erstaunliche Fortschritte!«

»Habe ich jetzt genug vorgespielt?«

Er zögerte, denn er fürchtete die Leere im Esszimmer, wo seine Frau Strümpfe stopfte, und murmelte schließlich:

»Wenn du nicht zu müde bist, könntest du noch Schumanns Carnaval spielen.«

Sie setzte sich wieder auf ihren Hocker. Von draußen, von den nassen Gehsteigen der Rue Creuse aus, sah man zwei rosa erleuchtete Fenster, denn nach dem Brand hatten sie den cremefarbenen Lampenschirm durch einen rosafarbenen ersetzt. Man hörte die heruntergespielten Noten. Man erahnte den vorgebeugten Kopf Monsieur Grandvalets.

»Bist du so nett, Juliette, und spielst jetzt eine Partie Dame mit mir?«

»Lass doch das Kind in Ruhe!«, mischte sich Madame Grandvalet ein.

»Warum, Mama? Ich spiele gern.«

Sie war immer folgsam gewesen. Und immer hatte sie schon diese ein wenig geistesabwesende Miene gehabt. Sie konnte ganze Tage in der Wohnung bleiben, ohne auch nur einmal den Wunsch zu äußern, hinauszugehen. Wenn die Klavierstunde vorbei war, nähte sie oder las. Aber wenn sie las, schien sie sich nicht für ihr Buch zu interessieren.

»Was möchtest du denn gern als Neujahrsgeschenk?«

»Ich weiß nicht. Was du willst.«

Und im Büro dachte ihr Vater dann mit gerunzelter Stirn an sie.

Sie hat diesen Nichtsnutz bestimmt vergessen. Sie hat ja nicht einmal versucht herauszubekommen, was aus ihm geworden ist. Sie hat mit niemandem Umgang, der ihr darüber etwas sagen könnte.

Er machte jedoch einen Fehler. Er ließ den Brief seines Sohnes, in dem von Bachelin die Rede war, herumliegen und wusste anschließend nicht, ob Juliette ihn gelesen hatte.

»Du wirst sehen, meine Kleine, in zwei Jahren gehe ich in Rente, dann ziehen wir drei nach Paris, damit du weiter Unterricht nehmen kannst. Freut dich das?«

»Warum sollte es mich nicht freuen?«

Es schneite. Émile Bachelin stand unter der dritten Straßenlaterne an eine Hausmauer gelehnt und starrte auf die rosa erleuchteten Fenster.

Hatte Juliette ihn je geliebt? Er hatte sie zum ersten Mal auf dem Standesamt gesehen, wo er als Büroangestellter arbeitete. Sie hatte eine Kopie ihrer Geburtsurkunde gebraucht. Er hatte einen Spaß gemacht. Sie hatte gelächelt. Zwei Tage später war er ihr auf der Straße begegnet und hatte sie gegrüßt. Von da an war er ihr immer nachgegangen, wenn sie von ihrer Klavierstunde kam. Dann hatte er sie angesprochen.

Sie hatte sich nicht gewehrt, als er sie geschickt durch unbelebte Straßen führte, und auch nicht, als er ihr den Arm um die Taille legte. Als er sie geküsst hatte, waren ihre Lippen weich und feucht geblieben.

Am letzten Tag hatte sie einfach gesagt:

»Mein Vater will nicht, dass wir uns weiter sehen.«

Bachelin hörte zu, bis der Carnaval zu Ende war, danach blieb das Licht noch eine halbe Stunde an und wurde dann endlich gelöscht.

Jetzt konnte er gehen, wohin er wollte. Er irrte wie eine Katze durch die Nacht. Die Leute, die aus dem Kino kamen, wichen ihm instinktiv ein wenig aus, wenn sie ihm in den dunklen Straßen begegneten.

In den Hotels von Nevers lief er Gefahr, dass ihn jemand erkannte und bei der Polizei anzeigte, und im Übrigen hatte er auch keine Lust, ganz allein und ohne mit jemandem reden zu können, in einem Zimmer zu schlafen.

Da ging er lieber in ein Bordell. Eine Frau setzte sich neben ihn, eine dunkelhaarige, die ihn von Kopf bis Fuß musterte und dann neugierig fragte:

»Was bist du von Beruf?«

Denn sie spürte, dass er in keine der üblichen Kategorien passte. Sie bemerkte, dass er geschmeichelt lächelte, als er antwortete:

»Was glaubst du, was ich für einen Beruf habe?«

»Bestimmt keinen anständigen!«, rief sie lachend aus.

Es war schon spät. Bachelin befand sich als letzter Gast im Salon, wo drei Frauen ihre nackten Beine am Ofen wärmten.

»Rate mal!«

»Du verkaufst wahrscheinlich irgendwelche Sachen auf den Jahrmärkten in den Dörfern?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Wenn du auf so eine bestimmte Art guckst, wirkst du eher wie ein Künstler.«

»Du müsstest eben mehr Zeitung lesen! …«, seufzte er.

»Schreibst du in den Zeitungen?«

»Nein. Die Zeitungen schreiben über mich.«

Sie horchte auf und überlegte.

»Sie haben sogar ein Bild von mir veröffentlicht!«

War dies nicht der einzige Ort, an dem er gefahrlos reden und sich damit sogar noch Anerkennung verschaffen konnte?

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Weil ich mir den Bart habe wachsen lassen.«

Er trank. Er erregte sich – es war eine nervöse, grausame Erregung –, aber er wurde trotzdem den Gedanken an die beiden rosa erleuchteten Fenster und an die Klaviermusik, die in der Rue Creuse wie in einer Kirche widerhallte, nicht los.

»Erzähl doch mal.«

Er schob triumphierend und verächtlich die Lippen vor und schlug mit der Faust auf den Tisch, weil er noch etwas zu trinken haben wollte.

»Kann ich hier schlafen?«

»Meinetwegen in meinem Zimmer.«

»Verpfeifst du mich nicht?«

Sie zuckte mit den Schultern und tat so, als wollte sie schon empört aufstehen, um ihn zu bestrafen.

»Los, gehen wir hinauf«, sagte er entschieden.

Er war erschöpft. Er legte nur sein Jackett und den Kragen ab, bevor er sich auf der Steppdecke ausstreckte.

»Woher stammst du?«, fragte er gähnend.

»Aus Montpellier. Und du?«

»Aus Nevers.«

Sie sah ihn jetzt aufmerksamer an, kam mit ihrem Gesicht näher.

»Ah, jetzt weiß ich! Du bist der, der seiner Verlobten das Haus anzünden wollte.«

Sie legte sich neben ihn, hatte einen Ellbogen auf das Kopfkissen und den Kopf in die Hand gestützt und betrachtete den Mann unaufhörlich. Dieser blickte zur Decke hoch, wo sich noch der Haken von einer früher benutzten Hängelampe befand.

»Warum bist du zurückgekommen?«

Statt einer Antwort schob er die Lippe auf dieselbe Art und Weise vor, die im Café de la Paix schon Olga Angst eingejagt hatte.

»Willst du es noch einmal machen? Oder halt, ich hab’s. Du willst die Kleine entführen, stimmt’s?«

Er nickte, verlangte eine Zigarette, die sie ihm in den Mund steckte und anzündete.

»Ist sie denn wirklich so großartig? Liebt sie dich?«

»Lass mich schlafen.«

Und er schlief tatsächlich ein. Die Frau sah sich noch lange jeden einzelnen seiner Gesichtszüge an, dann drehte sie sich seufzend ein wenig beiseite, um ihm Platz zu lassen, zog die Beine an und schlief ebenfalls ein.

Als er am nächsten Morgen die Augen aufmachte, war sie schon bei der Toilette, und der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte elf Uhr an. Auf den Dächern in der Nähe lag Schnee.

»Du willst doch nicht am helllichten Tag hinaus?«

Er betrachtete das schmale Zimmer, dessen Wände mit Fotos geschmückt waren.

»Meinst du, deine Chefin lässt zu, dass ich hierbleibe?«

»Keine Sorge.«

Sie brachte ihm zwei Brötchen. Am Nachmittag musste sie hinunter in den Salon, und er vertrieb sich die Zeit mit der Lektüre alter Zeitungen, die herumlagen, und mit einem Fortsetzungsroman, von dem er allerdings nur die zweite Folge fand.

Als er aus dem Haus gehen wollte, traf er im Flur auf seine Gefährtin, die wieder ihre aufreizende Arbeitskleidung trug.

»Kommst du heute Abend wieder?«

»Kann sein.«

Er begegnete Juliette genau an der Stelle, an der er sie erwartet hatte. Sie trug einen neuen Mantel mit Otterkragen und hatte ihre Noten in der Hand. Madame Grandvalet begleitete sie und kam ganz außer Atem, weil sie ihrer Tochter hinterherlief und gleichzeitig einen Blick in die Schaufenster werfen wollte.

Bachelin ging ihnen auf der anderen Straßenseite hundert Meter voraus und schritt dann ohne Zögern auf die beiden Frauen zu. Er wusste, dass die Mutter ihn noch nie aus der Nähe gesehen hatte. Er trug andere Kleidung, und auch der Bart hatte sein Aussehen verändert.

Der Abstand zwischen ihnen wurde immer geringer. Juliette blickte geradeaus und hatte ihn bestimmt schon gesehen. Aber sie zögerte keinen Augenblick. Als er nur noch zwei Meter von ihr entfernt war, konnte er ihr Gesicht dank den Lichtern eines Schaufensters genau sehen. Es war ihr nicht die geringste Gemütsbewegung anzumerken.

Ihre Blicke trafen sich eine Sekunde lang, aber er hätte danach nicht sagen können, ob sie ihn wirklich erkannt hatte. Er streifte sie, ohne bei ihr irgendeine Reaktion auszulösen.

Jetzt schaute er Mutter und Tochter zu, wie sie das Haus des Klavierlehrers erreichten und den Hausflur betraten.

Er hatte nun eine Stunde Zeit, die er in einer berüchtigten Bar verbrachte, wo ihn zwei Männer mit Mütze schief ansahen.

»Papier und eine Feder!«, befahl er.

Auf die schmierige Theke gestützt, schrieb er:

Ich muss dich unbedingt sprechen.

Es war bitterkalt. Schnee fiel keiner mehr, aber fast überall lagen noch Reste herum. Bachelin lauerte Juliette und ihrer Mutter aus der Ferne auf, und seine Ungeduld wuchs so stark an, dass ihm die Knie zitterten. Als er Juliette im Vorübergehen den Zettel in die Hand schob, wagte er diesmal kaum, sie anzusehen.

Geschafft! Sie hatte ihn ohne weiteres entgegengenommen. Und sie hatte ihn erkannt! Er ging hinter ihr her und sah, wie sie den Zettel in ihre Handtasche steckte. Er hoffte, dass sie sich umdrehen würde, aber bis zu dem Haus in der Rue Creuse tat sie es kein einziges Mal. Erst als sie schon an der Tür war, drehte sie ihren Kopf leicht zur Seite, aber zu wenig, um ihn sehen zu können, und deutete dabei eine Handbewegung ins Leere an.

An jenem Abend brachte Monsieur Grandvalet seiner Tochter marrons glacés mit, obwohl noch nicht Neujahr war. Da sie müde wirkte, beharrte er nicht darauf, dass sie ihm auf dem Klavier vorspielte, sondern bemühte sich eine Stunde lang, ihr irgendwelche Geschichten zu erzählen.

Als er dann neben seiner Frau im Bett lag und die Lampen gelöscht waren, flüsterte er:

»Er ist in Nevers!«

»Wer?«

»Er! … Mein Kollege Berthold hat ihn gestern im Café de la Paix gesehen. Er versteckt sich nicht einmal. Vielleicht sollte ich doch die Polizei benachrichtigen.«

Seine Frau antwortete nicht. Man hörte Juliette im Nebenzimmer umhergehen, während sie sich auskleidete.

»Was meinst du dazu?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich möchte nur wissen, warum er hier ist und sich dabei der Gefahr aussetzt, geschnappt zu werden.«

Lange Zeit lagen beide mit offenen Augen im Dunkeln und drehten sich alle Augenblicke um, so unbehaglich fühlten sie sich. Dann stand Monsieur Grandvalet leise auf.

»Wo willst du hin?«

Jetzt wusste er, dass auch seine Frau nicht schlief.

»Pst!«

Er öffnete die Tür einen Spalt, hörte den ruhigen Atem seiner Tochter und legte sich mit eiskalten Füßen von der Berührung mit dem lackierten Boden wieder ins Bett.

»Hast du sie getroffen?«, fragte Bachelins neue Bekannte im warmen Salon des Bordells.

Er blickte auf, ohne sie anzusehen, und gab ihr mit seiner Miene zu verstehen, dass sie das nichts anging.

»Die Chefin hat nicht gemeckert. Nur solltest du morgen ein bisschen früher herunterkommen, damit man saubermachen kann. Außerdem wäre es gut, wenn du eine Runde ausgeben würdest. Ich sage das nicht meinetwegen, glaub mir!«

Er klopfte, ohne ihr zu antworten, mit dem Knöchel seines Zeigefingers auf den Tisch und brummte:

»Champagner!«

Er bezahlte zwei Flaschen, danach blieben ihm noch fünfzig Franc. Im Zimmer wechselte er kaum zehn Sätze mit Adèle, die es längst gewohnt war, sich unterzuordnen. Sie wunderte sich sehr, dass er schon um neun Uhr früh bereit zum Weggehen war.

»Kommst du wieder?«

»Schon möglich!«

Sie bemerkte den Fünfzigfrancschein auf dem Toilettentisch, stand unbekleidet auf und sagte böse:

»Das wagst du mir anzutun?«

»Wie du willst«, erwiderte er und nahm den Schein wieder an sich.

»Du hast ein Ding vor, nicht wahr? Ich habe Angst, hör doch mal …«

Aber er hatte die Tür schon aufgemacht und ging die dunkle Treppe hinunter.

Dieudonné kam gewöhnlich gegen zehn Uhr früh zum Paris-Centre. Ein paar Minuten zuvor überquerte er die Place Carnot, und genau dort, nur zweihundert Meter von der Polizeiwache entfernt, wartete Bachelin auf ihn.

Der Platz war menschenleer, die Grünanlage mit festgefrorenem Schnee bedeckt. Drei Minuten vor zehn bog Dieudonné, in einen weiten grauen Mantel gehüllt, aus der Rue de Paris ein. Sein Atem bildete eine Wolke vor dem Gesicht.

Er erkannte Bachelin erst, als dieser sich ihm in den Weg stellte und sagte:

»Guten Tag!«

Er blieb wie angewurzelt stehen und sah sich um, als wollte er sich versichern, dass sie nicht allein waren.

»Keine Angst! Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten. Leih mir fünfhundert Franc, ich schicke sie dir nächste Woche, sobald ich wieder in Paris bin.«

Dieudonné war ein weichlicher Mensch mit einem rosigen Gesicht, blauen Augen und einem kindlichen Mund.

»Warum bist du zurückgekommen«, stammelte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Das kann ich dir nicht so schnell erklären. Ich bitte dich jetzt nur, mir fünfhundert Franc zu leihen. Ich brauche sie ganz dringend.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich so viel bei mir habe.«

Trotz der Kälte schlug der Journalist nun seinen Mantel auf und zog einen Wollhandschuh aus, um besser in seinem Geldbeutel kramen zu können.

»Zweihundert … Dreihundert … Vierhundertfünfundzwanzig …«

Er wagte nicht, seinem Gesprächspartner ins Gesicht zu sehen.

»Du hast ja gesehen, dass ich dich nicht verraten habe«, brachte er dann hervor. »Ich habe auch die anderen gebeten, nichts zu sagen. Aber du musst achtgeben! Auch wenn du jetzt einen Bart hast …«

»Danke, Alter! Das vergesse ich dir nicht!«

Bachelin drückte ihm die Hand und eilte mit großen Schritten zum Bahnhof.

Unterwegs lachte er hämisch vor sich hin.

»Er hatte Angst! Sie haben alle Angst!«

Im Grunde hatte auch Adèle Angst vor ihm gehabt, und da sie gerne Angst hatte, war sie bereit, alles zu tun, was er von ihr verlangte. Vor dem Fahrkartenschalter standen vier oder fünf Bauern. Er rückte so dicht auf, dass zwei von ihnen unwillkürlich beiseitetraten, um ihn vorzulassen.

»Zwei einfache Fahrkarten zweiter Klasse nach Paris!«

Wegen des Kellners, der offenbar gute Beziehungen zur Polizei hatte, machte er einen Bogen um das Café de la Paix. Er kannte am anderen Ende der Stadt einen kleinen Waffenhändler. In dessen Laden trat er kurz darauf ein.

»Geben Sie mir einen nicht zu teuren Revolver.«

Hatte nicht auch der Waffenhändler Angst vor ihm? Bachelin hantierte absichtlich so mit der Waffe herum, als wäre er sein Leben lang mit Revolvern umgegangen.

»Und jetzt noch Munition.«

Er bezahlte und machte sich mit dem Revolver, dessen Kolben er in seiner Tasche umklammerte, auf den Weg.

Bis zum Abend ging er von einem Bistro zum anderen und trank genug, um sein Fieber konstant zu halten, aber nicht so viel, um betrunken zu werden.

Am Mittag versuchte Monsieur Grandvalet, seiner Frau mit Zeichen verständlich zu machen, dass er etwas mit ihr besprechen wollte. Sie brauchte lange, bis sie begriff. Als sie sich dann in ihrem Schlafzimmer befanden, während Juliette den Tisch abräumte, murmelte er:

»Du musst irgendeinen Vorwand finden, um zu verhindern, dass sie heute zu ihrer Klavierstunde geht. Ich habe keine Ruhe.«

»Was soll ich ihr denn sagen?«

»Irgendwas … dass du Grippe hast!«

Lächelnd kehrte er ins Esszimmer zurück und sagte fröhlich:

»Ich habe eine hübsche Überraschung für dich!«

Seine Tochter lächelte ebenfalls. Er beobachtete sie genau, entdeckte aber keine Anzeichen für irgendwelche Hintergedanken bei ihr.

»Wenn du Grippe hast, musst du dich ins Bett legen, und ich mache dir einen Kräutertee«, sagte das junge Mädchen kurze Zeit später zu seiner Mutter.

Da Madame Grandvalet tatsächlich erkältet war, ließ sie es zu.

»Es tut mir so leid um deine Klavierstunde.«

»Ach! Eine mehr oder weniger.«

Die Tür zwischen Schlafzimmer und Esszimmer stand offen. Juliette spielte brav zwei Polonaisen, und als es Zeit war, Licht anzumachen, klappte sie ihr Klavier zu.

»Wohin gehst du?«, fragte Madame Grandvalet schon halb im Schlaf.

»Da hat jemand etwas in den Briefkasten geworfen. Ich komme gleich zurück.«

Sie nahm weder Hut noch Mantel. Unten öffnete sie leise die Tür und richtete den Blick sofort auf die Stelle, an der sie Bachelin vermutete. Dann ging sie, ohne die Tür zu schließen, zu ihm hinüber, denn sie hatte keinen Schlüssel dabei.

Zaghaft näherte sie sich dem Mann, der sich nicht von der Stelle rührte. Erst als sie vor ihm stand, legte er ihr die Hände auf die Schultern und blickte sie mit so fiebrigen Augen an, dass sie es mit der Angst bekam.

»Hör zu …«

Er fühlte, wie sie unter seinen Händen erzitterte. Die beiden Fenster waren noch immer erleuchtet.

»Du liebst mich doch, oder?«

Sie hätte am liebsten geweint. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Bachelin zog sie an sich und presste sie so fest an seine Brust, dass sie fast erstickte.

»Wenn du nicht mit mir kommst, bin ich in fünf Minuten tot.«

Er hatte sie brüsk zurückgestoßen und fuchtelte jetzt mit seinem Revolver herum.

»Ich kann ohne dich nicht leben«, sagte er laut und abgehackt. »Wenn du willst, fahren wir nach Paris. Ich habe schon die Fahrkarten.«

Sie weinte noch nicht, aber sie wusste weder ein noch aus. Bachelin schien sie mit seinem Blick aufrecht zu halten.

»Ich schieße …«

Er stand auf jener Hausschwelle, die so oft ihr Zufluchtsort gewesen war, und schon ging im ersten Stock knarrend das Fenster der Alten auf.

»Ich habe keinen Mantel an …«, stammelte Juliette.

»Schwöre, dass du dich nicht von der Stelle rührst!«

Zitternd vor Kälte nickte sie. Passanten drehten sich nach ihr um. Bachelin zog sie in eine benachbarte schmale Straße, wo sie sich unterstellte, während er das hellerleuchtete Kaufhaus Nouvelles Galeries betrat. Er musste zur Damenoberbekleidung in den dritten Stock hinauf, dort kaufte er ohne lange auszuwählen einen grünlichen Mantel, für den er hundertzwanzig Franc bezahlte. Um nicht auch noch die Hutabteilung suchen zu müssen, nahm er eine von den Baskenmützen, die auf einem Verkaufstisch auslagen. An der Kasse trat er dann von einem Fuß auf den anderen, bis sein Paket endlich fertig war.

Juliette stand immer noch an derselben Stelle. Er riss am Bindfaden und warf das graue Papier in den Straßengraben.

»Siehst du! …«, sagte er triumphierend.

Es berührte ihn tief, dass sie jetzt so schlecht gekleidet war. Aber es machte ihn glücklich. So war sie nicht mehr die Tochter des auf Sorgfalt bedachten Monsieur Grandvalet. Nichts mehr ließ an ihre Klavierstunden, an den rosa Lampenschirm und das ruhige Haus denken.

»In einer halben Stunde geht ein Zug. Willst du etwas trinken?«

»Ich bin nicht durstig.«

Nun wäre am liebsten er in Tränen ausgebrochen, vor Freude, vor Stolz und Rührung über sie und sich selber.

»Du wirst schon sehen, was für ein Leben wir führen werden!«

Er meinte, sie lächeln zu sehen. Unterwegs fasste er sie um die Taille.

Dann erinnerte sie sich plötzlich:

»Ich habe die Tür offen gelassen.«

»Was macht das schon?«

Zu dem Bordell wären es nur hundert Meter Umweg gewesen, am liebsten hätte er Adèle von seinem Triumph erzählt.

»In Laroche werden wir umsteigen. So können wir, falls deine Flucht gemeldet worden ist …«

Als er dann das Bistro sah, in dem er den Zettel an Juliette geschrieben hatte, überlegte er es sich anders.

»Geh nur rein, du brauchst keine Angst zu haben.«

Der Wirt erkannte ihn wieder und fragte:

»Einen Rum?«

»Zwei. Und etwas zum Schreiben.«

Es gab nur einen Tisch in einer Ecke. Er setzte seine Freundin dort vor ein Blatt Papier und diktierte:

Meine lieben Eltern,

lasst mich nicht suchen. Ich bin glücklich. Wenn Ihr versucht, mich nach Hause zurückzuholen, bringe ich mich um …

Sie schrieb, ohne ihn anzusehen. Es lief ihm kalt über den Rücken. Jedes Wort, das sie niederschrieb, war ein neuer Sieg für ihn. Als er sah, wie sie nach dem Diktat noch einmal die Feder auf das Blatt senkte, wurde er unruhig.

Verzeih, Papa, fügte sie noch hinzu.

Noch bevor die Tinte getrocknet war, klebte er den Umschlag zu und sagte zum Gastwirt:

»Ich zahle Ihnen fünf Franc, wenn Sie diesen Brief sofort in die Rue Creuse bringen lassen. Und geben Sie mir noch einen Rum.«

Schweißtropfen rannen von seiner Stirn.

Die Selbstmörder

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