Читать книгу November - Georges Simenon - Страница 3
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ОглавлениеIch glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal erlebt habe. Es war der zweite Freitag im November, der 9. November, um genau zu sein. Wir saßen wie jeden Abend zu viert beim Abendessen um den runden Tisch. Manuela hatte gerade die Suppenteller abgetragen und ein Kräuteromelett serviert, das meine Mutter zwischenzeitlich in der Küche gebacken hatte.
Seit dem Morgen fegte einer der heftigsten Stürme des Jahres über Frankreich hinweg, im Radio war die Rede von abgehobenen Dächern, Autos, die mehr als zehn Meter davongeschwemmt worden waren, Schiffen in Seenot im Ärmelkanal und im Atlantik.
Der Wind tobte, das Haus bebte unter den heftigen Böen, als rüttelte man an seinen Grundfesten, Fensterläden, Fensterscheiben und Außentüren schienen jeden Augenblick nachzugeben.
Es goss in Strömen, ohne Unterlass, furchtbar, der Regen schlug gegen die Hauswände, es klang, als rollten Wellen über einen Kiesstrand.
Wir unterhielten uns nicht. Bei uns redet man selten bei Tisch, man beschränkt sich auf das Notwendige.
»Reichst du mir bitte den Teller?«
Jeder isst von den anderen getrennt durch eine unsichtbare Wand, und an diesem Abend lauschte jeder für sich auf das Sturmgetöse.
Und plötzlich war es von einer Sekunde auf die andere still, nichts rührte sich mehr in der Natur, eine fast beängstigende Leere.
Mein Vater runzelte seine breiten, buschigen Augenbrauen. Mein Bruder schaute uns einen nach dem anderen verwundert an.
Der lange, dürre Hals meiner Mutter spannte sich unmerklich, während sie argwöhnisch um sich blickte. Sie misstraut allem. Sie lebt im Mittelpunkt eines feindlichen Universums, ist immer auf der Hut, immer wachsam, mit starrem Blick und gerecktem Hals wie bestimmte Raubvögel.
Alle schwiegen. Als hätte die Welt den Atem angehalten, als wäre diese abrupte Stille das Vorzeichen weiß Gott welcher Katastrophe.
Nur der Gesichtsausdruck meines Vaters blieb, nachdem er kurz mit den Brauen gezuckt hatte, unverändert. Er hat stets ein fahles, ausdrucksloses Gesicht, allenfalls liegt ein fast feierlicher Ernst darauf.
Olivier wandte sich zur Tür, als Manuela sie hinter sich schloss, und ich bin sicher, dass er eine stumme Nachricht an sie richtete. Ich bin auch überzeugt, dass meine Mutter sie, ohne den Kopf zu wenden, bei ihrer Zwiesprache ertappte. Sie sieht alles, hört alles. Sie sagt nie etwas, aber sie nimmt alles auf.
Mein Bruder ließ sich von diesem unerwarteten Stocken des Universums nicht lange beunruhigen. Er saß wie immer meinem Vater gegenüber und ich gegenüber meiner Mutter, deren Wangenknochen wieder die beiden kreisrunden roten Flecken aufwiesen.
Das ist ein Zeichen. Sie hat getrunken. Sie beginnt eine Novene, so nennen wir es unter uns, aber sie ist nicht betrunken, sie ist nie richtig betrunken.
»Bist du müde?«
Warum hatte mein Vater das Bedürfnis, das zu sagen? Sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist weitaus feinsinniger als er und weiß, was die Worte bedeuten sollen. Da es schon viele Jahre so geht, hätte er es sich ersparen können, sie darauf hinzuweisen.
»Ich habe Migräne«, sagt sie beiläufig mit spröder Stimme.
Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauere. Man hat oft den Eindruck, meine Mutter tut, was sie kann, um zu missfallen, und selbst wenn sie schweigt, wirkt sie aggressiv. Aber könnte mein Vater nicht etwas rücksichtsvoller sein, ein Minimum an Nachsicht zeigen?
Er hat sie immerhin geheiratet, und wahrscheinlich war sie nicht viel schöner als heute. Ich habe Fotos von ihrer Hochzeit 1938 gesehen. Sie hatte schon immer ein unvorteilhaftes Gesicht. Ihre Nase ist zu lang und endet in einer Nasenspitze, die wie aufgepfropft wirkt, und auch ihr Kinn ist zu spitz.
War mein Vater verliebt in sie? Oder war er damals als junger Leutnant stolz darauf, eine der Töchter seines Obersts zu heiraten, der auf dem besten Weg war, General zu werden?
Darüber weiß ich nichts. Es geht mich nichts an. Es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen, auch wenn ich es unabsichtlich tue. Wir leben in einem Haus, in dem jeder den anderen beobachtet und sein Leben getrennt von den anderen lebt. Nur unser spanisches Hausmädchen, Manuela, die seit zwei Monaten bei uns arbeitet, singt bei der Hausarbeit und lebt, als ob um sie herum alles normal wäre.
Sie hat die Birnen aufgetragen, und mein Vater schält seine sorgfältiger als der beste Oberkellner. Er macht alles sehr gründlich, mit einer bisweilen nervigen Sorgfalt.
Muss er sich beherrschen? Sind seine Würde und Gelassenheit aufgesetzt?
Wie immer hat er sich als Erster erhoben, wie er sich unabänderlich als Erster an den Tisch setzt und langsam seine Serviette auffaltet. Hierarchie ist ihm wichtig. Bestimmt weil er beim Militär ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass er den kleinen Dingen dieselbe Bedeutung beimisst wie den großen.
Er murmelt:
»Ich gehe arbeiten …«
Dieser Satz fällt fast jeden Abend um dieselbe Zeit. Er hat ein Zimmer am anderen Ende des Flurs zum Büro gemacht. In der Mitte thront ein riesiger Zylinderschreibtisch aus dem neunzehnten Jahrhundert, und die Regale mit ihren verglasten Türen sind vollgepackt mit Büchern und Zeitschriften.
Arbeitet er wirklich? Er bringt immer eine dicke Aktentasche mit Papieren von der Arbeit mit nach Hause. Manchmal hört man ihn ungeschickt auf seiner Reiseschreibmaschine tippen. Meistens ist es jedoch ruhig. Wir dürfen ihn nicht stören. Jeder achtet darauf, anzuklopfen, sollte man ihm zufällig etwas mitzuteilen haben.
In seinem Arbeitszimmer steht ein alter, durchgesessener Ledersessel, in dem ich ihn zigmal angetroffen habe, die Füße zum Kamin gestreckt, in dem ein kleines Feuer brennt, das er selbst angezündet hat. Er schaut von seiner Lektüre auf, sieht einen geduldig an, ohne einen zu entmutigen.
»Ich wollte dich fragen, ob ich morgen …«
Hört er zu? Interessiert es ihn? Fühlt er, dass er Familienvater ist und wir drei von ihm abhängen?
Olivier kümmert sich kaum um seinen Vater und organisiert in aller Ruhe sein Leben. Er geht häufig abends aus, weniger oft seit Manuela im Haus ist. Nach dem Abendessen verschwindet er nach oben in sein Zimmer oder in eine Art Labor, das er sich unter dem Dach eingerichtet hat, direkt neben dem Zimmer der Spanierin.
Meine Mutter geht ins Wohnzimmer. Ich folge ihr. Dann macht sie mechanisch den Fernseher an … Jeden Abend … Unabänderlich, egal was kommt, aber es hindert sie nicht, das kleinste Geräusch im Haus zu hören …
Sie näht. Es gibt immer Knöpfe, die angenäht, Wäschestücke, die ausgebessert werden müssen. Ich setze mich ebenfalls vor den Fernsehapparat, doch das Programm interessiert mich nicht immer, und dann vertiefe ich mich in ein Buch.
»Komisch, dass der Sturm so abrupt aufgehört hat …«
Sie hebt einen Augenblick den Kopf, als wollte sie sich versichern, dass kein Hintergedanke hinter den Worten steckt, dann murmelt sie nur:
»Ja …«
Aus der Küche, wo Manuela das Geschirr spült, klingt Tellergeklapper. Sobald das Hausmädchen hinauf in ihr Zimmer gegangen ist, wird meine Mutter aufstehen und dabei murmeln:
»Ich sehe mal nach, ob das Mädchen das Licht …«
Sie bemüht sich nicht wegen des Lichts, auch nicht wegen des Gaskochers. Sie geht, um den übrig gebliebenen Rotwein zu trinken, und sie trinkt ihn aus der Flasche, mit ängstlichem Blick auf die Tür, denn sie befürchtet immer, überrascht zu werden. Wenn sie so drauf ist, trinkt sie ausnahmslos alles, was ihr in die Hände fällt, und je mehr sie trinkt, umso mehr Farbe bekommen ihre hohen Wangen, umso glänzender werden ihre Augen.
Sie tut mir leid, aber gleichzeitig nehme ich es ihr übel, denn ich würde meine Mutter gerne nicht bedauern müssen. Bisweilen tut mir auch mein Vater leid. Wer von den beiden hat angefangen?
Das ging schon so, als mein Bruder und ich noch Babys waren. Ich kam zuerst, denn ich bin einundzwanzig und die Ältere. Dann kam Olivier, der jetzt neunzehn Jahre alt ist.
Haben sich unsere Eltern wie die meisten Eltern verhalten? Haben sie sich an unserer Wiege umarmt, geküsst, zärtliche Worte ausgetauscht?
Das scheint mir undenkbar. So weit meine Erinnerung zurückreicht, war das Haus immer dasselbe, geordnet und still, waren die Tage von schaurigen Mahlzeiten unterbrochen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich hassen. Mein Vater ist geduldig, und ich merke, dass das nicht immer einfach ist. Ich verstehe ihn, wenn er an den meisten Abenden in dieses Arbeitszimmer flüchtet. Aber konnte Mama nicht mehr von ihm erwarten als Geduld?
Ein richtiger Familienkrach wäre mir manchmal lieber, schön heftig, mit Geschrei, Tränen, und anschließend eine vorübergehende Versöhnung.
Auf mein Urteil kann man nicht viel geben. Auch ich bin nicht hübsch. Ich habe wie meine Mutter ein unvorteilhaftes Gesicht mit einer runden, zu klobigen Nase anstatt einer Stupsnase mit Doppelspitze. Nur mein Körper stellt mich zufrieden.
Wozu über all das nachdenken? Ich lese. Ich versuche zu lesen, und von Zeit und Zeit betrachte ich das Gesicht meiner Mutter. Draußen hört man den Regen, es tröpfelt sich aus.
Das Programm wechselt. Es läuft ein lärmender Western, und ich stehe auf, um den Apparat leiser zu stellen. Gibt es viele Familien wie unsere in Paris und Umgebung?
Um zehn setzt meine Mutter ihre Brille ab und sammelt die Wäschestücke, die Garnrollen, die Scheren ein. Sie ist nicht in die Küche gegangen, wie ich dachte.
»Gute Nacht, Laure …«
Sie bleibt stehen, hält einen Augenblick inne, während ich ihr einen Kuss auf beide Wangen hauche. Jetzt macht sie einen Abstecher in die Küche, dann steigt sie die Treppe hinauf. Ich kann endlich den Fernseher ausschalten und in Ruhe lesen.
Wartet mein Vater, bis sie im Bett liegt, bevor er selbst hinaufgeht? Ich sehe sie nie gemeinsam ins Bett gehen. Normalerweise liegt eine Viertelstunde dazwischen, als wollten sie jede Intimität vermeiden, dabei schlafen sie im selben Bett.
Ich lese. Dann geht die Tür zum Arbeitszimmer auf. Mein Vater durchquert den Flur, bleibt an der Tür stehen, sieht sich um. Sein Gesicht ist ausdruckslos.
»Ist deine Mutter nach oben gegangen?«
Ich schaue zur Pendeluhr auf dem Kamin.
»Vor gut zehn Minuten.«
»Und sie hat nichts gesagt?«
Ich werfe ihm einen überraschten Blick zu.
»Nein.«
Was hätte sie sagen sollen? In welcher Angelegenheit?
»Ist Olivier schon heruntergekommen?«
»Nein.«
»Ist er in seinem Zimmer?«
»In seinem Zimmer oder auf dem Dachboden, keine Ahnung …«
»Gute Nacht, Laure …«
Er kommt zu mir, und ich gebe ihm auch einen Kuss auf jede Wange.
»Gute Nacht, Papa …«
Es kommt mir komisch vor, ihn Papa zu nennen. Es passt nicht zu seiner Statur, seinem gediegenen Ernst. Er lächelt nie, und wenn er sich um ein Lächeln bemüht, dann zieht er seine Lippen ohne jede Fröhlichkeit mechanisch auseinander.
»Gehst du nicht ins Bett?«
»Bald …«
»Vergiss nicht, das Licht auszumachen …«
Als ob ich mit einundzwanzig Jahren nicht in der Lage wäre, das Licht hinter mir auszumachen.
»Gute Nacht …«
»Gute Nacht …«
Diese Nacht, die Nacht vom 9. zum 10. November, sollte jedoch eine schlechte Nacht werden.
Ich las noch ungefähr eine Stunde, bevor ich in mein Zimmer hinaufging und mich auszog. Ich dachte an den Professor und an Gilles, der wahrscheinlich sauer auf mich war und nichts verstand.
Professor Shimek ist kein schöner Mann. Er ist zweiundfünfzig, hat eine vierzehnjährige Tochter, eine pummelige und lustige kleine Frau, die er vor dem Krieg geheiratet hat, nachdem er aus der Tschechoslowakei fortgegangen war. Er gehört zu den klügsten lebenden Männern. Doch in den Augen von Gilles Ropart …
In manchen Augenblicken würde ich lieber nichts denken und einfach in den Tag hineinleben. »Kann man mich nicht in Frieden lassen?«, soll ich als Kind oft geseufzt haben, wenn mein Vater oder meine Mutter etwas von mir wollten.
Dasselbe könnte ich heute noch sagen. Ich putze mir die Zähne, wische mir das bisschen Make-up aus dem Gesicht, das ich mir gestatte, und wiege mit einer gewissen Freude meine schweren Brüste in den Händen, bevor ich meinen Pyjama überstreife und mich ins Bett lege.
Es fällt mir immer schwer, einzuschlafen. Gedanken, Bilder fliegen mir von überallher zu, aus allen Abschnitten meines Lebens. Ich habe es schon mit Schlafmitteln probiert. Ich schlief schneller ein, doch eine oder zwei Stunden später wachte ich wieder auf und fand noch schwerer in den Schlaf, sodass ich am Morgen ganz benommen im Kopf war.
Vermutlich habe ich mein feines Gehör von meiner Mutter geerbt. Aber natürlich hallt das Haus wie eine Trommel, obwohl es aus dem neunzehnten Jahrhundert ist.
Ich höre den Regen, der vom Dach tropft, und aus der Ferne ab und zu ein Auto, das auf der Straße vorbeifährt.
Warum habe ich immer das Gefühl, dass die anderen ein richtiges Leben führen, und ich nicht? Diese Autos fahren irgendwohin, kommen irgendwoher. Andere Leute sind um diese Zeit im Theater, im Cabaret. Es gibt welche, die lachen. Wie Manuela. Sie ist die Einzige im Haus, die lacht, sie schert sich nicht um die Atmosphäre. Sie ist so alt wie ich, dazu schön, in voller Blüte, kerngesund. Ihre Fröhlichkeit wirkt fast wie eine Kampfansage.
Ich weiß, worauf ich warte, und es ist sicher nur eine Frage der Zeit. Mein Bruder im Nebenzimmer steht auf. Ich höre seine Bettfedern. Er ist also im Pyjama.
Hat er lange genug gewartet? Sind mein Vater und meine Mutter eingeschlafen?
Er öffnet vorsichtig die Tür und geht die Treppe hinauf. Er kann sich noch so bemühen, leise zu sein, ich höre ihn, und Manuela hat ihn auch gehört, denn er muss nicht klopfen, sie öffnet ihm die Tür.
Es ist das zehnte Mal. Angefangen hat es vor einem Monat, und ich spüre, dass sie sich jetzt über mir stehend umarmen. Dann höre ich Manuelas lautes Lachen.
Lauscht meine Mutter ebenfalls? Und wenn, was geht ihr dabei durch den Kopf? Mein Bruder ist neunzehn, in seinem Alter ist es normal, verliebt zu sein.
Trotzdem habe ich den Verdacht, dass es meine Mutter kränkt, weil es in ihrem Haus passiert, in ihrem Hoheitsgebiet und obendrein mit dem Dienstmädchen.
Wir hatten noch keine Hausangestellte länger als sechs Monate, und meine Mutter behandelt Manuela noch barscher als ihr Vorgängerinnen. Die Spanierin scheint es nicht zu bemerken. Sie wuselt herum, singt und lacht dabei ohne Angst. Und seit einem Monat öffnet sie dem Sohn des Hauses ohne Umstände ihre Zimmertür.
Die beiden liegen jetzt gemeinsam im Bett, und es scheint ihnen nicht einzufallen, dass sie sich direkt über mir befinden. Ich höre alles. Doch zugleich lausche ich sozusagen auf die Stille im Zimmer meiner Eltern.
Wenn sie wach sind, müssen sie die beiden oben hören.
Und was sage ich? Schon geht eine Tür auf, die ihres Schlafzimmers, um genau zu sein. Dann geht die Tür wieder zu, und jemand steigt barfuß die Treppe hinauf. Ich könnte sogar behaupten, ich höre meinen Vater laut schnaufen. Ich bin sicher, er ist es. Er braucht endlos lange, bis er im zweiten Stock angelangt, wo er auf dem Treppenabsatz stehen bleibt.
Hat er gerade erst gemerkt, dass Olivier immer wieder ins Zimmer des Dienstmädchens schlüpft? Hat er Verdacht geschöpft und sucht den Beweis?
Das Paar in der Mansarde hegt keinerlei Argwohn und tollt munter weiter.
Mein Vater, ein Mann von zweiundfünfzig Jahren, Hauptmann Le Cloanec, den seine verantwortungsvolle Position stets zu erdrücken scheint, steht barfuß im Dunkeln auf dem Treppenabsatz und lauscht, wie sein Sohn und das Hausmädchen sich lieben.
Ich hatte es vermutet, weigerte mich jedoch, es zu glauben: Mein Vater ist verliebt, verliebt in Manuela, was unvorstellbar für mich war. Er ist so verliebt, dass er, um sich auf die Lauer zu legen, das Bett verlässt, in dem meine Mutter vielleicht auch nicht schläft oder jeden Moment aufwachen könnte.
Worauf wartet er? Jetzt, wo er es doch weiß, oder? Er braucht keine zusätzlichen Beweise.
Wird er sich lächerlich machen, indem er die Tür öffnet, um das Liebespaar zu überraschen?
Er steht da, reglos, quält sich. Ich weiß nicht, ob ihn wirklich das Herz schmerzt. Wenn er gereizt ist, legt er manchmal die Hand auf die Brust. Hat er jetzt die Hand auf der Brust?
Ich habe ihn mir weder in einer solchen Situation noch in so einer geistigen Verfassung jemals vorgestellt. Ich bin verwirrt darüber. Und ängstlich wegen meiner Mutter. Er bleibt lange stehen, kommt nicht herunter, und als er endlich die Treppe hinabsteigt, macht er einen Abstecher ins Badezimmer, als wollte er sich ein Alibi verschaffen.
Ich warte darauf, sie sprechen zu hören, meine Mutter und ihn, aber in ihrem Zimmer bleibt es still. Er hat sich wieder hingelegt, sich durch die Dunkelheit ins Bett getastet, nehme ich an, und selbst wenn Mama wach ist, tut sie offenbar so, als schliefe sie.
Ich weiß nicht, wie spät es ist. Meine Gedanken gehen durcheinander und ich befinde mich in einem unerfreulichen Geisteszustand. Ich erwäge trotzdem, aufzustehen und ein Schlafmittel zu nehmen, dann schlafe ich ein, ohne es zu merken.
Als ich die Augen wieder öffne, dringt der Tag durch die Lamellen der Jalousie, und während ich sie hochziehe, scheint mir zu meiner Überraschung die Sonne ins Gesicht. Die Straße ist noch nass, überall liegen Zweige, größere Äste. An den Telefonleitungen hängen Regentropfen und lösen sich langsam, einer nach dem anderen. Im Vorgarten unseres Hauses ist ein Ast heruntergebrochen und liegt am Zaun.
Unten singt Manuela. Meine Mutter ist wahrscheinlich noch nicht hinuntergegangen. Sie frühstückt nichts, begnügt sich mit einer Tasse Kaffee, die sie sich ins Zimmer bringen lässt, und meistens sind wir drei bereits alle gegangen, wenn sie ihr Schlafzimmer verlässt.
Ich mache mich auf den Weg ins Badezimmer. Die Tür ist abgeschlossen.
»Bist du es, Laure?«
Es ist die Stimme meines Bruders.
»In zwei Minuten kannst du rein …«
Ich bin ein wenig spät dran. Es ist kurz nach acht Uhr. Ich fange allerdings erst um neun Uhr im Broussais-Krankenhaus an zu arbeiten, und für die Fahrt brauche ich kaum mehr als zwanzig Minuten mit dem Moped.
Bestimmt sitzt mein Vater schon im Esszimmer, trinkt seinen Tee und isst seine Marmelade-Toasts. Wir frühstücken so gut wie nie zusammen. Jeder so, dass er pünktlich bei der Arbeit ist.
»Hast du gesehen, wie heute die Sonne scheint? Wenn man uns das gestern gesagt hätte …«
»Ja …«
Ich höre, wie Olivier aus der Badewanne steigt und seinen Bademantel vom Haken nimmt.
»Einen Moment … Ich schließe gleich auf …«
Tatsächlich, die Tür geht auf. Sein Haar ist strubbelig, das Gesicht noch nass.
Als er mich ansieht, runzelt er die Brauen.
»Was ist denn mit dir los?«
»Ich habe schlecht geschlafen …«
»Du willst mir aber jetzt nicht sagen, dass du ebenfalls Migräne hast?«
Er neigt dazu, mit Mama scharf ins Gericht zu gehen.
»Ich muss mit dir sprechen, Olivier …«
»Wann?«
»Jetzt … Sobald Papa weg ist …«
Auch er fährt mit dem Moped nach Paris, damit Mama das Auto zur Verfügung hat. Er steigt nur aufs Auto um, wenn schlechtes Wetter ist wie gestern.
»Worüber möchtest du mit mir sprechen?«
»Warte … Ich komme gleich runter und frühstücke mit dir …«
Ich trage einen gelben Morgenmantel. Ich kämme mich ein wenig und putze mir die Zähne, während mein Bruder in sein Zimmer verschwindet, um sich anzuziehen. Er achtet überhaupt nicht auf seine Kleidung, er sieht immer aus, als hätte er in ihnen geschlafen.
Man hört ein Moped, dann das Quietschen des Eingangstors. Es ist fast immer mein Vater, der es morgens öffnet und abends wieder schließt.
»Kommst du?«
»Gleich … Geh schon mal runter und bitte Manuela, mir zwei Spiegeleier zu braten … Mit Würstchen, wenn sie welche hat …«
Manuela, heiter, lächelnd, in Frieden mit sich und der Welt, begrüßt mich vergnügt:
»Guten Morgen, Mademoiselle.«
Bei ihr hört sich das an wie ’n Morgn, Madmosell …
Sie ist erst ein Jahr in Paris. Bisher hatte sie zwei Stellen. Sie hat eine Freundin, die ich einmal abends gesehen habe, als sie auf der Straße wartete, eine kleine Schwarzhaarige, die aussieht wie eine Miniatur von Frau und Pilar heißt.
»Guten Morgen, Manuela … Für mich eine große Tasse Kaffee mit zwei Buttertoasts und … Für meinen Bruder, er kommt gleich, Eier und Würstchen, wenn Sie welche haben …«
Man könnte meinen, sie lacht. Alles bringt sie zum Strahlen, zumal wenn sie versteht, was man in der ihr fremden Sprache gesagt hat. Sie ist nicht viel größer als ihre Freundin Pilar, aber praller, in voller Blüte. Ihre Bewegungen sind so graziös, als würde sie tanzen. Sie ist Andalusierin. Ihr Dorf, Villaviciosa, liegt in der Sierra Morena irgendwo nördlich von Córdoba.
Sie ist in die Küche zurückgekehrt, als mein Bruder mit nassem Haar erscheint.
»Worüber willst du mit mir sprechen?«
»Setz dich. Wir haben Zeit …«
Es ist Samstag.
»Hast du Seminare?«
»Nur praktische Übungen …«
Olivier studiert Chemie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät auf dem Campus von Jussieu, am alten Weinmarkt. Er träumt von einem großen, knatternden Motorrad, doch mein Vater weigert sich, ihm eines zu kaufen.
»Die Pennäler haben alle Mopeds … Mit meinen langen Beine sehe ich darauf lächerlich aus …«
Ich mag meinen Bruder. Er ist ein netter Kerl, wenn auch eine Mimose. Er regt sich auf wegen nichts, wirft mir die schlimmsten Gemeinheiten an den Kopf, aber hinterher kommt er zu mir und bittet mich um Verzeihung.
Er ahnt, dass ich ihn auf Manuela ansprechen will, und ist irritiert, irgendwie beunruhigt. Ich warte, bis unser Frühstück kommt. Er lächelt die Spanierin zärtlich an, gefühlvoller, als ich es bei ihm erwartet hatte. Wenn meine Eltern nicht da sind, kann er seine Gefühle durchblicken lassen.
Ich glaubte, es sei nur eine Liebelei, ein körperliches Begehren, aber dieser eine Blick hat mich gerade belehrt, und auch Manuela wirkt ein wenig ernster.
»Guten Morgen, Manuela …«
»Guten Morgen, Monsieur Olivier …«
Olivier wird zu Olié, und das klingt sehr sanft, sehr warmherzig. Sie geht mit wiegenden Hüften davon, schließt die Tür hinter sich. Im Esszimmer duftet es nach Kaffee, Spiegeleiern und Würstchen, aber über allem liegt der ewige Mief, der überall im Haus hängt, ein Geruch nach Moder, nach feuchtem Holz und Heu, wie man ihm oft auf dem Land begegnet.
»Und?«, drängelt mein Bruder.
Ich wäge meine Worte, aus Furcht, er könnte aufbrausend reagieren, vor allem weil man nie weiß, ob meine Mutter hinter der Tür steht. Sie verbringt ihr Leben in Pantoffeln, ihren ewigen roten Pantoffeln, sie kommt und geht geräuschlos.
»Du solltest achtgeben, Olivier …«
Er errötet und fragt mit herausfordernder Stimme:
»Achtgeben worauf?«
»Letzte Nacht ist etwas geschehen, als du oben warst …«
»Mama?«
Er ist bereits gespannt wie eine Feder.
»Nein … Dein Vater …«
»Was hat Papa getan?«
»Ich glaube, du solltest wissen, dass … Du bist alt genug, um …«
»Was hat er getan?«
»Du warst schon eine Weile oben, als er barfuß aus dem Schlafzimmer kam und ebenfalls hinaufstieg.«
»Wieso? Um an der Tür zu lauschen? Um durchs Schlüsselloch zu gucken vielleicht?«
»Ich glaube nicht, Olivier. Er stand lange auf dem Treppenabsatz, ich denke, er hat es schwer ertragen.«
»Was willst du damit sagen?«
Und da ich nicht sofort antworte, stößt Olivier den Teller mit den Frühstückseiern von sich und springt auf.
»Du willst jetzt nicht behaupten, dass er … dass er … dass …«
Die Worte brennen ihm auf der Zunge.
»Doch.«
»Also wirklich! Das wäre ja noch mal schöner. Als wäre es nicht schon genug, dass wir eine halbverrückte Mutter haben!«
»Pssst!«
Olivier kennt keine Gnade. Er geht mit meiner Mutter hart ins Gericht, besonders wenn sie getrunken hat, und er kennt keine Nachsicht ihr gegenüber. Er hat mir schon öfter anvertraut, dass er große Lust hätte, von hier fortzugehen, alles stehen und liegen zu lassen, wie er sagt, sich ein Zimmer in Paris zu nehmen und, wenn es sein muss, sein Studium durch Arbeit zu finanzieren.
»Andere Studenten arbeiten auch für ihren Lebensunterhalt.«
Er wandert in großen Schritten durch das Esszimmer, ringt um Fassung.
»Was geht ihn das an, wenn Manuela und ich verliebt sind?«
Dabei dreht er sich zu einem Porträt unseres Vaters, das ihn als Leutnant mit dünnem Schnurrbart zeigt.
»Was hat er denn in meinem Alter gemacht? … Vorausgesetzt, er war nicht schon immer so abgestumpft wie jetzt, was mich nicht wundern würde … Ein salbungsvoller … Ein salbungsvoller …«
Er zögert, das Wort auszusprechen, aber es ist stärker als er:
»Ein salbungsvoller Schwachkopf!«
»Beruhige dich, Olivier.«
»Klar, es geht ja nicht um dich. Kümmert er sich etwa darum, was du im Krankenhaus treibst?«
Jetzt werde ich rot und bohre nicht weiter. Es ist in der Tat schwierig, die wahre Persönlichkeit meines Vaters zu fassen. Auch mir kommt er bisweilen vor wie ein Kümmerling, der sich bemüht, ein gutes Bild von sich selbst zu bewahren.
Er hat den Algerienkrieg in einem Büro mitgemacht und lässt stets durchblicken, er sei beim Geheimdienst gewesen. Jetzt arbeitet er im Rang eines Hauptmanns, aber immer in Zivil, in einem Büro am Boulevard Brune, etwa in Höhe des Jules-Noël-Stadions, also nur ein paar hundert Meter entfernt vom Broussais-Krankenhaus.
Sein Arbeitsplatz befindet sich in einem einst herrschaftlichen Gebäude, einem alten Haus, das dem Verteidigungsministerium gehört. Der offizielle Namen seiner Dienststelle lautet »Statistik-Büro«.
Wenn man meinen Vater reden hört, ist er dort mit ultra-geheimen Vorgängen betraut und verfügt über höchst vertrauliche Einblicke in die Spionageabwehr.
Es brauchte einen jungen Mediziner aus dem Broussais-Krankenhaus, damit ich die Wahrheit erfuhr.
»Ich habe in dieser Firma auch einen Onkel. Das sind Leute, die unsere Agenten im Ausland mit Geld versorgen. Sie kennen die Umwege, über die sie ihnen Gelder schicken können, ohne Spuren zu hinterlassen …«
Alles in allem ist mein Vater eine Art Buchhalter oder Kassierer.
Mein Bruder hat aufgehört, hin- und herzugehen, und pflanzt sich vor mir auf.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Keine Ahnung. Ich wollte dich lediglich warnen.«
»Gib zu, dass er lächerlich ist!«
»Er tut mir leid.«
»Und weil er einem leidtun kann, soll ich mich unglücklich machen.«
»Das habe ich nicht gesagt, Olivier. Du könntest sie vielleicht woanders treffen.«
»Mittwochs, meinst du also, denn nur mittwochs hat sie frei und kann ausgehen …«
Ich weiß nicht. Es ist nicht mein Problem. Ich bin einfach nur beunruhigt wegen meines Vaters und mache mir Sorgen um ihn.
Ich hatte recht mit meiner Annahme, unsere Mutter könnte in der Nähe sein. Sie öffnet langsam die Tür, auch sie im Morgenmantel, mit ihren ewigen roten Pantoffeln. Ihr Haar ist noch unfrisiert, ihr Gesicht ein wenig aufgedunsen. Sie sieht uns einen nach dem anderen an.
»Isst du nichts?«, fragt sie Olivier. Er hat seinen Teller kaum angerührt, die Frühstückseier sind inzwischen kalt.
»Keinen Hunger.«
Er antwortet unnötig schroff. Dennoch fügt er wie zu seiner Entschuldigung hinzu:
»Guten Morgen, Mama.«
»Guten Morgen.«
Die Begrüßung gilt uns beiden. Sie scheint mich nicht zu beachten. Sie geht zur Küchentür, öffnet sie und ruft:
»Bringen Sie mir noch einen Kaffee, Manuela …«
Es wäre ihr recht, wenn wir so schnell wie möglich aus dem Haus gingen, damit sie ihren Rotwein trinken kann, wenn sie nicht gar eine Cognac- oder Whiskyflasche im Haus hat. In ihren Novenen kommt es ihr nicht darauf an.
Sie setzt sich, ausgelaugt, antriebslos, und Olivier verkündet:
»Es ist Zeit, ich muss gehen.«
Es stimmt nicht, aber ich verstehe, dass er lieber verschwindet. Ich frühstücke zu Ende und frage mich einmal mehr, ob es andere Familien gibt, die so sind wie wir.
»Was ist los?«
Sie möchte mit mir reden.
»Keine Ahnung. Warum?«
»Ich habe laute Stimmen gehört.«
»Er redet doch immer so laut.«
Sie weiß, dass ich lüge. Es ist ihr egal. Sie sieht mich mit ihren harten und zugleich schmerzvollen kleinen Augen an. Manuela, das blühende Leben, bringt ihr einen Kaffee, und der Gegensatz zwischen den beiden Frauen ist fast tragisch.
»Arbeitest du den ganzen Tag?«
Samstags komme ich manchmal mittags nach Hause. Wenn ich nicht den ganzen Tag Dienst habe. Es hängt davon ab, ob der Professor kommt, dann richte ich es so ein, dass ich bleibe.
»Hast du deinen Vater gesehen?«
»Nein. Er ging hinunter, als ich aufstand, und als ich herunterkam, fuhr er gerade mit seinem Moped fort.«
Warum hat sie mich danach gefragt? Bei ihr ist nichts leeres Gerede. Mit allem, was sie sagt, verfolgt sie ein Ziel, manchmal ist es so gut verborgen, dass man eine Weile braucht, bis man dahinterkommt.
»Entschuldige mich, ich muss mich fertig machen. Sonst komme ich zu spät …«
Ich begnüge mich mit der Dusche, denn es würde zu lange dauern, die Badewanne zu putzen und mir ein Bad einzulassen. Ich schlüpfe in das braune Tweedkostüm, das ich mir für den Herbst gekauft habe, wenngleich ich mir nicht sicher bin, ob es zu meinem Teint passt. Aber ich kann ja nicht das ganze Jahr in Marineblau herumlaufen.
Als ich kurz durch den Türspalt ins Esszimmer blicke, ist meine Mutter nicht mehr da. Sie ist auch nicht in der Küche, wo Manuela ein Lied aus ihrer Heimat trällert. Vermutlich ist sie in den Keller gegangen.
Ich verlasse das Haus durch den Hintereingang und hole mein Moped aus dem Schuppen, in dem auch das Auto parkt. Nach den schweren Regenfällen der letzten drei Tage tropft es noch immer von den Bäumen. Auf dem Weg zu besserem Wetter scheint sich die Natur nur langsam zu erholen. Die Sonne ist noch ganz blass.
Auf der Straße muss ich jedes Mal, wenn ich einem Auto begegne, durch Pfützen fahren.
Unser Haus liegt in Givry-les-Étangs am Waldrand. Es ist mehr eine Villa, aus glasiertem Ziegelstein, der seinen Glanz seit langem verloren hat, mit bunten keramischen Verzierungen, einem verschachtelten Dach und zwei Dachreitern. Sie ist vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von einem Onkel meines Vaters errichtet worden, ebenfalls ein Le Cloanec, der in Madagaskar und später in Gabun Kolonialbeamter war.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat er seinen Rücktritt eingereicht und ist Holzfäller geworden. Innerhalb weniger Jahre konnte er auf diese Weise ein kleines Vermögen ansammeln und damit in Givry-les-Étangs bauen. Es gibt in der Tat nicht weit entfernt von uns zwei Teiche, den versumpften Étang-Vieux und den Grand-Étang, auf dem wir einen alten Kahn haben, in dem immer fauliges Wasser steht.
Ein Stück weiter weg steht ein Nachbarhaus seit mehreren Jahren zum Verkauf. Und in einem dritten wohnt das Ehepaar Rorive, das früher mal einen Milchladen hatte, bis sie sich zur Ruhe setzten.
Man erzählt sich von einer Schwarzen … Denn mein Onkel kam aus Afrika in Begleitung einer prachtvollen schwarzen Frau zurück, und ich bin mir nicht sicher, ob er nicht sogar die Absicht hatte, sie zu heiraten. Ich weiß nicht, wie sie war, denn es gibt kein einziges Foto von ihr, nur ein Porträt meines Onkels, einem gewichtigen, schmerbäuchigen Mann mit Tropenhelm auf dem Kopf.
Wen hat sie auf ihren Streifzügen durch Paris kennengelernt? Jedenfalls kehrte sie eines schönen Abends nicht mehr nach Hause zurück, und es heißt, man habe sie in einem Bordell gesehen, wo sie zur Belegschaft gehört haben soll.
Bruchstücke dieser Geschichte habe ich aufgeschnappt, als eine Schwester meiner Mutter zu Besuch war und ihre Unterhaltung mit der Eintönigkeit eines undichten Wasserhahns dahinrieselte.
Mein Vater erbte das Haus, das den Namen »Die Gladiolen« trägt, dazu eine bescheidene Summe, denn sein Onkel hatte sich sein Geld als Leibrente auszahlen lassen.
Nach Givry-les-Étangs trennen mich nur noch wenige Kilometer von der Verbindungsstraße Saint Cloud–Versailles, wo der Verkehr dichter ist und ich aufpassen muss.
Von dort an fühle ich mich nicht mehr mit dem Haus verbunden, sondern mit dem Broussais-Krankenhaus.
Professor Shimek ist der Chef des Immunologischen Zentrums, ihm unterstehen mehrere Labore. Wir sind gut zwanzig Mitarbeiter unter der Leitung von Mademoiselle Neef, einer alten Jungfer von fünfundfünfzig Jahren, die sich mit Haut und Haar dem Professor verschrieben hat.
Sie kann mich nicht riechen, denn obwohl sie uns nie ertappt hat, weiß sie, dass meine Hingabe nicht platonisch ist wie ihre.
Ich glaube, alle wissen Bescheid, auch wenn meine Beziehung zu Stéphane nach außen hin die einer kleiner Laborantin zu ihrem großen Chef ist. Tagsüber vermeide ich sogar, ihm ins Gesicht zu schauen, aus Furcht, mich zu verraten.
Der arme Ropart war wohl der Erste, der es wusste, denn mit ihm bin ich über ein Jahr lang gelegentlich ausgegangen und für ein oder zwei Stunden in seine Wohnung in der Rue de l’Éperon mitgekommen.
Er ist ein schlauer Bursche, dem die Zukunft gehört. Der Professor schenkt ihm viel Beachtung und überträgt ihm wichtige Forschungsaufgaben. Habe ich daran gedacht, eines Tages Gilles Ropart zu heiraten? Ich bin mir nicht sicher, aber der Gedanke lag nahe, sei es auch nur, weil die Atmosphäre zu Hause unerträglich war, was häufig vorkommt.
Ich wusste immer, dass ich nicht in ihn verliebt war, sondern in den Professor. Er war mehr ein Kamerad, auch wenn unsere Beziehung intim war, aber ich habe dem nicht viel Bedeutung beigemessen. Seit ich im Broussais-Krankenhaus zu arbeiten begann, war ich in Shimek verliebt, aber lange Zeit dachte ich, er sei unzugänglich.
Manche machen sich über ihn lustig, weil er einen ziemlich starken Akzent behalten hat und die Angewohnheit besitzt, Scherze zu machen, die man nicht immer versteht. Es kommt auch vor, dass er mit sich selbst spricht.
Er passt überhaupt nicht in das Bild, das man von einem Chef hat. Er ist nicht salbungsvoll wie mein Vater, und sein sehr lebhaftes Gesicht ist mehr das eines großen Lausbuben, der gerne Schabernack treibt.
Und doch ist er Mitglied in der Académie de médicine und im Gespräch für den Nobelpreis.
Ich habe es immer so eingerichtet, dass ich allein mit ihm war, wenn er abends länger blieb, um eines von unseren Tieren zu sezieren, eine Ratte, einen Hamster, neulich einen Hund. Wir haben über dreißig Tiere im Keller, und die Kranken in den anderen Abteilungen beklagen sich, man könne sie nachts stundenlang heulen hören.
Shimek forscht unbeirrt weiter, und nichts kann ihn von seinem Weg abbringen, denn er ist fest überzeugt, dass es der richtige ist, dass seine Entdeckungen von großer Bedeutung für die Menschheit sein werden.
»Was gibt es, Schätzchen?«
Alle Laborantinnen sind für ihn seine Schätzchen. Und das erleichtert ihm die Sache, denn er hat überhaupt kein Namensgedächtnis, besonders französische Namen kann er sich nicht merken.
»Nichts, Monsieur. Ich dachte nur, ich könnte Ihnen vielleicht helfen.«
»Mir helfen?«
Er hatte einen ironischen Unterton, als ob er mich durchschaut hätte.
»Mir scheint, Sie haben es abends nicht eilig, nach Hause zu gehen.«
»Ich fühle mich eigentlich hier mehr zu Hause.«
»Sieh an! … Da ist doch der große Rotschopf, Ropart, oder? … Gehen Sie nicht mehr mit ihm aus?«
Ich wurde rot, war verlegen, wusste nicht mehr, wohin ich blicken sollte.
Ich glaube nicht, dass er es darauf abgesehen hatte. Ich halte ihn auch nicht für einen Zyniker. Im Gegenteil. Später dachte ich oft, dass er aus Anstand auf diese Weise mit mir sprach, als machte er sich über sich selbst lustig.
War er auf Ropart eifersüchtig gewesen?
»Hat es Streit zwischen Ihnen gegeben?«
»Nein … Wir waren in erster Linie gute Freunde.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Ich treffe mich nicht mehr außerhalb der Arbeit mit ihm.«
»Ist er Ihnen deshalb böse?«
»Bestimmt nicht. Er hat es verstanden.«
Shimek ging sich sorgfältig die Hände waschen, wie es Chirurgen tun, und dabei brummte er etwas in seiner Sprache. Es sah aus, als wäre er unzufrieden. Er wirbelte um mich herum, räumte die Bestecke auf, dann legte er seine Hände auf meine Schultern.
»Verliebt?«
Seine Stimme klang etwas anders, wie belegt.
»Ja«, sagte ich und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Sie wissen, dass ich verheiratet bin?«
»Ja.«
»Und eine Tochter habe, die fast so alt ist wie Sie?«
»Sie ist erst vierzehn.«
»Ich sehe, Sie wissen Bescheid.«
Ich wusste auch, dass er in einer großen Wohnung an der Place Denfert-Rochereau wohnte, mit Blick auf den Löwen von Belfort.
»Was erhoffen Sie sich?«
»Nichts.«
»Das ist so ungefähr alles, was ich Ihnen geben kann. In meiner Lage ist es mir nicht möglich, ein Verhältnis zu haben.«
»Ich weiß.«
Spürte er meine Leidenschaft, meine Verehrung für ihn, die Bedingungslosigkeit meiner Liebe? Ich war kein Kind mehr, das in seinen Lehrer verknallt war. Ich war eine Frau. Außer Ropart hatte ich zwei Liebesabenteuer hinter mir.
»Sie sind ein seltsames Mädchen.«
Daraufhin küsste er mich behutsam zuerst auf die Wangen, dann auf den Mund, während er die Arme um mich schlang.
Wir waren nie in einem richtigen Schlafzimmer zusammen. Wir haben nie in einem Bett miteinander geschlafen, wenn man von dem klappbaren Feldbett absieht, das nur gebraucht wird, wenn jemand Nachtwache halten muss.
Tagsüber behandelt er mich genauso wie die anderen, freundlich, ein wenig väterlich, immer mit einem gewissen Maß an Zerstreutheit.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ihn Menschen wenig interessieren. Er widmet seine Zeit und seine Gesundheit dem Versuch, sie zu heilen, ihnen ein besseres Leben zu verschaffen, doch als Individuen existieren sie für ihn nicht.
Ich habe mich oft gefragt, wie er zu Hause ist, bei seiner Familie oder bei guten Freunden, wenn er welche hat. Er versteht sich gut mit den anderen Chefs aus dem Broussais-Krankenhaus, besonders mit einem Kardiologen, aber ich glaube nicht, dass man es Freundschaft nennen kann.
Ich aber gehöre zu ihm. Er hat sich daran gewöhnt. Es kommt vor, dass er sich eine ganze Woche lang nicht um mich kümmert, obwohl er weiß, dass ich warte, dass ich immer warten werde, egal was er macht.
Aus mir wird einmal eine alte Jungfer. Diese Aussicht missfällt mir nicht, und in ferner Zukunft werde ich vielleicht eines Tages, wenn sie in Rente geht, Mademoiselle Neefs Platz in der Abteilung einnehmen.
Ich glaube, ich bin glücklich. Ich wäre es, wenn es nicht dieses Leben zu Hause gäbe, an das ich lieber nicht denke. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich für meine Mutter lediglich so etwas wie stilles Mitleid empfinde. Und auch mein Vater tut mir leid, doch zugleich werfe ich ihm vor, der Mann zu sein, der er ist.
Wäre meine Mutter eine andere gewesen, wenn er von Anfang an reagiert hätte, statt zu schweigen und den Kopf einzuziehen? Im Büro macht er den anderen vielleicht etwas vor. Auf jeden Fall sich selbst. Er macht sich wichtig, tut salbungsvoll, wie Olivier es nennt, aber lachen seine Mitarbeiter nicht hinter seinem Rücken über ihn?
Er ist ziemlich groß, breitschultrig. Hält sich stocksteif gerade wie ein Offizier, was er auch ist, aber er hat kein Gewicht, keine Substanz.
Ich frage mich, ob andere junge Frauen in meinem Alter über ihre Eltern urteilen. Zu Hause belauern wir uns alle. Nichts entgeht uns, keine Geste, kein Wort, kein kurzes Aufleuchten in den Augen.
»Was hast du?«
»Nichts, Mama.«
Mein Vater dagegen stellt keine Fragen, aber er runzelt seine dichten Brauen. Er hat auch graue Haarbüschel in den Ohren.
»Du solltest sie dir schneiden«, habe ich ihm eines Tages gesagt, als ich das Gefühl hatte, ihm nahe genug zu sein.
Er begnügte sich damit, mich anzuschauen, als hätte ich die schlimmste Dummheit begangen. Ein Mann wie er, mit der Verantwortung, die er trägt, soll sich um die Härchen kümmern, die ihm in den Ohren wachsen?
Und jetzt ist er in Manuela verliebt und wird zum Rivalen seines Sohnes!
Ich will gar nicht daran denken. Ich mache mich an die Arbeit, im kleinsten Labor, wo ich am häufigsten zu tun habe. Samstags um diese Zeit hält der Professor ein Seminar, sein Assistent, Dr. Bertrand, leitet dann die Abteilung.
Auch hier werde ich belauert. Fast ein Jahr lang konnte sich die Nachricht von meiner Beziehung mit dem Professor verbreiten. Ob sie sich fragen, was ich mit meinem reizlosen Gesicht wohl getan habe, um ihn zu verführen?
Oder ist man der Ansicht, dass mein Gesicht ziemlich gut zu dem des alten Clowns passt? Diese Bezeichnung habe ich mehrmals gehört. Es stimmt, sein Gesicht ist faltig, es spielt sich viel auf ihm ab, und er kann seinen Mund so breit ziehen wie ein Zirkusclown.
Was tuschelt man wohl sonst noch so über uns? Ich komme beruflich nicht weiter, erhalte keinerlei Begünstigung. Im Gegenteil, fast scheint Shimek es zu seiner Ehrensache zu machen, mir die unangenehmsten Arbeiten zu übertragen. Es ist seine Art, auf die Leute zu reagieren.
»Du kommst sonst doch nie zu spät. Es ist Viertel nach neun.«
»Ich weiß. Meiner Mutter ging es heute Morgen nicht gut, und die Straßenverhältnisse waren schlecht.«
»Hast du heute Nachmittag Dienst?«
»Ich weiß nicht.«
»Vorhin ist ein Hund gestorben, der noch ein paar Tage leben sollte. Er wird bestimmt wissen wollen, woran es lag.«
In diesem Fall bleibe ich. Ich esse dann in der Kantine, was mir gelegen kommt. Olivier wird mit seinen Freunden weggehen. Nur mein Vater hat keine Ausrede, die es ihm erlauben würde, nicht nach Hause zu kommen, aber er wird dafür sorgen, dass er sich in sein Büro zurückziehen kann, und so tun, als würde er arbeiten.
Alles in allem ergreift jeder von uns die Flucht vor meiner Mutter. Jeder hat außerhalb des Hauses ein anderes Leben, an das er sich klammert, andere Freuden, andere Sorgen.
Nicht sie. Sie nimmt höchstens das Auto, um in Givry-les-Étangs auf den Markt zu gehen und ein- oder zweimal in der Woche im Supermarkt von Versailles einzukaufen. Sie hat vier Schwestern und einen Bruder. Ihr Bruder Fabien, Geschäftsführer der Schokoladenfabrik Chocolats Poulard, wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Versailles. Eine andere Schwester, Blandine, wohnt in Paris, Rue d’Alésia, wo ihr Mann ein Umzugs- und Transportunternehmen führt. Iris, die unverheiratet geblieben ist, hat eine kleine Wohnung an der Place Saint-Georges und verdient ihren Lebensunterhalt als Stenotypistin.
Die Dicke, wie Alberte genannt wird, hat einen bedeutenden Lebensmittelhändler in Straßburg geheiratet, und Marion wohnt in Toulon.
Im Esszimmer hängt ein Foto von meiner Mutter mit ihren Schwestern, wie sie als Kinder einen General in Uniform und seine Frau umringen.
Lange Zeit besuchte uns die eine oder andere Tante zu Hause, aber das kommt immer seltener vor. Meine Cousinen und Cousins kenne ich kaum. Die aus Toulon habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Gedankenverloren arbeite ich im weißen Kittel, eine Haube auf dem Kopf, vor mich hin. Wir sind zwanzig Angestellte, die kommen und gehen, sich über die Reagenzgläser beugen, die kleinen Tiere versorgen, die wir bei ihrem Namen kennen.
Als die Mittagsglocke läutet, kommt es mir vor, als hätte der Arbeitstag gerade erst angefangen. Ich wasche mir die Hände, kämme mich und folge den meisten meiner Kollegen in die Kantine. Dort essen wir zusammen mit den Krankenschwestern aus den anderen Abteilungen, die sich nicht um uns kümmern, denn wir bilden im Krankenhaus eine Welt für sich.
Man erzählt sich, Professor Shimek brauche Pferde für ein Serum und plane deshalb die Umwandlung einer der Garagen in einen Pferdestall. Die Krankenschwestern sind genau wie die Patienten schon jetzt sauer auf uns wegen der Hunde!
»Und jetzt auch noch Pferde im Krankenhaus …«
Keine Ahnung, ob es wahr ist. Es sind immer Gerüchte im Umlauf, besonders über meinen Chef. Niemand zweifelt an seiner Bedeutung, aber man sieht in ihm einen Sonderling, der für seine Forschungen einen Gutteil des Broussais-Krankenhauses opfern würde.
Mein Vater und meine Mutter speisen unter vier Augen im düsteren Esszimmer der Gladiolenvilla. Wird meine Mutter mit ihm sprechen? War sie wach, als er barfuß ins zweite Obergeschoss hinaufschlich und dort lange auf dem Treppenabsatz stehen blieb?
Ich rechne nicht damit, dass sie darauf anspielt, und wenn, dann würde es eine sehr verhaltene Anspielung sein, die ihn beunruhigen würde, ohne ihm die Gewissheit zu geben, dass sie Bescheid weiß.
Olivier wird wie fast immer samstags wahrscheinlich in der Mensa zu Mittag essen. Erzählt er seinen Freunden von Manuela? Hat er das Bedürfnis, sie einzuweihen, oder bewahrt er das Geheimnis seiner großen Liebe für sich?
Ich esse. Ich betrachte die Gesichter. Ich denke nach, und am Ende weiß ich nicht mehr, woran ich eigentlich denke.