Читать книгу Der Grenzgänger - Georges Simenon - Страница 3
Erster Teil 1
ОглавлениеIch habe die Grenze dreimal überschritten, das erste Mal widerrechtlich, gewissermaßen mit Hilfe eines Schmugglers, mindestens einmal auch rechtmäßig, und vermutlich bin ich einer der wenigen, die aus freien Stücken zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind.
Jene Menschen, die den Himalaya bestiegen, einen der Pole erkundet oder die Ozeane in kleinen Booten überquert haben, konnten ihre Erfolge in dicken Büchern ausbreiten. Sie haben allesamt gelogen oder zumindest einiges verschwiegen. Sie beschreiben etwa, welche Schwierigkeiten sie überwinden mussten, aber offenbaren sie auch die wahren Gründe, die tief liegenden Gründe für ihren Aufbruch?
Bei jedem menschlichen Unterfangen gibt es ein Vorher, ein Während und ein Nachher.
Einige haben in aller Ausführlichkeit von ihren Vorbereitungen berichtet. Doch was war davor? Wo liegt die eigentliche Wurzel? Die Wurzel der Wurzel?
Und was folgte darauf, auf den Himalaya, die Pole, den Atlantik oder den Pazifik, auf den von Apparaturen begleiteten Tauchgang zweitausend Meter unter dem Meer, den Aufstieg in die Stratosphäre?
In der angeblich unterworfenen Natur konnte all das nicht einmal den verschwindend geringen Wirbel bewirken, den ein vorbeifliegender Vogel für einen Augenblick in der Luft hinterlässt.
Die Menschen, denen diese Erfolge gelungen sind, hat man ausgezeichnet, gefeiert, von Stadt zu Stadt kutschiert. Sie haben Konferenzen abgehalten, und ich kenne einige, die bis zum Ende ihrer Tage von nichts als demselben unablässig wiederholten Bericht gelebt haben.
Ist es verständlich, was ich meine, wenn ich ihnen vorwerfe, gelogen oder, wenn es beliebt, betrogen zu haben? Das wahre Vorher und das wahre Nachher werden vertuscht, wahrscheinlich weil ihre Geschichten ansonsten nicht mehr derart beflügelnd wären.
Da meine eigene Erkundung, meine dreifache Erkundung, nie dem Zweck der Beflügelung diente, möchte ich von allem berichten: vom Vorher, vom Während, vom Nachher. Ich werde sogar, vielleicht weil ich Unvollständigkeit oder Unaufrichtigkeit fürchte, von Dingen berichten, die keinerlei Belang haben – oder nur für mich. Ebenfalls werde ich versuchen, meine Motive nicht zu verschleiern, auch wenn das am schwersten fällt.
Die Frage nach dem Warum – warum ich mich plötzlich ans Schreiben begebe; ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann. Manch einer wird behaupten, ich wollte Rache üben. Rache woran? Am Schicksal? Bevor ich anfange, möchte ich betonen, dass mir das Schicksal niemals Lasten auferlegt hat, dass ich nie das Gefühl hatte, es erleiden zu müssen, sondern ihm ganz im Gegenteil von Gleich zu Gleich gegenüberstand.
Ich muss mich daher nicht rächen, nicht einmal für meine Abstammung, für die ich dem Schicksal vielmehr danken möchte.
Allem, was ich getan habe, lag eine Entscheidung zugrunde, auch jenen Dingen, auf die ich nicht stolz sein kann.
Ich empfinde keine Bitterkeit, keinen Eifer. Will ich behaupten, dass ich für jene Millionen von Menschen schreibe, die ihrerseits gern die Grenze überschreiten würden, aber noch zögern oder zurückgewiesen wurden?
Einmal habe ich an diese Menschen gedacht, und es ist gut möglich, dass ich mich von dieser Vorstellung habe rühren lassen. Mein Bericht hätte dadurch leicht zu einer Art brüderlichen Botschaft werden können. Ich bin aufrichtig, wie Sie sehen. Es war verlockend. Es erweckte in mir dieselbe vage Zärtlichkeit, die Männer erweichen lässt, wenn sie nach einem Trinkgelage im Chor ein Lied singen.
Aber ich habe nicht getrunken. Ich werde nicht trinken, mich nicht erweichen lassen. Womöglich werden andere den Grund ermitteln, der mich zum Schreiben drängt. Mich interessiert er nicht mehr. In meinen Augen ist das so, wie wenn man eine Flaschenpost ins Meer wirft. Man schaut zu, wie sie sich entfernt, und sobald sie verschwunden ist, kehrt man zurück in seine Einöde.
Für viele Menschen zählen allein der Ausgangspunkt und sein Verhältnis zur Demarkationslinie, also die Frage danach, ob man sich mehr oder weniger diesseits oder jenseits von ihr befindet, und ich gebe zu, dass dies in manchen Fällen einen Einfluss hat. Was mich betrifft – und Gott weiß, wie sehr ich über dieser Frage gegrübelt habe! –, so bin ich mir recht sicher, dass dieser Einfluss, wenn es ihn denn gegeben hat, nicht ausschlaggebend war und dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach an genau demselben Punkt stünde, wenn ich anderswo zur Welt gekommen wäre als in einem Entbindungsheim in Cherbourg.
Ich habe mich durch meine Abstammung nie entwürdigt gefühlt, habe mit ihr sogar recht bald meinen Frieden geschlossen, denn es ist zwar zumeist möglich, von unten her die mittleren und oberen Schichten zu erkunden, hinterhältig oder gewaltsam in sie einzudringen, doch es ist wesentlich schwieriger, sich von oben herab kommend unter die kleinen Leute zu mischen, geschweige denn unter ihnen zu leben.
Ich wurde in Cherbourg geboren, und in Saint-Saturnin, einem finsteren Dorf bei Bayeux, öffneten sich meine Kinderaugen zum ersten Mal.
An dieser Stelle würde es wohl von Ehrlichkeit zeugen, wenn ich eine klare Linie zöge zwischen meinen tatsächlichen Erinnerungen und dem, was durch Erzählungen Einzug in sie gehalten hat, und wenn ich auch Kenntnisse und Überlegungen kennzeichnete, die erst später hinzukamen.
Dazu bin ich jedoch nicht fähig, und nun habe ich meinen Bericht kaum begonnen und ahne bereits, dass mir wohl oder übel eine gewisse Unordnung unterlaufen wird.
Zum Beispiel verspüre ich eine instinktive Notwendigkeit, von Saint-Saturnin zu berichten, von meinen Großeltern also, bevor ich auf Cherbourg und meine Mutter zu sprechen komme, und das erscheint mir auch sinnvoll, denn ich habe Cherbourg im Alter von wenigen Monaten verlassen, meine ersten Bilder sind die des maroden Häuschens am Rande des Dorfes.
Von draußen konnte ein Mann ohne weiteres die Dachtraufe berühren. Die niedrige Tür war doppelschlägig, einer Stalltür ähnlich, der untere Flügel blieb nahezu immer geschlossen, der obere offen, damit Luft und Licht hereindringen konnten, denn das Fenster hatte kaum die Größe einer Luke.
Soeben habe ich errechnet, dass meine Großmutter damals nicht älter war als vierundvierzig, doch in meinen Kinderaugen war sie immer schon eine alte Frau gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals anders gesehen zu haben als schwarz gekleidet, dürr und mager, den Körper vornübergebeugt, als wäre in ihr eine Feder defekt.
Sie hatte fünf Töchter und einen Sohn geboren, die allesamt bereits in die Stadt gezogen waren, abgesehen von der jüngsten Tochter Louise, die bei meiner Geburt vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war.
Von dieser Zeit sehe ich noch immer einige Bilder so deutlich wie Gravuren vor mir, doch da ich nie zurückgekehrt bin, um sie zu bestätigen, kann ich für die Richtigkeit der Details nicht garantieren.
Zum Beispiel erzählte mir später eine meiner Tanten, Louise, im Haus habe ein Küchenofen gestanden. Wenn es diesen allerdings schon in meiner frühsten Kindheit gegeben haben soll, was ich bezweifle, so wurde er nicht benutzt, denn ich sehe noch vor mir, dass sommers wie winters ein offenes Feuer unter einer hängenden Kasserolle den Raum mit Qualm füllte. Ich weiß auch noch, wie meine vornübergebeugte Großmutter dieses Feuer schürte, um darüber Heringe oder Speckschwarten zu räuchern, während meine Augen dem Widerschein der tanzenden Flammen auf den kalkweißen Wänden folgten.
Das Bett meiner Großeltern stand hinten im Raum, darauf lag eine dicke, rote Daunendecke, und es gab nur ein weiteres Zimmer im Haus, das ich mir mit Tante Louise teilte und in dem auch ihre Schwestern oder ihr Bruder schliefen, wenn sie zu Besuch kamen. Soweit ich mich erinnere, gab es nicht genügend Betten für alle. Vermutlich kam es nicht mehr vor, dass sich die gesamte Familie unter einem Dach befand?
Eine weitere Erinnerung, die deutlichste von allen: die Regentonne rechts neben der Tür, die durch ein Zinkrohr das Wasser vom Dach auffing. Nicht nur sehe ich das Bild noch immer vor mir, das stets feuchte Holz, die Wasserläufer und Kaulquappen an der Oberfläche, auch kann ich das eintönige Geräusch des Wassers an regnerischen Tagen und Nächten noch hören.
Wir schöpften das Wasser aus der Tonne, um alles Mögliche zu säubern, das Geschirr, die Wäsche, uns selbst, und neben ihr, an einem rostigen Nagel, hing eine blaue Emaillekaraffe, die wir hineintauchten, wenn wir Durst hatten.
Die Pumpe neben dem Verschlag für Hühner und Kaninchen funktionierte dann und wann bestimmt auch, ich erinnere mich an ihr Knarzen, doch ich bin mir sicher, dass sie die meiste Zeit über trockenlag.
Mein Großvater hieß Nau, Barnabé Nau, und er stammte aus einem anderen Dorf, weit genug weg, sodass seine Familie niemals zur Sprache kam, während in Saint-Saturnin und den umliegenden Orten damals, und zweifellos auch heute noch, einige Prêteux lebten, wie der Name meiner Großmutter lautete. Dass dieser auch schwarz auf weiß über einem Laden in Bayeux zu lesen war, erfüllte sie mit nicht geringem Stolz, wenngleich sie nie sicher war, ob diese Prêteux zu ihrer Familie gehörten.
Eigentlich hätte Tante Louise mit vierzehn Jahren als Kinderfräulein oder als Lehrmädchen in die Stadt ziehen sollen, darüber wurde viel diskutiert; ich glaube aber, dass sie nur zu Hause blieb, um für mich zu sorgen, denn meine Mutter schickte monatlich einen gewissen Betrag für meinen Unterhalt.
Ich werde mir Mühe geben, all das auf den Punkt zu bringen. Bisher taste ich mich nur langsam voran und versuche, meine frühsten Erinnerungen einzufangen. Ich habe von der Feuerstelle berichtet, vom Qualm, von der Haustür, deren oberer Flügel nahezu immer offen blieb, und vor allem von der Regentonne mit dem Zinkrohr und der blauen Emaillekaraffe.
Ich muss auch noch von der Petroleumlampe berichten, die wir meist erst anzündeten, wenn wir draußen auf dem Weg die Schritte unseres Großvaters herannahen hörten.
»Mach die Lampe an, Louise.«
Auf dem Kamin stand eine große Dose Phosphorstreichhölzer, deren Geruch lang in der Luft hing und sich mit dem des Petroleums vermischte. Mein Großvater grüßte nicht und ließ sich in seinen Stuhl fallen, während eine der Frauen, Mutter oder Tochter, sich vor ihn kniete und ihm seine dicken schlammigen Stiefel auszog.
Selbst für die Verhältnisse von Saint-Saturnin standen wir am untersten Ende der Rangordnung, vielleicht zusammen mit Chassigneux, dem einarmigen Briefträger, der gegen Ende seiner Runden meistens schon torkelte und oft aus dem Graben gezogen werden musste.
Barnabé Nau, mein Großvater, von allen Barnabé genannt, tingelte mal hier und mal dort als Tagelöhner über die Höfe. Er arbeitete vor allem als Fuhrmann, und wenn er auf dem Land im Winter keine Anstellung fand, suchte er in Bayeux weiter.
Nahezu alle anderen hatten Menschen um sich, die sowohl höher als auch niedriger gestellt waren, beginnend bei den Handwerkern, tüchtigen, allseits bekannten Leuten, deren Namen auf großen Aushängeschildern standen, der Hufschmied, der Klempner, der Schreiner, der Maurer.
Die Bäckerei und die Fleischerei gehörten bereits zur höheren Stufe, doch mit aufrichtigem Respekt sprach man erst von den Landbesitzern und Viehhändlern, die bei Tagesanbruch im Pferdekarren zum Markt fuhren.
Weiter oben, in einer schemenhaften Sphäre, waren die Bewohner von Bayeux angesiedelt, die Kaufleute, die man einmal wöchentlich oder einmal monatlich aufsuchte, und darunter der namhafteste von allen, der Haushaltswarenhändler in der Rue Saint-Jean, genannt der »reiche Monsieur Peuvion«. Seine Frau schielte. Seine Tochter auch.
Noch eine Ebene weiter oben betrat man eine Welt, in der man gänzlich den Boden unter den Füßen verlor, umgeben von Ärzten, vor allem Fachärzten, die in riesigen Häusern wohnten und sich von Bediensteten in weißen Schürzen umsorgen ließen. Was die Anwälte, Notare und Juristen betraf, so wollte man fast schon den Atem anhalten, wenn man an ihren Kanzleien vorbeiging.
Dies war die konkrete, sichtbare, nahezu greifbare Welt. Doch auf beiden Seiten von Bayeux und seiner ländlichen Umgebung, an beiden Enden der Zugstrecke, gab es zwei Anziehungspunkte, zu denen die jungen Leute nach und nach aufbrachen, um dort zu arbeiten, und wo auch Tante Louise schon längst hingezogen wäre, wenn ihre Schwester sie nicht bezahlt hätte, damit sie für mich sorgt: auf der einen Seite Caen, auf der anderen Cherbourg.
Man ging dorthin, weil man nun einmal irgendwohin gehen musste und Paris zu weit weg lag, zu gefährlich war. Man versuchte dort sein Glück. Eine meiner Tanten, Béatrice, die dickste, geruhsamste, arbeitete in einer Bäckerei in Caen; eine andere, die älteste, Clémence, war in einem bürgerlichen Haushalt in Cherbourg angestellt, wo meine Mutter ihrerseits in einer Hafenkneipe arbeitete.
Für die Männer bedeuteten Caen und Cherbourg zumeist eine Anstellung bei der Eisenbahn oder der Gendarmerie. Im Sommer kehrten sie hin und wieder ins Dorf zurück, um ihre Kinder vorzuzeigen, und von ihnen hieß es, sie seien wohlsituiert.
All dies waren nicht nur eine, sondern mehrere Demarkationslinien, und es gab noch eine letzte, die so unerreichbar weit entfernt lag, dass man nicht einmal von ihr sprach. Im Sommer, wenn es an den Stränden nur so von Menschen wimmelte, sah man zuweilen Pariser in ihren Autos durchs Dorf fahren. Wir sahen sie derart wenig als unsere Mitmenschen, dass wir über ihr Verhalten, ihre Kleidung und ihre Sprechweise lachten.
Nicht nur stand mein Großvater, Barnabé Nau, am untersten Ende der Rangordnung, sondern er war auch ein Trinker, genau wie der Briefträger Chassigneux und einige andere, und darüber hinaus wies er die Besonderheit auf, dass er der einzige Ungläubige auf dem Land war, der Einzige, der nie in die Kirche ging, nicht einmal bei Beerdigungen.
Ich habe ihn zu früh verlassen und daher nicht den Hauch einer Ahnung, was er dachte, und das bedaure ich. Ich erinnere mich vor allem an seinen großen zähen Körper, der nach Schweiß, Stallmist und Alkohol roch, an sein knochiges Gesicht, dessen kleine feuchte Augen sich verhärteten, wann immer er einen Befehl gab.
In seinem Haus nämlich gab er die Befehle, und vielleicht rettete ihm das die Haut. Die Lampe durfte nicht brennen, bevor er um die Kurve geschritten kam, schließlich hatten die Frauen am Feuer genügend Licht, doch es durfte auch nicht stockdunkel sein, wenn er mit seinen Stiefeln über die Türschwelle polterte. Kaum dass ihm diese ausgezogen worden waren, musste auch schon die Suppe serviert werden, und die Frau, die sie auftrug, sei es meine Großmutter oder seine Tochter, hatte neben ihm zu stehen, solange er aß.
Er trank keinen Wein, auch keinen Cidre, sondern Schnaps; in diesem Haus hatte ich nie jemanden von Calvados sprechen hören. Den ersten Schnaps trank er morgens im Kaffee und goss danach noch etwas mehr in seine leere lauwarme Schale. Sein roter Schnurrbart war damit getränkt, und er rauchte nicht, sondern kaute den ganzen Tag lang auf Stroh oder einem Grashalm herum.
Er sprach nicht beim Essen und auch nicht danach; er zog sich sofort aus und legte sich ins Bett, denn er stand um vier Uhr morgens wieder auf.
Sturzbetrunken war er lediglich am Samstagabend. Jeden Samstagabend. Meine Mutter wird behaupten, das sei nicht wahr, das sei nur ein- oder zweimal der Fall gewesen. Ich hingegen bin mir sicher, dass meine Großmutter, wenn Louise nicht da war und sie selbst sich nicht traute, oftmals mich in die Dorfschenke schickte, damit ich meinen Großvater abholte.
War ich drei Jahre alt? Fünf Jahre oder sechs? Älter als sechs sicher nicht, denn in diesem Alter verließ ich Saint-Saturnin.
Jedenfalls kam es immer nur dann vor, wenn es draußen bereits dunkel war, denn ich kann mich nicht erinnern, das Innere der Dorfschenke jemals im Tageslicht gesehen zu haben. Der Weg war nicht gepflastert und von einer dicken Schlammschicht voll tiefer Furchen überzogen, die Räder von Karren hineingegraben hatten. In weiter Ferne, gegenüber der Kirche, flimmerte das einsame Licht von Madame Jaunets Lebensmittelgeschäft. Die Dorfschenke lag auf der linken Seite, fünf Treppenstufen führten zu ihr hinauf, und mein Herz klopfte schnell, wenn ich die Klinke herabdrückte und die Tür einen Spaltbreit öffnete.
In der Mitte des Raums stand ein runder Ofen, dessen Rohr in die Wand führte, und an der Decke hing eine Petroleumlampe mit grünem Schirm.
Ich frage mich, ob dieser Ort mir damals wohl noch geheimnisvoller erschienen war als die Kirche. Hin und wieder nahm mich meine Großmutter heimlich mit zur Messe.
»Das darfst du nicht deinem Großvater verraten!«
Daran erinnere ich mich insbesondere deshalb so gut, weil sie mir hinterher immer einen Keks mit rosa Zuckerguss aus Madame Jaunets Geschäft kaufte. Auch in der Kirche herrschte ein schummriges Licht, darin waren breite, düstere Flecken zu sehen, regungslose Umrisse von alten Frauen, deren Lippen sich still bewegten.
Auf den Bänken in der Dorfschenke saßen immer nur vier oder fünf Gäste, die so alt waren wie mein Großvater, älter noch, die Ellbogen auf einen lackierten Holztisch gestemmt, auf dem sich der Glanz der Gläser und Flaschen widerspiegelte. Alles an ihnen war schwer und erdrückend, ihre Stiefel, ihre vor Schlamm starre Kleidung, ihre Schultern und Gliedmaßen, schwer auch ihre schlecht beleuchteten Gesichter, die ins Nichts blickten und deren leere Augen sich träge in Richtung des Kindes wandten.
Ich versuchte, meine Stimme sicher klingen zu lassen:
»Großmutti sagt …«
Hinter dem Tresen stand kein Mann, sondern eine sehr dicke Frau mit einem immensen Busen, und für einige Zeit dachte ich, dass ihr in dieser Schenke eine ähnliche Rolle zukam wie einem Pfarrer in seiner Kirche.
Was die Männer dort wortlos vor ihren Gläsern taten, war mir ebenso unerklärlich wie das Gebaren der alten Frauen, die regungslos vor dem Beichtstuhl saßen.
»Sag deiner Großmutter …«
Meistens beendete er seinen Gedanken – wenn ihm denn einer durch den Kopf ging – mit einer Geste. Oder er murrte in seinen Schnurrbart:
»Raus hier!«
Halb gehend, halb rennend kehrte ich zurück nach Hause.
»Was hat er gesagt?«
»Gar nichts.«
»Iss deine Suppe.«
Wir wagten es nicht, die Lampe anzuzünden. Wir gaben uns mit dem Glühen des Feuers zufrieden, in das wir Reisig warfen.
»Bring ihn ins Bett, Louise. Und du gehst am besten auch gleich schlafen.«
Damals war Louise mager und trug schwarze Strümpfe, die die Länge ihrer Beine maßlos hervorhoben, ein brauner Zopf fiel ihr über den Rücken, und ein leichter Flaum wuchs auf ihren Wangen und über ihren Augen.
Manchmal hörte ich nachts ein Geräusch, und mindestens einmal, bei Vollmond, sah ich sie durch das Fenster hereinklettern.
Seither wurde mir oft erzählt, dass Kinder unfassbar viele Fragen stellen. Ich allerdings stellte keinerlei Fragen, womöglich, weil das in diesem Haus niemand gewagt hätte, oder schlichtweg deshalb, weil niemand da gewesen wäre, der mir hätte antworten können. Reichte es denn nicht aus, am Leben zu sein?
Von den vier Schwestern und einem Bruder meiner Mutter lebte nur Louise noch zu Hause, und mein Großvater konnte es wohl kaum erwarten, dass auch sie endlich fortging und wie die anderen ihre monatliche Geldanweisung schickte. Er war fest davon überzeugt, dass er seine Aufgabe der Erziehung von sechs Kindern erfüllt und seinen Ruhestand wohlverdient hatte.
Unglücklich war ich nicht. Ich fühlte mich nie unglücklich. Man setzte mich mal hierhin, mal dorthin, bei schlechtem Wetter in eine Ecke des Raums, bei gutem Wetter an die Regentonne oder zu den Kaninchen, und meine Augen folgten dem Lauf der Dinge und der Menschen.
Ich habe nicht genau herausfinden können, warum man mir den Spitznamen Autschi gegeben hatte. Meine Mutter, die mich nur einmal im Monat besuchen kam, behauptet, ich sei ein weinerliches Kind gewesen, das schon beim kleinsten Sturz, beim kleinsten Stoß jammerte und »Autschi« sagte.
Tante Louise ist da anderer Meinung und weiß es besser:
»Also erst mal hast du einen unmöglichen Namen, und Großvater hat sich immer geweigert, den auszusprechen …«
Mein Name lautet Steve Adams, und ich bin, so eigenartig es anmuten mag, britischer Staatsbürger.
»Und wenn ich dachte, dass ich dir wehgetan habe«, erklärte meine Tante, »hab ich dich immer gefragt: ›Autschi?‹«
Das hat meinen Großvater wohl zur Weißglut getrieben.
»Autschi! Autschi! So erzieht man doch keinen Jungen.«
Dieser Spitzname ist mir lang geblieben, so lang, wie ich mit jemandem aus der Familie Nau zusammenlebte.
Für Barnabé, meinen Großvater, kam schließlich der Tag, von dem an er allein mit seiner Frau im Haus in Saint-Saturnin wohnte und nichts mehr zu tun hatte, außer ein paar Kohlköpfe und etwas Lauch zu pflanzen und für seine Kaninchen zu sorgen.
Jeden Sommer kam eine seiner Töchter oder sein Sohn Lucien angereist und brachte ein weiteres Enkelkind mit. Wenn ich mich nicht irre, hatte er insgesamt vierzehn: Einige lebten in Caen, die anderen in Cherbourg, nur Louise hatte sich letztlich in Port-en-Bessin niedergelassen.
Nochmals, ich könnte nicht sagen, was im Kopf meines Großvaters vor sich ging oder ob dort überhaupt etwas vor sich ging, doch ich wüsste es gern. Mit demselben Blick, mit dem er mich auf der Schwelle der Dorfschenke anschaute, betrachtete er seine dickbäuchigen Töchter, seine herausgeputzten Schwiegersöhne, die in Weiß gehüllten Babys.
Eines Sonntags im Winter war meine Großmutter zur Messe gegangen und hatte ihn bei ihrer Rückkehr nicht mehr angetroffen; vergeblich drückte sie die Tür der Dorfschenke auf. Dort saßen nur vier Männer regungslos im Halbdunkel. Barnabé, der Fünfte im Bunde, fehlte.
Mit Hilfe von Laternen suchte man die Wege ab, bis meine Großmutter für die Männer den Schnaps aus dem Werkzeugschuppen holen wollte und dort den großen zähen Körper ihres Gatten vom Gebälk herabhängend vorfand.
Zu diesem Zeitpunkt war ich in der vierten Klasse auf dem Internat in Niort, und mir wurden zwei freie Tage zugestanden, damit ich zur Beerdigung gehen und dort Onkel und Tanten treffen konnte, die ich überhaupt nicht kannte und später nie wieder zu Gesicht bekommen habe.