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ОглавлениеWährend er vom Eingang in Richtung Tresen ging, war die Unterhaltung an den Tischen verstummt, das Stimmengewirr, das eben noch den Raum erfüllt hatte, war plötzlich abgeklungen wie beim Schlussakkord eines Orchesters. Alle waren reglos an ihrem Platz sitzen geblieben und hatten ihm, weder feindselig noch neugierig, nachgeblickt; auf den Gesichtern war kein Ausdruck zu erkennen.
Sobald er die Hand auf den Tresen gelegt und der behaarte Arm des Barkeepers mit einem schmutzigen Lappen vor ihm entlanggewischt hatte, war das Leben wieder zurückgekehrt, und keiner schien sich mehr um ihn zu kümmern.
Das alles hatte ihn verwirrt. Die Bar machte einen völlig anderen Eindruck als die üblichen Bars an der Straße. Es musste ein Dorf in der Nähe sein oder eine kleine Stadt, wahrscheinlich eine Fabrik, denn es waren unterschiedliche Akzente zu hören, und zwei Schwarze lehnten neben ihm am Tresen.
»Was darf’s denn sein, Fremder?«, fragte der Mann hinter der Theke.
Das sollte anscheinend kein Scherz sein. Seine Stimme klang herzlich.
»Rye!«, murmelte Steve.
Diesmal ging es ihm nicht um den stärkeren Schnaps. Er nahm Rye, weil es hier aufgefallen wäre, wenn er Scotch bestellt hätte. Er wollte Nancy nicht zu lang allein lassen. Er durfte aber auch nicht zu schnell zum Wagen zurückgehen, um das, was er durch sein Verhalten erreichen wollte, nicht gleich wieder zu verspielen.
Er staunte selbst über seine Unerbittlichkeit. Fast hätte er sich seines Verhaltens geschämt, wenngleich er im tiefsten Innern überzeugt war, im Recht zu sein und seiner Frau eine Lektion erteilen zu müssen.
Sie war schuld daran, dass er Lokale wie dieses hier fast nie betrat. Er sog gierig den Geruch ein, besah sich die dunkelgrünen Wände mit den alten Farbdrucken und blickte durch die geöffnete Tür in die unaufgeräumte Küche, wo eine Frau, der die grauen Haare ins Gesicht hingen, zwei anderen Frauen und einem Mann zuprostete.
Über dem Tresen hing ein alter Fernseher. Die zittrigen, abgehackten Bilder, die über den riesigen Bildschirm liefen, erinnerten an Stummfilme. Aber niemand schaute hin. Fast überall wurde laut geredet. Der eine Schwarze neben ihm stieß ihn ständig an, wenn er beim Sprechen und Gestikulieren einen Schritt zurücktrat, und entschuldigte sich dann jedes Mal unter großem Gelächter. Am Ecktisch saß eng umschlungen ein nicht mehr ganz jugendliches Liebespaar. Wange an Wange schmiegten sie sich aneinander, unbeweglich wie auf einem Foto, schweigend, den Blick ins Leere gerichtet.
Nancy würde das nie verstehen. Ihm selbst würde es schwerfallen, ihr zu erklären, was es da zu verstehen gab. Sie nahm an, dass er angehalten hatte, um etwas zu trinken. Aber das stimmte nicht ganz, war wieder einmal nur ihre Wahrheit.
Er war ihr nicht böse. Er fragte sich, ob sie weinte, so allein im Wagen, zog eine Dollarnote aus der Tasche und legte sie auf die Bar. Es war Zeit zu gehen. Er war ungefähr fünf Minuten geblieben. Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines etwa vierjährigen Mädchens, das zwischen Besen und Eimern in einem Wandschrank kauerte; er achtete nicht auf den Kommentar, das Bild verschwand, als Nächstes tauchte ein Schaufenster mit zerbrochener Scheibe auf.
Er nahm das Kleingeld und wollte sich gerade umdrehen, als ihm jemand auf die Schulter tippte und langsam sagte:
»Der Nächste geht auf meine Rechnung, mein Lieber!«
Es war der Mann rechts von ihm, den er bisher nicht beachtet hatte. Er war allein, hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt, und als Steve ihn ansah, erwiderte er den Blick geradezu herausfordernd. Er musste viel getrunken haben. Seine Zunge war schwer und seine Bewegungen vorsichtig, als wüsste er, dass er sich auf seinen Gleichgewichtssinn nicht mehr verlassen konnte.
Steve war versucht, mit dem Hinweis auf seine wartende Frau wegzugehen. Der Mann erriet offenbar seine Gedanken, wandte sich an den Wirt hinter der Bar und wies auf ihre beiden leeren Gläser. Der Barkeeper machte Steve ein Zeichen, das so viel heißen sollte wie:
›Das können Sie ruhig annehmen.‹
Vielleicht bedeutete es sogar:
›Das sollten Sie lieber annehmen.‹
Er war keiner von den grölenden Säufern. War er überhaupt ein Säufer? Sein weißes Hemd war so sauber wie das von Steve, das blonde Haar frisch geschnitten, und in dem gebräunten Gesicht kamen die hellblauen Augen besonders zur Geltung.
Er hielt den Blick auf Steve gerichtet und hob sein Glas. Steve hob seines ebenfalls und leerte es in einem Zug.
»Danke, meine Frau …«
Er wagte nicht weiterzureden, wegen des Lächelns, das dem anderen übers Gesicht huschte. Der Mann sah ihm immer noch ins Gesicht und sagte nichts. Man hätte glauben können, dass er alles wusste, dass er ihn so gut kannte wie ein Bruder und ihm seine Gedanken von den Augen ablas.
Er war betrunken, zugegeben, hatte dabei aber die bitter lächelnde Abgeklärtheit eines Menschen, der in Gott weiß welche Regionen höherer Erkenntnis vorgestoßen war.
Steve hatte es eilig, zu Nancy zurückzugehen. Gleichzeitig fürchtete er, diesen Mann zu enttäuschen, den er nicht kannte und der ungefähr sein Alter haben musste.
Der Bar zugewandt sagte er:
»Noch mal das Gleiche!«
Er hätte gern etwas gesagt, wusste aber nicht, worüber er reden sollte. Seinem Nachbarn war das Schweigen nicht unangenehm, und er fixierte ihn zufrieden, als ob sie alte Freunde wären, die sich auch ohne Worte verstehen.
Wie betrunken er war, wurde offensichtlich, als er mit zitternden Händen versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Er merkte es selbst, und sein Blick und die Art, wie er den Mund verzog, sagten ganz klar:
›Ich hab getrunken, ja sicher. Ich bin besoffen. Na und?‹
Es war ein sehr vielsagender Blick, und Steve fühlte sich so unbehaglich, als ob man ihn vor allen Leuten ausgezogen hätte.
›Ich weiß. Deine Frau wartet im Auto. Sie macht dir gleich eine Szene. Na und?‹
Vielleicht hatte der Mann auch erraten, dass Steve Kinder in einem Camp in Maine hatte? Und ein Haus für fünfzehntausend Dollar auf einer Parzelle in Long Island, das er innerhalb von zwölf Jahren abzuzahlen hatte?
Es musste eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen geben, Gemeinsamkeiten, die Steve gerne entdeckt hätte. Aber der Gedanke, dass seine Frau jetzt seit über zehn Minuten, vielleicht einer Viertelstunde auf ihn wartete, versetzte ihn in eine Art Panik.
Er bezahlte seine Runde und streckte dem anderen verlegen die Hand hin, der sie ergriff und ihm so fest in die Augen blickte, als wollte er ihm eine geheime Botschaft übermitteln.
Als Steve zum Ausgang ging, verstummten wieder alle, und er wagte nicht, sich umzudrehen. Er öffnete die Tür und stellte fest, dass es wieder regnete. Er bemerkte, dass unter den parkenden Autos mehrere Lieferwagen waren, schlängelte sich bis zu seinem Wagen durch und blieb wie angewurzelt stehen, als er sah, dass seine Frau nicht drin saß.
Zuerst dachte er, sie sei ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten, und blickte sich nach ihr um. Jetzt fiel kein Gewitterregen mehr, sondern ein feiner, angenehmer und erfrischender Regen.
»Nancy!«, rief er halblaut.
Nirgendwo ein Fußgänger, so weit er die beiden Straßenseiten überblicken konnte. Um ein Haar wäre er in die Bar zurückgegangen, um den Vorfall zu berichten und vielleicht die Polizei anzurufen. Aber als er sich durchs Wagenfenster beugte, fiel sein Blick auf einen Zettel, der auf dem Sitz lag. Nancy hatte ihn aus ihrem Notizbuch gerissen und darauf geschrieben:
Ich fahre mit dem Bus weiter. Gute Reise!
Zum zweiten Mal war er versucht, in die Bar zurückzugehen, diesmal, um sich in Gesellschaft des Unbekannten volllaufen zu lassen. Ein paar Lichter in etwa fünfhundert Meter Entfernung brachten ihn jedoch davon ab: Da war eine Kreuzung, wo zweifellos auch die Busse hielten. In diese Richtung musste seine Frau gegangen sein. Vielleicht hatte er noch Zeit, sie einzuholen?
Er ließ den Motor an und warf beim Fahren suchende Blicke auf den Rand der Straße, die – soweit das bei Nacht zu erkennen war – durch Felder oder Brachland führte.
Er entdeckte niemanden, erreichte die Kreuzung und hielt vor einer Cafeteria an. Von draußen waren die weißgetünchten Wände, ein Metalltresen und zwei oder drei Gäste beim Essen zu sehen.
Er stieß die Tür auf.
»Halten die Busse hier?«
Die Wirtin hatte dunkle Haare und ein gutmütiges Gesicht. Sie war gerade dabei, Hotdogs zu machen.
»Den nach Providence haben Sie gerade eben verpasst«, antwortete sie. »Der ist vor fünf Minuten hier durch.«
»Haben Sie vielleicht eine junge Frau in einem hellen Kostüm gesehen? Womöglich hatte sie auch einen Gabardinemantel an …«
Ihm war plötzlich eingefallen, dass er ihren Mantel nicht mehr im Wagen gesehen hatte.
»Hier ist sie nicht reingekommen.«
Er überlegte nicht lange und stürzte, immer noch in heller Aufregung, wieder hinaus, wobei ihm bewusst war, dass er wie ein Verrückter wirken musste. Rechts zweigte eine Straße ab. Es war die Hauptstraße eines Dorfs mit dem erleuchteten Schaufenster eines Möbelgeschäfts, in dem ein Bett mit blauem Satinüberwurf stand. Ohne auf die Karte zu schauen oder irgendjemanden zu fragen, wo er war, warf er sich wieder in den Wagen, fuhr mit aufheulendem Motor los und brauste auf der nassen Straße davon.
Normalerweise fahren Busse nicht schneller als fünfzig Meilen pro Stunde. Das hatte ihn auf den Gedanken gebracht, den fraglichen Bus einzuholen und ihm bis zur nächsten Haltestelle zu folgen, wo er Nancy bitten wollte, wieder zu ihm ins Auto zu steigen, selbst wenn er ihr dafür das Steuer überlassen musste.
Er hatte unrecht gehabt. Sie hatte auch unrecht gehabt, würde es aber nicht zugeben, und wie immer würde letzten Endes er um Verzeihung bitten. Er machte die Scheibenwischer an und trat aufs Gas. Da die Seitenfenster heruntergekurbelt waren, wehte ihm der Wind in die Haare und fuhr ihm fast eiskalt über den Nacken.
Vielleicht führte er während dieser Minuten hin und wieder Selbstgespräche, den Blick in Erwartung der Schlusslichter des Busses starr auf die Straße geheftet. Er überholte zehn, fünfzehn Wagen, von denen mindestens zwei einen Satz zur Seite machten, als er vorüberrauschte. Dass sein Tacho siebzig zeigte, versetzte ihn in eine Art Fieber, und er wünschte sich beinahe, dass ein Polizist auf dem Motorrad auftauchen und zu einer Verfolgungsjagd ansetzen würde. Er legte sich für diesen Fall eine Geschichte zurecht, in der von seiner Frau die Rede war, die er um jeden Preis einholen musste, und von den Kindern, die in Maine warteten. Hat man unter solchen Umständen nicht das Recht, gegen die Verkehrsregeln zu verstoßen?
Er überquerte zum zweiten Mal eine hellerleuchtete Kreuzung mit Tankstellen rechts und links, an der sich die Straße gabelte. Auf den ersten Blick waren beide Straßen gleichrangig. Er bremste gar nicht ab, um sich zu orientieren, und merkte erst nach etwa fünfzehn Meilen, dass er sich schon wieder verfahren hatte.
Eben noch war er, das hätte er schwören können, in Rhode Island gewesen. Wie und wann war er zurückgefahren? Er verstand es nicht, Tatsache aber war, dass auf den Hinweisschildern die Stadt Putman in Connecticut angegeben war.
Das Wettrennen mit dem Bus lohnte sich nicht mehr. Steve hatte jetzt reichlich Zeit. Sollte Nancy doch wütend sein – er konnte ihr nicht helfen. Sich selbst auch nicht. Ihnen beiden war nicht zu helfen!
Am liebsten wäre er noch einmal in die Bar von vorhin gegangen, aber die wiederzufinden war fast unmöglich. Unterwegs gab es jedenfalls Bars, so viel er nur wollte. Und jetzt, wo er gewissermaßen Junggeselle war, konnte er anhalten, ohne jemandem Rechenschaft darüber ablegen zu müssen.
Schade war nur, dass er nicht mit dem Typ reden konnte, der ihm mit dem Finger auf die Schulter getippt und ihm einen Rye spendiert hatte. Er war nach wie vor überzeugt, dass sie sich gut verstanden hätten. Sie waren nicht nur im selben Alter, sie waren auch ähnlich gebaut und hatten denselben hellen Teint, die gleichen hellen Haare. Sogar die langen, knochigen Finger mit den eckigen Fingerkuppen ähnelten sich.
Er hätte gern gewusst, ob der Mann in einer Stadt aufgewachsen war wie er selbst oder ob er ein Landkind war.
Der andere hatte mehr Erfahrung als er, das musste er zugeben. Bestimmt war er nicht verheiratet, oder falls doch, kümmerte er sich nicht um seine Frau. Wer weiß? Es hätte Steve nicht gewundert, wenn er auch Kinder gehabt hätte, sie aber mitsamt der Mutter sitzengelassen hatte.
Er musste Erfahrungen dieser Art gemacht haben. Jedenfalls verschwendete er keine Mühe darauf, morgens Punkt neun Uhr im Büro zu sein und abends rechtzeitig heimzukommen, damit das Kindermädchen nach Hause gehen konnte.
Wenn Bonnie und Dan nämlich nicht im Camp waren, also den größten Teil des Jahres über, kam nicht etwa Nancy als Erste nach Hause, um sich um die Kinder zu kümmern, sondern er. Weil sie in dem Büro, in dem sie arbeitete, eine Vertrauensstellung hatte, weil sie bei Schwartz & Taylor die rechte Hand von Mr Schwartz war, der morgens gegen zehn oder elf Uhr kam, fast jeden Mittag ein Geschäftsessen hatte und sich erst danach an die Arbeit machte, bis sechs oder sieben Uhr abends.
Hatte der Mann in der Bar das erraten? Stand Steve das auf der Stirn geschrieben? Es hätte ihn nicht gewundert. Wenn man jahrelang so ein Leben führt, muss sich das auf dem Gesicht abzeichnen.
Und der Wagen? Er war auf seinen Namen angemeldet, immerhin, aber abends benutzte seine Frau ihn immer, um nach Scottville zurückzufahren. Natürlich gab es dafür gute Gründe! Da war ihre Position bei Mr Schwartz, die so wichtig war, dass Mr Schwartz sich persönlich zu ihnen bemüht hatte, um Nancy zu überreden, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, als sie nach der Geburt der Kinder auf Steves Drängen ihren Beruf aufgeben wollte.
Steve hingegen hatte um Punkt fünf Uhr Schluss. Er durfte sich in die U-Bahn an der Lexington Avenue stürzen, mal mehr, mal weniger eingekeilt bis Brooklyn fahren, wo er wieder losrannte, um gerade noch den Bus zu erwischen, der am Rande ihrer Siedlung hielt.
Das dauerte insgesamt nicht mehr als fünfundvierzig Minuten. Zu Hause stand dann das schwarze Kindermädchen Ida schon mit dem Hut auf dem Kopf da und wartete. Auch Idas Zeit war offenbar kostbar. Die Zeit aller Leute war kostbar. Nur seine nicht.
»Hallo! Bist du’s? Ich muss heute Abend wieder länger bleiben. Vor sieben bin ich bestimmt nicht zu Hause, vielleicht auch erst um halb acht … Würdest du den Kindern etwas zu essen machen und sie ins Bett bringen?«
Er fuhr jetzt auf einer Straße mit der Nummer sechs, kaum zehn Kilometer von Providence entfernt, und musste abbremsen, weil sich der Verkehr staute. Was mochte all den anderen Männern gerade durch den Kopf gehen, die um ihn herum am Steuer saßen? Die meisten hatten eine Frau neben sich. Bei anderen sah man Kinder, die auf dem Rücksitz schliefen. Er glaubte überall eine dumpfe Wartesaalmüdigkeit zu spüren, und manchmal drang ein Musikfetzen oder die ernste Stimme eines Radiosprechers bis an sein Ohr.
Sein Scheibenwischer lief schon eine ganze Weile, obwohl es nicht mehr nötig war. An der Straße reihten sich jetzt in immer kürzeren Abständen Tankstellen und Restaurants aneinander und bildeten eine fast gleichmäßige Lichterkette, nur ab und zu unterbrochen von ein, zwei Meilen langen schwarzen Löchern.
Er hatte Lust auf ein kaltes Bier. Aber weil ihn jetzt nichts mehr zurückhielt, wollte er sich den richtigen Ort aussuchen, um haltzumachen. Er dachte mit Wehmut an die letzte Bar und hätte gern etwas in derselben Art gefunden. An Lokalen, die zu neu aussahen oder zu elegante Schilder hatten, fuhr er einfach vorbei.
Ein Polizeiwagen mit heulender Sirene überholte ihn, dann ein Rettungswagen und bald ein zweiter. Kurz danach ging es nur noch im Schritttempo voran, bis er an zwei ineinander verkeilten Autos vorbeikam.
Sein Blick fiel auf einen Mann in weißem Hemd, so wie er oder sein Freund aus der Bar, mit wirrem Haar und blutverschmiertem Gesicht, der den Polizisten etwas erklärte und mit ausgestrecktem Arm auf einen Punkt irgendwo im Dunkel wies.
Wie viele Tote hatten die Experten für dieses Wochenende angekündigt? Vierhundertfünfunddreißig. Er erinnerte sich an die Zahl. Also war er nicht betrunken. Außerdem war er siebzig Meilen pro Stunde gefahren – ohne die kleinste Schramme am Wagen.
Wahrscheinlich saß Nancy in ihrem stickigen halbdunklen Bus, in dem die anderen Fahrgäste vom Schlaf überwältigt in den Sitzen hingen, und bereute ihren Entschluss. Sie hatte eine gewisse Abneigung, sich unters Volk zu mischen. Der Geruch nach Menschen und nach Schweiß, der im Bus hing, war ihr bestimmt ebenso unangenehm wie die Vertraulichkeiten ihrer Nachbarn. In der letzten Bar hätte sie sich nicht wohl gefühlt. Womöglich war sie ein wenig versnobt?
Nach dem durch den Unfall verursachten Stau wollte er lieber noch ein oder zwei Meilen hinter sich bringen, bevor er anhielt. Als er dann abbremste, hatte er zwei Lokale zur Auswahl: ein mit Schnörkeln verziertes Gasthaus mit malvenfarbenem Neonschild und gleich daneben, hinter einer zum Parken vorgesehenen Freifläche, ein Holzhaus ohne Obergeschoss im Blockhausstil.
Er entschied sich für Letzteres und dachte auch daran, den Zündschlüssel abzuziehen und das Licht auszuschalten – noch ein Beweis, dass er nicht betrunken war.
Sofort fiel ihm auf, dass die Bar in einem besseren Zustand war als die vorige, und im Innern sah man, dass es sich wirklich um ein Blockhaus handelte – altersgeschwärztes Holz an den Wänden, massive Deckenbalken, Zinn- und Steingutkrüge auf den Wandregalen und eine kleine Waffensammlung mit Gewehren aus der Zeit der Revolution.
Der Wirt war ein kleiner runder Mann mit weißer Schürze und Glatze, der einen leichten deutschen Akzent beibehalten hatte. Es gab einen Zapfhahn für Bier, das in großen Henkelgläsern serviert wurde.
Er stand einen Moment herum, bevor er einen Platz am Tresen bekam, wies dann wortlos auf den Zapfhahn und ließ seinen Blick über die Runde gleiten, als ob er jemanden suchte.
Vielleicht suchte er wirklich jemanden, ganz unbewusst. Hier gab es keinen Fernseher, aber eine gelb und rot leuchtende Musicbox, deren schimmernde Hebel die Platten mit faszinierender Langsamkeit hin- und herbewegten. Währenddessen lief hinter dem Tresen auch noch ein kleines braunes Radio, offenbar einzig und allein zur Unterhaltung des Wirts, der sich zu dem Gerät hinunterbeugte, sobald er einen Moment nichts zu tun hatte.
Steve trank sein Bier in langen Zügen, wie ein durstiger Mann, und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er brauchte nicht lange zu überlegen, ehe er die nächste Bestellung aufgab:
»Einen Rye!«
Das Bier war schal, und er hatte Lust, den öligen Geschmack des irischen Whiskys auf der Zunge zu spüren, von dem ihm jedes Mal übel wurde. Er setzte sich halb auf den Barhocker, die Ellbogen auf den Tresen aufgestützt, und nahm damit genau die Haltung des Unbekannten in der letzten Bar ein.
Er hatte auch blaue Augen, vielleicht etwas weniger hell, und bestimmt genauso breite Schultern. Und unter seinem Hemdsärmel wölbte sich der Bizeps wie bei dem anderen.
Er konnte sich jetzt Zeit lassen mit dem Trinken und hörte mit einem Ohr auf das, was die beiden Männer rechts von ihm redeten. Sie waren betrunken. Alle waren hier mehr oder weniger betrunken, ab und zu kam von irgendwoher lautes Gelächter, oder man hörte ein Glas auf den Boden fallen.
»Ich hab ihm gesagt, dass ich mich nicht für dumm verkaufen lasse mit seinen zwölf Dollar die Tonne, und als er kapiert hat, dass ich nicht scherze, hat er mich groß angeschaut, genau so …«
Tonnen wovon? Steve erfuhr es nicht mehr. Nichts in der weiteren Unterhaltung ließ erahnen, worum es sich handelte, was dem, der zuhörte, auch nicht viel auszumachen schien. Unterdessen versuchte er, ein paar Fetzen von dem mitzukriegen, was im Radio gesagt wurde. Schon wieder Nachrichten. Der Sprecher meldete etliche Unfälle, darunter einen, bei dem ein Baum vom Blitz getroffen worden und auf ein Wagendach gefallen war.
Dann ging es um Politik, aber Steve hörte nicht hin. Plötzlich war ihm danach, seinem Nachbarn zur Linken auf die Schulter zu tippen und ihn anzusprechen, möglichst im selben Tonfall und mit der gleichen undurchdringlichen Miene wie sein Freund aus der letzten Bar:
»Der Nächste geht auf meine Rechnung, mein Lieber!«
Sein Nachbar links war nämlich auch allein. Im Gegensatz zu dem anderen von vorher wirkte er allerdings nicht betrunken, und das Bierglas, das er vor sich hatte, war noch drei viertel voll.
Er war auch ein anderer Typ: dunkelhaarig, mit einem länglichen Gesicht, fahler Haut, braunen Augen und mageren Fingern, deren kräftige Gelenke auffielen, wenn er zwischendurch die Zigarette aus dem Mund nahm.
Als Steve hereingekommen war, hatte er ihm einen kurzen Blick zugeworfen und dann schnell weggesehen. Dann wollte er sich eine neue Zigarette anstecken, musste aber feststellen, dass das Päckchen, das er aus der Tasche zog, leer war. Er entfernte sich einen Augenblick von der Bar und ging zum Zigarettenautomaten hinüber.
Da fielen Steve die sehr groben, schmutzigen Schuhe des Mannes auf, die nach Feldarbeit aussahen und nicht zu der ganzen Erscheinung passten. Er trug weder Schlips noch Jackett, nur ein blaues Baumwollhemd und dunkle Hosen, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurden.
Trotz des Gewichts an seinen Füßen bewegte er sich behände wie eine Katze. Er ging durch den Raum, ohne jemanden zu streifen, und nahm mit der Zigarette im Mundwinkel wieder auf dem Barhocker Platz. Er warf Steve, der gerade den Mund aufmachte, um ihn anzusprechen, einen kurzen Blick zu.
Steve hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Das war seine Nacht, eine Gelegenheit, wie sie sich vielleicht nie wieder ergab. Nancy hatte es so gewollt. Apropos Nancy: Solange er noch einen klaren Kopf hatte, musste er sich fest vornehmen, gegen fünf oder sechs Uhr früh bei den Keanes anzurufen. Um diese Zeit würde seine Frau im Camp angekommen sein. Die Keanes hatten ihnen wie letztes und vorletztes Jahr in einem Bungalow ein Zimmer oder wenigstens ein Bett reserviert, weil am Wochenende vor dem Labor Day weit und breit keine Unterkunft zu finden war, weder in Maine noch anderswo. Es war überall das Gleiche, von einem Ende der Vereinigten Staaten zum anderen.
»Fünfundvierzig Millionen Autofahrer!«, mokierte er sich halblaut, um die Aufmerksamkeit seines Nachbarn auf sich zu lenken.
»Fünfundvierzig Millionen Männer und Frauen, losgelassen auf unsere Straßen!«
Für ihn schien das plötzlich eine echte Erkenntnis zu sein, und er stellte nun allen Ernstes seine Überlegungen an, während er den dunkelhaarigen jungen Mann zu seiner Linken ansah.
»So ein Schauspiel bekommt man in keinem anderen Land der Welt zu sehen! Vierhundertfünfunddreißig Tote bis Montagabend!«
Jetzt gab er endlich seinem Impuls nach und tippte dem Mann sachte auf die Schulter.
»Trinken Sie einen mit mir?«
Der andere wandte sich zu ihm um, gab aber keine Antwort. Doch Steve ging darüber hinweg und rief den über sein winziges Radio gebeugten Wirt herbei.
»Zwei!«, sagte er und streckte zwei Finger in die Höhe.
»Zwei was?«
»Fragen Sie ihn, was er möchte.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Zwei Rye!«, sagte er beharrlich.
Er war nicht gekränkt. In der letzten Bar war er auch nicht darauf eingegangen, als er angesprochen worden war.
»Verheiratet?«
Sein Nachbar hatte keinen Ring am Finger, aber das hatte nichts zu sagen.
»Also ich, ich habe eine Frau und zwei Kinder, ein Mädchen von zehn und einen Jungen von acht. Beide sind in einem Feriencamp.«
Der andere konnte keine Kinder in dem Alter haben, dazu war er zu jung. Er war höchstens drei- oder vierundzwanzig. Wahrscheinlich war er noch nicht einmal verheiratet.
»Aus New York?«
Jetzt kam immerhin eine Reaktion: Der andere schüttelte den Kopf.
»Bist du aus der Gegend hier? Providence? Boston?«
Der andere machte eine vage Geste, die alles bedeuten konnte.
»Das Verrückteste ist, dass ich Rye eigentlich überhaupt nicht mag. Magst du Rye? Ich möchte mal wissen, ob es Leute gibt, die ihn wirklich mögen.«
Er hatte gerade sein Glas geleert und wies auf das des anderen, der seines nicht angerührt hatte.
»Du willst keinen? Macht nichts. Wir sind in einem freien Land! Ich nehm es dir nicht übel. Vielleicht würde ich an einem anderen Abend auch nichts trinken, selbst wenn ich noch was dazubekäme. Aber heute Abend bleibe ich beim Rye. Das ist nun mal so. Und im Grunde ist es die Schuld meiner Frau.«
Von einem Mann, der so daherredete wie er jetzt, hätte er sich unter normalen Umständen ferngehalten. Das wurde ihm zwischendurch ein paarmal blitzartig klar, und er schämte sich deswegen.
Dann fiel ihm jedoch wieder ein, dass dies die Nacht seines Lebens war, und das musste er seinem Nachbarn mit den abgespannten Gesichtszügen unbedingt erklären.
Vielleicht hatte er auch eine Krankheit und trank deswegen nicht viel? Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, und ein nervöses Zucken seiner Unterlippe versetzte der Zigarette im Mundwinkel immer wieder einen kleinen Stoß. Steve fragte sich sogar, ob er Rauschgift nahm.
Das hätte ihn enttäuscht. Drogen aller Art, ob Haschisch oder Heroin, flößten ihm Angst ein. Bei Louis beobachtete er immer mit einer Mischung aus Verlegenheit und Entsetzen eine sehr junge hübsche Frau, die als Modell arbeitete und angeblich drogensüchtig war.
»Wenn du nicht verheiratet bist, hast du dir die Frage vielleicht noch nie gestellt. Dabei ist sie sehr wichtig. Man redet über alles Mögliche, was man für bedeutend hält, traut sich aber nicht, das Eigentliche anzusprechen. Nimm den Fall meiner Frau. Hab ich recht oder etwa nicht …?«
Er hatte nicht den richtigen Ansatz gefunden und den Faden verloren. Außerdem hatte er nicht das Wesentliche zum Ausdruck gebracht. Es hatte etwas mit Frauen zu tun, zugegeben, aber nur indirekt. Was er auszudrücken versuchte, war kompliziert und so tiefsinnig, dass er die Hoffnung aufgab.
Manchmal kamen ihm zehn Sätze gleichzeitig auf die Lippen, er hatte zehn Gedanken auf einmal, die alle auch ihren Platz in seiner Argumentation hatten. Aber sobald er ein paar Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er sich etwas schier Unmögliches vorgenommen hatte.
Das entmutigte ihn.
»Noch mal dasselbe, Chef!«
Er war einem Wutausbruch nahe, als er sah, dass der Wirt sich überlegte, ob er ihm nachschenken sollte.
»Sehe ich etwa so aus, als wäre ich betrunken, oder wie jemand, der Rabatz machen will? Ich rede ganz ruhig mit dem jungen Mann hier, ich bin nicht laut …«
Er bekam seinen Schnaps und lachte befriedigt auf.
»Na also! Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei den Frauen und der Straße. Das ist der springende Punkt. Merk dir das. Einerseits die Frauen, andererseits die Straße, verstehst du? Denn die Damen bleiben immer schön auf den Schienen. Sie wissen eben, wo’s langgeht. Schon als kleine Mädchen wissen sie, wo sie einmal ankommen wollen, und wenn man ihnen abends auf dem Heimweg einen Kuss gibt, denken sie schon ans Hochzeitskleid. Stimmt’s vielleicht nicht?
Übrigens, ich will da gar nichts miesmachen. Das ist ganz einfach naturgegeben.
Die Frauen und die Schienen.
Die Männer und die Straße.
Denn die Männer haben, egal, was sie tun, hier drin ein …«
Er schlug sich voller Überzeugung gegen die Brust und verhedderte sich vollends in den Windungen seiner Argumentation. Ihm wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen.
»Die Männer …«, wiederholte er angestrengt.
Er hätte gern erklärt, was Männer brauchten und was ihnen verwehrt blieb. Und gerade das war so schwierig. Es ging gar nicht darum, eine bestimmte Menge Rye zu trinken, wie Nancy ironisch gesagt hätte. Der Rye hatte keinerlei Bedeutung. In einer Nacht wie dieser, einer denkwürdigen Nacht, in der fünfundvierzig Millionen Autofahrer auf den Straßen dahinrollten, kam es darauf an, zu verstehen. Und um zu verstehen, muss man unbedingt runter von den Schienen.
So wie vorhin, als er die andere Bar betreten hatte! Wo sonst hätte er einen Mann wie den treffen können, den er dort kennengelernt und mit dem er sich ohne Worte verstanden hatte? In seinem Büro bestimmt nicht. Auch in seinem Büro, bei World Travellers, wurden Meilen verkauft – Flugmeilen. Flugreisen in der Luxusklasse, Tickets nach London, Paris, Rom und Kairo. An jeden Ort auf der Welt. Und jeder Kunde hatte es eilig. Für jeden war es unerlässlich und von allergrößter Wichtigkeit, sofort abfliegen zu können. Bei Schwartz & Taylor auch nicht. Dort verkauften sie Werbung, Magazinseiten, Minuten im Radio oder Fernsehen und Plakatflächen am Straßenrand.
Noch nicht einmal bei Louis, wo um fünf Uhr Gäste seines Schlags ankamen, um sich mit einem trockenen Martini aufzumöbeln.
Er hatte plötzlich Lust auf einen Martini, war aber sicher, dass der Wirt ihm das abschlagen würde, und er wollte vor seinem neuen Freund keine Abfuhr einstecken.
»Es gibt eben die Leute, die sie verlassen, und die anderen, die’s nicht schaffen. Punkt, Schluss!«
Er war immer noch bei den Schienen. Auf Genauigkeit legte er keinen Wert mehr. Zwischendurch verschluckte er manchmal ein Wort, das schwer auszusprechen war.
»Also ich habe sie heute Nacht verlassen.«
Sein Freund aus der letzten Bar hatte sie vermutlich für immer verlassen. Vielleicht auch der Mann, der mit der Hand vor der Sprechmuschel in der ersten Bar seine mysteriöse telefonische Mitteilung durchgegeben hatte.
Und dieser hier? Steve hätte ihm zu gern diese Frage gestellt und zwinkerte ihm aufmunternd zu, damit er etwas von sich erzählte. Er war kein Büromensch, arbeitete aber auch nicht auf einem Bauernhof, das war ihm trotz seiner groben Schuhe anzusehen. Vielleicht eine Art Landstreicher, der ohne Geld in der Tasche Autostopp machte? Ob ihm klar war, dass er sich deswegen nicht zu schämen brauchte? Im Gegenteil!
»Morgen sehe ich die Kinder wieder.«
Dabei wurde er auf einmal rührselig, seine Kehle schnürte sich zu, er hatte plötzlich das Gefühl, Bonnie und Dan zu verraten. Er versuchte sie im Geist vor sich zu sehen, hatte aber nur ein undeutliches Bild vor Augen und zog seine Brieftasche hervor, um die Fotos anzuschauen, die er immer bei sich trug.
Er hatte etwas anderes sagen wollen. Er liebte seine Kinder, und was er für sie tat, war ihm nicht zu viel. Aber was er jetzt verbissen zu erklären versuchte, das war, dass er ein Mann war und dass …
Er griff in seine Brieftasche, um unter dem Führerschein die Fotos hervorzuziehen, und hielt gerade den Kopf gesenkt, als sein Nachbar ein Geldstück auf den Tresen legte und zur Tür ging. Das geschah so unvermittelt und in einer solch fließenden Bewegung, dass er einen Augenblick lang nicht begriff, was los war.
»Ist er gegangen?«, fragte er den Wirt.
»Gott sei Dank!«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein! Und ich möchte ihn auch bestimmt nicht kennenlernen.«
Er war schockiert, dass selbst der Eigentümer einer Bar wie dieser auf den Schienen bleiben wollte. Im Übrigen hatte Steve getrunken und nicht der andere – der hatte nicht einmal sein Bierglas geleert. Trotzdem wurde Steve ein gewisser Respekt entgegengebracht; wahrscheinlich stand es ihm ins Gesicht geschrieben, dass er eine gesicherte Existenz und gute Manieren hatte.
»Sind das Ihre Kinder?«, fragte der Wirt.
»Ja, mein Sohn und meine Tochter.«
»Holen Sie sie aus den Ferien ab? Waren sie auf dem Land?«
»In Walla-Walla in Maine. Dort sind zwei Camps gleich nebeneinander. Eins für Jungen und eins für Mädchen. Mrs Keane kümmert sich um die Mädchen, und Hector, ihr Mann, der wie ein alter Pfadfinder aussieht …«
Der Wirt hörte ihm gar nicht zu, sondern interessierte sich viel mehr für eine Radiomeldung, die er mit gerunzelter Stirn verfolgte. In der Hoffnung auf einen besseren Empfang spielte er an den Knöpfen und blickte dabei wütend zu der alles übertönenden Musicbox hinüber.
»… der auf ungeklärte Weise nacheinander drei Polizeisperren ausweichen konnte. Gegen elf Uhr ist er in einem gestohlenen Fahrzeug auf der Straße Nummer zwei gesehen worden, wo er in Richtung Norden fuhr …«
»Wer ist das?«, fragte er.
Die Durchsage ging weiter:
»… höchste Vorsicht geboten. Der Mann ist bewaffnet.«
Und dann:
»Die nächsten Nachrichten hören Sie um zwei Uhr.«
Musik.
»Wer ist das?«
»Der Typ, der aus Sing-Sing ausgebrochen ist und die Kleine im Wandschrank eingeschlossen hat, mit einer Tafel Schokolade.«
»Welche Kleine?«
»Die Tochter des Farmers von Croton Lake.«
Der Wirt hatte eine besorgte Miene aufgesetzt. Er kümmerte sich nicht mehr um ihn und sah sich nach einem nüchterneren Gesprächspartner um. Er wandte sich zu dem Ecktisch, wo zwei Männer und zwei Frauen beim Bier saßen, ältere Leute, die wie Bauunternehmer aussahen.
Wegen der Musik verstand Steve nicht, worüber sie redeten. Er sah, wie sie auf den leeren Sitz neben dem seinen deuteten, und die eine Frau, die neben dem Zigarettenautomaten saß, schien sich plötzlich an etwas zu erinnern. Der Wirt nickte bei ihren Ausführungen mit dem Kopf, blickte unschlüssig auf das Wandtelefon und ging schließlich auf Steve Hogan zu.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Was soll mir aufgefallen sein?«
»Haben Sie gesehen, ob er eine Tätowierung am Handgelenk hatte?«
Steve konnte nicht folgen. Er versuchte zu begreifen, was man von ihm wollte.
»Wer?«
»Der Typ, dem Sie vorhin einen Drink spendiert haben.«
»Er wollte ja nicht. Das kann man ihm nicht übelnehmen.«
Da zuckte der Wirt die Achseln und warf ihm einen Blick zu, der ihm gar nicht gefiel. Jetzt, wo er niemanden mehr zum Reden hatte und nichts mehr zu trinken bekommen würde, konnte er das Lokal auch verlassen.
Er legte einen Fünfdollarschein auf die Theke, direkt in eine Lache, stand schwankend auf und sagte:
»Da, bedienen Sie sich!«
Gleichzeitig vergewisserte er sich, dass ihn keiner schief ansah, denn das hätte er sich nicht gefallen lassen.