Читать книгу Maigret und der Mann auf der Bank - Georges Simenon - Страница 3

1 Die gelben Schuhe

Оглавление

Maigret konnte sich das Datum leicht merken, denn es war der Geburtstag seiner Schwägerin, der 19. Oktober. Außerdem war es ein Montag, auch daran musste er denken, denn montags bringen sich die Leute selten gegenseitig um, wie man am Quai des Orfèvres wusste. Und schließlich war es die erste Ermittlung in diesem Jahr, die schon ein wenig nach Winter schmeckte.

Den ganzen Sonntag war ein feiner, kühler Regen gefallen. Die Dächer und das Pflaster glänzten schwarz vor Nässe, und durch die Fensterritzen schien ein gelblicher Nebel hereinzudringen, sodass Madame Maigret gesagt hatte:

»Es wird Zeit, dass ich die Fenster abdichten lasse.«

Seit mindestens fünf Jahren versprach Maigret in jedem Herbst, »am nächsten Sonntag« die Dichtungen anzubringen.

»Du solltest lieber deinen dicken Mantel anziehen.«

»Wo ist er?«

»Ich hole ihn dir.«

Um halb neun am Morgen brannte noch Licht in den Wohnungen. Maigrets Mantel roch nach Mottenpulver.

Es hatte zwar tagsüber nicht mehr geregnet, aber die Luft war noch feucht, sodass das Pflaster nicht trocknen konnte und sich besonders dort, wo viele Menschen gingen, ein dunkler Film gebildet hatte. Gegen vier Uhr nachmittags, kurz vor Anbruch der Dämmerung, legte sich derselbe gelbliche Nebel wie am Morgen auf Paris und umhüllte den Schein der Straßenlaternen und Schaufenster.

Weder Lucas noch Janvier noch der kleine Lapointe waren im Büro gewesen, als das Telefon geklingelt hatte. Santoni, ein Korse, der nach zehn Jahren im Glücksspiel- und im Sittendezernat neu in der Abteilung war, hatte abgehoben.

»Chef, für Sie. Es ist Inspektor Neveu aus dem 3. Arrondissement. Er möchte Sie persönlich sprechen. Scheint dringend zu sein.«

Maigret hatte den Hörer entgegengenommen:

»Was gibt’s, mein Lieber?«

»Ich rufe aus einem Bistro am Boulevard Saint-Martin an. Hier wurde eben ein Mann tot aufgefunden. Erstochen.«

»Auf dem Boulevard?«

»Nein, nicht direkt. In einer Art Sackgasse.«

Neveu, ein alter Hase in seinem Beruf, hatte sofort erraten, was Maigret dachte. Messerstechereien, vor allem in einem Arbeiterviertel, waren selten interessant. Oft handelte es sich um eine Schlägerei zwischen Betrunkenen oder um eine Abrechnung zwischen Leuten aus dem Milieu, Spaniern oder Nordafrikanern.

Neveu beeilte sich deshalb hinzuzufügen:

»Die Sache erscheint mir merkwürdig. Am besten, Sie kommen vorbei. Es ist zwischen dem großen Juweliergeschäft und dem Geschäft für Kunstblumen.«

»Ich komme.«

Zum ersten Mal nahm der Kommissar in dem kleinen schwarzen Auto der Kriminalpolizei Santoni mit, und der starke Parfumgeruch, den der Inspektor verströmte, störte ihn. Santoni war klein und trug Schuhe mit ziemlich hohen Absätzen. Sein Haar glänzte pomadig, und am Ringfinger funkelte ein großer, wahrscheinlich falscher Diamant.

Die Fußgänger waren im Dunkel nur schemenhaft zu erkennen, ihre Schritte klackten auf dem Asphalt. Etwa dreißig Menschen hatten sich am Boulevard Saint-Martin auf dem Gehweg versammelt. Zwei Polizisten in Pelerinen hinderten sie am Weitergehen. Neveu, der schon wartete, öffnete den Wagenschlag.

»Ich habe den Arzt gebeten hierzubleiben, bis Sie kommen.«

Zu dieser Tageszeit herrschte auf dem belebten Teil der Grands Boulevards der meiste Verkehr. Die große Uhr mit dem Leuchtzifferblatt über dem Juweliergeschäft zeigte zwanzig nach fünf. Das Kunstblumengeschäft hingegen hatte nur ein Schaufenster und war schlecht beleuchtet, wirkte trübe und verstaubt. Man fragte sich, ob jemals jemand dort eintrat.

Zwischen den beiden Geschäften lag eine Sackgasse, so schmal, dass sie kaum auffiel. Es war nur ein unbeleuchteter Durchgang zwischen den Hauswänden und führte wahrscheinlich in einen Hof, von denen es in dem Viertel viele gab.

Neveu bahnte einen Weg für Maigret. Drei oder vier Meter entfernt im Dunkel der Sackgasse standen einige Männer und warteten. Zwei von ihnen hatten Taschenlampen dabei. Erst aus der Nähe konnte man die Gesichter erkennen.

Es war kälter und feuchter als auf dem Boulevard, und es herrschte ein permanenter Luftzug. Ein Hund, der sich nicht verscheuchen ließ, schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch.

Vor der feuchten Hauswand lag ein Mensch der Länge nach auf dem Bauch. Der eine Arm war unter ihm, während der andere ausgestreckt mit der blassen Hand den Durchgang fast versperrte.

»Tot?«

Der Arzt aus dem Viertel nickte:

»Er muss sofort tot gewesen sein.«

Wie um diese Worte zu unterstreichen, glitt der Lichtkreis einer Taschenlampe über die Leiche und hob das Messer, das noch im Rücken steckte, auf unheimliche Weise hervor. Die andere Lampe beleuchtete ein Halbprofil, ein offenes Auge, eine Wange, die sich das Opfer beim Fallen aufgeschürft hatte.

»Wer hat ihn entdeckt?«

Einer der Polizisten in Uniform schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben und trat vor. Seine Züge waren kaum zu erkennen. Er war jung und etwas aufgeregt.

»Ich habe meine Runde gemacht. Dabei werfe ich gewöhnlich einen Blick in alle Sackgassen. Es gibt ja immer Leute, die im Dunkeln irgendwelche Schweinereien treiben. Und da sah ich eine Gestalt auf der Erde liegen. Im ersten Moment dachte ich, es ist ein Betrunkener.«

»War er schon tot?«

»Ja, ich glaube schon. Aber der Körper war noch warm.«

»Um welche Zeit war das?«

»Viertel vor fünf. Ich habe nach einem Kollegen gepfiffen und dann sofort die Wache angerufen.«

Neveu fiel ihm ins Wort:

»Ich habe den Anruf entgegengenommen und mich gleich auf den Weg gemacht.«

Das Polizeikommissariat des Viertels lag einen Katzensprung entfernt, in der Rue Notre-Dame de Nazareth.

»Ich habe dem Kollegen gesagt, er soll den Arzt benachrichtigen«, fuhr Neveu fort.

»Hat irgendjemand etwas gehört?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Ein Stück weiter hinauf in der Gasse war eine Tür zu erkennen, schwach beleuchtet von einer Lampe darüber.

»Wohin führt diese Tür?«

»Ins Büro des Juweliers. Sie wird nur selten benutzt.«

Die Leute vom Erkennungsdienst, die Maigret noch benachrichtigt hatte, bevor er am Quai des Orfèvres aufgebrochen war, erschienen mit ihren Fotoapparaten und Gerätschaften. Wie alle Techniker kümmerten sie sich nur um ihre Aufgabe und stellten keine Fragen. Ihre einzige Sorge war, wie sie in dem engen Gang arbeiten sollten.

»Was befindet sich dahinten im Hof?«, fragte Maigret.

»Nichts. Mauern. Eine Tür, schon seit Langem abgesperrt. Sie führt zu einem Haus in der Rue Meslay.«

Offensichtlich war der Mann nach ein paar Schritten in die Gasse von hinten erstochen worden. Jemand musste ihm leise gefolgt sein, und die Passanten, die der Menschenstrom auf dem Boulevard vorübertrieb, hatten nichts bemerkt.

»Ich habe diese Brieftasche bei ihm gefunden.«

Neveu reichte sie Maigret. Einer der Männer vom Erkennungsdienst leuchtete sofort unaufgefordert mit seiner Taschenlampe darauf. Ihr Licht war viel stärker als das des Inspektors.

Die Brieftasche war nicht bemerkenswert, weder neu noch stark abgenutzt, und von guter Qualität. Sie enthielt drei Tausendfranc- und einige Hundertfrancscheine sowie einen Personalausweis, ausgestellt auf Louis Thouret, Lagerverwalter, Juvisy, Rue des Peupliers 37. Außerdem befanden sich darin ein Wahlschein mit demselben Namen, ein Blatt Papier, auf dem fünf oder sechs mit Bleistift geschriebene Worte standen, und das sehr alte Foto eines kleinen Mädchens.

»Können wir anfangen?«

Maigret nickte. Blitzlicht flammte auf, der Auslöser klickte. Immer mehr Menschen versammelten sich vor dem Eingang zur Gasse, und die Polizei hatte Mühe, sie in Schach zu halten.

Nachdem die Aufnahmen gemacht waren, zogen die Leute vom Erkennungsdienst behutsam das Messer heraus, legten es in eine spezielle Schachtel und drehten die Leiche um. Man erkannte das Gesicht eines Mannes zwischen vierzig und fünfzig, in dem sich nichts als das pure Erstaunen spiegelte.

Er hatte nicht begriffen, was mit ihm geschah, und er war gestorben, ohne es zu begreifen. Die Überraschung in seinem Gesicht hatte etwas so Kindliches, so wenig Tragisches, dass einer der Männer dort im Dunkel unwillkürlich auflachen musste.

Der Tote war sauber und anständig gekleidet. Er trug einen dunklen Anzug, einen beigefarbenen Übergangsmantel und an seinen seltsam verrenkten Füßen gelbe Schuhe, die schlecht zur Stimmung dieses Tages passten.

Bis auf die Schuhe wirkte er so unauffällig, dass ihn niemand auf der Straße oder einer der zahlreichen Terrassen am Boulevard beachtet hätte. Der Polizist, der ihn gefunden hatte, sagte allerdings:

»Ich habe ihn schon einmal gesehen.«

»Wo?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber das Gesicht ist mir irgendwie vertraut. Einer der Menschen, die einem täglich begegnen, die man aber nicht weiter beachtet.«

Neveu stimmte zu:

»Mir kommt er auch bekannt vor. Wahrscheinlich hat er hier im Viertel gearbeitet.«

Aber das erklärte nicht, was Louis Thouret in dieser Gasse, die nirgendwohin führte, gewollt hatte. Maigret wandte sich an Santoni, weil dieser lange bei der Sitte gewesen war. Es gibt nämlich vor allem in diesem Viertel eine ganze Reihe von Sonderlingen, die allen Grund haben, sich abseitszuhalten. Manchmal sind es Leute, die eine wichtige Position bekleiden. Von Zeit zu Zeit ertappt man sie, doch kaum sind sie frei, fangen sie wieder von vorn an.

Aber Santoni schüttelte den Kopf.

»Nie gesehen.«

Daraufhin sagte Maigret entschieden:

»Gut, machen Sie weiter, Messieurs. Wenn Sie fertig sind, soll er ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht werden.«

Und zu Santoni:

»Wir statten seiner Familie einen Besuch ab, falls er eine hat.«

Wäre es eine Stunde später gewesen, hätte er sich vermutlich nicht selbst nach Juvisy begeben. Aber nun hatte er den Wagen noch zur Verfügung. Zudem weckte gerade die besondere Banalität dieses Mannes und auch sein Beruf Maigrets Neugier.

»Nach Juvisy.«

Sie hielten für einen Moment bei der Porte d’Italie, um in einem Bistro schnell ein Bier zu trinken. Dann ging es auf die Landstraße, mit den Lichtern der Scheinwerfer und den schweren Lastwagen, die sie einen nach dem anderen überholten.

In Juvisy schließlich erkundigten sie sich am Bahnhof nach der Rue des Peupliers. Sie mussten fünf Personen fragen, bevor sie die richtige Auskunft erhielten.

»Die ist dahinten, in der Siedlung. Sie müssen auf die Schilder achten. Die Straßen sehen alle gleich aus. Sie sind nach Bäumen benannt.«

Sie fuhren an dem riesigen Rangierbahnhof vorbei, wo unaufhörlich lange Züge von einem aufs andere Gleis verschoben wurden. Zwanzig Lokomotiven stießen Dampf aus, pfiffen und keuchten. Die Waggons knallten dumpf aneinander. Zur Rechten erstreckte sich ein neues Viertel, ein Gitternetz aus ganz geraden Straßen, die von elektrischen Lampen beleuchtet waren. Hunderte, vielleicht Tausende kleiner Häuser standen dort, alle gleich groß, alle in derselben Bauweise. Die gewichtigen Bäume, nach denen die Straßen benannt waren, waren noch nicht herangewachsen, die Gehwege stellenweise nicht gepflastert. Überall sah man dunkle Löcher und hier und da unbebautes Gelände, während sich anderswo kleine Gärten zeigten, in denen letzte Blumen verblühten.

Rue des Chênes … Rue des Lilas … Rue des Hêtres … Eiche, Flieder, Buche … Vielleicht würde die Gegend eines Tages wie ein großer Park aussehen, wenn die billig gebauten Häuser, die aus einem Baukasten zu stammen schienen, nicht schon verfielen, bevor die Bäume ihre normale Größe erreicht hatten.

Hinter den Küchenfenstern bereiteten Frauen das Abendessen vor. Die Straßen waren verlassen. Nur hier und da gab es Geschäfte, aber auch die wirkten sehr neu und wie von Amateuren betrieben.

»Biege hier mal links ab.«

Sie fuhren zehn Minuten im Kreis herum, bis sie auf einem blauen Straßenschild den gesuchten Namen lasen. Dann verpassten sie zunächst die Nummer 37, denn sie folgte gleich auf Nummer 21. Nur im Erdgeschoss brannte Licht. Es war die Küche. Hinter der Gardine sah man eine recht stattliche Frau hin und her gehen.

»Also los«, seufzte Maigret und zwängte sich nicht ohne Mühe aus dem kleinen Auto.

Er klopfte seine Pfeife am Schuhabsatz aus. Als er den Gehweg überquerte, bewegte sich die Gardine, und das Gesicht einer Frau tauchte am Fenster auf. Sie schien es nicht gewohnt zu sein, dass bei ihr gleich gegenüber ein Auto hielt. Maigret stieg die drei Stufen hinauf. Die Tür war aus lackiertem Pitchpineholz und hatte zwei schmiedeeisern vergitterte Fenster aus dunkelblauem Glas. Er suchte noch nach dem Klingelknopf, als von drinnen jemand rief:

»Wer ist da?«

»Madame Thouret?«

»Das bin ich.«

»Ich möchte Sie sprechen.«

Sie zögerte noch, zu öffnen.

»Polizei«, fügte Maigret halblaut hinzu.

Daraufhin löste sie die Kette und entriegelte die Tür. Durch einen Spalt, der nur einen Teil ihres Gesichts erkennen ließ, musterte sie die beiden Männer, die auf der Schwelle standen.

»Was wollen Sie?«

»Ich muss Sie sprechen.«

»Was beweist mir, dass Sie von der Polizei sind?«

Es war reiner Zufall, dass Maigret seine Marke in der Tasche hatte. Meistens ließ er sie zu Hause. Er hielt sie ins Licht.

»Gut. Scheint echt zu sein.«

Sie durften eintreten. Der Flur war eng, die Wände weiß gestrichen, Leisten und Türen aus lackiertem Holz. Die Küchentür stand noch offen. Die Frau führte sie in ein angrenzendes Zimmer und schaltete das Licht ein.

Sie war etwa so alt wie ihr Mann, aber stattlicher als er, ohne dick zu wirken. Sie war kräftig gebaut und hatte straffe Haut. Das graue Kleid mit Schürze, die sie mechanisch abnahm, ließ sie nicht milder wirken.

Es war ein rustikal eingerichtetes Esszimmer, das wohl auch als Wohnraum diente. Die Möbel waren aufgestellt wie in einem Schaufenster oder im Lager eines Möbelhändlers. Nichts lag herum, keine Pfeife, keine Zigarettenschachtel, keine Handarbeit, keine Zeitung. Nichts ließ darauf schließen, dass hier Menschen einen Teil ihres Lebens verbrachten. Die Frau bot ihnen nicht an, sich zu setzen. Stattdessen sah sie auf die Schuhe der beiden Männer, als wollte sie prüfen, ob sie das Linoleum beschmutzten.

»Ich höre.«

»Ihr Mann heißt Louis Thouret?«

Mit zusammengezogenen Brauen versuchte sie den Sinn des Besuchs zu erraten und nickte stumm.

»Er arbeitet in Paris?«

»Er ist stellvertretender Direktor bei Kaplan & Zanin in der Rue de Bondy.«

»War er je als Lagerverwalter tätig?«

»Früher einmal, ja.«

»Ist das lange her?«

»Einige Jahre. Schon damals hat eigentlich er die Firma geführt.«

»Haben Sie vielleicht ein Foto von ihm?«

»Wofür?«

»Ich möchte mich vergewissern …«

»In welcher Hinsicht vergewissern?«

Ihr Argwohn wuchs.

»Ist Louis etwas zugestoßen?«

Unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Uhr in der Küche nebenan, als überlegte sie, wo er zu dieser Stunde sein konnte.

»Ich möchte mich vergewissern, ob es sich wirklich um seine Person handelt.«

»Auf dem Buffet«, sagte sie.

Fünf oder sechs Fotos in Metallrahmen standen dort. Eines zeigte ein junges Mädchen und ein anderes den erstochenen Mann in der Sackgasse. Er war darauf viel jünger und schwarz gekleidet.

»Ist Ihnen bekannt, ob Ihr Mann Feinde hat?«

»Warum sollte er Feinde haben?«

Sie ging kurz in die Küche und drehte das Gas ab, denn auf dem Herd köchelte irgendetwas.

»Wann kommt er gewöhnlich von seiner Arbeit zurück?«

»Er nimmt immer denselben Zug an der Gare de Lyon, um sechs Uhr zweiundzwanzig. Unsere Tochter kommt mit dem späteren Zug. Sie arbeitet etwas länger, sie hat eine Vertrauensstellung und …«

»Ich muss Sie leider bitten, uns nach Paris zu begleiten.«

»Ist Louis tot?«

Sie sah die beiden Männer fest an, mit dem Blick einer Frau, die nicht erträgt, dass man sie belügt.

»Sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Er ist heute Nachmittag ermordet worden.«

»Wo?«

»In einer Sackgasse am Boulevard Saint-Martin.«

»Was hat er da gemacht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wann war das?«

»Vermutlich um kurz nach halb fünf.«

»Um halb fünf ist er bei Kaplan. Haben Sie mit denen gesprochen?«

»Dazu war noch keine Zeit. Wir wussten im Übrigen nicht, wo er gearbeitet hat.«

»Wer hat ihn ermordet?«

»Das versuchen wir herauszufinden.«

»War er allein?«

Maigret wurde ungeduldig.

»Es wäre besser, Sie ziehen sich an und kommen mit uns.«

»Was hat man mit ihm gemacht?«

»Er wird mittlerweile in die Gerichtsmedizin gebracht worden sein.«

»Ist das die Leichenhalle?«

Was sollte er darauf antworten?

»Wie kann ich meiner Tochter Bescheid sagen?«

»Sie könnten ihr eine Nachricht hinterlassen.«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Nein«, sagte sie dann, »wir fahren bei meiner Schwester vorbei, und ich gebe ihr den Schlüssel. Sie soll dann herkommen und hier auf Monique warten. Müssen Sie meine Tochter auch sprechen?«

»Das empfiehlt sich.«

»Wo soll sie uns treffen?«

»In meinem Büro am Quai des Orfèvres, das ist am einfachsten. Wie alt ist sie?«

»Zweiundzwanzig.«

»Können Sie Ihre Tochter nicht anrufen?«

»Wir haben kein Telefon. Außerdem ist sie jetzt nicht mehr im Büro, sondern schon unterwegs zum Bahnhof. Warten Sie bitte einen Augenblick.«

Sie ging die Treppe hinauf. Die Stufen knarrten, allerdings nicht, weil das Holz alt, sondern weil es zu dünn war.

Das ganze Haus machte den Eindruck, aus billigem Material erbaut zu sein, das vermutlich nicht sehr haltbar war.

Die beiden Männer sahen einander an, während sie die Frau über ihren Köpfen hin und her gehen hörten. Bestimmt zog sie sich ein schwarzes Kleid an, und wahrscheinlich frisierte sie sich noch einmal. Als sie wieder herunterkam, wechselten sie erneut einen Blick: Sie hatten recht gehabt. Sie trug bereits Trauer und duftete nach Eau de Cologne.

»Ich muss noch das Licht ausmachen und den Zähler abschalten. Wenn Sie draußen warten wollen …«

Sie zögerte, in das kleine Auto zu steigen, als zweifelte sie daran hineinzupassen. Aus dem Nachbarhaus wurden sie von jemand beobachtet.

»Meine Schwester wohnt zwei Straßen von hier. Der Chauffeur muss nur rechts abbiegen; dann gleich die zweite Straße links.«

Die beiden Häuschen glichen einander wie Zwillinge. Nur die Farbe der kleinen Fenster an der Eingangstür war verschieden. Diese hier waren aprikosengelb.

»Ich bin gleich wieder da.«

Sie blieb doch fast eine Viertelstunde fort und kam in Begleitung einer Frau zurück, die haargenau so aussah wie sie und ebenfalls schwarz gekleidet war.

»Meine Schwester kommt mit. Ich dachte, wir könnten ein bisschen zusammenrücken. Mein Schwager wird bei mir zu Hause auf meine Tochter warten. Er ist Zugschaffner und hat heute frei.«

Maigret setzte sich neben den Schaffner. Die beiden Frauen hinten ließen nur sehr wenig Platz für Inspektor Santoni. Von Zeit zu Zeit hörte man sie flüstern wie im Beichtstuhl.

Als sie das Gerichtsmedizinische Institut unweit vom Pont d’Austerlitz erreichten, lag Louis Thourets Leichnam noch bekleidet auf einer Steinplatte, wie Maigret es angeordnet hatte. Während der Kommissar das Gesicht abdeckte, beobachtete er die beiden Frauen, die er jetzt zum ersten Mal im vollen Licht sah. Eben noch, im Dunkel der Straße, hatte er sie für Zwillinge gehalten. Nun erkannte er, dass die Schwester drei oder vier Jahre jünger sein musste. Ihr Körper hatte sich eine gewisse Geschmeidigkeit bewahrt, vermutlich nicht mehr für lange.

»Erkennen Sie ihn wieder?«

Madame Thouret hielt ihr Taschentuch in der Hand, weinte aber nicht. Ihre Schwester hatte sie untergefasst, wie um sie zu stützen.

»Ja, er ist es, mein armer Louis. Als er mich heute Morgen verließ, hat er nicht geahnt …«

Und unvermittelt fügte sie hinzu:

»Werden ihm denn nicht die Augen geschlossen?«

»Das können Sie jetzt tun.«

Sie sah ihre Schwester an, und sie schienen einander zu fragen, wer von ihnen beiden es auf sich nehmen sollte. Schließlich tat es die Ehefrau, nicht ohne Feierlichkeit, wobei sie murmelte:

»Armer Louis.«

Kurz darauf bemerkte sie die Schuhe, die unter dem Tuch, mit dem der Leichnam zugedeckt war, hervorragten, und ihr Gesicht verfinsterte sich:

»Was ist das denn?«

Maigret begriff nicht gleich.

»Wer hat ihm die Schuhe da angezogen?«

»Er trug sie, als er gefunden wurde.«

»Das ist nicht möglich. Louis trug keine gelben Schuhe. Jedenfalls nicht in den sechsundzwanzig Jahren unserer Ehe. Er wusste, dass ich das nie geduldet hätte. Sieh doch bloß, Jeanne.«

Jeanne nickte nur.

»Vielleicht sollten Sie überhaupt prüfen, ob die Kleidungsstücke, die er trägt, seine sind. Es ist doch Ihr Mann?«

»Ohne Zweifel. Aber das sind nicht seine Schuhe. Schließlich putze ich seine Schuhe jeden Tag, ich werde sie wohl kennen. Heute Morgen hatte er seine schwarzen an, die mit der doppelten Sohle, die er zur Arbeit trägt.«

Maigret zog das Tuch ganz zurück.

»Ist das sein Mantel?«

»Ja.«

»Sein Anzug?«

»Ja, auch sein Anzug. Aber nicht seine Krawatte. Eine so grelle hätte er nie getragen. Die da ist ja knallrot.«

»Führte Ihr Mann ein geregeltes Leben?«

»Ein geregelteres kann man sich gar nicht vorstellen; meine Schwester wird es Ihnen bestätigen. Morgens stieg er an der Straßenecke in den Bus zum Bahnhof, wo er den Zug um acht Uhr siebzehn nahm. Er fuhr immer zusammen mit Monsieur Beauduin, unserem Nachbarn. Der ist beim Finanzamt. An der Gare de Lyon nahm er die Metro und fuhr bis zur Station Boulevard Saint-Martin.«

Der Beamte des Gerichtsmedizinischen Instituts machte Maigret ein Zeichen. Dieser führte daraufhin die beiden Frauen zu einem Tisch, auf dem der Inhalt der Taschen des Toten ausgebreitet war.

»Sie erkennen diese Dinge wieder?«

Da lagen eine silberne Taschenuhr mit Kette, ein Taschentuch ohne Monogramm, ein angebrochenes Päckchen Gauloises, ein Feuerzeug, ein Schlüssel und neben der Brieftasche zwei kleine blaue Karten.

Sofort richtete Madame Thouret ihren Blick auf diese Karten.

»Kinokarten«, sagte sie.

Nachdem Maigret die Karten eingehend betrachtet hatte, sagte er:

»Sie stammen von einem Kino am Boulevard Bonne-Nouvelle. Wenn ich richtig sehe, gelten sie für heute.«

»Das kann nicht sein. Was sagst du dazu, Jeanne?«

»Mir kommt es seltsam vor«, erwiderte die Schwester ruhig.

»Würden Sie einen Blick in seine Brieftasche werfen?«

Sie tat es, und erneut verdüsterte sich ihr Gesicht.

»So viel Geld hatte Louis heute Morgen nicht bei sich.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ich prüfe jeden Tag, ob er Geld in seiner Brieftasche hat. Es ist nie mehr als ein Tausendfrancschein und zwei oder drei Hunderter darin.«

»Er durfte nichts davon nehmen?«

»Wir sind doch nicht am Monatsende!«

»Er hatte also, wenn er abends zurückkam, denselben Betrag in der Brieftasche wie am Morgen?«

»Abzüglich der Kosten für Metro und Zigaretten. Für die Bahn hat er ein Abonnement.«

Sie zögerte, die Brieftasche einzustecken.

»Sie brauchen sie wohl noch?«, fragte sie.

»Bis auf Weiteres, ja.«

»Am wenigsten verstehe ich, dass man ihm andere Schuhe angezogen und eine andere Krawatte umgebunden hat. Und dass er sich zu der Zeit, als das passierte, nicht im Geschäft befand.«

Maigret ging nicht darauf ein, sondern legte ihr die Formulare zur Unterschrift vor.

»Fahren Sie jetzt wieder nach Hause?«

»Wann wird die Leiche freigegeben?«

»Wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen.«

»Wird eine Autopsie gemacht?«

»Wenn der Untersuchungsrichter sie anordnet. Das ist noch nicht sicher.«

Sie sah auf ihre Uhr.

»In zwanzig Minuten geht ein Zug«, sagte sie zu ihrer Schwester, und zu Maigret:

»Könnten Sie uns am Bahnhof absetzen?«

»Willst du nicht noch auf Monique warten?«, fragte die Schwester.

»Sie wird schon allein nach Hause kommen.«

Sie fuhren den Umweg über die Gare de Lyon. Dann betrachteten Maigret und Santoni die beiden Gestalten, die fast gleich aussahen und die Steinstufen hinaufstiegen.

»Die ist zäh«, brummte Santoni. »Der arme Kerl hat bestimmt nichts zu lachen gehabt.«

»Jedenfalls nicht bei ihr.«

»Was halten Sie von der Geschichte mit den Schuhen? Wären sie neu, wär’s nicht weiter verwunderlich. Er hätte sie eben heute erst gekauft.«

»Das hätte er nicht gewagt. Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?«

»Auch eine auffällige Krawatte hätte sie nicht geduldet.«

»Ich bin gespannt, ob die Tochter der Mutter ähnlich ist.«

Sie fuhren nicht gleich zum Quai des Orfèvres zurück, sondern hielten an einer Brasserie, um zu Abend zu essen. Maigret rief seine Frau an und teilte ihr mit, dass es spät werden würde.

In der Brasserie roch es auch nach Winter. An allen Haken hingen feuchte Mäntel und Hüte, und die dunklen Fensterscheiben waren beschlagen.

Der Pförtner beim Eingang zur Kriminalpolizei sagte zu Maigret:

»Eine junge Frau hat nach Ihnen gefragt. Sie ist wohl herbestellt worden. Ich habe sie nach oben geschickt.«

»Wartet sie schon lange?«

»Etwa zwanzig Minuten.«

Der Nebel hatte sich in einen feinen Regen verwandelt, und auf den immer staubigen Stufen der breiten Treppe waren feuchte Fußspuren zu sehen. Die meisten Büros waren verlassen. Nur unter einigen Türen sah man Lichtschimmer.

»Soll ich noch bleiben?«, fragte Santoni.

Maigret nickte. Da Santoni von Anfang an dabei gewesen war, sollte er die Untersuchung mit ihm weiter durchführen.

Eine junge Frau, deren hellblauer Hut das Auffallendste war, saß in einem Sessel im Vorzimmer. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Der Bürodiener las in einer Abendzeitung.

»Sie werden erwartet, Chef.«

»Ich weiß.«

Maigret wandte sich an die junge Frau: »Monique Thouret? Bitte folgen Sie mir in mein Büro.«

Er knipste die Lampe mit dem grünen Schirm an, deren Schein auf den ihm gegenüberstehenden Sessel fiel, und bat sie, dort Platz zu nehmen. Er bemerkte, dass sie geweint hatte.

»Mein Onkel hat mir mitgeteilt, dass mein Vater tot ist.«

Er antwortete nicht sofort. Wie ihre Mutter hielt sie ein Taschentuch in der Hand, aber ihrs war zerknüllt, und sie knetete es unentwegt mit den Fingern, so wie Maigret als Kind ein Stück Gummi geknetet hatte.

»Ich dachte, Maman ist bei Ihnen.«

»Sie ist nach Juvisy zurückgefahren.«

»Wie hat sie es aufgenommen?«

Wie sollte er darauf antworten?

»Ihre Mutter war sehr tapfer.«

Monique war durchaus hübsch. Sie sah ihrer Mutter nicht besonders ähnlich, bis auf die stämmige Figur. Die fiel jedoch weniger auf, da sie jung und straff war. Sie trug ein gut geschnittenes Kostüm, was den Kommissar ein wenig überraschte, denn sie hatte es gewiss weder selbst geschneidert noch in einem billigen Laden gekauft.

»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte sie schließlich, und ihre Augen glänzten feucht.

»Ihr Vater wurde erstochen.«

»Wann?«

»Heute Nachmittag, zwischen halb und Viertel vor fünf.«

»Wie konnte das geschehen?«

Warum hatte er den Eindruck, dass sie nicht ganz aufrichtig war? Die Mutter hatte auch eine gewisse Sprödigkeit gezeigt, die ihrem Charakter aber gut entsprach. Madame Thouret erachtete es im Grunde als unwürdig, sich in einer Sackgasse am Boulevard Saint-Martin ermorden zu lassen. Sie hatte ihr Leben streng geregelt, und nicht nur ihr eigenes, sondern das Leben der ganzen Familie. Dieser Tod passte nicht in die Ordnung, die sie hergestellt hatte. Schon gar nicht, wenn der Tote gelbe Schuhe und eine knallrote Krawatte trug.

Monique dagegen wirkte vorsichtiger, als befürchtete sie gewisse Enthüllungen, gewisse Fragen.

»Kannten Sie Ihren Vater gut?«

»Aber … natürlich …«

»Selbstverständlich, Sie kannten ihn, wie man seine Eltern kennt. Ich meine aber, ob Sie eine besonders vertraute Beziehung zu ihm hatten, ob er manchmal von seinen Gefühlen und Gedanken zu Ihnen sprach.«

»Er war ein guter Vater.«

»War er glücklich?«

»Ich nehme es an.«

»Haben Sie ihn manchmal in Paris getroffen?«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht. Meinen Sie, auf der Straße?«

»Sie arbeiteten doch beide in Paris. Ich habe schon erfahren, dass Sie nicht denselben Zug benutzten.«

»Unsere Arbeitszeiten waren verschieden.«

»Sie hätten sich manchmal zum Mittagessen treffen können.«

»Manchmal, ja.«

»Häufig?«

»Nein, eher selten.«

»Haben Sie ihn dann von seinem Geschäft abgeholt?«

Sie zögerte.

»Nein, wir haben uns immer in einem Restaurant getroffen.«

»Haben Sie ihn angerufen?«

»Ich kann mich nicht erinnern, ihn je angerufen zu haben.«

»Wann haben Sie zum letzten Mal zusammen gegessen?«

»Vor Monaten. Noch vor den Sommerferien.«

»In welchem Viertel?«

»In La Chope Alsacienne, einem Restaurant am Boulevard Sébastopol.«

»Wusste Ihre Mutter davon?«

»Vermutlich habe ich es ihr erzählt, ich weiß es nicht mehr.«

»War Ihr Vater ein heiterer Mensch?«

»Er war heiter. Glaube ich.«

»War er bei guter Gesundheit?«

»Ich habe ihn nie krank gesehen.«

»Hatte er Freunde?«

»Wir verkehrten vor allem mit meinen Tanten und Onkeln.«

»Haben Sie viele?«

»Zwei Tanten und zwei Onkel.«

»Wohnen sie alle in Juvisy?«

»Ja, nicht weit von uns. Mein Onkel Albert, der Mann meiner Tante Jeanne, hat mir mitgeteilt, dass Papa tot ist. Meine Tante Céline wohnt etwas weiter entfernt.«

»Sind diese beiden Tanten die Schwestern Ihrer Mutter?«

»Ja. Onkel Julien, Tante Célines Mann, arbeitet auch bei der Bahn.«

»Haben Sie einen Freund, Mademoiselle Monique?«

Sie wurde etwas verlegen.

»Es ist wohl nicht der richtige Augenblick, darüber zu sprechen. Muss ich meinen Vater sehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nach dem, was mein Onkel gesagt hat, dachte ich, ich müsste ihn identifizieren.«

»Das haben Ihre Mutter und Tante schon getan. Wenn Sie allerdings möchten …«

»Nein. Ich sehe ihn ja wohl zu Hause.«

»Noch eine Frage, Mademoiselle Monique. Hat Ihr Vater, wenn Sie ihn in Paris trafen, manchmal gelbe Schuhe getragen?«

Sie antwortete nicht sofort. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte sie:

»Gelbe Schuhe?«

»Ja, ganz hellbraune, wenn Ihnen das mehr sagt. Zu meiner Zeit nannte man die Farbe solcher Schuhe, entschuldigen Sie den Ausdruck, Kackgelb.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Haben Sie auch nie eine rote Krawatte an ihm gesehen?«

»Nein.«

»Wann waren Sie zum letzten Mal im Kino?«

»Gestern Nachmittag.«

»In Paris?«

»In Juvisy.«

»Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich vermute, Ihr Zug geht bald.«

»In fünfunddreißig Minuten.«

Sie sah auf ihre Armbanduhr, stand auf und wartete noch einen Augenblick.

»Guten Abend«, sagte sie schließlich.

»Guten Abend, Mademoiselle Monique. Ich danke Ihnen«, erwiderte Maigret und begleitete sie zur Tür, die er hinter ihr schloss.

Maigret und der Mann auf der Bank

Подняться наверх