Читать книгу Maigret und der einsame Mann - Georges Simenon - Страница 3
1
ОглавлениеBereits um neun Uhr morgens spürte man die Hitze. Maigret hatte sein Jackett ausgezogen und sah lustlos die Post durch. Hin und wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Nicht der leiseste Windhauch fuhr durch die Blätter der Bäume am Quai des Orfèvres. Die Seine lag glatt und eben da wie Seide.
Es war August. Lucas, Lapointe und mehr als die Hälfte der Inspektoren waren in den Ferien. Janvier und Torrence hatten ihren Urlaub schon im Juli genommen, und Maigret wollte im September ein paar Wochen in seinem Haus in Meung-sur-Loire verbringen, das einem Pfarrhaus glich.
Seit fast einer Woche ging an jedem späten Nachmittag ein kurzes, aber heftiges Gewitter nieder, und der starke Regen zwang die Menschen auf der Straße, sich an den Häuserwänden entlangzudrücken. Die große Hitze neigte sich dem Ende zu, und gegen Abend kühlte die Luft ab.
Paris war wie leergefegt. Die Geräusche der Stadt klangen nicht wie sonst, manchmal war es totenstill.
Reisebusse sah man hingegen überall. In sämtlichen Farben und aus zahlreichen Ländern hielten sie an den immer gleichen Orten und spuckten ganze Ladungen von Touristen aus: bei Notre-Dame und am Louvre, an der Place de la Concorde, der Place de l’Étoile, am Sacré-Cœur und natürlich vor dem Eiffelturm.
Ging man durch die Straßen, überraschte es einen geradezu, wenn jemand Französisch sprach.
Auch der Direktor der Kriminalpolizei war in den Ferien, sodass einem die tägliche Plage des Rapports erspart blieb. Post gab es nur wenig, und wenn eine Straftat verübt wurde, war es ein Taschendiebstahl.
Das Telefon riss Maigret aus seinem Dämmerzustand. Er nahm den Hörer ab.
»Der Kommissar des 1. Arrondissements möchte Sie persönlich sprechen. Soll ich Sie verbinden?«
»Ja. Stellen Sie ihn durch.«
Maigret kannte ihn gut. Er war ein kultivierter Mann, ein wenig geziert und immer tadellos gekleidet. Er hatte mehrere Jahre als Anwalt gearbeitet, ehe er zur Polizei gewechselt war.
»Hallo? Ascan?«
»Störe ich?«
»Nicht im Geringsten.«
»Ich rufe Sie an, weil ich mich seit heute Morgen mit einem Fall herumschlagen muss, der Sie persönlich interessieren könnte …«
»Worum geht’s?«
»Um einen Mord. Aber keinen gewöhnlichen Mord. Es würde zu lange dauern, es Ihnen am Telefon zu erklären. Wann hätten Sie Zeit?«
»Sofort.«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie in mein Büro bitten muss, aber es ist in der Nähe der Markthallen geschehen. In einer versteckten Sackgasse …«
Es war das Jahr 1965, und die Pariser Markthallen waren noch nicht nach Rungis verlegt worden.
»Ich bin in ein paar Minuten auf Ihrem Kommissariat.«
Es bereitete ihm Vergnügen, so missmutig zu klingen, als fühlte er sich gestört, aber in Wahrheit freute er sich, der Routine der letzten Tage zu entkommen. Er ging in das Büro der Inspektoren. Normalerweise hätte er Janvier mitgenommen, aber er brauchte einen verlässlichen und tatkräftigen Mann, der während seiner Abwesenheit am Quai des Orfèvres blieb.
»Kommen Sie, Torrence. Nehmen Sie einen der Wagen im Hof.«
Das Kommissariat des 1. Arrondissements lag in der Rue des Prouvaires, nicht weit entfernt vom Quai des Orfèvres. Maigret ging geradewegs in Kommissar Ascans Büro.
»Der Anblick, der sich Ihnen gleich bietet, ist das Seltsamste, was mir je unter die Augen gekommen ist. Ich möchte aber lieber nichts vorwegnehmen. Ah! Sie sind es, Torrence … Lassen Sie den Wagen besser stehen. Es ist gleich um die Ecke.«
Sie gingen um die Markthallen herum, in denen auch im August große Betriebsamkeit herrschte. Bei der Hitze strömte einem ein penetranter Geruch entgegen. Es waren kleine Seitenstraßen mit mehr oder weniger dubiosen Geschäften und anrüchigen Absteigen. Clochards trieben sich herum, darunter eine sturzbetrunkene Frau, die an einer Hauswand Halt suchte.
»Hier entlang …«
Von der Rue de la Grande-Truanderie bog Ascan in eine Sackgasse ein, die so schmal war, dass kein Lastwagen hätte hineinfahren können.
»Impasse du Vieux-Four«, sagte er.
Kaum ein Dutzend baufälliger Häuser standen dort in einer Reihe, und zwischendrin klaffte die Lücke eines bereits abgerissenen Gebäudes. Den anderen sollte es ebenso ergehen. Sie standen bereits leer.
Einige der Häuser waren mit Balken abgestützt, damit sie nicht einstürzten.
Das Haus, vor dem der Polizeikommissar stehen blieb, hatte keine Fensterscheiben mehr, und selbst einige der Fensterrahmen waren entfernt worden. Auch die Tür fehlte, und man hatte den Eingang mit Brettern zugenagelt. Ascan entfernte zwei Planken, die sich bereits gelöst hatten. Dahinter lag ein geräumiger Flur.
»Vorsicht auf der Treppe. Es fehlen ein paar Stufen, und die übrigen sind recht morsch.«
Es roch nach Staub, Moder und den Ausdünstungen der Markthallen.
Sie stiegen in den zweiten Stock hinauf. Ein Junge von etwa zwölf Jahren hockte vor einer nackten Wand, durch die sich große Risse zogen. Als er die drei Männer kommen sah, sprang er mit leuchtenden Augen auf.
»Sie sind doch Kommissar Maigret!«
»Ja.«
»Wenn mir jemand gesagt hätte, dass Sie eines Tages leibhaftig vor mir stehen würden … Ich schneide alle Ihre Fotos aus der Zeitung aus und klebe sie in ein Album.«
»Das ist Nicolier«, erklärte Ascan. »Dein Vorname ist Jean, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur.«
»Sein Vater hat eine Metzgerei in der Rue Saint-Denis. Er ist der Einzige hier im Viertel, der sein Geschäft im August nicht schließt. Nun erzähl schon, Jean.«
»Es war so, wie ich es Ihnen schon gesagt habe. Meine Schulfreunde sind fast alle am Meer. Und ich kann ja nicht ganz allein spielen, also laufe ich durch das Viertel, suche Ecken und Winkel, die ich noch nicht kenne, auch wenn ich hier geboren bin. Heute Morgen habe ich dieses Haus entdeckt. Ich habe an den Brettern vor dem Eingang gerüttelt, und sie waren gar nicht festgenagelt. Ich bin hineingegangen und habe gerufen:
›Ist da jemand?‹
Aber da war nur mein Echo. Ich habe nichts Besonderes gesucht und bin einfach weitergegangen, wollte mich ein bisschen umschauen. Dann habe ich die klapprige Tür, die Sie da rechts sehen, aufgestoßen und den Mann gefunden. Ich bin die Treppe hinuntergerannt und ganz außer Atem beim Kommissariat angekommen.
Muss ich noch einmal da hinein?«
»Nein, das ist nicht nötig.«
»Soll ich hierbleiben?«
»Ja.«
Maigret stieß die hölzerne Tür auf, die so morsch war, dass man sie nicht einmal mehr als Brennholz benutzen konnte. Er blieb auf der Schwelle stehen und begriff, warum Ascan sich so geheimnistuerisch benommen hatte.
Der Raum war ziemlich groß. Die Fensterscheiben waren durch Pappe oder dickes Papier ersetzt worden. Zwischen den Dielen des unebenen Fußbodens taten sich mehrere Zentimeter breite Spalten auf. Überall häufte sich alter Plunder, zerbrochene Gegenstände, die zu nichts mehr taugten.
Doch dann fiel sein Blick auf den Mann, der angekleidet auf einem Strohsack auf einem alten Eisenbett lag. Offensichtlich tot. Seine Brust war bedeckt mit geronnenem Blut, doch sein Gesicht wirkte heiter.
Der Kleidung nach war er ein Clochard, aber Gesicht und Hände hoben sich deutlich von der restlichen Erscheinung ab. Er war schon ziemlich alt und hatte langes, silbergraues Haar, das bläulich schimmerte. Auch seine Augen waren blau. Maigret konnte den starren Blick nicht ertragen und schloss ihm die Lider.
Er trug einen weißen Schnurrbart mit leicht aufstrebenden Spitzen und einen ebenso weißen Kinnbart, wie Richelieu.
Die Wangen waren glattrasiert. Maigret war nicht weniger erstaunt, als sein Blick auf die sorgfältig manikürten Hände des Toten fiel.
»Er sieht aus wie ein alter Schauspieler in der Rolle des Clochards«, murmelte er. »Hatte er Papiere bei sich?«
»Nichts. Keinen Personalausweis. Keine alten Briefe. Meine Inspektoren, die für dieses Viertel zuständig sind, haben ihn sich angesehen. Aber keiner kennt ihn. Nur einer glaubt, er habe ihn einmal beim Durchwühlen einer Mülltonne gesehen.«
Der Mann war sehr groß und hatte auffällig breite Schultern. Seine zu kurze Hose hatte am linken Knie ein Loch, und auf dem staubigen Boden lag eine alte Jacke, die eher einem Lumpen glich.
»War der Gerichtsmediziner schon da?«
»Noch nicht. Er muss aber jeden Augenblick kommen. Ich wollte, dass Sie dieses Zimmer gesehen haben, bevor hier alles angerührt wird.«
»Torrence, gehen Sie ins nächste Bistro und rufen Sie den Erkennungsdienst an. Sie sollen so schnell wie möglich herkommen. Und benachrichtigen Sie auch die Staatsanwaltschaft.«
Noch immer fesselte ihn das Gesicht des Mannes auf dem alten Eisenbett. Schnurr- und Kinnbart waren sorgfältig gestutzt, und man hätte schwören können, dass das erst am Tag zuvor geschehen war. Die gepflegten Hände mit den lackierten Fingernägeln machten nicht den Anschein, in Mülltonnen zu wühlen.
Dennoch hatte es der Alte mit aller Wahrscheinlichkeit getan, denn in dem Zimmer häuften sich die absonderlichsten Gegenstände, von denen beinahe alle zerbrochen waren. Eine alte Kaffeemühle, gesprungene Emaillekrüge, zerbeulte oder löchrige Eimer, eine Petroleumlampe ohne Docht und Petroleum, einzelne Schuhe.
»Ich muss eine Inventarliste anfertigen lassen.«
An der Wand befand sich ein Waschbecken. Vergeblich drehte Maigret den Hahn auf. Er hatte sich bereits gedacht, dass es in Häusern, die darauf warten, abgerissen zu werden, kein Wasser gab. Ebenso wenig wie elektrischen Strom oder Gas.
Wie lange hatte der Mann hier gelebt? Vermutlich eine ganze Weile, bei all dem alten Krempel, den er zusammengetragen hatte. Man konnte weder eine Concierge noch Nachbarn befragen, es gab schlichtweg keine. Der Polizeikommissar ging auf den Treppenabsatz hinaus und sagte zu Nicolier:
»Willst du dich nützlich machen? Dann geh hinunter auf die Straße, und wenn die Herren in ein paar Minuten kommen, führst du sie hier herauf.«
»Ja, Monsieur.«
»Vergiss nicht, sie darauf aufmerksam zu machen, dass ein paar Stufen fehlen.«
Maigret ging durch den Raum, berührte einige Gegenstände und entdeckte einen Kerzenstumpf in einer angeschlagenen Tasse und eine Schachtel Streichhölzer.
Während seiner gesamten Laufbahn als Polizist hatte sich ihm noch nie ein solcher Anblick geboten. Immer wieder fand er etwas, das ihn in Erstaunen versetzte.
»Wie ist er ermordet worden?«
»Man hat ihm mehrmals in die Brust und in den Bauch geschossen.«
»Großes Kaliber?«
»Mittleres. Wahrscheinlich Kaliber .32.«
»Hat man etwas in seiner Westentasche gefunden?«
Er konnte sich vorstellen, wie widerwillig der feine, empfindliche Ascan die Taschen dieses dreckverkrusteten Lumpens durchsucht haben musste.
»Ein Knopf, ein paar Bindfäden, eine trockene Brotkruste.«
»Kein Geld?«
»Zwei Fünfundzwanzig-Centime-Münzen.«
»Und in den Hosentaschen?«
»Ein schmutziger Lappen, den er wohl als Taschentuch benutzte, und ein paar Zigarettenstummel in einer alten Blechdose.«
»Keine Brieftasche?«
»Nein.«
Selbst die Clochards an den Quais, die unter den Brücken schliefen, hatten ihre Papiere bei sich, und sei es nur ein Personalausweis.
Torrence war zurückgekehrt und von dem Anblick, der sich ihm bot, nicht weniger überrascht als Maigret.
»Sie werden gleich da sein.«
Und tatsächlich kamen Moers und seine Männer vom Erkennungsdienst hinter Nicolier die Treppe herauf. Verwundert blickten sie um sich.
»Ein Mord?«
»Ja … Einen Selbstmord können wir ausschließen, denn nirgendwo liegt eine Waffe.«
»Womit sollen wir anfangen?«
»Mit den Fingerabdrücken. Wir müssen ihn zunächst identifizieren.«
»Es ist beinahe schade, diese gepflegten Hände schmutzig zu machen …«
Sie nahmen ihm die Fingerabdrücke ab.
»Fotografieren?«
»Natürlich.«
»Also wirklich, ein ziemlich gut aussehender Kerl. Er muss sehr kräftig gewesen sein …«
Nun hörte man die vorsichtigen Schritte des Staatsanwaltsvertreters, des Untersuchungsrichters Cassure und des Protokollführers. Oben angelangt, blieben alle drei wie angewurzelt stehen.
»Ist er ermordet worden?«, fragte der Vertreter der Staatsanwaltschaft.
»Das werden wir gleich wissen, denn da kommt Doktor Lagodinec.«
Doktor Lagodinec war jung und eifrig. Er gab Maigret die Hand, grüßte die anderen Herren und trat auf das alte Eisenbett zu. Auch das hatte der Mann vermutlich auf der Straße oder irgendeinem verwilderten Grundstück gefunden.
»Haben Sie ihn identifiziert?«
»Nein.«
Sie blickten besorgt zu Boden, denn nun, da sich so viele Menschen im Raum befanden, begannen sich die Dielen bedenklich zu biegen, als drohten sie jeden Moment einzubrechen.
»Womöglich finden wir uns gleich eine Etage tiefer wieder …«, bemerkte der junge Arzt.
Er wartete, bis die Fotos gemacht waren, ehe er an die Leiche herantrat und sie untersuchte. Er entblößte die Brust, und man konnte die schwarzen Löcher sehen, die die Kugeln hinterlassen hatten.
»Der Mörder hat drei Mal aus höchstens einem Meter Entfernung geschossen und präzise gezielt. Wahrscheinlich schlief das Opfer. Sonst lägen die Einschusslöcher nicht so dicht nebeneinander.«
»Ist der Tod sofort eingetreten?«
»Ja. Der Täter hat die linke Herzkammer getroffen.«
»Sind die Kugeln aus dem Körper ausgetreten?«
»Das sage ich Ihnen, wenn ich die Leiche umgedreht habe.«
Der Fotograf half ihm. Nur eine Kugel hatte den Körper des seltsamen Clochards durchschlagen. Wahrscheinlich steckte sie in dem Strohsack.
»Gibt es hier Wasser?«
»Nein. Es wurde abgedreht.«
»Ich frage mich, wo er sich so gründlich gewaschen hat. Sein Körper ist sehr sauber.«
»Können Sie sagen, wann der Tod ungefähr eingetreten ist?«
»Zwischen neunzehn Uhr und drei Uhr morgens. Ich werde es Ihnen genauer sagen können, sobald ich die Obduktion vorgenommen habe. Wurde er bereits identifiziert?«
»Noch nicht. Wir werden sein Foto an die Zeitungen weiterleiten. Apropos, wann sind die ersten Abzüge fertig?«
»In einer Stunde. Genügt das?«
Der Fotograf verließ den Raum, während die Männer vom Erkennungsdienst jeden Gegenstand nach weiteren Fingerabdrücken absuchten.
»Ich nehme an, Sie brauchen uns nicht mehr«, murmelte der Vertreter der Staatsanwaltschaft.
»Mich wohl auch nicht«, fügte Richter Cassure hinzu.
In Gedanken versunken zog Maigret an seiner Pfeife. Es dauerte eine Weile, bis er sich bewusst wurde, dass die Frage ihm galt.
»Nein. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
Dann wandte er sich an den Gerichtsmediziner.
»War er betrunken?«
»Das würde mich sehr wundern. Aber der Mageninhalt wird uns darüber Auskunft geben. Auf den ersten Blick würde ich nicht vermuten, dass der Mann ein Trinker war.«
»Ein Clochard, der nicht trinkt«, murmelte der Polizeikommissar, »das kommt nur ganz selten vor.«
»Und wenn er vielleicht gar kein Clochard war?«, sagte Torrence.
Maigret schwieg. Es war, als versuchte sein Blick, jeden noch so belanglosen Gegenstand, jedes noch so geringe Detail im Raum abzuspeichern. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, seit der Erkennungsdienst seine Arbeit aufgenommen hatte, als der Lieferwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts in der Sackgasse hielt. Nicolier lief hinunter, um den beiden Männern mit der Bahre den Weg zu zeigen.
»Sie können ihn mitnehmen …«
Man sah ihn noch einmal von vorn mit seinen vornehmen Gesichtszügen und dem sorgfältig gestutzten Kinnbart.
»Wie schwer der Kerl doch ist!«, sagte einer der beiden Träger.
Sie hatten alle Mühe, mit ihrer schweren Last die beschädigte Treppe hinunterzusteigen.
Maigret rief nach Nicolier.
»Sag mal, junger Mann, gibt es in diesem Viertel eine Schule für angehende Friseure?«
»Ja, Monsieur Maigret. In der Rue Saint-Denis, drei Häuser neben unserer Metzgerei.«
Vor mehr als zehn Jahren war Maigret einmal während einer Fahndung in eine dieser Friseurschulen gerufen worden. In Paris gab es wahrscheinlich elegantere Lehrstätten. Aber im Quartier des Halles konnte man kaum etwas Erstklassiges erwarten.
Bestimmt warb die Schule in der Rue Saint-Denis Clochards und Bettler an, die die ungelenken Versuche der Lehrlinge über sich ergehen ließen.
Dort wurden junge Friseure und Friseurinnen sowie angehende Maniküren ausgebildet.
Aber bevor er die Schule aufsuchte, brauchte Maigret die Fotos. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Auswertung der Fingerabdrücke zu warten.
Er ließ Moers und seine beiden Männer in dem Raum arbeiten und ging mit Torrence und Ascan die Treppe hinunter. Sie waren erleichtert, wieder im Freien, an der verhältnismäßig frischen Luft zu sein.
»Was glauben Sie, warum hat man ihn umgebracht?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Durch einen Torbogen gelangten sie in einen Hof voller alter Kisten und ausgedientem Hausrat. Dort fand Maigret allerdings auch die Antwort auf die zuvor gestellte Frage des Doktors. An einer Mauer war eine Pumpe angebracht, und auf dem Pflasterstein darunter stand ein halbwegs unversehrter Eimer. Er bewegte den Schwengel. Zunächst tat sich nichts, doch schließlich begann das Wasser zu fließen.
Hier wird sich der Unbekannte gewaschen haben.
Der Kommissar sah ihn in Gedanken vor sich, wie er sich mit nacktem Oberkörper wusch.
Er verabschiedete sich von Kommissar Ascan, marschierte in Richtung Rue de la Grande-Truanderie und dann weiter zu den Markthallen. Es wurde immer heißer, und da er telefonieren musste, nutzte er die Gelegenheit, sich in einem halbwegs ordentlichen Bistro ein Bier zu bestellen. Torrence, der ihn begleitet hatte, tat es ihm nach.
»Geben Sie mir den Erkennungsdienst.«
Dann verlangte er Inspektor Lebel, der sich um die Fingerabdrücke gekümmert hatte.
»Hallo! Lebel? Waren Sie schon im Archiv?«
»Da komme ich gerade her. Man hat dort keinen Fingerabdruck gefunden, der mit dem des Mannes übereinstimmt …«
Auch das war ungewöhnlich. Die meisten Clochards hatten irgendwann Scherereien mit der Polizei.
»Danke. Wissen Sie, ob die Fotos schon fertig sind?«
»In zehn Minuten … Stimmt doch, Mestral, oder?«
»Sagen wir in einer Viertelstunde.«
Zur Kriminalpolizei war es nicht weit. Die beiden Männer brauchten nur wenige Minuten, um den Quai des Orfèvres zu erreichen. Maigret ging hinauf ins Labor. Er musste einen Moment warten, bis die Abzüge trocken waren. Torrence hatte er im Büro der Inspektoren zurückgelassen.
Maigret nahm sich drei Abzüge von jeder Aufnahme, ging mit den Fotos in sein Büro hinunter und beauftragte Inspektor Lourtie, sie an die Zeitungen, vor allem an die Nachmittagsblätter, weiterzugeben.
»Kommen Sie, Torrence. Uns bleibt noch eine Stunde bis zum Mittagessen. Wir hören uns ein wenig um.«
Maigret gab Torrence einen Satz Fotos.
»Die zeigen Sie den Ladenbesitzern und den Wirten in den kleinen Bars rings um die Markthallen. Wir treffen uns dann beim Auto wieder …«
Er selbst ging in Richtung Rue Saint-Denis, einer schmalen Straße, auf der auch im August reges Treiben herrschte, denn die kleinen Leute dieses Viertels traf man nicht gerade häufig am Strand an.
Der Kommissar folgte den Hausnummern. Die, die man ihm genannt hatte, war an einem Gebäude angebracht, in der sich eine kleine Samenhandlung befand. Links neben dem Schaufenster führte ein schmaler Durchgang in einen Hof. Auf halbem Weg gelangte man an eine Treppe, neben der an der einstmals grün getünchten Hauswand, die inzwischen einen undefinierbaren Farbton angenommen hatte, zwei Emailleschilder befestigt waren. Auf dem einen stand:
Joseph
Berufsschule für Friseure und Maniküren
Und neben einem Pfeil, der auf die Treppe deutete: Hochparterre.
Und auf dem Schild gleich darüber las man:
Witwe Cordier
Kunstblumen
Der Pfeil neben diesem Schild verwies ebenfalls auf die Treppe: Zweiter Stock.
Maigret wischte sich den Schweiß von der Stirn, stieg ins Hochparterre, stieß eine Tür auf und betrat einen weitläufigen Raum. Die zwei kleinen Fenster ließen kaum Licht ein. Für die spärliche Beleuchtung sorgten die matten Glaskugellampen, die von der Decke herabhingen.
Dort standen zwei Reihen Lehnstühle, die eine offensichtlich für Männer, die andere für Frauen. Die angehenden Friseure und Friseurinnen arbeiteten emsig unter der Anleitung von älteren Herren. Die Aufsicht übernahm eine kleine, dürre, beinahe glatzköpfige Gestalt mit einem tintenschwarz gefärbten Schnurrbart.
»Ich nehme an, Sie sind der Chef?«
»Ja. Ich bin Monsieur Joseph.«
Er hätte sechzig, aber auch fünfundsiebzig sein können. Maigret ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen, die in den vermutlich gebraucht erstandenen Lehnstühlen saßen. Man hätte glauben können, man befände sich bei der Heilsarmee oder unter den Brücken, denn sie alle waren Clochards, an denen die Lehrlinge mit Kamm, Schere und Rasiermesser herumprobierten. Es war ein eindrückliches Bild, das sich da bot, vor allem in dem spärlichen Licht. Weil es so heiß war, standen die beiden kleinen Fenster offen, und man hörte den Straßenlärm heraufdringen, was die Atmosphäre im Saal noch unwirklicher erscheinen ließ.
Um Monsieur Joseph nicht weiter auf die Folter zu spannen, zog Maigret die Fotos aus seiner Tasche und reichte sie dem kleinen Mann.
»Was soll ich damit?«
»Sie ansehen … Und mir dann sagen, ob Sie ihn wiedererkennen.«
»Was hat er angestellt? Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«
Er wurde merklich misstrauisch.
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Monsieur Joseph blieb unbeeindruckt.
»Suchen Sie ihn?«
»Nein. Wir haben ihn leider schon gefunden. Mit drei Kugeln in der Brust.«
»Wo ist das passiert?«
»Zu Hause … Wenn man das so nennen kann. Wissen Sie, wo er wohnte?«
»Nein.«
»Er hauste in einem abbruchreifen Haus. Ein herumstreunender Junge hat ihn dort entdeckt und die Polizei verständigt. Erkennen Sie ihn?«
»Ja … Wir nannten ihn hier nur Aristo, weil er sich immer so aristokratisch gegeben hat.«
»Kam er häufig hierher?«
»Das war ganz unterschiedlich. Manchmal tauchte er einen ganzen Monat nicht auf, und dann kam er zwei- oder dreimal in der Woche.«
»Kennen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Auch nicht den Vornamen?«
»Nein.«
»Er war wohl nicht sehr gesprächig?«
»Er hat überhaupt nicht geredet. Er setzte sich in den erstbesten Lehnstuhl, ließ seine Lider sinken und alles mit sich machen. Ich selbst habe ihn gebeten, sich Schnurr- und Kinnbart wachsen zu lassen. Das wird wieder modern, und die jungen Friseure müssen lernen, wie man so einen Bart ordentlich stutzt. Das ist schwieriger, als man annimmt.«
»Wie lange ist das her?«
»Drei oder vier Monate.«
»Vorher hatte er keinen Bart?«
»Nein. Er hatte so schönes Haar. Man konnte alles Mögliche damit anstellen.«
»Kam er schon länger zu Ihnen?«
»Seit drei oder vier Jahren.«
»Ich sehe hier vor allem Clochards.«
»Ja. Sie wissen, dass ich jedem nach einem Vormittag oder Nachmittag ein Fünf-Franc-Stück zustecke.«
»Ihm auch?«
»Natürlich.«
»War er mit einigen Ihrer Stammkunden bekannt?«
»Mir ist nicht aufgefallen, dass er sich jemals mit irgendwem unterhalten hat. Und wenn man ihn ansprach, tat er so, als hätte er es nicht gehört.«
Es war fast zwölf. Die Scheren klapperten immer schneller. In einigen Minuten würden alle hinausrennen, wie in der Schule.
»Wohnen Sie hier im Viertel?«
»Ich wohne mit meiner Frau im ersten Stock, genau eine Etage höher.«
»Sind Sie ihm manchmal auf der Straße begegnet?«
»Ich glaube nicht. Und wenn doch, kann ich mich nicht daran erinnern. Würden Sie mich jetzt entschuldigen? Es ist Zeit.«
Er drückte auf einen Klingelknopf hinter einer Art Tresen, vor dem sich sofort eine Schlange bildete.
Maigret stieg langsam die Treppe hinunter. Nach all den Jahren bei der Kriminalpolizei, darunter auch jene als Bereitschaftspolizist auf den Straßen und Bahnhöfen, meinte er, die gesamte Fauna der Pariser Unterwelt zu kennen, aber er erinnerte sich nicht, jemals auf einen Mann wie diesen Aristo gestoßen zu sein.
Langsam ging er zur Straßenecke der Rue Rambuteau, an der der Wagen geparkt war. Beinahe im selben Moment tauchte Torrence dort auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«
»In der Rue du Cygne habe ich die Boulangerie gefunden, wo er sein Brot gekauft hat.«
»Ging er jeden Tag dorthin?«
»Fast. Meistens am späten Vormittag.«
»Kennt ihn die Inhaberin etwas besser?«
»Nein. Er hat den Mund nur aufgemacht, um eine Bestellung aufzugeben.«
»Hat er sonst nichts eingekauft?«
»Dort nicht, aber in der Rue Coquillière. Aufschnitt oder eine Wurst … An der Straßenecke gibt es einen Stand, an dem Pommes frites und nachts Bratwürstchen verkauft werden. Manchmal ging er sich gegen drei Uhr morgens welche holen.
Ich habe die Fotos auch in zwei oder drei Bistros herumgezeigt. Er ist hin und wieder vorbeigekommen, um einen Kaffee zu trinken. Wein oder Schnaps hat er nicht angerührt.«
Das Bild, das der Unbekannte hinterließ, wurde immer merkwürdiger. Aristo, wie Monsieur Joseph ihn nannte, schien keinen Kontakt mit anderen Menschen gepflegt zu haben. Scheinbar ließ er sich nachts in den Markthallen anheuern, um Obst- oder Gemüsekisten abzuladen.
»Ich muss im Gerichtsmedizinischen Institut anrufen«, sagte der Kommissar.
Was ihm die Gelegenheit bot, sein zweites Glas Bier an diesem Morgen zu trinken.
»Verbinden Sie mich bitte mit Doktor Lagodinec.«
»Einen Augenblick, ich muss ihn zurückrufen. Er geht gerade zur Tür.«
»Hallo? Lagodinec? Maigret hier … Ich vermute, Sie sind noch nicht dazu gekommen, die Obduktion vorzunehmen?«
»Ich fange gleich heute Nachmittag damit an.«
»Würden Sie dabei bitte auf das Gesicht achtgeben? Ich brauche noch ein paar Fotos.«
»Kein Problem. Wann schicken Sie den Fotografen?«
»Gleich morgen früh, zusammen mit einem Friseurschüler.«
»Und wozu?«
»Er soll Schnurr- und Kinnbart abnehmen.«
Torrence setzte ihn vor seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir ab.
»Soll ich heute Nachmittag weitermachen?«, fragte er.
»Ja.«
»Im selben Viertel?«
»Gehen Sie doch auch zu den Quais. Vielleicht hat er eine Weile dort übernachtet.«
Madame Maigret spürte gleich, dass ihn etwas beschäftigte, und tat so, als merkte sie es nicht.
»Hast du Hunger?«
»Kaum.«
Aber diesmal war es ihm ein Bedürfnis, über das zu sprechen, was er am Morgen erlebt hatte.
»Ich habe es gerade mit einem Menschen zu tun, der nicht ungewöhnlicher sein könnte.«
»Mit einem Verbrecher?«
»Nein, einem Opfer. Der Mann ist tot … Er hat in einem verlassenen Haus gelebt, das schon seit Jahren abgerissen werden soll. In einem einigermaßen bewohnbaren Zimmer. Dort hat er haufenweise seltsamen Krempel angehäuft. Er muss all die Dinge in Mülltonnen oder auf verwilderten Grundstücken gefunden haben.«
»Ein Clochard also.«
»Nur sah er aus wie ein vornehmer Mann.«
Er erzählte von der Friseurschule und zeigte seiner Frau die Fotos.
»Natürlich ist es schwer, sich anhand des Fotos von einer Leiche ein Urteil zu bilden …«
»In seinem Viertel wird man ihn doch gekannt haben.«
»Niemand kennt seinen Namen, nicht einmal seinen Vornamen. In der Friseurschule nannte man ihn Aristo. Die Fotos erscheinen am Nachmittag in der Zeitung. Vielleicht erkennt ihn ja ein Leser.«
Wie angekündigt, aß er ohne Appetit. Es gefiel ihm nicht, vor einem Rätsel zu stehen, aber auf das, was er am Morgen erfahren hatte, konnte er sich keinen Reim machen.
Um zwei Uhr saß er wieder in seinem Büro und stopfte sich eine Pfeife. Er sah die Post durch, und man brachte ihm die Zeitungen. Zwei davon hatten das Foto auf der ersten Seite abgedruckt.
Unter dem einen stand:
Kennen Sie diesen Mann?
Und unter dem anderen:
Eine namenlose Leiche
Im Flur warteten die Journalisten. Maigret bat sie in sein Büro. Er konnte ihnen lediglich mitteilen, dass er alles daran setze, den Mann aus der Impasse du Vieux-Four zu identifizieren.
»Könnte es sich um Selbstmord handeln?«
»Es befand sich keine Waffe im Haus, weder in seinem Zimmer noch irgendwo sonst.«
»Ist es möglich, dort Fotos zu machen?«
»Die Leiche ist natürlich nicht mehr dort …«
»Fotos von den Räumlichkeiten?«
»Wenn Sie wollen … Sagen Sie dem Wachposten vor dem Haus, Sie hätten meine Erlaubnis.«
»Etwas scheint Sie zu beschäftigen?«
»Ich versuche, aus allem klug zu werden, und hoffe, dass es mir irgendwann gelingt. Diesmal gibt es nichts zu verheimlichen. Alles, was ich weiß, habe ich Ihnen gesagt. Je mehr über den Fall geredet wird, umso besser.«
Gegen vier Uhr gingen die ersten Telefonanrufe ein. Zum Teil waren es die üblichen Spaßvögel oder Geisteskranke, die sich in solchen Fällen immer zu Wort melden. Ein junges Mädchen fragte:
»Hat er eine Warze auf der Wange?«
»Nein.«
»Dann ist es nicht der Mann, den ich meine.«
Vier oder fünf Personen erschienen bei der Kriminalpolizei, und Maigret empfing sie geduldig und zeigte ihnen die verschiedenen Fotos.
»Erkennen Sie ihn?«
»Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem meiner Onkel, der schon häufiger verschwunden ist … Aber nein. Er ist es nicht. Dieser ist groß, nicht wahr?«
»Etwa einen Meter achtzig.«
»Mein Onkel ist klein und mager.«
Zum ersten Mal in dieser Woche blieb das Nachmittagsgewitter aus, und die Luft war schwül und stickig.
Gegen fünf Uhr kehrte Torrence zurück.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
»So gut wie nichts. Ein alter Clochard unter dem Pont-Marie hat sich vage an den Unbekannten erinnert, aber ich weiß nicht, wie weit man ihm trauen kann. Wie es scheint, hat Aristo vor einigen Jahren sein Quartier unter den Brücken bezogen. Aber er hielt sich abseits. Man vermutet, dass er einen Teil der Nacht in den Markthallen verbrachte, viel mehr wusste man nicht über ihn …«
»Kein Name, kein Vorname, kein Spitzname?«
»Ein Spitzname, ja: der Stumme.«
»Sonst nichts?«
»Manchmal hat er sich eine Kerze gekauft.«
Um sechs Uhr erfuhr er endlich Genaueres. Doktor Lagodinec rief ihn an, nachdem er die Obduktion vorgenommen hatte.
»Ich schicke Ihnen meinen Bericht morgen Vormittag, aber ich kann Ihnen in groben Zügen mitteilen, was ich herausgefunden habe. Meiner Meinung nach ist der Mann jünger, als er aussieht. Für wie alt halten Sie ihn, Maigret?«
»Fünfundsechzig, siebzig …«
»Dem Zustand seiner Organe und Arterien nach ist er höchstens fünfundfünfzig.«
»Er hatte offensichtlich ein schweres Leben … Was haben Sie in seinem Magen gefunden?«
»Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass man ihn zwischen zwei und fünf Uhr morgens erschossen hat, eher zwischen drei und fünf … Seine letzte Mahlzeit, die erst halb verdaut war, bestand aus Pommes frites und Wurst. Er muss sie gegen zwei Uhr verzehrt haben, kurz bevor er nach Hause ging und sich schlafen legte.«
»Und dann hat ihn jemand im Schlaf überrascht, um …«
»Warum?«, fiel ihm der Doktor ins Wort. »Vielleicht kannte er seinen Besucher und hat ihm vertraut?«
»Das kann ich mir schwer vorstellen nach dem, was ich bis jetzt über ihn weiß. Hatte er irgendwelche Krankheiten?«
»Nein. Keinerlei Gebrechen. Der Mann war kräftig und außergewöhnlich robust.«
»Ich danke Ihnen, Doktor. Ich erwarte also Ihren Bericht. Wenn es Ihnen passt, lasse ich ihn morgen früh abholen.«
»Aber bitte nicht vor neun Uhr.«
»Dann also um neun.«
Aristos Alter erstaunte Maigret am meisten. Er schien seit einigen, womöglich seit vielen Jahren ein Leben als Clochard geführt zu haben. Und Clochards altern im Allgemeinen schneller. Auch neigen sie dazu, zusammenzurücken. Vom einen Ende der Pariser Quais bis zum anderen, stromaufwärts und stromabwärts, kennen sie sich fast alle. Und ein Neuling erregt sofort die Aufmerksamkeit der Alteingesessenen.
»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, Torrence?«
»Kaum. Bis auf den Alten vom Pont-Marie erinnert sich niemand an ihn. Obwohl viele schon über zehn Jahre unter den Brücken leben. Ich war übrigens noch in dem Tabakladen in der Nähe des abbruchreifen Hauses. Dort hat er manchmal Streichhölzer gekauft.«
»Keine Zigaretten?«
»Nein. Er hat die Stummel vom Gehsteig aufgesammelt.«
Das Telefon klingelte.
»Hallo? Monsieur Maigret?«
Die Frau am anderen Ende schien noch sehr jung zu sein.
»Ja, am Apparat. Mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist nicht von Belang. Hatte der Mann, den Sie heute Vormittag gefunden haben, eine Narbe auf der Kopfhaut?«
»Ich muss gestehen, ich weiß es nicht. Ich hoffe, das geht aus dem gerichtsmedizinischen Gutachten hervor, das ich morgen früh erwarte.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer es sein könnte?«
»Noch nicht.«
»Ich werde Sie morgen im Laufe des Tages noch einmal anrufen.«
Und ohne ein weiteres Wort legte sie auf. Maigret entschloss sich, nicht bis zum folgenden Morgen zu warten, um eine Antwort auf die Frage der jungen Frau zu bekommen. Er rief die Friseurschule an, und es meldete sich Monsieur Joseph.
»Hier Kommissar Maigret. Ich habe heute Morgen noch eine Frage vergessen. Haben Sie Aristo auch selbst frisiert?«
»Ja, um es den Schülern beizubringen.«
»Haben Sie auf der Kopfhaut eine Narbe bemerkt?«
»Ja. Ich habe mich aber nicht getraut, ihn danach zu fragen.«
»Groß?«
»Etwa sechs Zentimeter lang. Man hat die Wunde offenbar nicht genäht, darum ist die Narbe ziemlich breit.«
»War sie durch die Haare hindurch zu sehen?«
»Nicht, wenn er frisiert war. Ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt, dass er phantastisches Haar hatte.«
»Vielen Dank.«
Es gab also nun einen ersten Kontakt. Irgendwo in Paris lebte eine vermutlich junge Frau, die Aristo kannte, denn sie wusste von seiner Narbe. Sie hatte vorsorglich den Hörer aufgelegt, noch bevor Maigret ihr Fragen stellen konnte. Würde sie ihn morgen, wie versprochen, noch einmal anrufen?
Maigret war ungeduldig. Er hatte es eilig, dem Unbekannten einen Namen zu geben und herauszufinden, warum er als Clochard gelebt hatte.
Man hätte ihn leicht für verrückt halten können, angesichts des ganzen Krempels, der sich in seinem Zimmer stapelte. Warum hatte er all die Dinge aufgelesen, die er weder verkaufen noch sonst irgendwie verwenden konnte?
Dennoch gab sich Maigret nicht damit zufrieden, den Mann für verrückt zu halten.
Wieder klingelte das Telefon. So wie er es erwartet hatte, nachdem die Fotos in der Zeitung standen.
»Hallo? Spreche ich mit Kommissar Maigret?«
»Ja. Mit wem habe ich die Ehre?«
Wie die junge Frau zuvor nannte auch diese Frau keinen Namen. Sie klang älter und stellte, wie es der Zufall wollte, die gleiche Frage:
»Hatte er eine Narbe am Kopf?«
»Ist Ihnen jemand mit einer solchen Narbe bekannt, der dem Toten ähnelt?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Warum antworten Sie nicht?«
»Weil Sie meine Frage noch nicht beantwortet haben.«
»Ja, er hat eine etwa sechs Zentimeter lange Narbe am Kopf.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie und legte auf.
Wie die junge Frau zuvor. Es gab also zwei Frauen, die Aristo kannten. Sie standen offenbar nicht in Kontakt miteinander, sonst hätte ein einziger Anruf genügt.
Wie sollte er sie unter fünf Millionen Einwohnern finden?
Und warum wollten sie unbedingt anonym bleiben?
Maigret war schlecht gelaunt und verließ fluchend das Gebäude der Kriminalpolizei. Und dennoch hatte er etwas Neues erfahren: Dieser einsame Mann war nicht immer so einsam gewesen.
Zwei Frauen kannten ihn. Zwei Frauen erinnerten sich an ihn, aber sie wollten nicht, dass man ihnen Fragen stellte.
Warum nur?
Auch ohne das klärende Gewitter hatte sich die Luft ein wenig abgekühlt. Eine leichte Brise kam auf und trieb rosafarbene Wölkchen über den Himmel, der wie die Kulisse für eine Opernaufführung wirkte.
Maigret genehmigte sich ein Glas Bier. Er hatte Doktor Pardon versprochen, nicht zu übertreiben. Aber bei drei Bier vom Fass an einem Tag konnte von Übertreibung kaum die Rede sein.
Er gab sich alle Mühe, nicht mehr an Aristo zu denken. Und doch fragte er sich, wer seine sonderbare Behausung entdeckt haben mochte und warum er ihn umgebracht hatte.
Mürrisch zuckte er mit den Schultern. Er wusste, wie unsinnig es war, sofort alles wissen zu wollen. Das galt im Übrigen für alle Ermittlungen. Es verstimmte ihn jedes Mal, so lange im Dunkeln zu tappen, er hielt es für ungerecht und machte das Schicksal dafür verantwortlich.
Und wenige Tage später kam die Wahrheit für gewöhnlich ans Licht. Aber galt das auch für diesen Fall? Er zwang sich, ein Liedchen zu pfeifen, und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.