Читать книгу Maigret verliert eine Verehrerin - Georges Simenon - Страница 4
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ОглавлениеMadame Maigret würde wieder einmal allein vor den beiden Gedecken warten, die sie auf dem runden Tisch aufgelegt hatte. Wie sehr sie daran gewöhnt war! Es hatte auch nichts genützt, dass sie sich eine Telefonleitung hatten legen lassen: Maigret vergaß trotz allem, sie zu benachrichtigen. Was den jungen Duchemin betraf, so würde Cassieux ihm die übliche Strafpredigt halten müssen.
Langsam und mit besorgtem Gesichtsausdruck war der Kommissar die fünf Treppen wieder hinaufgegangen, ohne zu bemerken, dass auf jedem Treppenabsatz Mieter standen. Cécile war es, an die er dachte, dieses farblose Mädchen, über das sie sich so lustig gemacht hatten und das manche bei der Kriminalpolizei Maigrets ›Verehrerin‹ nannten.
Hier lebte sie also, in diesem gewöhnlichen Vorstadtwohnhaus, diese dunkle Treppe ging sie jeden Tag hinunter und wieder hinauf; diese Atmosphäre war es, die noch an ihrer Kleidung haftete, wenn sie sich verängstigt und geduldig in den Warteraum am Quai des Orfèvres setzte.
Wenn Maigret sich dazu herabgelassen hatte, sie zu empfangen, hatte er sie dann nicht mit einem Ernst, der nur schlecht seine Ironie verbarg, gefragt:
»Und, sind heute Nacht wieder Dinge verrückt worden? Ist das Tintenfass am anderen Ende des Sekretärs angelangt? Hat der Brieföffner seine Schublade verlassen?«
Im fünften Stock angekommen gab er dem Polizisten die Anweisung, niemanden in die Wohnung zu lassen, stieß die Tür auf, überlegte es sich dann aber anders und untersuchte die Klingel. Es war keine elektrische Klingel, sondern eine dicke rotgelbe Schnur, die herunterhing. Er zog daran. Im Wohnzimmer war ein klösterliches Gebimmel zu hören.
»Achten Sie darauf, dass niemand die Tür anfasst«, wies er den Polizisten an.
Für den Fall, dass Fingerabdrücke darauf zu finden wären. Aber er glaubte selbst nicht daran. Er war in düsterer Stimmung. Das Bild von Cécile ließ ihn nicht los, wie sie im Aquarium saß – denn so nannte man am Quai den Warteraum mit seiner einen verglasten Wand.
Er war zwar kein Arzt, aber es war nicht schwer zu erkennen, dass die alte Dame schon mehrere Stunden tot war, also lange bevor ihre Nichte am Quai des Orfèvres erschienen war.
War Cécile bei dem Verbrechen dabei gewesen? Wenn ja, hatte sie niemanden benachrichtigt, nicht um Hilfe gerufen. Sie war bis zum Morgen mit der Leiche in der Wohnung geblieben und hatte sich dann wie gewöhnlich zurechtgemacht. Er hatte sie sich bei seiner Ankunft am Quai genau genug angesehen, um zu wissen, dass sie normal gekleidet war.
Dieses Detail schien ihm wichtig, und er wollte sich sofort vergewissern. Er suchte ihr Zimmer. Er fand es nicht gleich. Zur Straße hin lagen drei Räume: das Wohnzimmer, das Esszimmer und das Schlafzimmer der Tante.
Auf der rechten Seite des Flurs die Küche und eine Speisekammer. Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite der Küche und entdeckte eine von einem Oberlicht nur schwach erhellte Kammer, in der ein Eisenbett, ein Waschtisch und ein Kleiderschrank standen: Céciles Zimmer.
Das Bett war nicht gemacht. In der Waschschüssel war noch Seifenwasser, und zwischen den Zinken eines Kamms hingen ein paar dunkle Haare. Über einem Stuhl hing ein rosa Flanellmorgenmantel.
Wusste Cécile es schon, als sie sich ankleidete? Es konnte noch nicht hell gewesen sein, als sie auf die Straße trat, oder vielmehr auf die Route Nationale, die vor dem Haus entlangführte, und an der kaum hundert Meter entfernten Haltestelle auf die Straßenbahn wartete. Es hatte dichter Nebel geherrscht.
Bei der Kriminalpolizei hatte sie ihren Anmeldezettel ausgefüllt und sich im Warteraum unter den schwarzen Rahmen gesetzt, in dem die Fotos der im Dienst ums Leben gekommenen Inspektoren hingen.
Endlich war Maigret auf der Treppe erschienen. Sie war aufgesprungen. Gleich würde er sie empfangen, und sie würde ihm alles sagen können …
Aber nein, über eine Stunde ließ er sie warten. Die Flure belebten sich, Inspektoren riefen einander im Vorbeigehen etwas zu, Türen gingen auf und zu. Weitere Personen nahmen im Aquarium Platz, und der Bürodiener rief sie einen nach dem anderen herein. Nur sie allein blieb übrig …
Was hatte sie dazu bewegen können zu gehen?
Mechanisch stopfte Maigret seine Pfeife. Er hörte Stimmen im Treppenhaus. Die Mieter besprachen das Ereignis, und der Polizist forderte sie freundlich dazu auf, wieder in ihre Wohnungen zu gehen.
Was war aus Cécile geworden?
Die ganze Stunde lang, die er allein in der Wohnung verbrachte, ließ ihn dieser Gedanke nicht los und gab seinem Gesicht diesen verschlafenen Ausdruck, den seine Mitarbeiter gut kannten.
Dennoch arbeitete er, auf seine Art. Die Atmosphäre der Wohnung hatte er sich bereits genau eingeprägt. Schon im Vorzimmer, oder besser gesagt in dem dunklen Flur, der als Vorzimmer diente, hing der Geruch von Alter und von Armut. Die winzige Wohnung war mit so vielen Möbeln angefüllt, dass man doppelt so viele Zimmer damit hätte einrichten können, lauter alte Möbel aus den verschiedensten Epochen und in den unterschiedlichsten Stilen, darunter aber kein einziges wertvolles Stück. Er musste an die Versteigerungen auf dem Land denken, wenn nach einem Todesfall oder einem Bankrott der Öffentlichkeit plötzlich der Zutritt zu steifen Bürgerhäusern gewährt wird.
Dabei herrschte keinerlei Unordnung, alles war peinlich sauber, jede noch so kleine Fläche war blank poliert, und selbst der kleinste Krimskrams stand an seinem vorgesehenen Platz.
Es hätte Maigret nicht gewundert, wenn die Wohnung anstelle von Elektrizität mit Kerzenleuchtern, Petroleum- oder Gaslampen beleuchtet worden wäre, so wenig ließ sie sich einer bestimmten Zeit zuordnen, und tatsächlich waren die Lampen alte Petroleumleuchten, die man modernisiert hatte.
Das Wohnzimmer erinnerte an einen Trödelladen. Die Wände waren mit Familienporträts, Aquarellen und wertlosen Stichen in Schwarz und Gold gestrichenen verschnörkelten Holzrahmen bedeckt. Am Fenster thronte ein stattlicher Mahagonisekretär mit ausklappbarer Tischplatte, wie man sie noch manchmal bei Schlossverwaltern sah.
Maigret wickelte sich ein Taschentuch um die Hand und zog ein Schubfach nach dem anderen heraus. Sie enthielten Schlüssel, Siegellackstücke, Pillendöschen, das Gestell einer Lorgnette, zwanzig Jahre alte Kalender und vergilbte Rechnungen. Der Sekretär war nicht aufgebrochen worden. Vier Schubfächer waren leer.
Mehrere Sessel mit abgenutztem Polster, eine kleine Kommode, ein Nähtischchen, zwei Louis-XIV-Standuhren. Schon im Flur hatte Maigret eine solche Uhr gesehen, im Esszimmer fand er eine weitere und war überrascht, fast amüsiert, als er auch noch zwei im Schlafzimmer der Toten entdeckte.
Eine Marotte offenbar. Das Erstaunlichste aber war, dass alle diese Uhren gingen. Maigret merkte es, als um zwölf Uhr mittags eine nach der anderen zu schlagen begann.
Auch das Esszimmer war so mit Möbeln vollgestopft, dass man sich zwischen ihnen kaum bewegen konnte. Wie in den anderen Zimmern hingen dicke Vorhänge vor den Fenstern, als scheuten die Bewohner das Tageslicht.
Warum hatte die alte Frau mitten in der Nacht, als sie vom Tod überrascht worden war, einen Strumpf angehabt? Er suchte den anderen und fand ihn auf dem Bettvorleger. Es waren Strümpfe aus grober schwarzer Wolle. Die Beine der Toten waren geschwollen und blau angelaufen, woraus Maigret schloss, dass Céciles Tante an Wassersucht gelitten hatte. Ein Krückstock, den er vom Fußboden aufhob, bewies ihm, dass sie nicht vollkommen bettlägerig gewesen war, sondern sich in der Wohnung hatte bewegen können.
Über dem Bett hing eine Kordel, die der im Treppenhaus ähnelte. Er zog an ihr, lauschte, hörte, wie die Wohnungstür aufsprang, und ging hinaus, um sie zu schließen, wobei er mit den Mietern schimpfte, die immer noch auf dem Treppenabsatz versammelt waren.
Warum hatte Cécile den Quai des Orfèvres plötzlich verlassen? Was hatte sie zu dieser Entscheidung bewogen, wenn sie doch dem Kommissar etwas so Ernstes mitzuteilen hatte?
Sie allein wusste es. Sie allein konnte es erklären, und je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde Maigret.
Was taten die beiden Frauen nur den ganzen Tag, fragte er sich beim Anblick der vielen Möbel, überladen mit zerbrechlichen Staubfängern: Figuren aus filigranem Glas und aus dünner Fayence, eine abscheulicher als die andere, Glaskugeln, in denen die Grotte von Lourdes oder die Bucht von Neapel zu sehen waren, verwackelte Fotos in Messingrahmen, eine fast durchsichtige japanische Tasse mit angeleimtem Henkel, künstliche Blumen in nicht zueinander passenden Champagnergläsern.
Noch einmal betrat er das Schlafzimmer der Tante, die dort mit diesem unerklärlichen Strumpf am Bein in ihrem Mahagonibett lag.
Es war etwa ein Uhr, als auf dem Gehweg ein Tumult entstand, der sich erst in das Treppenhaus und dann in Richtung der Wohnungstür bewegte. Der Kommissar saß zu diesem Zeitpunkt im Mantel und mit dem Hut auf dem Kopf im tiefsten Sessel des Wohnzimmers, und er hatte so viel geraucht, dass ein blauer Dunst in der Luft hing. Er fuhr zusammen, als erwachte er aus einem Traum. Stimmen drangen an sein Ohr.
»Nun, mein lieber Kommissar?«
Es war der Vertreter der Staatsanwaltschaft Bideau, der ihm lächelnd die Hand reichte, gefolgt von dem kleinen Untersuchungsrichter Mabille, dem Gerichtsmediziner und dem Schreiber, der schon nach einem Tisch Ausschau hielt, auf dem er seine Papiere ausbreiten konnte.
»Ein interessanter Fall? Das sieht hier ja nicht gerade lustig aus …«
Gleich darauf hielt der Wagen des Erkennungsdienstes am Straßenrand, und die Fotografen fielen mit ihren sperrigen Apparaten in das Haus ein.
Eingeschüchtert und ein wenig betrübt, weil sich niemand um ihn kümmerte, zwängte sich der Polizeikommissar von Bourg-la-Reine zwischen den Herren hindurch.
»Gehen Sie bitte wieder in Ihre Wohnungen, meine Herrschaften«, sagte der vor der Wohnungstür Wache stehende Polizist noch einmal. »Es gibt hier nichts zu sehen. Sie werden gleich alle der Reihe nach vernommen. Aber um Himmels willen gehen Sie jetzt, nun gehen Sie doch …«
Es war fünf Uhr nachmittags. Der Nebel hatte sich in einen Nieselregen verwandelt, und die Straßenlaternen waren früher angegangen als sonst. Den Hut tief in die Stirn gedrückt, hastete Maigret durch den zugigen Torbogen der Kriminalpolizei und ging dann schnell die schlecht beleuchtete Treppe hinauf.
Unwillkürlich warf er einen Blick in das Wartezimmer, das jetzt im künstlichen Licht noch mehr an ein Aquarium erinnerte. Vier oder fünf Personen saßen dort starr wie die Wachsfiguren im Musée Grévin, und der Kommissar fragte sich, warum man den Raum mit dieser grünen Tapete, dieser grünen Sitzgarnitur und auch noch einem grünen Tisch ausgestattet hatte, deren Widerschein den Gesichtern eine leichenblasse Farbe verlieh.
»Ich glaube, Sie werden gesucht, Herr Kommissar«, sagte im Vorbeigehen ein Inspektor mit mehreren Akten unterm Arm.
»Der Chef möchte Sie sprechen«, empfing ihn auch der Bürodiener, der gerade Briefe frankierte.
Ohne vorher in sein Büro zu gehen, klopfte Maigret an die Tür des Direktors. Nur die Schreibtischlampe brannte.
»Nun, Maigret?«
Schweigen.
»Eine unerfreuliche Angelegenheit, nicht wahr, Sie Armer? Haben Sie etwas Neues erfahren?«
Maigret spürte, dass der Chef ihm etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte. Mit besorgter Miene wartete er ab.
»Ich habe versucht, Sie zu informieren, aber Sie waren in Bourg-la-Reine schon nicht mehr zu erreichen. Es geht um die junge Frau … Vorhin hat Victor …«
Der stotternde Victor war einer der Pförtner im Palais de Justice. Mit seinem Schnurrbart und seiner rauen Stimme erinnerte er Maigret an einen Seehund.
»Victor hat auf dem Flur den Generalstaatsanwalt getroffen. Er war schlecht gelaunt …
›Nennen Sie das einen gefegten Boden, mein Freund?‹«
Jeder wusste, was es bedeutete, wenn der Generalstaatsanwalt jemanden ›mein Freund‹ nannte.
Maigret versuchte zu erahnen, was der Leiter der Kriminalpolizei ihm sagen würde.
»Victor war so erschrocken, dass er gleich zum Besenschrank gerannt ist. Raten Sie mal, was er da gefunden hat …«
Der Kommissar senkte den Kopf und antwortete ohne Erstaunen:
»Cécile.«
Er hatte in Bourg-la-Reine, während um ihn herum die sogenannte Beweisaufnahme vonstatten ging, genügend Zeit gehabt, alle möglichen Hypothesen über Cécile aufzustellen, aber keine hatte ihn zufriedengestellt. Er war immer wieder auf dieselbe Frage zurückgekommen:
Was hat sie nur dazu bewegen können, den Quai des Orfèvres zu verlassen, obwohl sie mir etwas so Wichtiges mitzuteilen hatte?
Er war mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht aus eigener Initiative weggegangen war.
Jemand musste sich ihr dort, im ureigensten Refugium der Polizei, angenähert haben, wenige Schritte von Maigret entfernt, und Cécile war mit ihm gegangen.
Mit welchen Argumenten hatte man sie weggelockt? Wer hatte eine solche Macht über die junge Frau, um …
Plötzlich begriff Maigret.
»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte er und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass sie den Quai nicht verlassen hat, dass nichts sie dazu bringen konnte, dieses Gebäude zu verlassen …«
Er war wütend auf sich selbst.
»Tot natürlich«, brummte er, auf den Boden starrend.
»Ja. Wenn Sie mitkommen wollen …«
Der Direktor der Kriminalpolizei drückte den Knopf einer Gegensprechanlage und wies den Bürodiener an:
»Falls jemand nach mir fragt oder für mich anruft, ich bin gleich wieder da.«
Sie waren beide gleichermaßen besorgt, aber der Kommissar spürte zudem die Last des schlechten Gewissens. Der Tag hatte so schön begonnen. Der Duft von Milchkaffee, von Croissants und von Rum fiel ihm wieder ein. Der strahlende Nebel im Morgengrauen …
»Übrigens, Janvier hat angerufen. Es scheint, dass Ihre Polen …«
Maigret machte eine abwinkende Geste, als wollte er alle Polen der Welt aus seinem Blickfeld verbannen.
Der Direktor öffnete eine Glastür, von der es seit mindestens zehn Jahren hieß, dass man sie zumauern werde. Aus praktischen Gründen zögerte man es jedoch hinaus, denn diese Tür ermöglichte den direkten Weg von der Kriminalpolizei zum Palais de Justice und zur Registratur. Die engen Treppen und verwinkelten Korridore erinnerten an die Kulissen eines Theaters. Wenn man einen Verdächtigen zur Staatsanwaltschaft bringen musste …
Rechts führte eine Treppe ins Dachgeschoss hinauf, wo sich der Erkennungsdienst und das Labor befanden. Ein Stück weiter hörte man hinter einer Milchglastür das pausenlose Stimmengemurmel des Palais, der Anwälte, die kamen und gingen, und der vielen Schaulustigen, die Strafgerichtsprozesse und Verhandlungen vor dem Schwurgericht mit anhörten.
Vor einer schmaleren Tür, die Gott weiß warum mitten in die Wand eingelassen war, stand ein Inspektor und rauchte. Als er die beiden Männer bemerkte, drückte er seine Zigarette aus.
Nur jemand, der das Gebäude genau kannte, konnte von dieser Tür wissen! Hinter ihr befand sich ein recht tiefer Wandschrank, eine etwa zwei Quadratmeter große dunkle Nische, in der Victor aus Bequemlichkeit seine Besen und Eimer untergebracht hatte.
Der Inspektor trat zur Seite. Der Chef öffnete die Tür, und da es in dem Verschlag keine Lampe gab, zündete er ein Streichholz an.
»Das ist sie«, sagte er.
Céciles Körper hatte sich beim Fallen nicht einmal ganz ausstrecken können; ihr Oberkörper lehnte an der Wand, und der Kopf war auf die Brust gesackt.
Maigret, dem plötzlich heiß geworden war, fuhr sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht und steckte seine noch brennende Pfeife in die Tasche.
Es bedurfte nicht vieler Worte. Sie standen beide da und betrachteten sie, der Direktor und der Kommissar, und dieser zog unwillkürlich den Hut.
»Wissen Sie, was ich denke, Chef? Jemand ist in den Warteraum gegangen und hat ihr gesagt, dass ich sie statt in meinem Büro in einem anderen Raum erwarte. Jemand, von dem sie angenommen hat, er sei von der Kriminalpolizei.«
Der Direktor nickte nur.
»Es musste schnell gehen, verstehen Sie? Ich hätte sie jeden Augenblick aufrufen können. Sie kannte den Mörder ihrer Tante. Diese Tür, hinter der es vollkommen dunkel ist, wurde aufgemacht … Und sobald Cécile einen Schritt getan hatte …«
»Man hat sie zuerst mit einem Knüppel oder so etwas Ähnlichem bewusstlos geschlagen.«
Der lächerliche grüne Hut, der auf dem Boden lag, bestätigte diese Vermutung. Außerdem war in den dunklen Haaren der jungen Frau ein wenig geronnenes Blut zu erkennen.
»Sie muss getaumelt sein, ist vielleicht hingefallen, und um es möglichst lautlos zu Ende zu bringen, hat der Mörder sie dann erwürgt.«
»Sind Sie sicher, Chef?«
»Es ist die Ansicht des Gerichtsmediziners. Aber ich wollte, dass die Autopsie erst vorgenommen wird, wenn Sie die Leiche gesehen haben. Was erstaunt Sie daran? Auch ihre Tante ist erwürgt worden, oder nicht?«
»Das ist es eben.«
»Was wollen Sie damit sagen, Maigret?«
»Dass ich nicht glaube, dass dieselbe Person beide Verbrechen begangen haben kann. Als Cécile heute Morgen hierherkam, kannte sie den Mörder ihrer Tante.«
»Glauben Sie?«
»Sonst hätte sie früher Alarm geschlagen. Laut Gerichtsmediziner ist ihre Tante vor zwei Uhr morgens gestorben. Entweder war Cécile bei dem Mord dabei …«
»Warum hat der Täter dann nicht auch sie in Bourg-la-Reine umgebracht?«
»Sie könnte sich versteckt haben. Es kann aber auch sein, dass sie die Leiche ihrer Tante erst entdeckt hat, als sie heute Morgen um halb sieben aufgestanden ist – ich habe gesehen, dass ihr Wecker auf diese Uhrzeit gestellt war. Sie hat niemandem etwas gesagt. Sie ist sofort hierhergeeilt.«
»Das ist seltsam.«
»Nicht, wenn man davon ausgeht, dass sie den Mörder gekannt hat. Sie wollte es mir persönlich sagen. Sie hat dem Kommissar von Bourg-la-Reine misstraut. Der Beweis, dass sie Bescheid wusste, ist, dass man sie getötet hat, um sie am Sprechen zu hindern.«
»Und wenn Sie sie gleich empfangen hätten, als sie gekommen sind?«
Maigret wurde rot, was bei ihm selten vorkam.
»Nun ja, eine Sache ist mir noch nicht ganz klar … Dem Mörder war es vielleicht in dem Moment nicht möglich … Oder er wusste noch nicht …«
Plötzlich schien ihm etwas anderes einzufallen.
»Nein, so kann es nicht gewesen sein«, knurrte er.
»Was kann so nicht gewesen sein?«
»Das, was ich sage. Wenn der Mörder der alten Frau im Aquarium aufgetaucht wäre …«
»Im Aquarium?«
»Entschuldigen Sie, Chef. So nennen die Inspektoren den Warteraum. Dann wäre Cécile nicht mit ihm gegangen. Also ist ein anderer gekommen. Einer, den sie nicht kannte, oder jemand, dem sie vertraut hat …«
Und Maigret starrte wie besessen auf das kleine dunkle, zwischen Besen und Eimern an der Wand der Kammer zusammengesunkene Häufchen.
»Es war jemand, den sie nicht kannte!«, sagte er plötzlich entschieden.
»Warum?«
»Draußen wäre sie vielleicht jemandem gefolgt, den sie kannte, aber nicht hier! Ich gestehe, dass ich damit gerechnet habe, dass man sie in der Seine oder auf irgendeinem unbebauten Grundstück findet, aber …«
Er ging zwei Schritte vor, bückte sich, um durch die niedrige Tür in die Kammer hineinzugehen, zündete erst ein Streichholz an, dann ein zweites und schob die Leiche vorsichtig zur Seite.
»Was suchen Sie, Maigret?«
»Ihre Tasche.«
Céciles Tasche war ebenso charakteristisch für sie wie der komische grüne Hut, eine riesige Tasche, fast so groß wie ein kleiner Koffer, und wenn sie im Aquarium wartete, hielt sie sie immer wie einen kostbaren Schatz auf ihren Knien.
»Sie ist verschwunden.«
»Was schließen Sie daraus?«
Da vergaß Maigret, dass er mit seinem Vorgesetzten sprach, und ließ seiner Nervosität freien Lauf:
»Daraus schließen! Daraus schließen! Können Sie denn etwas daraus schließen?«
Er bemerkte, wie der blonde Inspektor, der ein paar Schritte von ihnen entfernt stand, den Kopf abwandte, und fing sich wieder.
»Entschuldigen Sie bitte, Chef, aber Sie müssen zugeben, dass bei uns jeder einfach so reinspazieren kann. Dass jemand einfach in den Warteraum gehen konnte und …«
Er war so gereizt, dass er die Zähne fest auf seine Pfeife presste.
»Abgesehen davon hätte diese verdammte Tür längst zugemauert werden müssen.«
»Wenn Sie das junge Mädchen gleich empfangen hätten, als …«
Armer Maigret! Es tat weh mit anzusehen, wie dieser große kräftige Mann, den so leicht nichts erschüttern konnte, den Kopf senkte, auf dieses schlaffe, leblose Bündel Kleider hinunterblickte und sich erneut mit seinem Taschentuch durchs Gesicht fuhr.
»Was tun wir jetzt?«, fragte der Direktor, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
Öffentlich eingestehen, dass in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei ein Verbrechen begangen worden war, genauer gesagt in diesem engen Schlauch, der die Kriminalpolizei mit dem Palais de Justice verband?
»Ich möchte Sie um etwas bitten. Wenn Lucas sich weiter mit der Polenaffäre befassen könnte …«
War es Hunger? Maigret hatte seit dem Morgen nichts gegessen, dafür aber schon drei Gläschen getrunken, die ihm nun den Magen aushöhlten.
»Wenn Sie es so wollen …«
»Schließen Sie die Tür, Inspektor, und passen Sie weiter auf. Ich komme gleich wieder.«
Von seinem Büro aus rief Maigret, ohne Hut und Mantel abzulegen, Madame Maigret an.
»Nein … Ich weiß noch nicht, wann ich nach Hause komme … Es ist zu kompliziert, es dir jetzt zu erklären …«
Sollte er wie gewöhnlich Sandwiches aus der Brasserie Dauphine kommen lassen? Nein, er brauchte frische Luft. Draußen nieselte es noch immer, also entschied er sich für die kleine Bar vor dem Henri-IV-Denkmal, gleich am Pont Neuf.
»Ein Schinkensandwich.«
»Wie geht’s, Herr Kommissar?«
Der Kellner kannte ihn. Wenn Maigret diese schweren Augenlider hatte und diese verschlossene Miene aufsetzte …
»Viel zu tun?«
In der Nähe der Theke spielten einige Gäste Belote. Andere versuchten beharrlich ihr Glück an den Spielautomaten.
Maigret biss in sein Sandwich, dachte darüber nach, dass Cécile tot war, und trotz seines dicken Mantels lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.