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2 Der Schlafende
ОглавлениеNach einem kurzen Treffen mit Richter Coméliau, der sich immer noch nicht beruhigen konnte, kam Maigret um elf Uhr nach Auteuil.
Es war ein grauer Tag, das Pflaster schmutzig, der Himmel hing tief über den Dächern. An dem Ufer, das der Kommissar entlangging, stand eine Reihe stattlicher Häuser, während die andere Seite mit ihren Fabriken, Brachen und Bergen von Baumaterial auf den Ladequais eher nach Vorort aussah.
Dazwischen lag bleigrau die Seine, aufgewühlt von flussauf, flussab fahrenden Lastkähnen.
Das Citanguette war aus der Entfernung leicht zu erkennen, denn der Gasthof stand einsam auf einem Gelände, wo alles Mögliche herumlag: Backsteine, Autowracks, Dachpappe, sogar Eisenbahnschienen.
Ein einstöckiger Bau in einem scheußlichen Rot, davor eine Terrasse mit drei Tischen und die übliche Markise mit der Aufschrift Wein – Imbiss.
Schauerleute, die offenbar Zement geladen hatten, da sie von Kopf bis Fuß weiß waren, verabschiedeten sich mit Handschlag von einem Mann in blauer Schürze und schlenderten dann zu einem am Ufer festgemachten Schiff.
Maigret sah müde aus und hatte trübe Augen, aber das lag nicht an der durchwachten Nacht.
So war es immer: Wenn ein Ziel, das er lange hartnäckig verfolgt hatte, zum Greifen nah war, ließ er sich gehen.
Eine Art Überdruss, gegen den er nicht ankam.
Er steuerte ein Hotel direkt gegenüber dem Citanguette an und trat an die Rezeption.
»Ich möchte ein Zimmer mit Blick auf die Seine.«
»Für länger?«
Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht der beste Moment, ihm dumm zu kommen.
»Solange ich es brauche! Kriminalpolizei …«
»Wir haben nichts frei.«
»Gut, dann zeigen Sie mir doch mal Ihre Anmeldungen.«
»Das heißt … Warten Sie! Ich ruf mal den Etagenkellner an, ob vielleicht die 18 …«
»Idiot!«, stieß Maigret zwischen den Zähnen hervor.
Natürlich bekam er das Zimmer. Es war ein luxuriöses Hotel.
»Darf ich Ihr Gepäck nach oben bringen?«, fragte der Etagenkellner.
»Ich habe kein Gepäck. Bringen Sie mir ein Fernglas.«
»Ähm … Ich weiß nicht …«
»Los! Hol mir sofort ein Fernglas, egal woher!«
Seufzend zog Maigret seinen Mantel aus, öffnete das Fenster und stopfte sich eine Pfeife. Kaum fünf Minuten später hielt er ein perlmuttverziertes Opernglas in Händen.
»Es ist von der Geschäftsführerin. Sie lässt Ihnen ausrichten …«
»Ist gut jetzt! Verschwinde!«
Bald kannte er die Fassade des Citanguette in allen Einzelheiten.
Ein Fenster im ersten Stock stand offen. Man sah ein ungemachtes Bett mit einer dicken roten Daunendecke, davor bestickte Pantoffeln auf einem Schafsfell.
Das Zimmer des Patrons!
Daneben ein geschlossenes Fenster. Dann ein drittes, offenes, hinter dem eine üppige Frau im Morgenmantel ihre Haare kämmte.
Die Wirtin. Oder das Zimmermädchen.
Unten wischte der Wirt die Tische. An einem saß Inspektor Dufour bei einem Glas Rotwein.
Die beiden sprachen offenbar miteinander.
Ein Stück weiter, am Rand der gepflasterten Uferstraße, stand ein blonder junger Mann mit Trenchcoat und grauer Mütze, der das Löschen des Zements zu überwachen schien.
Das war Inspektor Janvier, einer der jüngsten Beamten der Kriminalpolizei.
In Maigrets Zimmer befand sich ein Telefon am Kopfende des Bettes. Er nahm den Hörer ab.
»Hallo? Ist dort die Rezeption?«
»Sie wünschen, bitte?«
»Verbinden Sie mich mit dem Citanguette am Ufer gegenüber.«
»Gern!«, kam es missmutig zurück.
Es dauerte lange. Von seinem Fenster aus konnte der Kommissar beobachten, wie der Wirt endlich den Lappen weglegte und zu einer Tür ging. Dann klingelte es bei ihm.
»Ich verbinde …«
»Hallo! Bin ich mit dem Citanguette verbunden? Holen Sie mir bitte den Gast ans Telefon, der gerade bei Ihnen sitzt! … Ja, den! Irrtum ausgeschlossen, ist ja sonst keiner da.«
Durch das Fenster sah er, wie der Wirt verblüfft etwas zu Dufour sagte und der daraufhin zur Kabine ging.
»Bist du’s?«
»Sie, Chef?«
»Ja, im Hotel gegenüber, du kannst es von dir aus sehen. Was macht unser Mann?«
»Er schläft.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Vorhin hab ich an seiner Zimmertür gelauscht und ihn schnarchen hören. Daraufhin hab ich sie einen Spaltbreit geöffnet und reingeschaut. Er liegt mit angezogenen Beinen in Klamotten auf dem Bett …«
»Bist du sicher, dass der Wirt ihn nicht gewarnt hat?«
»Der hat viel zu viel Angst vor der Polizei. Es gab nämlich schon mal Ärger, ist eine Weile her. Da wurde ihm mit dem Entzug seiner Lizenz gedroht. Seitdem ist er lammfromm.«
»Ausgänge?«
»Zwei: der Haupteingang und eine Tür zum Hof … Janvier ist irgendwo da draußen und bewacht sie.«
»Ist jemand in den ersten Stock hinaufgegangen?«
»Nein. Und wer raufwill, muss an mir vorbei, die Treppe beginnt direkt hinter der Theke.«
»Gut. Du isst dort zu Mittag. Versuch, wie ein Schiffsagent auszusehen. Ich rufe später wieder an!«
»Fertig?«, fragte die Telefonistin.
»Ja! Und jetzt hätte ich gern ein Bier. Und Tabak!«
»Tabak haben wir nicht.«
»Dann lassen Sie eben welchen holen.«
Maigret legte auf, schob einen Sessel ans offene Fenster, nahm fröstelnd seinen Mantel vom Haken und zog ihn an.
Um drei Uhr nachmittags saß er immer noch am selben Platz, das Fernglas auf den Knien, ein leeres Bierglas in Reichweite. Trotz des offenen Fensters roch es stark nach Pfeifenrauch.
Er hatte die Morgenzeitungen zu Boden fallen lassen. Auf der Titelseite die Polizeimeldung:
Zum Tode Verurteilter aus der Santé entflohen
Immer wieder zog der Kommissar die Schultern hoch, schlug die Beine übereinander, streckte sie wieder aus.
Um halb vier wurde er aus dem Bistro gegenüber angerufen.
»Was Neues?«, fragte er.
»Nein, der Mann schläft immer noch.«
»Und sonst?«
»Ich habe einen Anruf vom Quai des Orfèvres erhalten, wo Sie denn bleiben. Der Untersuchungsrichter möchte Sie unbedingt sprechen …«
Diesmal zog Maigret nicht die Schultern hoch, sondern murmelte etwas Unzweideutiges, legte auf und rief die Telefonistin an.
»Die Staatsanwaltschaft, Mademoiselle – dringend!«
Er wusste schon, was Coméliau sagen würde.
»Hallo? Sind Sie das, Kommissar? … Endlich! Niemand konnte mir sagen, wo Sie sind! Aber vom Quai des Orfèvres habe ich erfahren, dass Sie zwei Beamte im Citanguette postiert haben. Dann habe ich dort anrufen lassen …«
»Was gibt’s?«
»Erstens, haben Sie neue Erkenntnisse?«
»Nein, nichts! Der Mann schläft.«
»Sind Sie sicher? Ist er Ihnen bestimmt nicht entwischt?«
»Ohne zu übertreiben, könnte ich fast sagen, dass ich ihm beim Schlafen zuschaue.«
»Wissen Sie, allmählich bereue ich …«
»… dass Sie auf mich gehört haben? Aber der Justizminister war doch auch dafür!«
»Warten Sie! Die Morgenzeitungen haben die Meldung verbreitet …«
»Hab ich gesehen.«
»Aber haben Sie auch die Mittagsblätter gelesen? … Nein? Dann versuchen Sie, den Sifflet zu bekommen … Ja, ich weiß, ein Revolverblatt, trotzdem! … Bleiben Sie noch einen Moment am Apparat … Hallo? … Sind sie noch dran? … Ich lese es Ihnen vor … Eine Kolumne, Überschrift: Staatsräson … Hören Sie mich, Maigret? … Also:
Einer offiziösen Verlautbarung der Polizei zufolge, die heute von den Morgenzeitungen verbreitet wurde, ist Joseph Heurtin, der vom Schwurgericht des Département Seine zum Tode verurteilt wurde und seitdem unter strengster Bewachung stand, unter ungeklärten Umständen aus der Santé ausgebrochen.
Allerdings sind die Umstände, wie wir hinzufügen können, nicht ganz unerklärlich.
Joseph Heurtin ist nämlich gar nicht ausgebrochen, sondern wurde zur Flucht genötigt. Und das am Vorabend seiner Hinrichtung.
Nähere Einzelheiten der abscheulichen Schmierenkomödie, die heute Nacht in der Santé zur Aufführung kam, konnten wir noch nicht in Erfahrung bringen, wir gehen aber davon aus, dass die Polizei in Absprache mit der Justizbehörde hinter dem fingierten Ausbruch steckt.
Weiß Joseph Heurtin davon?
Wie auch immer, uns fehlen die Worte für diesen in der Kriminalgeschichte einmaligen Vorgang.«
Bis zum Schluss hatte Maigret schweigend zugehört.
»Was sagen Sie dazu?«, kam es etwas unsicher vom Ende der Leitung.
»Das zeigt, dass ich recht hatte. Die sind ja nicht von allein draufgekommen. Und von den sechs eingeweihten Beamten hat bestimmt keiner geplaudert. Es ist …«
»Ja?«
»Das erfahren Sie heute Abend. Alles in Ordnung, Monsieur Coméliau!«
»Glauben Sie? Und wenn sich die gesamte Presse darauf stürzt?«
»Dann gibt es einen Skandal.«
»Sehen Sie …«
»Ist der Kopf eines Mannes nicht einen Skandal wert?«
Fünf Minuten später ließ Maigret sich mit dem Quai des Orfèvres verbinden.
»Wachtmeister Lucas? … Hör mal, mein Guter! Du saust jetzt zum Sifflet in der Rue Montmartre und knöpfst dir den Chefredakteur vor! Mach ihm ruhig ein bisschen Druck! Wir müssen rauskriegen, woher er das mit Heurtins Flucht weiß! Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er heute früh einen Brief oder eine Rohrpostsendung bekommen hat. Du findest das Dokument und bringst es her … Alles klar?«
»Fertig?«, fragte die Telefonistin.
»Nein, Mademoiselle! Geben Sie mir das Citanguette …«
Wenig später war Inspektor Dufour am Telefon.
»Er schläft!«, wiederholte er. »Vorhin habe ich eine Viertelstunde an seiner Tür gelauscht. Er hat in seinen Albträumen gestöhnt und nach seiner Mama gerufen.«
Als der Kommissar sein Fernglas auf das geschlossene Fenster im ersten Stock richtete, hatte er den Schlafenden so klar und deutlich vor Augen, als säße er an dessen Bett.
Dabei hatte er ihn erst im Juli kennengelernt, als er, kaum achtundvierzig Stunden nach der Tragödie von Saint-Cloud, Heurtin die Hand auf die Schulter gelegt und leise gesagt hatte:
»Mach keinen Ärger und komm mit, Kleiner!«
Das war in einer bescheidenen Pension in der Rue Monsieur-le-Prince, wo Joseph Heurtin ein Zimmer im sechsten Stock bewohnte.
»Ein guter Junge, ruhig und fleißig«, sagte die Pensionswirtin. »Nur ab und zu ein bisschen komisch.«
»Hatte er öfter Besuch?«
»Nein, nie. Und er war immer vor Mitternacht zu Hause, außer in letzter Zeit.«
»Was ist da passiert?«
»Zwei, dreimal ist es später geworden … Einmal – am Mittwoch – hat er mich um vier in der Früh aus dem Bett geklingelt …«
Mittwoch war der Tag des Verbrechens in Saint-Cloud. Laut Pathologie war der Tod der beiden Frauen gegen zwei Uhr nachts eingetreten.
Und sprachen nicht unwiderlegbare Beweise gegen Heurtin, die er, Maigret, größtenteils selbst zusammengetragen hatte?
Die Villa stand an der Route de Saint-Germain, kaum einen Kilometer vom Pavillon Bleu entfernt. Dieses Lokal hatte Heurtin um Mitternacht betreten, allein, und hintereinander vier Gläser Grog getrunken. Beim Zahlen war ihm eine Karte für eine Fahrt dritter Klasse von Paris nach Saint-Cloud aus der Tasche gefallen.
Mrs. Henderson, die Witwe eines amerikanischen Diplomaten mit guten Beziehungen zu einigen bedeutenden Familien des Geldadels, lebte allein in dem Haus, dessen Erdgeschoss seit dem Tod ihres Mannes leer stand.
Ihre einzige Angestellte, Élise Chatrier, eine Französin, die ihre Kindheit in England verbracht und eine ausgezeichnete Erziehung genossen hatte, war mehr Gesellschaftsdame als Haushälterin.
Zweimal die Woche kümmerte sich ein Gärtner aus Saint-Cloud um den Garten.
Besuch gab es nur selten. Ab und zu kam William Crosby, der Neffe der alten Dame, mit seiner Frau.
In jener Nacht – es war der 7. Juli – herrschte der übliche Verkehr auf der Landstraße nach Deauville.
Um ein Uhr früh schlossen das Pavillon Bleu und alle anderen Restaurants und Tanzlokale.
Ein Autofahrer gab später an, er habe gegen halb drei Licht im ersten Stock der Villa gesehen und Schatten, die sich merkwürdig bewegten.
Um sechs Uhr kam der Gärtner, es war sein Tag. Normalerweise öffnete er geräuschlos das Gartentor und wurde dann um acht von Élise Chatrier zum Frühstück ins Haus gerufen.
Diesmal hörte er keinen Ton. Um neun waren die Türen der Villa noch immer verschlossen. Er machte sich Sorgen und klopfte. Als er keine Antwort erhielt, lief er zur nächsten Kreuzung und sagte dem Polizisten, der dort Dienst tat, Bescheid.
Kurz darauf wurde die Tragödie entdeckt. Auf dem Bettvorleger im Schlafzimmer lag Mrs. Hendersons Leiche, das Nachthemd blutgetränkt, die Brust von einem Dutzend Messerstichen durchbohrt.
Élise Chatrier hatte dasselbe Schicksal ereilt, im Nebenzimmer, wo sie auf Wunsch ihrer Herrin schlief, weil diese Angst hatte, dass ihr nachts schlecht werden könnte.
Ein barbarischer Doppelmord, vermutlich aus niedrigen Beweggründen, wie die Juristen sagen, und ziemlich scheußlich dazu.
Überall Spuren: Tritte, blutige Fingerabdrücke auf den Vorhängen.
Es folgten die üblichen Formalitäten: Lokaltermin, Ankunft der Experten vom Erkennungsdienst, Analysen und Autopsien.
Maigret wurde mit der Leitung der polizeilichen Ermittlungen betraut, und er brauchte keine zwei Tage, um Heurtins Fährte aufzunehmen.
Sie war unübersehbar! In den Fluren der Villa lag nirgends ein Teppich, und das Parkett war gebohnert.
Ein paar Fotos genügten, um außerordentlich deutliche Trittspuren festzuhalten.
Sie stammten von nagelneuen Schuhen mit Gummisohlen. Diese waren, um sie rutschfest zu machen, auffällig gerillt, und in der Mitte konnte man sogar noch den Namen des Herstellers und eine Seriennummer entziffern.
In einem Schuhgeschäft am Boulevard Raspail erfuhr Maigret, dass in den letzten zwei Wochen nur ein einziges Paar in der gesuchten Größe – 44 – verkauft worden war.
»Und zwar an einen Laufburschen mit einem Lieferdreirad. Den sehen wir oft hier im Viertel …«
Ein paar Stunden später befragte der Kommissar Monsieur Gérardier, den Blumenhändler in der Rue de Sèvres, und entdeckte die fraglichen Schuhe an den Füßen des Laufburschen Joseph Heurtin.
Blieb nur noch der Abgleich der Fingerabdrücke. Die Prozedur fand in den Räumlichkeiten des Erkennungsdienstes im Palais de Justice statt.
Mit gezückten Instrumenten beugten sich die Experten darüber und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:
»Er war es!«
»Warum hast du es getan?«
»Ich hab sie nicht umgebracht.«
»Woher hast du die Adresse von Mrs. Henderson?«
»Ich hab sie nicht umgebracht.«
»Was wolltest du um zwei Uhr früh in der Villa?«
»Weiß nicht!«
»Wie bist du aus Saint-Cloud zurückgekommen?«
»Bin ich nicht.«
Er hatte ein großes, fahles, schrecklich zerbeultes Gesicht. Und rot geränderte Augen, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.
In seinem Zimmer in der Rue Monsieur-le-Prince wurde ein blutiges Taschentuch gefunden, und die Chemiker bestätigten, dass es menschliches Blut war, ja sie fanden sogar Bakterien, die sie im Blut von Mrs. Henderson festgestellt hatten.
»Ich hab sie nicht umgebracht.«
»Wen willst du als Anwalt?«
»Gar keinen.«
Ein Pflichtverteidiger wurde ihm beigeordnet, Maître Joly, der erst dreißig war und sehr bemüht.
Sieben Tage lang stand Heurtin unter psychiatrischer Beobachtung. Im Gutachten war zu lesen:
Keine geistige Beeinträchtigung. Trotz akuter Depression infolge des seelischen Schocks voll schuldfähig.
Dann begannen die Gerichtsferien. Eine andere Untersuchung führte Maigret nach Deauville. Für Richter Coméliau lag der Fall ziemlich klar, und die Strafkammer bejahte die Schuldfrage.
Trotzdem: Heurtin hatte weder etwas gestohlen noch ein erkennbares Interesse am Tod von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin gehabt.
Maigret hatte das Leben des Beschuldigten so weit wie möglich zurückverfolgt. Er kannte ihn in jedem Alter, innerlich und äußerlich.
Joseph Heurtin war in Melun zur Welt gekommen. Sein Vater arbeitete damals als Kaffeekellner im Hôtel de la Seine, seine Mutter als Wäscherin.
Drei Jahre später übernahmen die Eltern ein Bistro in der Nähe der Strafanstalt, das aber schlecht lief, und so versuchten sie es dann mit einem Gasthof in Nandy im Département Seine-et-Marne.
Seine Schwester Odette wurde geboren, als er sechs war.
Aus der Zeit gab es ein Foto von ihm: Im Matrosenanzug hockte er vor einem Bärenfell, auf dem ein rundliches Baby strampelte.
Mit dreizehn versorgte er die Pferde und half seinem Vater beim Bedienen der Gäste.
Mit siebzehn wurde er Kaffeekellner in einem eleganten Restaurant in Fontainebleau.
Nach dem Militärdienst kam er einundzwanzigjährig nach Paris, zog in die Rue Monsieur-le-Prince und begann für Gérardier Blumen auszuliefern.
»Er hat immer viel gelesen«, sagte der Blumenhändler.
»Seine einzige Unterhaltung war das Kino«, behauptete die Zimmerwirtin.
Es gab keinerlei Verbindung zwischen ihm und der Villa in Saint-Cloud.
»Warst du früher schon einmal in Saint-Cloud?«
»Nie!«
»Was hast du am Sonntag gemacht?«
»Gelesen.«
Mrs. Henderson war keine Kundin des Blumenladens. Nichts machte ihre Villa im Verhältnis zu den Nachbarhäusern besonders anziehend für Einbrecher. Außerdem war ja auch gar nichts gestohlen worden.
»Warum redest du nicht?«
»Ich hab nichts zu sagen.«
Maigret hatte einen ganzen Monat in Deauville zu tun, wo er einer internationalen Betrügerbande auf der Spur war.
Im September besuchte er Heurtin in seiner Zelle. Und fand ein Wrack vor.
»Ich weiß von nichts! Ich hab sie nicht umgebracht!«
»Aber du warst in Saint-Cloud …«
»Lasst mich doch einfach in Ruhe!«
»Ein klarer Fall!«, befand die Staatsanwaltschaft. Und verschob den Prozess.
Am 1. Oktober trat das Gericht nach den Ferien zum ersten Mal wieder zusammen und eröffnete die Sitzungsperiode mit dem Prozess Heurtin.
Maître Joly war keine bessere Verteidigungsstrategie eingefallen, als ein Gegengutachten zum Geisteszustand seines Mandanten einzuholen. Der Psychiater konstatierte verminderte Schuldfähigkeit.
»Nein, es war Mord aus niedrigen Beweggründen!«, widersprach der Staatsanwalt. »Heurtin hat nur deshalb nichts gestohlen, weil er durch bestimmte Umstände daran gehindert wurde … Er hat insgesamt achtzehnmal zugestochen …«
Angewidert stießen die Geschworenen die herumgereichten Fotografien der Opfer von sich.
»Schuldig in allen Anklagepunkten!«
Da war das Todesurteil! Am nächsten Tag wurde Joseph Heurtin zusammen mit vier anderen Todeskandidaten in den Überwachungstrakt der Santé überstellt.
Maigret haderte mit sich.
»Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte er, als er Heurtin besuchte.
»Nein.«
»Du weißt, dass man dich hinrichten wird?«
Heurtin begann zu weinen. Die Augen in seinem bleichen Gesicht waren gerötet.
»Wie heißt dein Komplize?«
»Hab keinen.«
Obwohl der Fall offiziell abgeschlossen war, besuchte Maigret ihn täglich.
Und jedes Mal wirkte Heurtin noch ein wenig schwächer, aber gefasst, er zitterte nicht, manchmal blitzte sogar Spott in seinen Augen auf.
Bis zu dem Morgen, an dem er in der Nebenzelle erst Schritte, dann gellende Schreie hörte.
Da wurde Nummer 9, ein Vatermörder, abgeholt und zum Schafott geführt.
Am nächsten Tag weinte Heurtin, der zur Nummer 11 geworden war. Aber er redete nicht. Er lag mit dem Gesicht zur Wand auf seiner Pritsche und klapperte mit den Zähnen.
Wenn Maigret sich etwas in den Kopf setzte, war es dort längere Zeit fest verankert.
»Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«, sagte er zum Untersuchungsrichter.
»Das kann nicht sein!«, widersprach Coméliau. »Außerdem ist er rechtskräftig verurteilt.«
Doch Maigret, eins achtzig groß, breit und schwer wie ein Lastenträger in den Pariser Markthallen, ließ sich nicht beirren.
»Erinnern Sie sich daran, dass wir nicht herausfinden konnten, wie er von Saint-Cloud wieder nach Paris gekommen ist! Er hat nicht den Zug genommen, das ist erwiesen. Er ist nicht Straßenbahn gefahren. Und zu Fuß war er auch nicht unterwegs!«
Den Spott, den er kassierte, nahm er hin.
»Wollen wir ein Experiment wagen?«
»Das kann nur der Minister entscheiden.«
Gewichtig und beharrlich sprach Maigret auch im Justizministerium vor. Und entwarf eigenhändig den Brief mit dem Fluchtplan.
»Hören Sie! Entweder hat Heurtin Komplizen und glaubt, dass die Nachricht von ihnen stammt, oder er hat keine und wird misstrauisch, weil er eine Falle wittert. Ich bürge für ihn. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass er uns auf keinen Fall entkommt.«
Man hätte das undurchdringliche, ruhige und dennoch harte Gesicht des Kommissars dabei sehen müssen!
Es dauerte drei Tage. Maigret beschwor das Schreckgespenst eines Justizirrtums herauf und den Skandal, den dieser früher oder später nach sich ziehen würde.
»Aber Sie haben ihn doch selbst verhaftet!«
»Weil ich als Polizeibeamter verpflichtet bin, aus handfesten Beweisen logische Schlüsse zu ziehen.«
»Und als Mensch?«
»Warte ich auf psychologische Beweise.«
»Das heißt?«
»Dass er verrückt oder unschuldig ist.«
»Und warum redet er nicht?«
»Das Experiment, das ich vorschlage, wird es uns verraten.«
Es folgten zahllose Telefonate und Konferenzen.
»Sie setzen Ihre Karriere aufs Spiel, Kommissar! Überlegen Sie es sich!«
»Hab ich schon.«
Als der Häftling den Brief erhielt, zeigte er ihn niemandem, aß aber mit größerem Appetit.
»Es überrascht ihn also nicht!«, stellte Maigret fest. »Also hat er auf so etwas gewartet. Also hat er wahrscheinlich Komplizen, die ihm die Freiheit versprochen haben.«
»Oder er stellt sich nur dumm! Und kaum ist er draußen, entwischt er Ihnen … Es geht um Ihre Stellung, Kommissar …«
»Und um seinen Kopf …«
Maigret lümmelte im Ledersessel vor dem Fenster seines Hotelzimmers. Ab und zu beobachtete er durch das Fernglas das Citanguette, wo die Schauerleute und Flussschiffer auf ein Glas vorbeischauten.
Inspektor Janvier stand gelangweilt am Ufer und bemühte sich, unbeteiligt zu wirken.
Dufour hatte – so genau konnte Maigret alles sehen – Andouillette mit Kartoffelpüree gegessen und einen Calvados bestellt.
Das Fenster gegenüber war noch immer geschlossen.
»Geben Sie mir das Citanguette, Mademoiselle!«
»Die Leitung ist besetzt.«
»Ist mir egal! Unterbrechen Sie die Verbindung!«
Dann:
»Bist du das, Dufour?«
»Schläft noch«, war die lakonische Antwort.
Es klopfte. Gleich darauf bekam Wachtmeister Lucas in dem verrauchten Zimmer einen Hustenanfall.