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Beruhigen Sie sich doch! Wir versuchen eine Verbindung zu bekommen!«

Er schwieg. Während er, von der Umwelt abgeschnitten, in der engen Kabine stand, zog er geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hörte sie am anderen Ende der Leitung im Hintergrund: mehrere Frauen, mehrere junge Mädchen. Sie waren wohl gerade gekommen, begrüßten sich, setzten die Hüte ab, nahmen vor ihrem Pult Platz.

Die Telefonistin, die sich eigentlich hätte um Stan kümmern sollen, fragte halblaut:

»Bis wann hat es gedauert?«

Da schaltete er sich aus seiner engen Kabine ein:

»Hallo, Mademoiselle … Kommt Inspektor Mizeri gewöhnlich um neun? … Hallo! … Vielleicht hat er in bestimmten Wochen Nachtdienst? … Hallo! … Oder er ist dienstlich unterwegs …«

Zwecklos. Aber er ging den Dingen nun mal gerne auf den Grund. Unglücklich stand er da, den Hörer in der Hand, und versuchte vergeblich, seine Sorgen einem jungen Mädchen mitzuteilen, das sich womöglich im selben Augenblick die Lippen schminkte.

»Seine Kollegen müssen es doch wissen! Hören Sie: Es ist ausgeschlossen, dass um neun Uhr niemand in der Sûreté Na …«

Doch sie wiederholte nur gleichgültig:

»Beruhigen Sie sich doch! Wir versuchen eine Verbindung zu bekommen!«

Wie versuchte sie es denn, wenn er nicht einmal das Klicken beim Umstöpseln der Leitungen hörte, das beim Durchstellen in verschiedene Büros üblich ist? Wenn sie nun antwortete:

›Er ist nicht im Haus …‹

Und …

»Hallo! Wer ist am Apparat?«

Am liebsten hätte er sich mit aller Kraft auf den Mann gestürzt, dessen Stimme er da hörte, und sich an ihn geklammert.

»Inspektor Mizeri?«

»Ja …«

»Hallo … Hören Sie … Bitte hängen Sie nicht ein, Herr Inspektor … Es ist sehr, sehr wichtig … Es ist von allergrößter Wichtigkeit …«

Noch nie hatte er einen so starken Akzent gehabt, und zu allem Überfluss fielen ihm bestimmte Worte nur auf Polnisch oder Deutsch ein.

»Hallo! … Ich kann Ihnen am Telefon meinen Namen nicht sagen … Sie kennen mich aber … Ich werde Ihnen alles erklären …«

»In Ordnung! Kommen Sie her …«

»Hallo! Hallo! Herr Inspektor … Ich kann nicht zu Ihnen kommen, unmöglich … Niemand darf wissen, dass ich Sie … Also, Sie müssten … Hallo! Herr Inspektor …« Es hörte sich an wie ein Hilfeschrei.

»Was ist denn?«

»Ach, Gott sei Dank … Ich dachte schon, die Leitung wäre unterbrochen … Ich belästige Sie nicht etwa wegen nichts und wieder nichts … Was ich Ihnen zu sagen habe, kann für Ihre Karriere entscheidend sein … Sie haben doch von der Polenbande gehört, nicht wahr? … Hallo! …«

Er hätte sich gern vergewissert, dass niemand an der Kabinentür lauschte, wagte aber nicht, den Hörer auch nur eine Sekunde aus der Hand zu legen.

»Wenn Sie vielleicht herkommen könnten … Wo ich bin? … Ecke Rue des Petits-Champs und einer Straße, die auf die Bouffes-Parisiens führt … Wie sie heißt, weiß ich nicht … Was sagten Sie? … Nein! Nicht erst am Nachmittag … Warten Sie! … Hallo! … Legen Sie noch nicht auf … Es ist schwer zu erklären … Ich habe Scherereien gehabt und brauche Geld …«

Er improvisierte. Bisher hatte er an alles gedacht, nur nicht an die Höhe der Summe.

»Fünftausend! … Vergessen Sie nicht, Herr Inspektor … Hallo! …«

Eingehängt! Ihn erfasste ein Zittern, ja, er war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Dann hängte er langsam den Hörer ein, wobei sich ebenso langsam ein zufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht breitmachte. Er öffnete die Tür der Kabine. Während er in die Gaststube zurückging, empfand er das Bedürfnis, laut zu verkünden:

»Ich erwarte einen Freund …«

Ihm fiel auf, dass der Wirt allein hinter der Theke stand und wie schummrig es im Lokal war, ein Gasthaus wie auf dem Land – wie im Berry oder dem Bourbonnais –, das hier, mitten in Paris, irgendwie verloren wirkte. Es führte eine Stufe zum Lokal hinunter. Der Boden war rot gekachelt, die Balken an der Decke waren unverputzt.

Angenommen, er hätte einen Revolver …

›Her mit der Kasse, aber schnell!‹

Und schon hätte der Wirt sie herausgerückt! Gerade eben hatte Stan mehrere Hundertfrancscheine bemerkt, vielleicht lagen darunter auch Tausender. Draußen dann wäre er in der Menge mühelos untergetaucht …

Und mit einem Auto …

Er machte das nicht absichtlich. Er konnte einfach nicht anders. Sobald er jemanden sah, dachte er automatisch an dessen Geld, und sein Gehirn begann zu rattern. Er entwarf Pläne, machte Einwände, verwarf sie …

Er war hochintelligent. Wenn er in dieser Nacht aufgegeben hatte, so aus freien Stücken. Taxifahrer brachten so gut wie nichts ein, weil sie selten mehr als hundertfünfzig bis zweihundert Franc in der Tasche hatten. Er hätte sich weiter als bis nach Versailles chauffieren lassen sollen. Er hätte sich unter einem plausiblen Vorwand sogar auf dem Beifahrersitz breitmachen können. Er war einfach nur zu müde gewesen und hatte in vierundzwanzig Stunden nur ein hartes Ei gegessen.

Er setzte sich nicht. Der Wirt folgte ihm mit dem Blick, und Stan war schlau genug, um zu merken, dass er neugierig und beunruhigt beobachtet wurde.

»Geben Sie mir … Warten Sie! … Was ist denn das da?«

»Saucisson de campagne.«

»Mit Knoblauch?«

»Ein bisschen schon …«

»Und das?«

»Rillons …«

Der Gedanke, etwas zu essen, war ihm plötzlich gekommen – so viel zu essen, wie er nur hinunterbekommen konnte. Der Inspektor würde kommen. Er hatte kein Recht, ihn hier sitzenzulassen. Der würde bezahlen!

Stan wurde von einem Schwindel erfasst, den er mühsam zu unterdrücken versuchte. Er musste etwas essen, und wenn schon, dann auch gleich etwas Besonderes.

»Und das da?«

»Andouille …«

»Was ist denn das?«

»Na, eben andouille – Schlackwurst! …«

»Schneiden Sie mir ein Stückchen zum Kosten ab … Danke … Schmeckt sehr gut … Geben Sie mir andouille … Mit Brot … Und eine Flasche Wein …«

Er zitterte. Draußen auf der grauen Straße sah er Schatten vorbeihuschen, Lastwagen vorbeifahren. Er nahm Teller, Brot und Flasche, trug alles zu einem Tisch nahe beim Fenster und setzte sich.

Ob sich Nouchi wohl etwas zu essen hatte verschaffen können? Er dachte nach. Doch selbst die Vorstellung, ihr könnte ein Unfall zugestoßen sein, sie sei von einem Autobus angefahren worden, trübte seine Freude am Essen nicht.

»Noch etwas andouille …«, sagte er mit vollem Mund zum Wirt.

Er hatte Zeit und schlang dennoch sein Essen hinunter – ohne die Kreuzung, auf der Inspektor Mizeri auftauchen würde, aus den Augen zu lassen.

Ein junger Mann kletterte aus einem Lieferwagen, öffnete die Türen und schleppte einen Stapel riesiger Bauernbrote in die Kneipe.

»Guten Morgen! …«, warf er in die Runde und marschierte zielstrebig nach hinten.

»Guten Morgen! …«, erwiderte der Wirt, während er ein Glas Wein einschenkte.

Es war jeden Tag dasselbe, zur gleichen Stunde, zwischen ihnen erübrigte sich gewissermaßen jedes weitere Wort.

»Zum Wohl!«

Der Wirt nahm die Rechnung, spießte sie auf den Nagel am Büfett.

»Wiedersehen!«

Was es doch für Leute gab! Selbst diejenigen, die wie Herumtreiber aussahen, gingen zielstrebig die Straße entlang!

»Schneiden Sie mir noch ein paar Scheiben ab …«

Er war nicht mehr hungrig. Er hatte geglaubt, mühelos ein halbes Brot hinunterzubringen, doch schon nach zwei Scheiben lag es ihm wie ein Klumpen im Magen. Er aß nur noch andouille, fest entschlossen, ordentlich zuzulangen. Die Flasche Rotwein hatte er mehr als zur Hälfte geleert. Wenn er weitertrank, würde er betrunken, das spürte er. Es wäre besser, für das Gespräch mit dem Inspektor nüchtern zu bleiben.

Obwohl er das genau wusste, bestellte er sich eine zweite Flasche.

»Jeanne!«, rief der Wirt.

Das war die Alte aus der Küche, bestimmt seine Frau. Stan sah, dass der Wirt bereits zu Schiefertafel und Kreide gegriffen hatte, ohne ihr auch nur eine Frage zu stellen.

»Ich hab Porree in Öl und rote Bete … Dann fricandeau mit Sauerampfer … Heute früh gab’s kein Gemüse …«

»Nudeln?«, schlug er vor.

»Nudeln …«, stimmte sie zu.

Sie betrachtete Stan gleichgültig, wunderte sich lediglich über die viele Wurstpelle auf dem Tisch und wechselte einen Blick mit ihrem Mann.

Verdammt! Er wurde schläfrig! Seit wie viel Stunden hatte er nicht mehr geschlafen? Hatte er die Kreuzung wirklich keinen Moment aus den Augen gelassen? Wenn nun der Inspektor gekommen und wieder gegangen war?

Wieder einmal hatte er das Ganze falsch angepackt. Doch da er sich dessen bewusst war, war es auch egal. Es war keine Schande. Zum Beispiel hatte der Inspektor bestimmt sofort zurückverfolgt, woher der Anruf gekommen war. Stan hätte von einem Ort aus telefonieren und sich dann sofort in ein anderes Viertel verziehen sollen.

So konnte Mizeri jeden Moment mit zwei oder drei Männern hier auftauchen, ihn am Kragen packen und abführen.

Ja, Stan hätte noch weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, und selbst dann …

Unruhig erkundigte er sich:

»Haben Sie Zigaretten?«

»Nur Gauloises …«

Warum zögerte er, Zigaretten zu bestellen, weil er kein Geld in der Tasche hatte, während er beim Essen und Trinken keine Hemmungen gehabt hatte?

»Ja, gerne! Ich zahl dann alles zusammen …«

Idiot! Der Wirt stutzte, das war der beste Beweis. Er selber hatte ihm Grund zu der Annahme gegeben, er könnte nicht gleich bezahlen. Wenn er sich von jetzt an in die Nähe der Tür wagte, würde der Schankwirt sofort glauben, er wolle ihn um die Zeche prellen.

Und wenn der Inspektor nun nicht käme? In der Küche hörte man Zwiebeln brutzeln, wohl für das fricandeau. Im Lokal roch es nun davon noch würziger.

Wenn er statt der Pauschalsumme von fünftausend Franc lieber pro Nase fünftausend verlangte? Und wenn er obendrein Frida warnte und dafür noch etwas von ihr kassierte?

Der Wirt deckte mit Papiertischtüchern, stellte umgedrehte Weingläser, Menagen, Salzfässer auf die Tische.

»Da ist er!«, rief Stan plötzlich.

Ganz unvermittelt stand er da. Direkt an der Straßenecke, ein hellbeiger, fast gelber Trenchcoat: Inspektor Mizeri, klein, mager, dunkel, die zierlichen Füße in Schuhen mit dicken Absätzen, um den Hals einen roten Schal!

Der Wirt, zwei Gläser in der Hand, hatte sich umgedreht. Er sollte ja nicht auf den Gedanken kommen, Stan wolle sich womöglich aus dem Staub machen!

»Er ist Beamter im Ministerium …«, erklärte Stan, während er die Tür öffnete. »He! … Monsieur Mizeri! …«

Er musste sich mit Reden zurückhalten. Zahllose Gedanken, ein Schwall von Sätzen in allen möglichen Sprachen, schossen ihm durch den Kopf. Fahrig und nervös zeigte er dem Inspektor, der die Hände in den Taschen behielt, seinen Tisch, versuchte zu lächeln, stammelte:

»Erkennen Sie mich wieder? Ich wette, Sie haben meine Stimme am Telefon nicht erkannt … Es wundert Sie, mich in Paris wiederzusehen, nicht wahr? … Ich werde es Ihnen erklären … Was trinken Sie?«

Der Inspektor hatte die Krempe seines kleinen grauen Huts wie amerikanische Gangster tief ins Gesicht gezogen. Er war Korse. Der dicke Brillant an seinem Ring konnte nicht echt sein. Er zündete sich eine Zigarette an.

»Einen kleinen Pastis, bitte!«

Er schnitt Grimassen, nicht nur wegen des Zigarettenrauchs, sondern weil das eine Masche, eine Angewohnheit von ihm war. Dabei tat er so, als interessiere ihn Stan überhaupt nicht.

»Ich hab sofort an Sie gedacht, denn Sie waren sehr nett zu mir … Als Sie uns zur Grenze gebracht haben, drei Monate ist das jetzt her, da haben Sie uns sogar das Bier im Straßburger Bahnhof bezahlt … Erinnern Sie sich? …«

Er bettelte förmlich um Anerkennung, gleich welcher Art. Er lächelte gezwungen, fasste sich gedankenverloren an die Nase.

»Mir ist etwas zugestoßen! … Das erzähl ich Ihnen später … Ich hab mir gesagt: Der Inspektor ist so großzügig gewesen, ihn will ich in das Ganze einweihen …«

Er redete zu viel. Er war betrunken und merkte das auch plötzlich, versuchte sich zu bremsen. Verständnisheischend zwinkerte er dem Inspektor zu.

»Es geht um einen großen Fisch, verstehen Sie? … Einen ganz fetten Brocken! … Die Regierung gäbe eine Menge darum, mit der Polenbande aufzuräumen, da bin ich sicher … Ich habe gleich geahnt, wer dahintersteckt, schon damals, als sie den ersten Bauernhof überfallen haben und ich davon in der Zeitung gelesen habe … Sie müssen wissen, ich war vor vier Jahren in Amerika, und damals hat dort eine Serie von Überfällen nach demselben Muster begonnen … Und das ist noch nicht alles! … Es reicht noch viel weiter zurück …«

Plötzlich hatte er Angst, ohne jeden Grund. Da saß er nun, ertrank in seinem eigenen Redeschwall und suchte wieder festen Boden. Zu allem Überfluss hatte er offenbar eine unvorsichtige Bewegung gemacht, denn seine Nase blutete wieder. Beim Sprechen beugte er sich vor und ließ den Wirt nicht aus den Augen, der hinter der Theke Wurstscheiben auf kleine Platten anrichtete.

»Geben Sie zu, dass die Polizei ratlos ist! Die sind gerissen! Nicht mal in Amerika hat man ihnen jemals was nachweisen können. Deshalb durften sie auch ohne weiteres nach Frankreich ausreisen …«

»Sie sind also in Paris?«, erkundigte sich der Inspektor ruhig.

Sollte Stan das bejahen oder sich lieber vorher absichern?

»Hör gut zu! Es bringt gar nichts, wenn du dich hier aufspielst! Der Ausweisungsbeschluss gegen dich besteht nach wie vor, kapiert? Wo hast du deine Kleine gelassen?«

»Keine Ahnung.«

Zum ersten Mal sagte er die reine Wahrheit … Doch gerade das ließ den Inspektor aufhorchen.

»Sie ist nicht mehr bei dir?«

»Ich erklär es Ihnen sofort. Es ist ziemlich kompliziert … Aber vielleicht finde ich sie ja gleich wieder? … Vielleicht führen Sie mich zu ihr zurück? …«

Er durfte sich nicht zu unterwürfig benehmen.

»Zuerst das Geschäft! … Sie müssen zugeben, dass es fünftausend wert ist …«

»Wo sind sie?«

»Wer?«

»Deine Polen … Versuch ja nicht, mich an der Nase herumzuführen, sonst loch ich dich sofort ein …«

»Sie sind nicht gerecht, Herr Inspektor … Ich bin ehrlich und offen … Ich sage Ihnen: Man hat mich ausgewiesen, aber ich konnte nirgendwohin … Also hab ich’s gemacht wie alle anderen und bin zurückgekommen … Was verlange ich denn schon? … In einem stillen Winkel zu leben und zu arbeiten, mehr nicht … Oder hab ich etwa nicht gearbeitet, als Sie mich in Capestang verhaftet haben? … Na also! … Was hab ich dort getan? … Ich hatte mich bei der Weinlese verdingt … Eine schwere Arbeit, das wissen Sie … Davor hab ich Rüben gehackt … Und nun hab ich mir gesagt: Wenn der Inspektor dir eine Arbeitsgenehmigung verschafft und dir ein bisschen was gibt, zum Beispiel fünftausend Franc, dann wär’s vorbei mit den Scherereien …«

»Und du bist bereit, sie dafür zu verpfeifen!«

»Wen … Wofür?«

»Na, deine Polen natürlich!«

»Sie verstehen mich nicht, oder vielmehr, Sie verstehen ganz gut, aber Sie tun so, als ob … Wenn ich rede und Sie mich danach wieder zur Grenze bringen …«

Er hätte es lassen sollen, tat es aber trotzdem: Noch zweimal leerte er sein Glas, und das Blut stieg ihm zu Kopf.

»Wie viel Menschen haben sie umgebracht? Allein in Frankreich! Sechs? … Acht? … Eben! Für fünftausend Franc können Sie ihnen das Handwerk legen, und mir geben Sie Brot …«

»Du bist Pole?«

»Das wissen Sie doch genauso gut wie ich! Ich bin in Wilna geboren. Also war ich vor dem Krieg Russe. Danach waren wir Litauer … Die Polen sind gekommen, aber eigentlich sind wir immer noch Litauer … Als Student war ich in eine Schlägerei mit Offizieren verwickelt, deshalb musste ich … Hören Sie, Herr Inspektor! … Sie müssen das verstehen, unbedingt … Ich hab in Berlin gelebt, in Monte Carlo, in Paris, in New York … Und jetzt …«

Der Wein war schuld – ihm kamen die Tränen.

»Sie müssen mir helfen … Hören Sie! Ich gestehe Ihnen jetzt freiwillig etwas, was ich Ihnen gar nicht sagen sollte … Aber ich weiß, Sie verraten mich nicht … Heute Nacht …«

Zum Innehalten war es zu spät. Er zog die Luft durch die Nase ein und hatte dabei das Gefühl, in einen Abgrund zu gleiten, was seltsamerweise fast ein Genuss war. Er beugte sich vor. Seine Augen wurden glasig. Wenn Nouchi jetzt hereingekommen wäre, hätte sie schon in der Tür alles begriffen, ein Blick hätte genügt.

»In unserem Hotel haben sie uns vor die Tür gesetzt, weil wir nicht mehr zahlen konnten … Was soll man denn machen, wenn man keine Arbeitsgenehmigung hat, vor allem im Winter? … Ich hab Kohlköpfe am Markt ausgeladen … Zehn Franc hab ich dafür gekriegt … Ich hab ein hartes Ei gegessen …«

Dieses harte Ei bekam plötzlich eine ungeahnte Bedeutung. Beim Gedanken daran zerfloss Stan vor Selbstmitleid.

»Es war kalt … Nouchi fror auch, sagte aber kein Wort … Nie hat sie was gesagt, und dabei war ihr Vater einer der reichsten Rechtsanwälte in Budapest … Mein Vater war Lehrer … Na ja, heute Nacht wusste ich eben nicht mehr weiter, und da bin ich auf einen Taxifahrer losgegangen … Sehen Sie, ich hab Vertrauen zu Ihnen! … Sie könnten mich ins Gefängnis werfen, auch wenn Sie keinerlei Beweis haben …«

Das war ihm klar, trotz Fieber und Wein!

»Es hat nicht geklappt, und ich frage mich, ob das nicht meine Absicht war … Ich habe selbst die Prügel eingesteckt … Er hat mich sogar gezwungen, das Reserverad zu montieren! … Kaum zu glauben! … Und jetzt bitte ich Sie um fünftausend Franc … Was ist das schon für die französische Regierung? …«

Seine Augen glänzten. Eben waren ihm die überzeugenden Argumente eingefallen.

»Wenn ich sie nicht kriege, was passiert dann? Womöglich bringen Sie mich wieder zur Grenze, und schon das ist teuer … Ich komme zurück, weil ich nirgendwohin kann … Sie werden mich nicht gleich erwischen … In der Zwischenzeit muss ich irgendwas tun, vielleicht jemanden umbringen, vielleicht auch mehrere … Wenn Sie mich festnehmen, müssen Sie mich im Gefängnis verpflegen, mir den Prozess machen … Kostet das alles nicht mehr als fünftausend Franc? …«

Die Zahl hypnotisierte ihn förmlich. Eine Stunde zuvor hatte er sie in der Telefonkabine aus der Luft gegriffen, er hätte genauso gut zweitausend oder zehntausend sagen können. Aber nein, er war auf fünftausend gekommen! Daran hielt er fest! In dieser Zahl lag von jetzt an seine ganze Zukunft beschlossen, von ihr hing sein Überleben ab.

Sie sollten ihm diese fünftausend Franc geben, und damit hätte alles Pech, aller Ärger ein Ende. Davon war er felsenfest überzeugt!

»In Amerika hab ich selber erlebt, dass für das Gleiche bis zu zehntausend Dollar geboten wurden! Ich weiß, dass Sie eine Sonderkasse haben! Die gibt’s in allen Ländern. Bedenken Sie, was ich dabei riskiere …«

Der Inspektor, der sein Zigarettenetui vor sich auf den Tisch gelegt hatte, hörte geduldig zu, ohne anzubeißen.

»Schieß los, Stan … Sind deine Polen in Paris?«

Er wollte das nicht beantworten, bevor er das Geld nicht hatte.

»Wenn sie in Paris sind, geht mich das Ganze nämlich nichts an. Das ist Sache der Kriminalpolizei …«

Das war ein harter Schlag für Stan.

»Und was weiter?«

»Du brauchst dich nur an den Quai des Orfèvres zu wenden, weiter nichts …«

»Werden die mir die fünftausend Franc geben?«

»Das ist deren Sache … Ich …«

Er wollte aufstehen.

»So warten Sie doch, Herr Inspektor! … Das geht doch nicht … Es muss doch einen Weg geben, sich zu verständigen …«

Vor allem durfte er ihn jetzt nicht entkommen lassen. Um ein Haar hätte er ihn am Ärmel festgehalten.

»Hören Sie! … Ich hab nur noch einen Franc achtzig in der Tasche … Das Telefongespräch ist nicht bezahlt und mein Essen auch nicht … Bedenken Sie doch! … Wer die Polen verhaftet, der wird befördert werden, geehrt, sein Bild wird in den Zeitungen erscheinen … Wenn Sie nun an meiner Stelle zum Quai des Orfèvres gingen, Sie verstehen schon?«

»Ich denke, ich bring dich auf dem direkten Weg dorthin.«

»Aber das geht doch nicht! Ich will nicht! Sie haben mir was ganz anderes versprochen!«

»Gar nichts hab ich dir versprochen, merk dir das!«

»Ich hab Ihnen am Telefon gesagt …«

»Wie heißen sie?«

»Wer?«

»Die Polen.«

»Die Namen weiß ich nicht.«

»Na, siehst du!«

»Aber ich kenne sie doch! Ich schwöre Ihnen, dass ich sie kenne! Und ich weiß wenigstens den Namen der Frau …«

»Ist da eine Frau dabei?«

»Sie ist diejenige, die … Sie lassen sich das alles doch nicht ohne Gegenleistung erzählen? … Das ist nicht fair, Herr Inspektor … Sie nutzen es aus, dass ich unbedingt Geld brauche …«

Es war Punkt elf. Das sollte sich ihm für immer einprägen. In diesem Moment zog der Wirt die Pendeluhr auf.

»Du musst nebenan Gruyère holen, Jules!«, rief die Frau aus der Küche.

Der fixierte seine beiden Gäste, was ihn offensichtlich beruhigte, denn er ging, nicht ohne sein Käppi aufzusetzen – ein Eisenbahnerkäppi, von dem die Dienstabzeichen abgetrennt worden waren.

»Ich versteh ja, dass Sie mir nicht trauen … Wir können uns auch anders einigen … Von den fünftausend Franc verlange ich jetzt nur die Hälfte als Anzahlung … Den Rest geben Sie mir, wenn Sie sie verhaftet haben … Sie sehen, ich …«

»Ich habe keine zweieinhalbtausend Franc …«

»Dann geben Sie mir eben tausend … Die haben Sie doch bei sich? … Ich hab Ihnen von vornherein gesagt …«

»Wo hast du dich in der letzten Zeit rumgetrieben?«

»Überall und nirgends … Sie wissen doch, wie das ist, wenn man Gelegenheitsarbeiten macht …«

»Hast du dich im Hotel unter deinem eigenen Namen angemeldet?«

Stan wurde bleich.

»Das heißt … nein …«

»Dann hast du also falsche Papiere?«

Wie sollte er sich da herauswinden? Der Inspektor hatte ihn in der Falle! Wenn Stan die Wahrheit sagte, würden sie rasch ins Hôtel de Birague finden und brauchten ihn nicht mehr!

»Ich hab nicht im Hotel gewohnt …«

»Vor einer Minute hast du noch das Gegenteil behauptet.«

»Das Zimmer hatte nämlich ein Freund gemietet …«

»Nouchi, stimmt’s?«

»Das ist nicht wahr!«

Er log miserabel. Natürlich stimmte es. Nouchi besaß einen gültigen Pass, deshalb hatte sie das Zimmer auf ihren Namen gemietet. Jetzt brauchte der Inspektor nur noch zur Fremdenpolizei zu gehen und die Meldezettel der Herbergen durchzusehen. Wenn er auf den Namen Nouchi Kersten stieß, wüsste er beinahe genauso viel wie Stan.

»Ich seh schon, Sie wollen nicht zahlen!«, stieß er verbittert hervor. »Sie glauben, Sie können auf mich verzichten. Aber da irren Sie sich! Geben Sie mir jetzt nur tausend Franc … Mit dem Rest lassen Sie sich Zeit … Tausend Franc Anzahlung auf fünftausend.«

Ihm war vor Wut und Verzweiflung zum Heulen zumute. Er war mit seinem Latein am Ende. Er hatte zu viel getrunken, zu viel gegessen. Er rülpste, fiel vor Müdigkeit fast um, und seine Augen glänzten, als hätte er hohes Fieber.

Der Wirt kam mit einem in weißes Papier gewickelten Päckchen zurück und brachte es in die Küche.

»Was bin ich schuldig?«, fragte Inspektor Mizeri.

»Zusammen?«

Stan riss die Augen auf.

»Ja, zusammen.«

»Das waren zwei Flaschen Beaujolais, vier Portionen andouille, zweimal Butter … Ach ja, und ein Telefongespräch, das hab ich vergessen … Dann der Pastis … zwölf und vier und drei … Und eins und …«

»Herr Inspektor!«, rief Stan unterwürfig. Er saß immer noch am Tisch.

Mizeri zahlte mit einem Hundertfrancschein. In seiner Brieftasche, die er geöffnet in der Hand hielt, waren noch weitere fünf oder sechs, soweit Stan erkennen konnte.

»Wenn Sie mir nur …«

Er merkte, wie sein Gegenüber zögerte, die Banknoten wie Buchseiten durchblätterte. Schon wollte er drei entnehmen, dann zwei. Schließlich zog er einen heraus, warf ihn auf den Tisch.

»Herr Inspektor …«

Mizeri gab sich gar nicht erst die Mühe, vor dem Wirt die Formen zu wahren.

»Versuch ja nicht, mich übers Ohr zu hauen. Ich kann dir nur eins sagen – ich behalt dich im Auge!«

Der Schankwirt hatte die Situation genau erfasst und sagte betont, während er das Wechselgeld herausgab:

»Hier bitte, Herr Inspektor.«

Der wandte sich um und wiederholte:

»Kapiert?«

Die Tür ging auf, fiel wieder ins Schloss. Der gelbe Mantel entschwand. Stan beugte sich vor, konnte aber nicht feststellen, ob der Inspektor irgendjemandem ein Zeichen gab oder nicht.

»Muss jetzt die Tische aufdecken!«, knurrte der Wirt unfreundlich.

Er wartete. Das war eindeutig. Stan sollte gehen, sonst nichts. Man hatte genug von ihm.

»Ich …«

Wenn ihm doch nur irgendeine Redewendung eingefallen wäre, mit der er sich wieder ein bisschen Respekt hätte verschaffen können! Betont langsam goss er sich den restlichen Wein aus der Flasche ein und trank ihn, faltete dann bedächtig den Hundertfrancschein zweimal zusammen. Sowie er ihn in die Tasche stecken wollte, wurde der Wirt lebendig.

»Ich hab vergessen, die Zigaretten zu berechnen …«

Er ging hinter die Theke, um Wechselgeld zu holen. Stan hasste ihn, wie er wohl noch nie jemanden gehasst hatte. Ohne dass er den Grund dafür kannte, richtete sich sein Zorn nicht gegen Inspektor Mizeri, sondern gegen diesen Mann mit dem dicken Schnurrbart, der blauen Schürze, der ihn seelenruhig vor die Tür seiner Bauernkneipe setzte.

Irgendjemand lauerte ihm draußen auf, das stand fest, ein Polizist, den Mizeri zu dem Zweck mitgebracht hatte. Aber welcher war es? Auf der Straße wimmelte es von Menschen. Eines von Stans Beinen war eingeschlafen, er hinkte leicht. Er war immer noch benommen, beobachtete die Passanten mit misstrauischen, verstohlenen Blicken, während er sich an der Hausmauer entlangdrückte, damit ihn keiner überrannte.

Er war außerstande zu denken, sich diesen oder jenen Schritt zu überlegen. Instinktiv, wie andere Jahr um Jahr in ihr Büro trotten, schleppte er sich weiter in Richtung Montmartre, zu dem mit Nouchi vereinbarten Treffpunkt. Er kam an einer grauen Quadersteinfassade vorbei mit vergitterten Fenstern – ein Bankgebäude. Ein Junge, der sich im Laufschritt durch die Menschenmenge schlängelte, trat ihm mit voller Wucht auf den Fuß. Seit seiner frühesten Kindheit in Wilna, als seine Mutter noch lebte, litt er jeden Winter an Frostbeulen.

Ihn durchfuhr ein so heftiger Schmerz, dass er einen Augenblick reglos verharrte, wie bewusstlos.

Der Outlaw

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