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Die vier Elemente Vom Glück der Gegensätze
ОглавлениеLebensläufe sind wie ein würziges Gericht aus verschiedenen Zutaten. Aus Zufällen und Chancen, die uns unsere Umgebung, unsere Sprache oder unsere Eigenschaften bieten. Das Ganze gewürzt mit einer deftigen Prise Zufall oder Schicksal – je nach Geschmack. Die wichtigsten Zutaten aber sind die Geschichten, die wir über die Jahre gesammelt haben und mit jeder neuen Erfahrung weiter formen. Geschichten über unsere Vergangenheit, über Zukunft und Gegenwart. Mal bitter, mal feurig, mal süß.
Das Menü des Lebens ist vielleicht ein bisschen so wie die saisonale Küche: Heute gibt es frische Tomaten und herrlich duftendes Basilikum, morgen vielleicht Kohl mit Lagerkartoffeln. Wir haben nur zur Verfügung, was eben gerade da ist. Trotzdem wird gekocht, und jedes Gericht ist von Anfang an einzigartig. Wir sind schließlich selbst die Köche und Künstlerinnen, die aus dem Brei des Lebens einzigartige Aromen und Geschichten machen. Lebensläufe mit dem Geschmack von Abenteuer, von Erfolgsdruck, Landleben oder Vorstadtgetto. Mal deftig, mal sauer, exotisch oder süß. Jeder Lebenslauf ist eine kulinarische Reise in mehreren Akten.
Das Leben, das ich momentan führe, schmeckt nach Waldrand, Hühnermist, Zirkuswagen, Landidylle und WLAN-Router. Es duftet nach Heu, Harz und dem Hartplastik meiner Computertastatur. Von dem Süppchen, das wir uns hier auf dem Land zusammenbrauen, möchte ich erzählen. Von unserem ganz eigenen Weg zwischen Schafen, Social Media und anderen vermeintlichen Gegensätzen. Von den Geschichten, die unser Leben schreibt, während wir hier draußen jeden Tag einfach tun, was zu tun ist.
Mein Partner Patrick ist am Rande des Waldes als waschechter Lausbub aufgewachsen. Ich als kleiner Wildfang irgendwo zwischen der großen weiten Welt und den Orten, die ich in den letzten Jahren als Heimat bezeichnet habe.
Patrick und ich leben heute gemeinsam auf dem Land. Nicht in der Stadt. Wir leben im Zirkuswagen, nicht in der Loftwohnung. Zwischen Schafen und Hühnern, nicht zwischen angesagten Szenecafés und duftenden Dönerbuden. Nicht, weil eines besser als das andere wäre, sondern weil wir den Geschmack des Draußen-Seins gewählt haben.
Auf meiner Speisekarte steht momentan ein analoger Alltag in der Natur, gepaart mit den Vorzügen der digitalen Welt. Dieses Leben besteht aus einer ganz eigenen Grundsubstanz, ohne die es alle Zutaten und sogar das Feuer, auf dem unser Süppchen köchelt, nicht gäbe: die vier Elemente.
Hier draußen durfte ich Feuer, Wasser, Luft und Erde ganz neu begegnen. Jedes dieser Elemente besitzt eine ureigene Kraft, die ich nicht nur ganz deutlich draußen in der Natur spüre, sondern auch in mir drinnen. Das prasselnde Feuer im Ofen unseres Zirkuswagens verbindet mich mit dem Lodern meiner beruflichen und privaten Leidenschaften. Der Fluss auf der anderen Seite des Feldes zeigt mir jeden Tag die Veränderlichkeit des Lebens. Das Wasser regt mich dazu an, selbst in Bewegung zu bleiben und nicht zu einem trüben Tümpel zu verkommen, der keine Klarheit und Frische mehr bringt. Die nach Fichtennadeln duftende Luft aus dem nahen Wald, die mich tagtäglich bei all meinen Aufgaben umgibt, lässt mich die Leichtigkeit des Seins trotz aller Hürden niemals ganz vergessen. Die Erde schlussendlich bringt Tatkraft. Jedes Frühjahr beobachte ich die wundersame Kraft dieses Elementes mit neuer Bewunderung, eine Kraft, die es vollbringt, in unserem kleinen Bauerngarten aus winzigen, unscheinbaren Samenkörnern prächtige Pflanzen wachsen zu lassen. Dank meiner eigenen Tatkraft kann ich mit der Zeit starke Wurzeln ausbilden, die mich halten und mir dauerhaft Kraft zur Entfaltung geben.
Inzwischen sind Feuer, Wasser, Luft und Erde als untrennbare und gleichzeitig gegensätzliche Elemente zu den wichtigsten Zutaten in meinem Gericht des Lebens geworden. Aus ihnen ist diese Welt gemacht. Aus ihnen bin auch ich gemacht. Aus ihnen forme und schreibe ich meine Geschichten.
Die Natur um mich herum zeigt mir mit ihren Elementen, dass Gegensätze einander brauchen und zu einer gemeinsamen Komposition verschmelzen. Sie ergänzen sich, anstatt sich wechselseitig zu entwerten. Das Feuer braucht die Luft, um zu brennen. Die feste Erde braucht flüssiges Wasser, um fruchtbar zu sein. Der Tag braucht die Nacht. Der Sommer den Winter. Ebenso braucht das Lodern meiner Leidenschaften ab und an die geistige Klarheit des Elementes Wasser, damit ich mich nicht an meinen eigenen Flammen verbrenne. Die Leichtigkeit des Seins wiederum braucht geerdete Tatkraft, um nicht davonzuwehen.
Von meiner Begegnung mit Feuer, Wasser, Luft und Erde und von unserem wilden, bunten Leben im Zirkuswagen und drumherum möchte ich erzählen. Unser würziges Gericht zwischen den Gegensätzen, die diese Welt in Bewegung halten.
Gegensätze spielen ihr harmonisches Spiel überall. In der Natur. In uns selbst und in allem, was wir kreieren und erschaffen. Ohne sie bliebe jedes kunstvoll zusammengebraute Süppchen flach und fade.
Lebendigkeit und Lebensfreude liegen in meinem Leben auf dem Land irgendwo zwischen analog und digital. Zwischen Tradition und Innovation. Zwischen Hektik und Ruhe. Zwischen Sonne und Regen ist das Leben bunt.
Wir lesen und hören viele Geschichten von Erfolg, von erreichten Zielen und dem vollkommenen Glück. Lebensläufe, in denen es nie wieder Lagerkartoffeln mit Kohl gibt, weil durch einen bewussten Lebenswandel alles besser geworden sei. Wir sehnen uns nach einer Welt ohne Widersprüche und Gegensätze, weil wir uns im ersten Moment nicht vorstellen können, dass Popcorn mit Salz und Zucker gleichzeitig die beste Wahl ist. Wir sehnen uns stattdessen nach Reinheit. Ganzheit. Vollkommenheit und Glück. Überall. In Filmen, in Liedern und Erzählungen. Wilde Romantik, ein bisschen Magie und runde »Erfolgsgeschichten«. Das sind die Zutaten, die wir in der Weite einer digitalisierten Welt suchen, während wir schon längst mit den Zutaten kochen, die nun mal in unserer ganz eigenen Küche vorhanden sind.
Die Wahrheit ist, dass das Leben immer veränderlich bleibt. Die Wahrheit ist, dass auch ein eigenes Tiny House im Grünen keine Garantie für Glück ist. Weil nach dem süßen Dessert in guten Restaurants die Käseplatte und der schwere Rotwein kommen. Und erst das verleiht dem Leben seinen Tiefgang.
Ich möchte nicht so tun, als sei mein momentaner Alltag mitten in der Natur die Erfüllung, nach der ich schon immer gesucht habe. Denn auch wenn ich oft verträumt bin und romantischer veranlagt, als ich zugeben will, existiert Erfüllung für mich nicht. Ja, sie ist nicht einmal erstrebenswert. In meinem Leben gibt es viele Dinge, die besser sein könnten. Das Landleben bereitet jeden Tag enorme körperliche und geistige Arbeit, und ein Alltag am Fuße des Schwarzwaldes irgendwo in einem winzigen Kaff im Süden Deutschlands will erst einmal erprobt und ausgehalten werden. Gerade deswegen aber liebe ich dieses Leben so sehr. Ich liebe es, weil ich die Käseplatte und den facettenreichen Rotwein viel intensiver genießen kann als ein süßes Dessert, das jeglichen Geschmack auf der Zunge platt walzt, der jemals da gewesen sein mag. Von der Natur durfte ich lernen, dass es das Glück der Gegensätze ist, das Anziehungskräfte erschafft, und diese Kräfte wiederum halten uns lebendig.