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Episode 1 Träum weiter

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Guten Abend, lieber Zuschauer.

Ich möchte Sie Zuschauer nennen, obwohl Sie aktuell nichts sehen. Aber keine Sorge, in wenigen Minuten beginnt das Spektakel.

Wir befinden uns in der Wohnung von Stuaire Scothdhearg, 23 Jahre alt. Neunter Stock, Aussicht auf den Fluss, es ist Nacht und, wie könnte es anders sein, neblig – keine Sterne, kein Mond, kein Funken Licht zu sehen. Es ist so dunkel, dass sie die eigene Hand nicht vor den Augen sieht.

Was für ein Mensch ist Stuaire?

Ihre Wohnung ist winzig – einen einzigen Raum kann man eigentlich nicht Wohnung nennen, zudem sich darin lediglich ein Bett und ein Schrank befinden.

Wie ihr Name schon vermuten lässt, ist sie rothaarig. Eine nicht zu bändigende Sintflut kupferfarbener Locken wogt auch jetzt wirr und leuchtend über ihr Kissen und ihr Gesicht, obwohl sie am Abend zuvor versucht hat, die Übermacht auf ihrem Kopf mit einem Band zur Räson zu bringen.

Jetzt ist sie ohnehin wach. Ich muss nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es kurz nach drei in der Nacht ist. Stuaire ist wach, weil sie ein Geräusch in ihrer Wohnung gehört hat, ein Quietschen wie von Sprungfedern. Sie liegt mit offenen Augen in ihrem Bett, sie atmet ruhig ein und lauscht in der Gewissheit, dass die Dunkelheit nichts Schrecklicheres bergen kann als sie selbst.

Ich öffne die Augen und plötzlich wird es hell.

Stuaire war gerade dabei gewesen in die Nacht zu starren und herauszufinden, was sie als nächstes tun sollte, als plötzlich neben ihr zwei Augen geöffnet wurden, von so hellem, durchdringend strahlendem Blau, dass der Raum dadurch zu erleuchten schien.

Die Augen sahen sie direkt und aufmerksam an. Es gelang ihr nicht, wegzusehen. Der dazu gehörige Mann lag in ihrem Bett, direkt neben ihr, ohne einen Funken von schlechtem Gewissen oder Verlegenheit zu zeigen, den Kopf mit dem Arm aufgestützt, er betrachtete sie nach wie vor, ohne ein Wort zu sagen.

Sie setzte sich auf, tastete nach ihrem Haarband und stopfte die Strähnen so gut es ging in einen Knoten, der aussah, als würde er jede Sekunde auseinanderspringen.

„Unbekannter in meinem Bett“, sagte sie, „ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen?“

Ihr Gegenüber bewegte sich kein Stück. „Die Dame Scothdhearg dagegen kennt jeder, ihr Ruf eilt ihr voraus“, sagte er und lächelte. „Unhöflich, mich nicht vorzustellen, auch wenn du mich schließlich selbst hier hergebracht hast.“ Er deutete auf ein kleines glitzerndes Objekt, das über ihrem Bett hing.

Stuaire runzelte die Stirn. „Wie bitte?“ Endlich setzte er sich auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Fís. Ich bin Traumtänzer.“ Er musterte sie, als suche er in ihrem Gesicht nach plötzlicher Erkenntnis, aber da suchte er vergebens. Sie sah ihn nach wie vor verständnislos an.

Trotzdem ergriff sie seine Hand. „Stuaire“, sagte sie. „Aber meinen Namen kennst du ja bereits. Woher auch immer! Und was soll das heißen, ich habe dich hergebracht?“

Sie betrachtete ihr Gegenüber eingehend. Nein, er kam ihr nicht bekannt vor – und solche Augen hätte sie sicher nicht vergessen, niemand hätte so etwas fertig gebracht. Sie waren wie Scheinwerfer. Aber auch der Rest war nicht unansehnlich. Sie hatte ohnehin eine Schwäche für Dreitagebärte. Ihr Blick wanderte weiter. Die Schultern waren vielversprechend. Sie merkte erst an der plötzlichen Stille, dass er zuvor wohl geredet haben musste. Ihre Gedanken kehrten widerwillig zum aktuellen Geschehen zurück. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass ihm ihre Musterung nicht entgangen war. Aber warum auch ein Geheimnis daraus machen.

„Was hattest du gesagt? Ich war mit den Gedanken gerade woanders.“

„Das habe ich gemerkt“, antwortete er spöttisch. Dann deutete er wieder auf das Objekt, das über ihrem Kopf an der Wand hing. „Das dort hat mich hergebracht. Ein Traumfänger. Ich werde davon angezogen und eingefangen wie eine Motte vom Licht.“

Sie betrachtete verwirrt das seltsame Wirrwarr aus Ästen, Schnur, Perlen und Federn, das über ihrem Bett hing, und murmelte geistesabwesend: „Bedauerlich, dass sie dich anziehen und nicht aus … Woher kommt das? Ich habe dieses Objekt vorher noch nie gesehen – gestern Abend war es noch nicht da!“

Zunächst einmal ignorierte sie seine abstruse Erklärung und konzentrierte sich aufs Wesentliche: neben einem fremden Mann auch noch ein fremdes Objekt in ihrer Wohnung, beides nachts ohne einen Laut materialisiert, das war zu viel des Guten.

„Du hast es nicht dort aufgehängt?“, vergewisserte Fís sich und ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen. Er bedeutete ihr zu schweigen und flüsterte: „Dann ist noch jemand anders hier.“

Sie sah sich um und wies auf den Schrank und unters Bett. Woanders konnte ja niemand sein. Einen Moment saßen sie da und lauschten. Dann zog er aus der Innentasche seines Anzugs eine Brille, nahm die Zeitung von ihrem Nachttisch, schlug sie auf und begann zu lesen.

Stuaire musterte ihn von Kopf bis Fuß – so viel sie zumindest sehen konnte, den Teil also, der unter ihrer Bettdecke hervorragte. Da sitzen wir, dachte sie, wie ein altes Ehepaar. Interessant.

Sie gab ihm noch einen Moment Schonfrist, dann räusperte sie sich – und zog an der Bettdecke, denn ihr rechter Arm ragte heraus und fror. „Entschuldigung.“

Er blickte von der Zeitung auf und sah sie über seine Brillengläser fragend an.

Sie schlug die Decke zurück und stand auf. „Ich weiß immer noch nicht, wer du bist“, stellte sie fest. „Wird eigentlich irgendjemand schlau aus deinem Gerede? Außerdem erscheinen seltsame Gegenstände in meiner Wohnung – und hattest du nicht erwähnt, dass sich hier noch jemand aufhält? Steht die Antwort in der Zeitung? Findet hier eine Versammlung statt, von der ich nichts weiß? Ist das hier ein Konferenzraum? In meiner Wohnung?“

Und plötzlich fühlte sie eine kalte Hand, die sich um ihre Fußknöchel schloss.

Sie quietschte erschrocken auf, zappelte mit ihrem Bein und versuchte sich freizutreten. Die Hand erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig. Fís hatte die Zeitung beiseitegelegt, war aus dem Bett gesprungen und hatte sich an ihrer Seite auf den Boden geworfen. Er hatte das Handgelenk gepackt, das an ihr hing, zerrte daran und schimpfte vor sich hin. „Einfach still halten und abwarten, wenn man erfährt, dass sich etwas Unbekanntes in seiner Wohnung aufhält? Was für eine merkwürdige Vorstellung!“ Damit gelang ihm endlich, die Hand von ihr zu lösen. „Und du“, fuhr er das Wesen unter ihrem Bett an, „raus! Aber flott!“

Etwas flatterte, quietschte und kreischte unter ihrem Bett, Fís konnte nur mit Mühe die um sich schlagende Hand festhalten. Mit einem Ruck zog er das Wesen unter dem Bett hervor. Stuaire trat einen Schritt zurück, als sie es sah.

Klauenartige Hände und Füße schlugen in die Luft, wo Fís eben noch gestanden hatte. Einen Wimpernschlag zuvor war er über das Bett gesprungen und hatte Stuaire in Richtung Tür gestoßen. Er riss die Tür auf.

„Lauf!“, sagte er und fuhr herum, das Wesen nicht aus den Augen lassend.

Sie blieb natürlich stehen.

Zwischen den Krallen, die durch die Luft schnitten wie Sensen, steckte ein irgendwie unproportional wirkender Körper, schwere keulenartige Arme und Beine, dazwischen sah das Wesen eher eingefallen und ausgezehrt, ja, hungrig aus. Ein riesiger lang gezogener Kopf saß darauf, mit Augen wie Kohlen und Zähnen, die wirkten, als könnten sie menschliche Knochen mit Leichtigkeit durchbeißen.

„Ein Alptraum!“, stellte sie fest.

Das Wesen zuckte und zappelte hin und her, schlug mit den Armen um sich und brüllte. Sie hielt sich die Augen zu. „Die Nachbarn!“

Fís stand vor dem Wesen, mit erhobenen Händen, geschlossenen Augen und konzentriertem Gesichtsausdruck. Er tappte mit dem einen Fuß auf den Boden, als würde er den Takt zu einer unhörbaren Musik klopfen.

„Was tust du?“, rief Stuaire durch den Lärm. Die Klauen hatten bereits tiefe Risse in die Wand geschlagen. Mit einem Klirren zerschmetterte das Untier jetzt ihr Fenster. Sie hielt sich die Ohren zu. „Was ist das für ein … Ding?“

Aus heiterem Himmel begann er zu singen.

Nicht nur Stuaire war perplex, auch das Wesen hielt inne und beäugte Fís irritiert.

Er hatte eine glasklare und beruhigende Stimme. Man fühlte sich sofort in Sicherheit, man wollte sich auf den Boden legen und die Augen schließen und nur zuhören.

Sie fuhr zusammen, als plötzlich eine Hand die ihre ergriff und sie vom Boden hochzog – erst in diesem Moment merkte sie, dass sie tatsächlich dort gelegen und nur … zugehört hatte. Sie sprang auf.

„Lauf!“, wiederholte Fís und zerrte sie hinter sich her.

Das Wesen schien in eine Art Spinnennetz eingewickelt und versuchte verzweifelt, sich frei zu kämpfen. Stuaire hatte nicht mehr die Möglichkeit genauere Beobachtungen anzustellen, da sie aus der Wohnung zur Treppe gezogen wurde. Sie schüttelte ihren Kopf und konnte sich endlich von den Ereignissen losreißen.

Sie rannten die Treppe hinunter auf die Straße. Fís blieb stehen und sah zum Fenster auf. Eine riesige rußig-schwarze Wolke, schmierig irgendwie, waberte durch das zerbrochene Fenster nach draußen. Sie wirkte irgendwie … lebendig.

„Komm!“, rief Fís und rannte wieder los.

Sie lief hinter ihm her. Atemlos versuchte sie Worte heraus zu bekommen. „Was … ist das? Was sollte das … Gesinge?“, brachte sie heraus. „Und wohin laufen wir?“

„Erst mal weg.“

„Klingt nach einem gut durchdachten Plan“, keuchte sie.

„Hier rein.“ Er zog sie in einen Hauseingang, wo sie sich neben einander kauerten und versuchten, ihre Atemgeräusche zu unterdrücken. Die unförmige schwarze Wolke schwebte langsam durch die Straße. Es schien, als schnüffele sie nach ihnen.

Stuaire wagte nicht, einen Muskel zu bewegen. Sie beobachtete, wie das Ding sich langsam nach links, nach rechts bewegte, und hielt den Atem an, als es schließlich einen Fingerbreit von ihr entfernt vorüberwaberte.

Fís legte die Hand über ihren Mund und zeigte an, zu warten. Unnötig. Stuaire war ohnehin wie erstarrt, bis das Ding um die Ecke verschwand.

Fís sprang auf und half ihr hoch. „Fürs Erste ist er weg“, stellte er fest. „Aber er kommt wieder. Er hat noch nicht gefunden, was er gesucht hat.“

„Wer, er?“, platzte es aus ihr heraus. „Was ist das für ein … Objekt?“

Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Objekt! Wir sprechen hier von einem lebendigen Wesen! Ich dachte, du wüsstest, was es ist? Du hast doch sofort seinen Namen gerufen!“

„Ich??“, fragte sie irritiert.

„Ein Alptraum“, sagte er.

„Ein Alptraum?“

Er nickte.

„Ein lebender Alptraum?“

„Er muss sich aus seiner Welt verlaufen haben. Armes Ding! Kein Wunder, dass er hier nicht zurechtkommt.“

„Ist er harmlos?“

„Abgesehen davon, dass er uns fressen wollte ...“

„Armes Ding!“, wiederholte sie empört. „Armes, armes Ding, das uns fressen wollte!“

Er schüttelte den Kopf und legte ihr den Arm um die Schulter. „Er ist hungrig!“

„Und jetzt?“ Sie schob seinen Arm weg.

„Ich gehe zurück in meine Welt. Für mich ist es zu langweilig, länger zu bleiben.“

„Deine Welt?“

„Komm mit mir“, sagte er. „Wie kann man nur hier leben? Langweilig und geordnet, nichts passiert.“

Sie verzog skeptisch das Gesicht. „Ich bin hier ganz zufrieden. Mir passiert genug, das kannst du glauben.“

Er musterte sie und nickte langsam. „Rothaarige Stuaire, das glaube ich dir sofort. In unserer Welt bist du bekannt dafür.“ Er lächelte. „Schade. Es wären sicher interessante Zeiten auf mich zugekommen.“

Er umarmte sie, küsste sie auf die Stirn, drehte sich um und ging davon.

Sie sah ihm gedankenverloren hinterher. Ihre Welt – langweilig und geordnet? Träume, die in die Wirklichkeit kamen? Ein Traumfänger, der wirklich einen Traum fing? Sie blinzelte verwirrt.

Er ging die Straße entlang, als würde sie ihm gehören.

Ohne zu überlegen, folgte sie ihm – zu neugierig darauf, wo er hinging.

Zwei Straßenblöcke weiter schlenderte er die Treppen zur U-Bahn hinunter. Sie sah, wie er um die Ecke verschwand, und lief so lautlos wie möglich die Treppe hinterher.

Als sie um die Ecke spähte, sah sie ihn gerade durch eine Tür verschwinden, auf der ein großes Warnschild auf Starkstrom hinwies – Betreten nur für autorisiertes Personal gestattet.

Kurz bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, hatte sie die Klinke in der Hand.

Sie stand vor der Tür, hielt die Klinke umklammert und zögerte kurz. „Tu das nicht“, murmelte sie zu sich selbst. „Tu das nicht.“ Dann atmete sie tief ein und schob sich durch den Türspalt. Hinter ihr klickte das Schloss zu. Vor ihr war es düster, sie konnte nur Schatten erkennen. Eine Mauer – oder ein Gebäude – zu ihrer Linken. Rechts von ihr schien sich eine weite, leere Fläche zu befinden. Kalte Luft wehte von dort, wie von einem großen Gewässer. Dass sie nicht in einem Wartungsraum der U-Bahn gelandet war, war offensichtlich. Sie drehte sich um – die Tür, durch die sie gekommen war, war verschwunden.

Irgendwie hatte sie nichts anderes erwartet.

Sie sah sich um, ob Fís noch zu sehen war, aber er war schon in der Dunkelheit verschwunden. Sie tat ein paar Schritte ins Ungewisse – und stand auf einmal im Regen.

Leichter Nieselregen fiel wie ein Vorhang über sie. Sie ging weiter, und je länger sie ging, desto stärker wurde der Regen. Bald sah sie keinen Zentimeter weit, die Kleidung klebte an ihrem Körper und ihre Haare an Kopf und Schultern. Es regnete so stark, dass sie kaum atmen konnte. Sie hatte das Gefühl zu ersticken – oder vielleicht eher zu ertrinken? Der Regen lastete so schwer auf ihren Schultern, und die nasse Kleidung zerrte so an ihren Gliedern, dass sie sich jeden Schritt mühsam abringen musste. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Haut brannte von den Regentropfen, die gegen ihr Gesicht peitschten.

Sie hielt ihre Hand über Mund und Nase, um wenigstens Luft holen zu können. Auch das half nicht viel, das Wasser schien von allen Seiten zu kommen.

Plötzlich leuchteten vor ihr zwei große runde Lichter auf, die direkt auf sie zukamen. Ein stampfendes, ratterndes Geräusch näherte sich. Das Licht blendete sie. Ein hohles, lang gezogenes Tuten erklang, dann quietschten die Bremsen, und direkt neben ihr kam ein Zug zum Stehen.

Mit einem Zischen öffnete sich die Tür des ersten Waggons, und heraus blickte ein junger Mann – vielleicht fünf Jahre älter als sie, und mit der Figur einer Spaghetti – und streckte ihr die Hand entgegen. „Bitte einsteigen!“, rief er durch den Regen. „Wir haben an diesem Bahnsteig keinen Aufenthalt!“ Er packte ihr Handgelenk und zog sie ins Innere des Zuges. Hinter ihr gingen die Türen zu.

Sie schnaufte und wischte sich Haare und Wasser aus dem Gesicht. Nachdem sie wieder etwas zu Atem gekommen war, konnte sie sich umsehen. Ihr Retter in der Not tänzelte in dem Waggon herum, der zugleich auch der Steuerungsbereich des Zugs sein musste. Ein normaler Zug konnte das aber nicht sein – so viele kompliziert wirkende Knöpfe und Schalter, eine Art Globus, den er wie ein Steuerrad zu benutzen schien, mehrere Uhren, die in unterschiedliche Richtungen liefen – eine Maschine, die in unregelmäßigen Abständen „Ding“ machte – ein Apparat, aus dem ab und an in kurzen Stößen weißer Dampf oder goldener Flitter trat, der sofort in der Luft verschwand …

Ihr schwirrte der Kopf. Sie sah sich im Rest des Waggons um. Dicker orientalisch wirkender Teppich bedeckte den Boden. Eine Sitzgruppe um einen runden kleinen Tisch befand sich am hinteren Ende. Die Möbel erinnerten sie an gediegene viktorianische Salons. Auch die mit Chintz bezogene Chaiselongue, die gegenüber der Sitzgruppe stand, passte ins Bild. An der Wand stand ein Kamin, in dem Feuer brannte – in einem Zug?, überlegte Stuaire kurz. Daneben ein Tisch mit wissenschaftlich aussehenden Instrumenten, jede Menge spitze Nadeln, Zeiger und Pendel. Sie fuhr herum, als auf einmal hinter ihr eine Geige ertönte. Der Mann hatte tatsächlich eine Geige unters Kinn geklemmt und spielte eine hektische Melodie. Nach ein paar Sekunden brach er ab, der Zug lenkte nach rechts, dann nickte er zufrieden. Er warf die Geige auf einen Sessel und gab dem Rohr, das über ihm aus der Decke ragte, einen Schubs, wodurch es nach oben schwenkte und an der Decke einrastete.

Theatralisch wirbelte er herum und bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. Er sah sie an, als hätte er sie völlig vergessen gehabt und erinnere sich erst jetzt an sie, und gab sich selbst eine Ohrfeige. „Entschuldige, wie unhöflich!“ Er eilte auf sie zu, umkreiste sie einmal, den Kopf zur Seite geneigt, und musterte sie von oben bis unten. Sie drehte sich langsam um sich selbst, um ihm zu folgen. „Hallo?“, sagte sie.

Er blieb ruckartig stehen und richtete sich auf. „Hi! Ich bin Astóirín.“ Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Du bist in den Regen gekommen.“ Er drehte sich wieder um und betätigte einen Schalter.

„Ja, und ich friere“, stellte sie klar.

Er wandte sich ihr zu. „Natürlich. Nasse Kleidung. Im nächsten Waggon ist ein Bad, glaube ich... aber wenn du zuerst weitergehst, durch den Speisewaggon, findest du den Kleiderschrank … irgendwo da hinten ...“ Er fuchtelte mit den Händen, drehte sich wieder um, dann schien ihm noch etwas einzufallen. „Wie ist dein Name?“

„Stuaire“, sagte sie. „Stuaire Scothdhearg.“

„Das sieht man“, erwiderte er. „Gut, Stuaire Scothdhearg, das hier ist mein Zug“, er umfasste den Raum mit einer großartigen Geste, „die nächste Station erreichen wir in“, er warf einen Blick auf seine Uhr, „etwa vierzig Minuten.“ Er sah auf und bemerkte, dass sie immer noch nass war. „Deine Kleidung ist voll Regen“, stellte er fest; es klang überrascht. „Ab ins Bad. Du holst dir eine Lungenentzündung!“

Völlig verwirrt stolperte sie durch den Zug, durch verschiedene seltsame Abteile, bis sie eine Tür öffnete und auf einmal zwischen Reihen und Reihen von Kleidern stand.

Die Ordnung war undurchsichtig. Sie griff sich das erste Kleidungsstück, das aussah, als wäre es für eine Frau bestimmt, ein dunkelblaues gemustertes Cheongsam mit hochgeschlossenem Stehkragen und Schlaufenverschlüssen an der Schulter. Unter den Kleiderbergen fischte sie ein paar dunkelrote High Heels hervor. Sie klemmte sich die Sachen unter den Arm und ging durch die Waggons zurück, bis sie auf das Badezimmer stieß.

Der Zug schien gerade über unebenen Boden zu fahren, sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.

Irgendwie fühlte sie sich völlig erschlagen, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Sie konnte nicht mal einen klaren Gedanken fassen. Im Bad schälte sie sich aus den nassen Sachen und warf sie in eine Ecke. Sie war zu erschöpft sich über Kleiderschränke und Bäder in einem Zug zu wundern, der durch Geigenspielen gesteuert wurde.

Nachdem sie den Regen von Haut und Haaren gewaschen und ihre neuen Kleider angezogen hatte, fühlte sie sich wie ein anderer Mensch.

Und dann blickte sie in den Spiegel.

Sie blinzelte. Dann rieb sie sich die Augen und zwinkerte ein paar Mal. Kein Unterschied.

Im Spiegel schaute sie ein dreißig Jahre älteres Spiegelbild an.

Sie hob langsam die Hand und befühlte ungläubig ihr Gesicht. Um ihre Augen hatten sich leichte Krähenfüße gebildet. Sonst hatte sie zwar keine Falten, aber die Haut war nicht mehr so straff, trockener, und wie sie sich auch drehte und wendete, sie hatte einen leichten Ansatz zu einem Doppelkinn bekommen.

Sie schluckte. Dann trat sie ein paar Schritte und drehte sich langsam vor dem Spiegel. Wenigstens hatte sie nicht zugenommen! Ihre Figur war optisch weitgehend unverändert, aber jetzt war ihr klar, woher das ungewohnte Müdigkeitsgefühl in ihren Gelenken kam.

Sie trat nochmal an den Spiegel heran und zog besorgt ihre Haare auseinander. Keine grauen Strähnen, stellte sie erleichtert fest. Sie drehte die Locken ineinander und steckte sie mit zwei langen Nadeln am Hinterkopf fest. Dann straffte sie die Schultern und ging zurück in den Steuerungsbereich.

Der Raum war leer, und es schepperte und pfiff ohrenbetäubend. Der Globus rotierte wie verrückt. Sogar durch den allgemeinen Lärm hörte sie die Lager kreischen. Ohne lange zu überlegen rannte sie durch den Waggon und umklammerte den Ball mit beiden Händen. Die Bewegung ließ nur widerwillig nach, ihre Handflächen brannten, trotzdem ließ sie nicht los. Endlich drehte sich der Globus langsamer.

Auf einmal tauchte kopfüber Astóiríns Kopf über ihr auf. „Mille grazie.“ Erst jetzt merkte sie, wo der Lärm herkam – über ihr stand eine Klappe offen.

Astóirín kletterte durch die Luke zurück in den Zug und schüttelte ihr die Hand. „Wir haben es stabilisiert.“

Er klopfte sich Staub und Ruß von den Kleidern und strubbelte sich durch die Haare. Es regnete schwarze Flocken.

„Der arme Teppich.“ Sie verzog das Gesicht.

Er wirbelte herum und zog hektisch an verschiedenen Schaltern und Hebeln, dann zog er mit einem Haken die Klappe zu. Endlich ließ der Lärm nach.

„Der Kamin war wieder verstopft“, erklärte er. „Dann kommt der Globus jedes Mal durcheinander. Fast wäre das Gleichgewicht gestört worden.“

„Und was wäre dann passiert?“

„Ich habe es noch nicht ausprobiert. Mein armes Baby.“ Er tätschelte die Zugwand. „Vielleicht gar nichts. Vielleicht wäre der Zug implodiert. Wie auch immer. Jetzt sind wir wieder auf Kurs!“

„Auf Kurs wohin?“ Stuaire musste sich an der Wand festhalten, als der Zug mit einem Ruck nach links abbog.

„Ich weiß nicht.“ Er kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Die Anzeige ist mal wieder unscharf.“

Er schlug ein paar Mal gegen das Rohr über sich, dann zuckte er mit den Schultern. „Das sehen wir dann schon.“

Stuaire ließ sich in einen Sessel fallen und atmete tief durch.

Der kleine Tisch klappte plötzlich auf und ein Tablett fuhr nach oben, mit zwei Tassen, einer Kanne Tee und einem Teller mit Keksen.

„Tee!“ Astóirín rieb sich die Hände. „Genau die richtige Zeit dafür!“

Er sprang in den zweiten Sessel, die Beine über die Lehne geschlagen, und nahm sich eine Tasse.

Stuaire starrte einen Moment vor sich hin und klopfte nachdenklich auf die Tischfläche, dann setzte sie sich plötzlich auf. „Hah! Jetzt weiß ich wieder, was …“ Sie wandte sich zu Astóirín und deutete auf ihr Gesicht. „Wie ist das passiert?“

„Genetik?“, schlug er verzagt vor.

„Nicht das! Ich meine das … eben war ich noch Mitte 20, jetzt sehe ich aus wie 50?“

„Du hast dich gut gehalten“, versuchte er sein Glück.

„Darum geht es nicht! Wie kann so etwas passieren? Wo bin ich hier überhaupt? Was ist das für ein Zug, und wer – in Gottes Namen – bist du?“

„Den Zug habe ich gefunden“, behauptete er. „Oh, Kekse!“ Er nahm einen. „Was waren die anderen Fragen? Ah! Das Alter. Der Regen war das! Du bist nicht von hier, oder? Der Regen verfolgt dich … und du wirst älter und älter … bis nicht einmal mehr Staub von dir übrig ist. Naja!“ Er hob die zweite Tasse hoch. „Tee?“

Sie streckte automatisch die Hand aus.

„Ich würde sagen, ich bin noch rechtzeitig gekommen. Solange du noch jung und knackig bist.“

Stuaire richtete sich geschmeichelt auf.

„Keks?“ Er nahm noch einen. „Was wolltest du noch wissen? Ach ja – wo du hier bist“, sagte er mit vollem Mund. „Du bist hier in der Traumwelt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie du hier hergekommen bist. Normalerweise können nur die Traumtänzer die Türen zwischen Traum und Wirklichkeit öffnen.“

„Das heißt, ich träume?“

„Nein. Du bist gerade in der Traumwelt. Sowas gab es noch nie, soweit ich weiß … und ich weiß eigentlich alles – ohne eingebildet zu sein!“

„Wenn ich in einem Traum bin, bist du doch auch in einem Traum.“

„Ich bin ja auch von hier – im Gegensatz zu dir. Aber wie gesagt – wir sind hier nicht in einem Traum.“

Sie kniff skeptisch die Augen zusammen. „Du bist von hier? Du meinst, du lebst in einem Traum?“

„Ich lebe da, wo die Träume herkommen“, erklärte er. „Nochmal – wir sind hier nicht in einem Traum, sondern in der Traumwelt. Die Traumwelt ist die Welt, aus der die Träume kommen. Wie soll ich das erklären. Du zum Beispiel – bist ein Traum.“

„Danke. Dem kann ich nur zustimmen.“

„Also, ursprünglich warst du mal ein Traum. Die Menschen waren ursprünglich ein Traum, den eure Welt geträumt hat. Der dann irgendwann in eure Wirklichkeit getreten ist, und jetzt hat er sich verselbständigt. Der Lauf der Dinge.“

„Ein Traum? Die Welt hat uns geträumt? Die … Erde? Aber wieso?“

„Weil einer von uns diesen Traum gemacht hat. Und ihn dann an die Welt geschickt hat. Eine Welt. Sei nicht narzisstisch. Als gäbe es nur eure Welt.“

„Ist das nicht so? Ich meine, die einzige Welt, auf der es intelligentes Leben gibt.“

Er lachte nur.

„Nicht?“ Sie versuchte nicht den Faden zu verlieren bei all den abstrusen neuen Informationen, mit denen ihr Hirn bombardiert wurde. „Ist ja auch egal. Das ist doch sowieso verrückt. Du willst mir erzählen, wir alle sind nur Träume? Und Träume können in die Wirklichkeit kommen?“

„Alles, was in der Wirklichkeit ist, entstand einmal aus einem Traum.“

„Den jemand wie du gemacht hat.“

„Genau.“

Stuaire überlegte. „Ich bin einem Alptraum begegnet. Also – einem Wesen, das dieser Mann als Alptraum bezeichnet hat.“

„Welcher Mann?“

Aber sie war zu sehr in Gedanken, darauf einzugehen. „Wie kann es sein, dass ein Alptraum real wird? Sowas habe ich noch nie zuvor gehört … passiert das öfter?“

„Das funktioniert nicht auf diese Weise. Sonst würde es hier ja von ungewöhnlichen Erscheinungen wimmeln. Ich weiß doch außerdem, wenn ein Traum Wirklichkeit wird. Träume sind Träume. Und dieser Traum ist nicht real geworden, das heißt, es muss ein Traum sein, der in die Wirklichkeit gekommen ist … und Träume können eigentlich nicht in die Wirklichkeit gelangen.“

„Eigentlich?“

„Jemand muss ihn geschickt haben.“

„So etwas geht? Und wer? Und wieso zu mir? Dieses Biest wollte mich fressen!“

„Aaaach“, er winkte ab. „Das glaube ich nicht.“

„Der Mann hat es gesagt.“

„Welcher Mann ?“

„Es hat um sich geschlagen … meine Möbel kaputt gemacht … meine Nachbarn aufgeweckt … mein Fenster zerbrochen … und jetzt? Verfolgt es mich? Du sagst, jemand hat es geschickt. Wer? Was habe ich ihm getan?“

Er zögerte. „Alpträume … Kinderkram“, murmelte er ausweichend. „Darüber solltest du dir nicht weiter Gedanken machen.“

„Jemand versucht, mich umzubringen. Das lasse ich mir nicht bieten“, stellte Stuaire klar. „Zu Hause würde so etwas niemand wagen.“

„Du erinnerst mich an jemanden“, sagte Astóirín nachdenklich. „Haben wir uns schon mal gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wer steckt hinter dem Ganzen? Du weißt es, oder? Du weißt viel mehr als du erzählst.“ Zum ersten Mal musterte sie ihn genauer. Irgendwie trat sein Aussehen in den Hintergrund – er schien nicht still sitzen zu können, auch wenn er redete, bewegte er ständig die Hände, als müsse er die Wörter aus der Luft greifen.

Seine Augen waren grau und grün und glänzten wie Glas. Er war sehr korrekt gekleidet, fiel ihr auf, eine hellgraue Weste über dem Hemd, das vor seiner Expedition in die Innereien des Kamins einmal weiß gewesen sein musste, der Rest des Anzugs war schwarz. Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Wer – bist – du?“

Er zögerte, bis sie die Augen aufriss, als würde sie gleich eskalieren.

„Schon gut“, er hob beschwichtigend beide Hände. „Es ist kein großes Geheimnis. Ich bin Astóirín. Ich bin der Unrealist. – Das heißt, man nennt mich den Unrealisten. Ich weiß nicht, warum. Ich finde mich nicht unrealistisch. Ich mache Träume. Und zwar die guten Träume.“

Er streckte eine Hand aus, schnippte und hielt dann die Handfläche wartend in die Luft. Durch die Waggontür hinter ihnen sauste ein quirlig wirkender goldener Ball und hüpfte, aufgeregt wirkende Geräusche von sich gebend, in seine Hand.

Er lächelte und hielt Stuaire den Ball zur Begutachtung unter die Nase.

„Und dann verteile ich sie.“ Er überlegte kurz und warf den Ball mit einer Drehung des Handgelenks in die Luft. Der Ball schraubte sich fiepend durch das Zugdach und verschwand.

Stuaire merkte jetzt erst, dass sie die ganze Zeit gelächelt hatte. „Das war ein … guter Traum?“

„Das war ein fantastischer Traum“, erwiderte Astóirín mit begeistert leuchtenden Augen. „Er hält sogar mehrere Nächte vor. Erinnerst du dich an den Traum, den du mit zwölf Jahren hattest? Wieder und wieder? Ein Zirkus, ein Pony und massenhaft Eiscreme?“ Er lächelte stolz. „Das war er.“

Sie kniff irritiert die Augen zusammen. „Du kennst mich, seit ich zwölf bin? Wieso hast du so getan, als wüsstest du nicht, wer ich bin?“

„Ich kenne dich jetzt, wie du zwölf warst“, erklärte er. „Traumzeit. Für mich und alle hier läuft die Zeit auf eine andere Weise als für dich – nicht als gerade Linie, die sich vielleicht mal schneller, mal langsamer bewegt. Für uns ist die Zeit eine Art Wollknäuel. Wir springen von einem Faden zum nächsten.“

„Du kannst also in meine Zukunft und in meine Vergangenheit reisen?“, vergewisserte sie sich.

„Das habe ich nicht in der Hand. Genauso wenig wie du bestimmen kannst, ob du zuerst alt oder zuerst jung bist. Es ist festgelegt.“

„Es war wirklich ein schöner Traum“, sagte sie nachdenklich.

Sie merkte, wie er sich freute. Mehr denn je erinnerte er sie an ein kleines Kind.

Der Zug wurde langsamer, sie hörte die Bremsen quietschen, die Scharniere ächzten unter der Belastung. Astóirín stand auf und sah durch das Rohr. Er klopfte mehrmals dagegen und versuchte es erneut.

„Oh“, sagte er dann. „Wir sind hier gelandet? Wieso das denn?“ Er drückte scheinbar wahllos ein paar Knöpfe und zog an Hebeln. „Wieso hier? Was soll das?“

„Sprichst du mit deinem Zug?“

„Natürlich! Was täte ich nur ohne meine Lady Godiva. Ich kann mich immer auf sie verlassen.“ Er tätschelte den Steuerungsglobus. „Naja – die meiste Zeit über.“

„Sie?“

„Züge haben Namen.“ Er sah sie an, als wäre ihre Frage völlig absurd. „Wie Schiffe. Ich kann doch nicht immer „mein Zug“ sagen, wenn ich von ihr oder mit ihr spreche. Das wäre doch unhöflich.“ Er drehte sich um und öffnete die Jalousie vor dem Fenster. „Wir sind tatsächlich hier. Wieso? Was soll ich ausgerechnet hier?“ Er sah wieder durch das Rohr. „Wir haben einen Gast! Was soll das?“

Der Zug schwieg und blieb stehen. Ein normales Verhalten für einen Zug, fand Stuaire. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus.

Vor ihren Augen erstreckte sich eine gepflegte Parklandschaft, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelte. Eine Allee führte durch den Park, der Weg war ein wenig finster durch die Schatten der Bäume.

Am Ende ragte ein Schloss auf. Es war klar und schnörkellos gebaut und schien mit sauerstoffarmem Blut gestrichen zu sein.

„Das ist Blut“, antwortete Astóirín auf ihre unausgesprochene Frage. „Wir müssen von hier verschwinden.“ Er schien Angst zu haben – eine Angst, die immer größer wurde. Sie merkte, dass er ihre Hand umklammerte. Er folgte ihrem Blick und ließ verlegen los.

„Wo sind wir hier?“

„Wir verschwinden“, sagte er. „Ich bringe dich zurück. Nicht hier. Hier ist es zu gefährlich.“

„Ich insistiere! Wo sind wir?“ Sie ignorierte seine Hand, die ihre erneut ergriffen hatte, dieses Mal um sie vom Fenster wegzuzerren. „Ich gehe nicht!“ Sie schüttelte ihn ab.

Er seufzte. „Das ist der Ort, von dem die Alpträume kommen. Bleib da! Geh nicht dort hin!“, schob er hinterher, aber zu spät – sie hatte schon die Tür geöffnet und sprang hinaus.

„Nicht mit mir, Freundchen“, knurrte sie. „Jetzt kannst du dich warm anziehen!“

Astóirín raufte sich die Haare und lief einige Male zwischen Tür und Steuerkonsole hin und her, bis er sich einen Ruck gab und ihr hinterher rannte.

„Stuaire!“, rief er. „Bleib stehen!“

Sie ignorierte ihn und marschierte auf das Schloss zu. „So etwas lasse ich mir nicht gefallen. Wer steckt dahinter? Der kann was erleben.“

Kaltes Morgenlicht wetterleuchtete vor den Toren und kleine Eisbrocken trieben den Fluss hinunter, aber Stuaire spürte die Kälte nicht. Sie kochte vor Zorn.

„Bitte bitte bitte zwing mich nicht da hineinzugehen“, jammerte Astóirín verzweifelt.

„Dann bleib in deinem Zug!“, schnappte sie. „Ich habe nicht gesagt, dass du mitkommen musst.“

Er zappelte herum wie ein kleines Kind und rang die Hände. „Doch, ich muss, wie soll ich mir das verzeihen, wenn dir hier etwas passiert?“

Plötzlich erhob sich eine herumstreunende Katze vor ihren Augen, streckte sich und verwandelte sich in einen Menschen – zumindest in etwas, das wie ein Mensch aussah.

Wind zerrte an seinen kurzen braunen Haaren und an seinem Anzug. Er hatte die süßesten Kulleraugen und das hinreißendste Lächeln, das Stuaire jemals gesehen hatte. „Alptraum?“, sagte sie zu Astóirín. Ihre Augen blieben interessiert an ihrem Gegenüber hängen. „Eher das Gegenteil.“

Der zwinkerte ihr zu.

„Madame? Von dir habe ich natürlich schon gehört, Stuaire Scothdhearg, der man sich besser nicht in den Weg stellen sollte.“ Er grinste, dann ergriff er ihre Hand und deutete einen Handkuss an. Sie fühlte sich erröten. „Ich bin Pritorniji“, stellte er sich vor. Und zu Astóirín gewandt, fügte er spöttisch hinzu: „Keine Sorge, meine Alpträume sind weit, weit weg. Ich will ja nicht, dass du wieder nach deinem großen Bruder rufen musst.“

Astóirín schniefte. „Du hast nur Angst vor ihm“, gab er trotzig zurück.

Stuaire sah ungläubig von einem zum anderen. „Sind wir hier im Kindergarten?“

„Kindergarten, ein gutes Stichwort.“ Pritorniji verschränkte die Arme. „Ich habe nicht vergessen, dass du mir damals Schneebälle ins Gesicht geworfen hast.“

„Fängst du wieder damit an? Das war ein Versehen! Du hast dafür meine Nachspeise gestohlen. So oder so ist das kein Grund, Alpträume durch die Welt zu schicken!“ Astóirín kniff wütend die Augen zusammen.

„Soll das ein Witz sein?“, fuhr Stuaire dazwischen. „Das ist doch nicht euer Ernst? Seht euch mal an, zwei erwachsene Leute, die sich um etwas streiten, das sie irgendwann im Kindergarten mal gemacht haben?“

Sie sahen bedröppelt zu Boden.

„Aber … ins Gesicht!“, verteidigte sich Pritorniji traurig.

„Schluss jetzt! Mit dir habe ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Du, mein Freund, hast dich für den Schaden in meiner Wohnung zu verantworten. Und an meiner Reputation. Welche Rechtfertigung hast du dafür, mir einfach so ein Untier zu schicken?“

Von einem Moment auf den anderen hatte Pritorniji seine Fassung zurück gewonnen. Er hob die Hände wie ein Zauberer, dem ein beeindruckender Trick gelungen war. „Weil ich kann!“, rief er fröhlich. Seine Füße berührten plötzlich nicht mehr den Boden. Er schwebte in der Luft und schien es nicht zu merken. „Weil ich kann und weil es Spaß macht! Hier hat es dich hergeführt!“ Er warf ihr eine Kusshand zu. An Astóirín gewandt fügte er hinzu: „Ein Vergnügen, deine budushchaya zhena kennenzulernen.“

Astóirín verdrehte die Augen und schnipste mit dem Finger. Pritorniji drehte sich um die eigene Achse und wurde dann nach oben geschleudert.

„Gehen wir“, sagte Astóirín zu Stuaire. Er musterte sie aus den Augenwinkeln. „Meine budush-was? Was soll das heißen? Hauptsache, er gibt mit seinem Russisch an, er meint, das ist cool.“

„Sprichst du nicht Russisch?“

„Nein, ich habe nur ein paar Ausdrücke im Wörterbuch nachgeschlagen, die cool sind.“

„Aber was hast du mit ihm gemacht?“

„Weit, weit weg, dorthin, wo es nur die Kälte und die Dunkelheit gibt“, sagte er finster. „Er wird Jahrhunderte brauchen, um wieder hierher zurückzukommen.“

Stuaire riss entsetzt die Augen auf. „Aber wieso? Das ist grausam!“

„Er hat es nicht anders verdient. Er hat einen Alptraum in deine Welt geschickt, und er hat nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Ich habe ihm eine Chance gegeben. Und seine Rechtfertigung war – weil er es kann!“ Er strich seine Haare glatt und drehte sich um. „Komm jetzt, zurück zum Zug. Ich bringe dich nach Hause.“

Ein lang gezogenes Pfeifen weckte sie. Es klopfte an ihrer Waggontür.

„Aufwachen!“, rief Astóirín von draußen. „Wir sind da!“

Stuaire streckte sich und ließ sich Zeit. Sie würde das hier vermissen, befürchtete sie. All das Verrückte, das ihr jetzt hier passiert war. Aber es half nichts, sie hatte zu tun.

Im Kleiderabteil des Waggons wählte sie etwas Praktisches, einen dunklen Hosenanzug, der ihre Figur gut betonte, die Schuhe behielt sie an. Nach einem Blick in den Spiegel fühlte sie sich gerüstet, der Welt gegenüber zu treten.

Sie ging in die Steuerungskabine, die ihr inzwischen wie ein Wohnzimmer vorkam. Astóirín sah von dem auf, was er gerade tat – irgendetwas Technisches im Inneren des mysteriösen Rohres reparieren – und kratzte sich an der Stirn. Was hat er für lächerliche Augenbrauen, dachte sie.

„Wir sind da“, wiederholte er. „Wie gewünscht. London, Ankunftszeit 7 Uhr morgens. Wir hätten es pünktlich geschafft, aber dieses Rohr ...“ Er wies mit einer wegwerfenden Handbewegung auf das Kabelgewirr hinter sich.

„Die Verspätung verkrafte ich.“

Er nickte, einen Moment lang sagten beide nichts. Er sah ein bisschen traurig aus, stellte sie fest.

„Sehen wir uns wieder?“, fragte sie.

„Nein. Das war ein Zufall, der nicht hätte passieren dürfen, und eigentlich auch nicht passieren kann. Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.“

Sie merkte, dass sie emotional wurde. Das würde sie wohl nie in den Griff bekommen.

„Ich hasse es, Abschied zu nehmen“, sagte sie traurig.

„Aaaach“, sagte er, plötzlich wieder fröhlich, „es war doch nur eine Nacht, und ich bin derjenige, der sitzen gelassen wird!“

Sie drückte ihn an sich. „Wir sehen uns wieder“, sagte sie. „Verlass dich darauf. Hier gibt es so viel zu entdecken, das lasse ich mir nicht entgehen.“

Er ruderte mit den Armen und schien nicht zu wissen, wie ihm geschah.

Dann zog sie die Waggontür auf, stieg aus – und fand sich plötzlich mitten im Gedränge der King's Cross Underground Station wieder. Hinter ihr schlossen sich Zugtüren mit einem Zischen. Sie drehte sich um – vor ihr verließ soeben eine stinknormale U-Bahn, gefüllt mit stinknormalen Menschen den Bahnsteig. Sie schüttelte den Kopf. Zurück zum Wesentlichen.

Sie lief zur nächsten öffentlichen Telefonzelle, wählte eine Nummer und wartete.

„Ja, bitte?“, meldete sich schließlich jemand am anderen Ende der Leitung.

„Wo ist sie?“

„Einen Moment.“ Sie hörte Tastaturen rattern. „Das Handy, das sie zuletzt benutzt hat, orten wir in Bangladesch. Dort haben unsere Leute sie vorgestern bei der Einreise gesehen.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „Sie ist nicht mehr dort.“

„Sie kennen sie besser als ich“, gab der am anderen Ende loyal zurück. „Und Sie haben recht. Ich habe meine Augen aufgemacht und mein Hirn eingeschaltet. Sehen Sie rechts von sich den Zeitungsstand? Kaufen Sie die Times und lesen Sie die heutige Schlagzeile.“

Sie sah nach rechts. Die Überschrift schrie ihr von mehreren Titelseiten entgegen: Skandal in Paris, Mord am Präsidenten, War es die Geliebte?

„Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Buchen Sie mir ein Ticket.“

Im Flieger checkte sie die verschiedenen Akten, die ihr seit gestern Abend zugemailt worden waren. Während der bizarren Erlebnisse in der Traumwelt waren hier tatsächlich nur wenige Stunden vergangen. Sie zerlegte die neuen Daten und sendete die Bruchstücke an verschiedene Empfänger. Mal sehen, was die daraus machen würden. Bevor der Flieger abhob, lud sie sich die aktuelle Ausgabe der Times herunter. Den Rest der Zeit verbrachte sie mit Lesen.

Der französische Präsident war am Vorabend in seinem Büro tot aufgefunden worden. Die bisherigen Anzeichen für eine Affäre des Präsidenten waren am Morgen des selben Tages in den Augen der Presse eindeutig bewiesen worden, als man den Präsidenten an der Seite einer hübschen jungen Blondine ein Hotel verlassen sah, beide gekleidet wie am Tag zuvor.

Stuaire schüttelte missbilligend den Kopf. Der Präsident galt als eher umsichtiger, kühl kalkulierender Kopf – dass ihm jetzt so ein Fauxpas unterlaufen war? Kein Wunder, dass sie dort war. Ihr Mitarbeiter hatte wirklich Köpfchen bewiesen. Sie machte sich eine Notiz bezüglich seiner nächsten Gehaltserhöhung.

Die erste Tatverdächtige – so konnte sie der Zeitung entnehmen – war unter den gegebenen Umständen und vor allem in den Augen der Journalisten natürlich die Ehefrau. Stuaire rümpfte die Nase. Der Partner war immer der erste Verdächtige, Affäre hin oder her. Nummer zwei in dem Fall natürlich die Geliebte.

Informationen zur Todesursache lagen noch nicht vor.

Sie lehnte sich zurück. Den Rest des Flugs über hörte sie Musik.

In Paris wurde sie von einem Chauffeur abgeholt.

„Mademoiselle befindet sich am Tatort“, informierte der Franzose sie.

„Wo sonst“, stellte sie lakonisch fest.

Der Tatort, das wusste sie ja schon aus der Zeitung, befand sich im Elysée-Palast. Sie checkte auf der Fahrt kurz ihr Handy und ging die Neuigkeiten durch. Nichts, das wichtiger wäre als ihr aktuelles Problem.

Der Fahrer bremste. Sie stieg aus und wurde bereits vom persönlichen Assistenten des Chef de Police empfangen.

„Madame, wie schön, dass Sie wieder im Lande sind. Ihr Mitarbeiter hat uns Ihren Besuch gestern bereits angekündigt, wir haben uns erlaubt, für Sie ein bescheidenes Zimmer im Four Seasons zu reservieren.“

Sie nickte gnädig und wies mit einem Handwedeln darauf hin, dass er vorausgehen sollte.

Sie liefen die Treppen hinauf und stiegen über das orange Absperrband ins Büro des Präsidenten.

Eine Silhouette am Fenster beugte sich über einen Tisch, völlig regungslos, und studierte etwas, das außer ihr niemand sehen konnte.

Ihre Haltung war konzentriert. Durch das rückenfreie pistaziengrüne Abendkleid, das sie trug, sah man die angespannten Schultermuskeln.

Ihre Haare waren, wenn auch vom selben Rot wie bei Stuaire, wesentlich gebändigter in einen eleganten Knoten gelegt.

Als Stuaire eintrat, sah sie hoch, rollte mit den Augen und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Oh nein, bitte nicht … womit habe ich das verdient?“, wandte sie sich an den Chef de Police, der neben ihr stand. „Nicht sie!“

Stuaire war mit zwei Schritten bei ihr und umarmte sie so fest sie konnte. „An mein Herz!“ Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Die andere wand sich und versuchte sich zu befreien. „Lass das!“ Endlich gelang es ihr, sie abzuschütteln. Sie richtete sich auf und tat so, als hätte die Situation ihr nichts von ihrer Souveränität genommen.

„Ich bin kein Baby mehr!“, stellte sie dann empört fest. „Ich bin 21, also längst volljährig! Ich sorge schon seit Jahren selbst für mich!“

„Ach“, seufzte Stuaire, „für mich wirst du immer ein Baby bleiben, Eirín.“

„Das Schicksal der kleinen Schwester“, kommentierte der Chef de Police sachkundig.

Eirín wandte sich mit einem beleidigten Schnauben ab. „Was willst du hier?“

„Der französische Präsident tot aufgefunden? Wenn du hier bist, war es sicher keine natürliche Todesursache. Das hier ist gefährlich, Eirín. Das ist kein Spiel.“

„Das – ist – mein – Job“, fauchte Eirín. „Niemand hier braucht dich!“

„Lass das doch die Experten machen.“

Der Chef de Police hüstelte. „Bei allem Respekt, Madame … Mademoiselle Eirín ist die Expertin.“

Stuaire warf die Hände in die Luft. „Als hätte ich nichts anderes zu tun, als auf dich aufzupassen!“

„Du musst nicht auf mich aufpassen! Niemand hat dich darum gebeten!“

Eirín registrierte den kurzen Blickwechsel zwischen dem Polizeichef und ihrer älteren Schwester. „Oh nein, Bernard, nicht Sie! Wieso?“

Monsieur Bernard hüstelte. „Ich hielt es für angebracht nach dem letzten Fall.“

„Wie lange wird mir das noch nachhängen?“, schimpfte sie und fuhr herum. „Ich bin hier fertig!“

Damit verließ sie den Tatort.

Stuaire sah den Chef de Police an und fragte: „Wie ist die aktuelle Lage?“

Absätze knallten auf den Boden, und Eirín rauschte zurück in den Raum. „Ein Wort!“, rief sie und deutete auf Bernard. „Ein Wort, und Sie können sich jemand anders suchen!“

Dann verschwand sie endgültig.

Monsieur Bernard zuckte mit den Schultern. „Les irlandaises ...“, murmelte er, blickte Stuaire entschuldigend an und ging nach unten, um sich der Presse zu stellen.

Stuaire ließ sich ins Hotel fahren und rief den Chef vom DCRI, Gérard Girard, und den inoffiziellen Chef, Paul Deuxfous an.

„Wir haben eine nationale Krise. In 20 Minuten an der Hotelbar des Four Season“, verfügte sie und legte auf. Dann wählte sie erneut. Nach dem ersten Klingeln wurde abgehoben. „For Queen and Country!“

„Ich brauche eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung für die Nummer, die ich eben gemailt habe. Schicken Sie mir gleich den aktuellen Standort.“

Eine Tastatur klapperte im Hintergrund. „Champs-Élysées.“

„Vor 15 Minuten?“

„Elysée-Palast.“

Sie nickte. „Ich will alles im Livestream auf mein Handy.“

„Livestream ist eingerichtet. Haben Sie noch einen Wunsch?“

„Einen Platz für drei Personen an der Bar.“

„Ist schon erledigt. Girard ist Ihnen zuvorgekommen.“

„Sehr zuvorkommend von ihm.“

„Ein wahrer Chevalier.“

„Schneiden Sie sich eine Scheibe von ihm ab! Ich habe nichts anzuziehen.“

„Wenn Sie zurückkommen, sind die Schränke voll“, versprach ihr Mitarbeiter.

„Merci. Grüße ans Königshaus.“

Sie küsste in den Hörer und legte auf. Dann beantwortete sie ein paar Mails, bis es Punkt sieben war, und ging dann hinunter in die Bar. Die beiden Herren warteten schon auf sie und erhoben sich schnell von ihren Plätzen, als sie näher kam.

„Miss Scothdhearg“, begrüßte Girard sie. „Ich hoffe, bisher ist alles zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen?“ Man schüttelte sich die Hand, Küsschen links, Küsschen rechts.

„Madame.“ Paul Deuxfous ergriff ihre Hand und verneigte sich kurz. „Wie immer eine Freude und eine Ehre, Sie zu treffen.“ Er lächelte strahlend, und Schalk blitzte in seinen Augen auf. Neben Girard, der ein wenig unscheinbar, ernst und gesetzt war, stach sein jungenhafter Charme umso mehr hervor. Ein bisschen geschleckt sah er aus, fand Stuaire, mit dem Gel in den Haaren, mit dem er versucht hatte, seine dunkelblonden Locken in eine etwas glattere Form zu bringen.

Sie setzte sich auf den Stuhl, den er ihr zurechtrückte, und wartete, bis die beiden auch Platz genommen hatten. Dann sah sie langsam vom einen zum anderen. „Was haben wir?“

„Der Präsident ist tot“, stellte Deuxfous fest. „Ich konnte ihn ohnehin nie leiden.“ Er grinste sie unverschämt an. Stuaire zog die Augenbrauen hoch und versuchte sich nicht von ihm um den Finger wickeln zu lassen. Normalerweise war das ihr Ressort.

„Etwas, das wir noch nicht wissen?“

„Die Todesursache ist nach wie vor ungeklärt“, schaltete sich Girard ein.

Stuaire schätzte ihn, weil er sich aufs Wesentliche konzentrierte und sich durch nichts ablenken ließ. Egal, wer vor ihm saß, ob der König von England, ein Barkeeper oder ein Kind, er behandelte alle mit demselben höflichen, ernsthaften Respekt.

„Wir wissen aber, dass die Ehefrau zur Tatzeit nicht in Paris war. Heute Morgen erst ist sie mit einer Privatmaschine aus Marseille eingetroffen. Nachdem die Medien die Fotos und Geschichten über die Affäre des Präsidenten mit Mademoiselle Bonnet veröffentlicht hatten – “

„ – ist Madame Perrin wutentbrannt abgerauscht“, beendete Deuxfous den Satz mit einem Grinsen. Für ihn war alles ein Spiel.

„Und die Geliebte?“

„Geneviève Bonnet, sie arbeitet bei Chanel Champs-Élysées.“

„Le Président hat bei ihr vor einer Woche höchstpersönlich die Handtasche gekauft, die er seiner Gattin zwei Tage später zum Geburtstag verehrte.“ Deuxfous schien über diese Tatsache entzückt. „Die Bonnet hat übrigens kein Alibi für die Tatzeit, und vor einer Woche wurde ein größerer Geldbetrag in bar auf ihr Konto eingezahlt.“

„Mademoiselle Eirín ist überzeugt, die Bonnet war es nicht“, erklärte Girard. „Damit hat sich diese Spur für uns erledigt.“

„Politische Motive?“, fragte Stuaire.

„Mit Sicherheit“, antwortete Deuxfous.

„Verwicklungen mit England?“

„Mit Sicherheit“, wiederholte er.

„Das Konto der Bonnet ist bei einer Zweigstelle einer englischen Bank“, führte Girard aus. „Es läuft auf den Namen Genoveva Bond, britische Staatsbürgerin. Unauffällig bis – “

„ – man sie dabei beobachtet hat, ein paar Tausender in Cash aus der Bank zu tragen“, unterbrach Deuxfous seinen Kollegen erneut. Dieser ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „England hängt da mit drin, ob es uns gefällt oder nicht“, stellte er fest. „Mehr haben wir von ihr noch nicht bekommen.“

„Ein Geheimdienst und auf die Informationen einer zwanzigjährigen Amateurin angewiesen“, schnaubte sie.

Deuxfous zog die Augenbrauen hoch. „War das bei euch vor zwei Monaten etwas anderes?“ Er lächelte. „Nur weil die Presse nichts davon mitbekommt, bedeutet das nicht, dass ich nichts mitbekomme.“

Plötzlich verstummten die Geräusche um sie herum. Die Tür zur Bar war aufgestoßen worden und herein trat eine umwerfende, in ein hautenges kleines Schwarzes gekleidete Eirín. Das Kleid hatte genau an den richtigen Stellen Spitzeneinsätze, die es aufregend, aber nicht vulgär machten. Ihre Haare trug sie offen. Im Gegensatz zu Stuaire hatte sie nie das Problem gehabt, widerspenstige Locken in Form bringen zu müssen. Nicht einmal ihr Haar wagte ihr zu missfallen. Es reichte bis an ihre Hüfte und fiel über ihren Rücken wie ein Wasserfall.

Einen Moment lang waren alle Augen auf sie gerichtet, bis die Leute sich wieder an ihre Erziehung erinnerten, den Blick abwandten und ihre Gespräche fortsetzten.

Eirín unterdessen schritt quer durch den Raum und ließ sich in einem Sessel am anderen Ende der Bar nieder, ohne irgendjemanden eines Blickes zu würdigen. Ihrem Gesicht sah man an, dass sie völlig mit ihren Gedanken beschäftigt war und keinerlei Interesse daran hatte, gestört zu werden.

Paul Deuxfous sprang von seinem Barhocker, er wirkte plötzlich angespannt. Nervös fuhr er sich durch die Haare, rückte seine Krawatte und seinen Anzug zurecht und stolperte fast über die eigenen Füße, als er sich umdrehte und mit einem Blick wie ein kleiner Hund zu Eirín hinüberlief, ohne Zeit damit zu verschwenden sich von seinen Geschäftspartnern zu verabschieden.

Stuaire beobachtete ungläubig, wie der von jeder Souveränität befreite Deuxfous sich zu ihrer kleinen Schwester hinunterbeugte und mit einem bittenden Gesichtsausdruck auf den Platz neben ihr wies. Eirín sah unwillig auf und schüttelte den Kopf.

Er ließ nicht locker und redete auf sie ein, bis sie mit den Augen rollte und ihm mit einer unwirschen Handbewegung gestattete, neben ihr Platz zu nehmen. Ihr Gesicht blieb ihm abgewandt, sie entnahm ihrer Tasche einen schmalen Tablet-PC und begann darauf zu tippen. Deuxfous war offensichtlich nicht bereit, sich von ihrem deutlich zur Schau gestellten Desinteresse verjagen zu lassen. Seinen Mundbewegungen zufolge redete er so schnell und ohne Punkt und Komma, dass Stuaire schon davon wirr im Kopf wurde.

Ihre Schwester schien ihn komplett ausgeblendet zu haben, sie warf nicht einmal einen Blick in seine Richtung. Er ergriff ihre Hand. Sie schüttelte ihn ab wie etwas Lästiges. Stuaire sah fassungslos dabei zu, wie ausgerechnet Paul Deuxfous, der allein mit seinem Lächeln sonst jede Frau in seiner Umgebung bezirzen konnte, sich gerade an ihrer Schwester die Zähne ausbiss.

Eirín steckte das Tablet ein, wandte sich ihm endlich zu und gab eine knappe Bemerkung von sich, dann stand sie auf und warf ihre Haare nach hinten. Deuxfous konnte gar nicht eilig genug aufspringen, in seiner Hektik hätte er fast den Tisch umgeworfen, er erwischte ihn gerade noch vor dem Fallen und rempelte beim Umdrehen einen anderen Gast an. Mit erhobenen Händen entschuldigte er sich und stürzte dann Eirín hinterher, die zum Ausgang stolzierte und keine Sekunde daran dachte, auf ihn zu warten. Als sie an ihrer Schwester und Girard vorbeikam, warf sie Stuaire einen triumphierenden Blick zu, der ihr klar machte, dass Eirín sie von Anfang an bemerkt hatte. Ihr Blick sagte: Leg dich nicht mit mir an.

Dann rauschte sie hinaus, durch die Tür, die Deuxfous ihr höflich aufhielt. Er folgte ihr sofort und scherte sich nicht darum, dass die Tür einer anderen Dame fast gegen den Kopf schlug.

Stuaire starrte sprachlos hinter den beiden her. „Was war das denn?“, fragte sie schließlich fassungslos.

Girard schien ebenso von dem Geschehnis überrumpelt. „Tut mir leid, Madame ...“, antwortete er. „Darüber ist mir auch nichts bekannt.“

Stuaire stand auf. „Entschuldigen Sie mich, Girard. Diesen Schock muss ich erst verdauen.“

Sie kehrte in ihre Suite zurück und ging schlafen.

Am nächsten Morgen galt Stuaires erster Griff dem Telefon.

„Verbinden Sie mich mit ihr, aber pronto.“

„Zu Befehl, Ma'am.“

Das Freizeichen ertönte.

„Ja?“

„Wir haben etwas zu bereden, junge Dame. In einer Stunde bist du unten im Restaurant. Ich habe noch nicht gefrühstückt.“ Sie legte auf.

Danach telefonierte sie mit dem Chef der englischen Bank, die Girard gestern erwähnt hatte. Neben zahlreichen Entschuldigungen blieb er sehr vehement in dem Punkt, keine Auskunft zu geben. „Bei allem Respekt“, sagte er, „Ihre schreckliche kleine Schwester macht mir mehr Angst als Sie, und nicht einmal ihr habe ich vorhin Auskunft gegeben. Ich weiß, der Präsident wurde ermordet, die Weigerung Englands zu kooperieren könnte als politischer Affront, gar als Kriegserklärung verstanden werden – Ihre Schwester war in diesem Punkt erfrischend direkt – nichtsdestotrotz kann ich keine Auskunft geben.“

Stuaire legte empört auf. Eirín, dieses Miststück! Und nicht einmal sie hatte etwas erreicht!

Die nächsten Telefonate führte sie per Lautsprecher, damit sie sich nebenher anziehen konnte. Ihr zuverlässiger Mitarbeiter hatte sein Versprechen vom Vortag gehalten und ihren Kleiderschrank nachgeliefert. Sie brauchte zunächst zwanzig Minuten, um ihre Haare zu entwirren und zu kämmen, dann schlüpfte sie in ein praktisches Tweedkostüm und lief hinunter ins Hotelrestaurant.

Ein Kellner führte sie zu einem Tisch am Fenster, von dem aus man den Eingang im Auge hatte. Sie bestellte Frühstück und wartete.

Eine halbe Stunde später fuhr Paul Deuxfous' Wagen vor. Er lief um das Fahrzeug herum und öffnete die Tür. Eirín entfaltete sich aus dem Beifahrersitz und warf Deuxfous beim Gehen eine schnippische Bemerkung zu, bevor sie im Hotel verschwand. Er stand da und sah ihr nach, bis sie nicht mehr in seinem Blickfeld war. Dann ging er zurück zur Fahrertür. Er ließ deutlich sichtbar die Schultern hängen, stieg niedergeschlagen ein und fuhr davon.

Vor Stuaires Augen präsentierte sich hier ein völlig neuer Paul Deuxfous – immerhin seit einigen Jahren ungeschlagener Tabellenführer als gefragtester Junggeselle Europas.

Eirín knallte ihre Handtasche auf den Tisch und setzte sich. „Mein Chauffeur hatte Verspätung“, empörte sie sich. „Was willst du? Du siehst alt aus.“

Ich sehe alt aus? Stuaire zuckte innerlich zusammen. Die Erinnerung an den Regen und Astóirín tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Bisher hatte sie noch nicht einmal die Zeit gefunden, aufmerksam in einen Spiegel zu sehen.

Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. Sie nahm einen Löffel vom Tisch und checkte ihr Spiegelbild. Tatsächlich. Sie sah noch genauso aus wie in dem Zug.

Sie legte den Löffel zurück. Contenance. „Unsinn“, sagte sie. „Du schuldest mir einige Erklärungen. Woher kennst du Deuxfous? Was läuft da zwischen euch?“

„Nicht, dass es dich was angehen würde“, bemerkte Eirín beiläufig, griff mit der bloßen Hand in die gebackenen Bohnen auf Stuaires Teller und stopfte sie sich in den Mund. „Paul ist eine wertvolle Informationsquelle und ein etwas unzuverlässiger Chauffeur, mehr nicht“, fuhr sie mit vollem Mund fort.

„Mach den Mund zu beim Essen“, ermahnte Stuaire sie automatisch.

„Wie soll ich dir dann antworten?“ Sie bediente sich erneut.

„Du hast Manieren wie ein Schwein.“

Eirín zuckte mit den Schultern.

„Paul“, kehrte Stuaire zum Thema zurück. „Wir sind also schon beim Vornamen angekommen?“

„Soll ich etwa jeden Franzosen siezen, nur weil das in dieser Sprache möglich ist?“

„Und dass der Kopf des Geheimdienstes dich herumchauffiert, ist ganz normal?“

„Der Chef ist immer noch Gérard.“

„Du weißt genau, wovon ich rede!“

Eirín leckte sich die Finger ab und stand auf. „Schwesterherz, wenn er unbedingt will, was soll ich machen? Und jetzt entschuldige mich – ich muss eine Bank überfallen.“

Sie war schon durch die Tür, bis Stuaire aufgesprungen war. Bis sie die Hotellobby durchquert hatte, war ihre Schwester schon vom Erdboden verschwunden.

Stuaire lief in ihr Zimmer hinauf und ins Bad. Das Spiegelbild zeigte tatsächlich die schonungslose Wahrheit: sie hatte ihre Jugend nicht zurückbekommen. Da war ihr jemand eine Erklärung schuldig!

Sie überlegte nicht lange, sondern drückte umgehend die Wahlwiederholung.

„Chefin?“

„Ein Flug nach London.“

„Der nächste geht in einer guten Stunde. Platz ist gebucht.“

„Merci beaucoup.“

„Passen Sie auf, dass Frankreich nicht zu sehr auf Sie abfärbt.“

Es kam ihr vor wie wenige Minuten bis zur Landung. Sie war im Flieger eingeschlafen. Seltsam, wie mehrere Stunden im Schlaf manchmal so schnell vergingen und sich manchmal wie ein halbes Leben anfühlten, dachte sie.

Einen Moment später stand sie auf der Straße. Wenigstens hier war ihr der Luxus, den sie durch ihre Position abbekam, Gold wert – dass sie nicht stundenlange Sicherheits- und Passkontrollen über sich ergehen lassen musste.

Sie wusste genau, wohin sie wollte. Ein Taxi hielt neben ihr. „Chefin?“

Sie stieg ein. „King's Cross.“

„Schon unterwegs.“

Die Fahrt verlief sportlich. Sie stieg aus und lief zum Bahnsteig, an dem sie am Tag vorher aus dem Zug gestiegen war. Nachdem die Bahn weitergefahren war, sprang sie ins Gleis und folgte den Schienen in die entgegen gesetzte Richtung, ohne auf das Geschrei der Passanten und Sicherheitsleute zu hören. Sie ging die Strecke zurück, an die sie sich erinnerte – die Richtungswechsel hatte sie noch genau im Kopf.

Sie folgte den Schienen noch nicht lange, als sie hörte, wie ihr jemand entgegenrannte. Vor der nächsten Kurve blieb sie stehen und wartete.

Fast wäre er in voller Geschwindigkeit in sie hineingelaufen. Er stoppte gerade rechtzeitig. „Du?“

„Astóirín? Gut, dass ich dich erwische.“

„Aber … du … ?“

Sie holte aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

„Au!“ Er krümmte sich. „Wofür war das?“

„Sieh mich an! Ich bin … alt!“

Er stand da und starrte sie an, als wäre sie ein Gespenst. „Aber ...“ Er streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. „Stuaire?“

Sie schlug ihm auf die Finger. „Lass das! Von gestern auf heute kannst du mich ja kaum vergessen haben!“

„Gestern?“

„Kannst du noch ganze Sätze bilden?“

Er ließ sich zu Boden sinken. „Lass mich zu Atem kommen.“

„Geht doch.“

Als sie fand, dass er genug Atem bekommen hatte, herrschte sie ihn an: „Was gedenkst du zu tun? Ich werde nicht akzeptieren, dass ich von heute auf morgen meine Jugend irgendwo in einem Traum lasse?“

Er schnaufte noch ein bisschen, dann stand er auf und packte sie an beiden Armen. „Du bist es wirklich! Oh, ich könnte dich küssen!“ Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

„Ja, wer denn sonst!“ Sie befreite sich ungnädig.

Er starrte sie eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Dann drehte er sich um und ging in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie folgte ihm. „Was hast du zu sagen?“

Er zuckte bedauernd mit den Schultern. „Da kann man nichts machen.“

„Soll das heißen, das bleibt jetzt so?“

„Yep.“

„Dein Ernst?“

„Yep.“

Sie hielt kurz inne. „Wovor bist du davongelaufen?“, fragte sie dann.

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu.

Sie kamen an der Station an. Er schwang sich den Bahnsteig hoch und reichte ihr dann eine helfende Hand. Seine Antwort ließ auf sich warten.

„Du hast keine Angst mir zu sagen, dass ich alt bleibe, aber wovor du weggelaufen bist schon?“

Sie sah, dass er sich ein Grinsen verkniff. Er sah sie an und lächelte. „Du bist noch so jung“, sagte er. „Glaub mir.“ Dann beantwortete er endlich ihre Frage. „Zu Hause ist es für mich gerade nicht sicher. Jemand ist hinter mir her – Pritorniji hat den schlimmsten Alptraum zu mir geschickt.“ Er wirkte nicht ängstlich, eher traurig. „Und sie wird nicht aufhören mich zu verfolgen, bis sie mich erwischt.“

„Sie? Aber nicht etwa meine Schwester“, stellte sie beunruhigt fest.

Er lachte und schüttelte den Kopf, dann wurde er wieder ernst. „Die Medusa.“ Es schien ihm schwer zu fallen, den Namen auszusprechen. Er sah so traurig und niedergeschlagen aus, als würde er gleich anfangen zu weinen.

„Medusa? Die Medusa? Schlangen statt Haaren und wenn du sie ansiehst, wirst du zu Stein?“

„Yep.“

„Medusa verfolgt dich?“

„Yep.“

„Wieso?“

„Sie ist meine Frau.“

„Du bist mit Medusa verheiratet?“

„Sie ist die schrecklichste aller Frauen.“

„Du musst also den Rest deines Lebens vor ihr davon laufen?“

Er schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, bei uns verläuft die Zeit nicht linear wie bei euch. In meiner Vergangenheit hat sie mich schon erwischt. Deswegen weiß ich, was dann passiert.“ Seine Stimme war ganz zittrig.

„Das heißt aber doch, dass dir nichts Schlimmes passiert ist? Sonst wärst du ja nicht hier.“

Jetzt liefen ihm wirklich Tränen übers Gesicht. Er wandte sich ab.

Als er sich wieder zu ihr drehte, hatte er sich schon gefangen. „Wie auch immer. Hierher kann sie mir nicht folgen, sonst öffnet sie ein Paradox. Ich kann also wieder zurückkehren.“

„Wartet sie dort nicht auf dich?“

„Mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit werde ich nicht an dem Ort und zu der Zeit landen, von wo ich gerade komme. Hast du den Traumfänger noch, den ich in dein Zimmer gehängt habe?“

„Du warst das?“

„Natürlich. Ich brauche ihn jetzt, sonst komme ich nicht zurück.“

Er folgte ihr zu ihrer Wohnung.

„Sehr gemütlich.“

„Ich bin ja nie hier.“

„Zum Glück sorgt mein Traumfänger für ein bisschen wohnliche Atmosphäre“, stellte er fest. Aus seiner Jackentasche nahm er einen kleinen goldenen Ball.

„Ein Traum?“

Er nickte, hob ihn hoch und pustete ihn in das Nest aus Wollschnur und Perlen. Das ganze Objekt geriet ins Schwingen, zitterte und wackelte. Ein goldenes Leuchten breitete sich im Raum aus, während sich die Kugel auflöste. Die Fäden rissen. Perlen regneten auf den Boden.

„Verdammt!“, fluchte er. „Hast du ein Messer? Ein scharfes? Schnell!“

Mit einem Sprung war sie an der Küchenzeile und wühlte ein Messer aus dem Besteckkasten.

„Nicht scharf genug!“ Er warf es auf den Boden und streckte ihr weiterhin die Hand hin. „Kein Kindermesser!“

Sie fand ein anderes, das er für gut befand.

Das Licht wurde bereits matter. Er nahm das Messer und rammte es durch den geborstenen Rahmen und die Fetzen von Faden und Federn in die Wand.

„Au!“, schrie eine Stimme. An der Wand tauchte ein Schatten auf. Er zappelte, aber das Messer hatte einen Ärmel fest an die Wand gepinnt.

Langsam wurde der Schatten menschlicher.

„Fís?“, fragte Stuaire perplex.

„Du!“, sagte Fís zu Astóirín. „Wer sonst! Hätte ich mir ja denken können.“

„Bruderherz“, begrüßte Astóirín ihn mit einem gewinnenden Lächeln.

„Schleim nicht. Du brauchst ein Taxi.“

„Yep.“

Stuaire sah von einem zum anderen. „Ihr seid Brüder?“, fragte sie. „Er ist der Bruder, den Pritorniji gemeint hat?“

Fís verdrehte die Augen. „Habt ihr immer noch eure Kindergartenfehde am Laufen?“, fragte er seinen Bruder. Dann sah er zu Stuaire und lächelte. „Willst du diesmal mitkommen?“

Seine Augen strahlten immer noch, als könnten sie eine ganze Stadt erleuchten. Stuaire schüttelte trotzdem den Kopf. „Ich habe hier etwas Wichtiges zu erledigen.“

„Vielleicht das nächste Mal.“ Er zwinkerte ihr zu, mit einem Gesichtsausdruck, dass sie errötete. Er legte Astóirín die Hand auf den Rücken und schob ihn zur Tür. Sie hörte noch, wie Astóirín leise schimpfte. „Musst du sie jedes Mal anbaggern? Du – “, der Rest ging im Zischen einer Zugtür unter. Sie lief auf den Hausflur. Keine Spur mehr von den beiden.

Stuaire winkte ein Taxi heran. „Zum MI6, bitte.“ Draußen wurde es schon dunkel.

Der Taxifahrer gab Gas. „Miss Eirín ist übrigens verschwunden“, informierte er sie. „In Frankreich und in England sind seit heute Morgen Haftbefehle gegen sie erlassen.“

Sie sank zurück und presste die Hand an ihre Stirn. Da waren wieder diese bohrenden Kopfschmerzen. „Wieso diesmal?“, fragte sie mit geschlossenen Augen.

„Wenn Sie einen Blick in den Fernseher werfen möchten …“ Der Fahrer ließ mit einem Knopfdruck einen Bildschirm von der Autodecke klappen. „Es kommt auf allen Kanälen.“

Auf dem Bildschirm sah Stuaire die Aufnahme einer Überwachungskamera.

Es fiel ihr nicht schwer zuzuordnen welchen Raum die Kamera filmte. Es war die riesige Safeanlage in den Katakomben der Bankfiliale, die in Paris die Herausgabe der Überwachungsbänder verweigert hatte.

Mitten im Raum stand Eirín. Ihr Kleid hätte nicht kürzer sein können. Es sah eher aus wie ein etwas zu langes, tailliertes schwarzes Hemd, mit langen Ärmeln und einem weißen Button-down-Kragen. Als wäre sie noch nicht unpassend genug für einen Einbruch gekleidet, trug sie dazu auch noch – wie immer! – ihre Chucks. Stuaire schmerzte der Mode-Fauxpas fast mehr als die Tatsache, ihre Schwester in einem Tresorraum zu sehen. Bewaffnet mit einem, wie es schien, gewöhnlichen Handbohrer.

Man konnte sich sicher sein, dass es gewiss alles andere als ein normaler Handbohrer war, dachte Stuaire.

Bestimmt tausend Schließfächer waren hier in die Wände eingelassen. Eirín ging zielstrebig zur linken Wand, setzte den Bohrer an einem Fach an, das sich außen in der Mitte befand, und begann zu bohren.

Funken sprühten. Man hörte die Alarmanlage schrillen. Eirín blieb davon unbeeindruckt. Einen Moment später nahm sie einen Haken aus der Tasche, die neben ihr am Boden stand, schob ihn in die gebohrte Öffnung, drehte und zog.

Die ganze Wand mit den Schließfächern öffnete sich langsam. Man sah, dass es sich gar nicht um Schließfächer handelte, sondern um eine massive Tresortür, die nur zum Schein eine wie Schließfächer gestaltete Oberfläche aufwies. Man hörte jetzt das Getrampel und Geschrei von Sicherheitspersonal, das die Treppe zur Safeanlage hinunterrannte. Eirín wirkte ruhig und konzentriert, obwohl sich ihre Hände schneller bewegten als das Auge folgen konnte. Sie war bereits in den versteckten Raum gehuscht, in dem sich nichts befand als ein kleiner kompakter Tresor und ein Tisch. Der Bohrer nahm es auch hier mit der massiven Oberfläche auf, innerhalb von Millisekunden hielt Eirín in Händen, wonach sie gesucht hatte, eine winzige Speicherkarte. Sie drehte sich jetzt seelenruhig um, lächelte strahlend in die Kamera und hielt ein Stück Pappe hoch:

YOU CAN BOOK ME

I AM A BLAST OF A MODEL

CONTACT MY AGENT ♥:

Darunter stand die private Handynummer von Paul Deuxfous.

Dann hob sie die andere Hand, in der sie eine Art kleinen Schalter hielt, und drückte auf den Knopf.

Es tat einen Knall, im anderen Raum sah man die Wände explodieren, eine riesige Staubwolke, dann wurde das Bild schwarz.

Stuaire war immer tiefer in den Sitz gesunken, je länger die Aufnahme lief. Sie schaltete den Fernseher aus und hielt sich den Kopf. „Das darf nicht wahr sein.“

Der Fahrer reichte ihr fürsorglich Aspirin und ein Glas Wasser nach hinten. „Die Explosion hat niemanden erwischt“, informierte er sie. „Keine Toten, keine Verletzten. Bis die Bankangestellten die Tür zu den Schließfächern geöffnet hatten, war alles schon passiert. Miss Eirín ist seitdem verschwunden.“

Stuaire wählte die Nummer ihrer Schwester.

„Willkommen bei YSOB, Ihrem Spezialisten für Personen- und Objektschutz.“ Ein bekannter Werbejingle erklang. „Ihr ruhiger Schlaf ist unser Job! Bitte warten Sie. Sie werden gleich mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden.“

Stuaire beendete den Anruf und pfefferte mit einem Fluch ihr Handy auf den Boden.

Der Fahrer gab ein merkwürdiges Geräusch von sich.

„Was?“, fuhr sie ihn an.

„Kommen Sie schon“, sagte er. „Das ist witzig.“ Er sah ihre Miene im Rückspiegel. „Nicht? Okay.“

Stuaire wäre am liebsten schlafen gegangen.

Schon auf dem Weg in ihr Büro wurde sie von allen Seiten bestürmt. Sie ignorierte vorerst alle und verschloss die Tür hinter sich. Zu allererst brauchte sie einen Kontakt zu Eirín. Wie war sie aus dem Keller der Bank gekommen? Hoffentlich war ihr nichts passiert.

Es klopfte an ihrer Bürotür. Sie erlaubte sich, es zu ignorieren, und öffnete ihr Mailprogramm. Zuerst sortierte sie die Meldungen auseinander. Frankreich forderte die Auslieferung von Eirín Scothdhearg, wegen Gefährdung mehrerer Menschenleben, Beschädigung eines historischen Gebäudes und Bankraub. Zudem bestand der dringende Tatverdacht, dass sie die Mörderin des Präsidenten war.

Stuaire konnte es ihnen nicht übel nehmen. Sie rief Girard an.

„Ich versuche die Ermittlungen hinauszuzögern“, erklärte er, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. „Wie lange, kann ich aber wirklich nicht sagen. Für die Presse ist das ein gefundenes Fressen. Die Gattin des Präsidenten tobt. Ihrer Meinung nach versucht Mademoiselle Eirín, die Geliebte zu decken.“

Der Verdacht war nicht an den Haaren herbeigezogen. Sie konnte die Präsidentin durchaus verstehen – von außen wirkte die Sache so gut wie eindeutig.

„Sie riskieren Ihren Job“, stellte Stuaire fest. „Wieso?“

„Weil Mademoiselle immer Recht hat“, stellte Girard lakonisch fest. „Sie wird bestimmt ihre Gründe gehabt haben.“

Stuaire schüttelte den Kopf über so viel Vertrauen. Würde sie Girard nicht so gut kennen, würde sie ihn für außergewöhnlich naiv halten.

„Was ist mit Deuxfous?“, fragte sie.

„Er hält sich bei Madame Perrin auf.“

Sie dankte ihm für die Informationen und legte auf. Ihr nächster Anruf galt ihrem zuverlässigen Assistenten.

„Milady, Sie wünschen“, meldete er sich.

„Bitte erstellen Sie das offizielle Blabla an die Bank und die französische Regierung … wir bedauern die Vorfälle, sichern unsere uneingeschränkte Kooperation zu und tun alles um zur Klärung der Ereignisse beizutragen, etcetera, etcetera.“

„Ich habe mir erlaubt, schon mal etwas aufzusetzen. Sie finden die Dokumente auf Ihrem Schreibtisch. Stuart und die Queen haben schon unterschrieben. Sie warten nur noch auf Ihre Freigabe.“

Sie überflog die Papiere kurz. Die Unterschriften des Prime Minister und der Queen waren tatsächlich schon eingeholt. „Perfekt“, sagte sie. „Was täte ich nur ohne Sie?“

„Ach, Chefin, Sie würden so untergehen“, an seiner Stimme hörte man deutlich, dass er sich das Szenario gerade bildlich vorstellte. „Der Premier kommt später vorbei und holt den Kram ab, wenn alles so passt. Er sorgt dann für die offizielle Verkündung und Übergabe.“

„Ist so in Ordnung“, sagte Stuaire. „Geben Sie es weiter. Ich muss wieder zurück nach Paris.“

„Alles klar.“ Er legte auf.

Zurück in Paris begab sie sich zum Büro von Girard.

Sein Schreibtisch war von noch mehr Dokumenten überhäuft als ihrer, stellte Stuaire ein bisschen verärgert fest.

„Haben Sie eine Idee, wo sie sein könnte?“, fragte Girard sie. „Ich muss zugeben, wir haben noch nicht den Hauch einer Spur.“

„Sie ist unter Garantie hier. Eirín würde nie den Tatort eines ungelösten Verbrechens verlassen.“

Er nickte. Das hatte ich auch vermutet.“ Er seufzte. „Die Geliebte hat noch immer keine Aussage gemacht.“

„Gar nichts?“

„Nichts. Sie gesteht nicht, sie leugnet nicht.“

Sie seufzten im Duett. „Uns bleibt nichts übrig als zu warten bis sie sich meldet!“

Sie hatten beide keine Ahnung, was sie solange machen sollten, deswegen setzten sie sich in sein Büro und redeten über die guten alten Zeiten.

Es war schon mitten in der Nacht, als Girard eine Nachricht auf seinem Handy empfing und plötzlich förmlich aufschreckte.

„Was ist?“, fragte Stuaire alarmiert. Sie war auf einmal hellwach.

„Eine SMS von einer unbekannten Nummer.“ Er hielt ihr das Mobiltelefon hin.

Dort stand nur ein Name:

Gustave Chuchot.

Stuaire saß kerzengerade. „Das ist sie!“, rief sie.

„Gustave Chuchot“, murmelte Girard und drückte auf die Gegensprechanlage. „Bernard, in mein Büro.“

Wenige Sekunden später stand der Chef de Police im Raum. Heute hatte anscheinend die gesamte Belegschaft Nachtschicht. „Monsieur?“

Girard kritzelte den Namen auf einen Zettel und reichte ihn über den Tisch. „Finden Sie alles über diesen Mann heraus.“

Stuaire hatte denselben Auftrag schon an ihren Assistenten weitergeleitet. Jetzt nahm sie Girards Handy und rief die unbekannte Nummer an, von der die Nachricht geschickt worden war.

„Dies ist der SMS-Service der Aldwych-Bank. Bitte warten Sie. Wir stellen Sie zu unserer Kundenhotline durch“, kam eine Bandansage. „Sind Sie Kundenberater? Dann wählen Sie die – “ Stuaire legte auf. „Sie hält sich wohl für witzig.“

Ihr Handy klingelte. „Meine Gebieterin. Ich habe die gewünschten Infos für Sie. Gönnen Sie mir eine Minute Ihrer kostbaren Zeit?“

„Langsam wird es lächerlich!“, sagte sie streng. „Legen Sie los.“

„Ich gebe mir eben Mühe. Aber zurück zum Thema. Gustave Chuchot. Kurz vor der Pensionierung, würde ich sagen. Arbeitet als Buchhalter in einem kleinen, unscheinbaren Mittelstandsbetrieb, so lange die dort denken können. Sein ganzes Leben lang nirgends aufgefallen. Ich habe mal seine Konten überprüft. Deswegen hat's bei mir ein bisschen gedauert … Bankgeheimnis, Sie verstehen. Sie erinnern sich bestimmt daran, dass Geneviève diesen hohen Betrag in bar abgehoben hat? Derselbe Betrag wurde am selben Tag von Chuchots Konto abgehoben. Und jetzt raten Sie mal, wie das Geld auf Chuchots Konto gekommen ist.“

„Spannen Sie mich nicht auf die Folter.“

Trotzdem nahm er sich eine dramatische Pause heraus.

„Wir sprechen von niemand Geringerem als Madame Élaine Perrin.“

Danach war es eine einfache Fingerübung. Chuchot gestand sofort, er schien fast darauf gewartet zu haben. Die Präsidentin verschanzte sich einige Tage hinter einem Konsortium von Anwälten, aber letztendlich war die Beweislast erdrückend. Nachdem zuletzt auch noch der Direktor der Aldwych-Bank aussagte, der langjährige Geliebte der Perrin zu sein, blieb ihr nichts mehr übrig als zu reden. Geneviève Bonnet hatte sie engagiert, um den Verdacht von sich abzulenken. Da die Bonnet von dem Plan, den Präsidenten zu ermorden, nichts wusste, war ihr natürlich nicht klar gewesen, dass sie für die Mordnacht ein Alibi brauchte. Élaine Perrin hatte selbst klugerweise auch keinen Kontakt zu ihr gehabt, sondern Chuchot als Mittelsmann benutzt, einen absolut unscheinbaren Niemand mit einem praktischen Vergissmich-Gesicht. Selbst bei einer Fahndung hätte man ihn wahrscheinlich nicht identifiziert, er war völlig grau, nichts an ihm war so spezifisch, dass man sagen konnte: Das auf dem Foto – das ist er!

Nur, fragte Stuaire sich, wie hatte Eirín es fertig gebracht, ihn zu finden? So schnell, nur an Hand des Überwachungsvideos, ohne die Öffentlichkeit und ohne sich frei bewegen zu können?

Und wo, um alles in der Welt, war sie jetzt?

Sie fuhr zurück ins Hotel. Vor allem anderen hatte sie sich jetzt wirklich erstmal Schlaf verdient.

Am nächsten Morgen wachte sie auf und fühlte sich wie erschlagen. Im Halbschlaf schwankte sie ins Bad und danach zum Kleiderschrank. Müde schob sie ihre Sachen hin und her auf der Suche nach irgendwas, das sie gerade anlachte. Sie hatte einfach nichts anzuziehen!

Genervt wühlte sie durch die Sachen, schlängelte sich durch die vorderste Reihe Kleiderbügel und kramte weiter. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie hier einen begehbaren Kleiderschrank hatte. Es war ein wenig duster. Sie ging weiter und weiter, zwischen Reihen und Reihen von Kleidungsstücken, die immer seltsamer wurden, auch eine Ordnung war nicht mehr ersichtlich. Langsam kam es ihr seltsam vor, wie groß konnte ein Kleiderschrank eigentlich sein? Oder war sie so übermüdet, dass es nur so wirkte? Plötzlich stieß sie auf eine Tür. Eine zweite Tür in ihrem Kleiderschrank? Wie gab es denn sowas? Sie machte die Tür auf – und klatschte sich ungläubig mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie stand in einem Zug.

„Ausgerechnet jetzt!“, sagte sie zu sich selbst, weil sonst ja niemand da war. „Ich habe zu tun!“

Sie marschierte durch den bekannten Speisewagen und den bekannten Badwaggon. Durch die Tür der Steuerungskabine drang ein seltsames Getöse. – Noch seltsamer als die letzten Male. Es kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte es gerade überhaupt nicht zuordnen. Außerdem brauchte sie einen Tee. Und sie hatte Hunger. Sie riss die Tür auf – und blieb stehen.

Astóirín hatte ihr den Rücken zugekehrt. Er sang lauthals vor sich hin, während er den Teppich staubsaugte. Auf dem Steuerpult saß die Statue einer nackten Frau und stimmte die Steuerungsgeigen.

Stuaire räusperte sich, aber durch den Lärm hörte sie niemand.

„Hallo?“, schrie sie und schlug auf den Tisch. Prompt fuhr das Teeservice aus der Tischplatte und gleichzeitig wandten sich Astóirín und die Statue ihr zu.

„Stuaire!“ Astóiríns Augen leuchteten auf, dann sah er sie an, wurde rot und sah sofort verlegen zu Boden. „Du bist hier!“, murmelte er.

„Offensichtlich.“ Sie sah befremdet zu der Statue. Die lächelte und winkte.

Astóirín drehte sich zu ihr, dann wieder zu Stuaire, zurück zu der Statue.

„Stuaire – das ist Stuaire“, zur Statue gewandt, und zu Stuaire: „Lady Godiva. Mein Zug.“

„Dein Zug?“, fragte Stuaire ihn.

„Stuaire?“, fragte die Statue ihn.

Er sah von der einen zur anderen, zurück, und wieder zurück. „Stuaire. Lady Godiva.“ Er kratzte sich verwirrt an der Stirn.

„Zwei nackte Frauen sind mir zu viel. Stuaire, würdest du dir bitte etwas anziehen?“

Stuaire sah an sich herunter. Damit war sie ja gerade beschäftigt gewesen – sich anzuziehen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie das noch nicht getan hatte. Das einzige, das sie schon trug, waren ihre roten High Heels.

Sie deutete auf die Statue. „Wieso zieht nicht sie sich an?“

„Sie ist ein Zug!“

„Ich werde diskriminiert“, sagte Stuaire. „Nur weil ich wegen deinem Regen uralt bin und dann kommt da so eine Statue daher ...“

Astóirín sah sie traurig an. „Stuaire“, sagte er, „Stuaire Scothdhearg, du bist noch so jung! Du weißt, dass meine Zeit anders verläuft als deine. Ich kenne dich aus Zeiten, in denen du älter bist. Und glaub mir, jetzt bist du unglaublich jung. Soviel liegt noch vor dir.“

„Frauen und ihre Komplexe wegen dem Altern“, warf die Statue fröhlich ein.

„Na, du kannst ja nicht altern“, gab Stuaire schnippisch zurück.

„Außerdem“, schob Astóirín hinterher, „war es nicht mein Regen!“

„Du kennst meine Zukunft?“, fragte Stuaire.

„Zieh dich bitte an!“, sagte Astóirín und schob sie Richtung Tür. „Ich kann mich sonst nicht konzentrieren.“

„Kann er wirklich nicht“, flötete die Statue.

„Ach, aber wenn sie so rumläuft, kannst du das schon?“

„Sie ist eine Statue!“, betonte er.

„Das ist wahr“, sagte die Statue. „Er interessiert sich nicht dafür. Da könnten tausend nackte Frauen hier vorbeilaufen.“ Sie sprang vom Steuerpult und pfiff. Durch die Waggontür trabte ein Pferd herein. Auch das Pferd war aus Stein. Sie schwang sich in den Sattel, winkte und ritt davon.

Stuaire warf Astóirín einen schiefen Blick zu. Er war rot geworden. Irgendetwas wurde ihr hier verheimlicht.

Sie ging zurück und zog sich an. In dem Sammelsurium fand sie Jeans und eine weiße Bluse. Barfuß kehrte sie in die Steuerkabine zurück, die Schuhe in der Hand. Der Staubsauger war verschwunden. Astóirín klopfte soeben gegen das Rohr und drehte vorsichtig den Globus. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Stuaire ließ sich in den Sessel fallen und nahm eine Tasse Tee.

„Was mache ich schon wieder hier?“, fragte sie. „Ich habe eine nationale Krise daheim, die noch nicht bewältigt ist.“

Astóirín setzte sich. „Viele Probleme lösen sich von selbst, wenn man lange genug wartet“, sagte er fröhlich.

„Das sicher nicht!“

Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt bist du eben hier. Die Welt wird es schon verkraften. Frühstück?“

„Hatte ich nicht schon erwähnt, dass ich Hunger habe?“

„Nein, aber ich kenne diesen Blick.“

Er drückte auf eine Klingel.

Die Tür zum Speisewagen öffnete sich und ein Tisch auf Rädern fuhr herein, bereits fertig gedeckt: Fischstäbchen und Pizza.

Astóirín nahm ein Stück Pizza und biss ab.

„Das ist doch kein Frühstück“, sagte sie pikiert.

Er legte es schnell zurück, wie er meinte wohl unauffällig, und schüttelte empört den Kopf. „Allerdings nicht“, sagte er mit einem Blick wie ein Kind, das mit der Keksdose erwischt worden war. „Ich meine, pfff, wer isst sowas schon zum Frühstück.“ Er gab dem Tisch einen Schubs zur Tür. „Und gib dir diesmal mehr Mühe!“, rief er ihm hinterher.

Stuaire verdrehte nur die Augen. „Du bist so ein schlechter Schauspieler.“

„Ich mag eben Pizza“, verteidigte er sich. Der Tisch kam zurück, diesmal mit Rührei, gebackenen Tomaten und Bohnen auf Toast.

„Siehst du – langweilig!“, sagte er. „Ich muss in den Keller. Ich glaube, da hat sich mal wieder so ein Tagtraum versteckt. Iss und trink.“

Er öffnete eine Luke im Boden und stieg eine Treppe hinunter. Kurz darauf hörte sie Quietschen und Gackern, dann ein metallisches Klappern. Astóirín schimpfte lautstark. „Verdammtes Biest! Raus mit dir!“ Ein Flattern war zu hören.

Er kam wieder die Treppe hoch, mit einer Art altmodischen Milchkanne in der Hand. „Hab ihn erwischt.“ Er wirkte abgekämpft. Nachdem er das Zugfenster aufgeschoben und die Kanne nach draußen geworfen hatte, ließ er sich erschöpft in den Sessel fallen. „So. Fertig mit Frühstück? Wir sind fast da.“

Sie aß auf und legte ordentlich ihre Serviette auf den Teller. Nicht mal einen Augenblick später quietschten die Bremsen des Zugs.

Sie stiegen aus und Stuaire hielt sich sofort die Augen zu, so geblendet war sie von der Helligkeit. Nachdem sie sich langsam daran gewöhnt hatte, sah sie sich um. Vor ihnen lag ein atemberaubender Strand. Winzige, gehämmerte Bronzeplättchen fügten sich zu einem von Sonnenlicht gleißenden, blendenden Boden zusammen, der zu brennen schien. Die Plättchen reichten bis ins Meer hinein, sodass man keine Übergangs- oder Nahtstelle sah, und zur anderen Seite bis weit ins Land hinaus. Aus dem Boden wuchsen Bäume und andere Pflanzen aus Bronze.

Sie wandte sich Astóirín zu. Er trug eine Sonnenbrille und grinste sie an. „Bereit für einen Ausflug?“

„Wow“, sagte sie. „Ich meine – wow!“

„Ich weiß!“

Sie konnte gar nicht aufhören, sich umzusehen. „Das ist unglaublich!“

Er schien sich zu freuen. „Es gefällt dir also?“, vergewisserte er sich.

Sie konnte nur noch nicken.

„Dann sieh dir erst mal den Rest an.“ Er zerrte sie hinter sich her.

Sie rannten den Strand entlang. Sie ließ sich mitziehen und lachte ungläubig. „Ist das ein Traum?“

„Der allerbeste!“, rief er zurück.

Sie gelangten an einen riesigen, ja einen wirklich unglaublich großen – um nicht zu sagen: gigantischen – Baum aus Bronze. Er ragte in den Himmel hinauf wie ein Hochhaus, wie ein mindestens zwanzigstöckiges Hochhaus, überlegte Stuaire.

Vor dem Baum stand eine Frau, die aussah wie ein richtiger Baum, aus Holz. Aus ihrem Kopf wuchsen zwei lange, gewundene Hörner, die aus purem Gold zu sein schienen. Sie nickte ihnen hoheitsvoll zu.

„Das ist die Torhüterin“, erklärte Astóirín stolz. An die gehörnte Frau gewandt verbeugte er sich schwungvoll und sagte: „Den Schlüssel, bitte.“

Sie öffnete den Mund und rollte eine lange, rindenartige Zunge aus, auf deren Spitze ein Schlüssel lag. Astóirín nahm ihn entgegen und verbeugte sich erneut. Er stupste Stuaire mit dem Ellbogen an. „Du auch!“, flüsterte er. Stuaire sah ihn irritiert an, dann machte sie einen kurzen, etwas ungelenken Knicks.

Die Frau nickte erneut, dann schloss sie die Augen, verwuchs mit dem Boden und verwandelte sich in einen richtigen Baum.

Astóirín fuchtelte mit einem begeisterten Gesicht vor ihr herum: „Ich meine – sieh dir das an.“

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Fantastisch.“

Er schloss die Tür zu dem unfassbaren Gewächs auf und hielt sie ihr mit einer einladenden Geste auf.

Im Inneren erwartete sie ein spektakuläres Schauspiel.

Wesen aller Art liefen durcheinander, echsenartige Winzlinge, lebende Nussknacker, Rauschgoldengel, lustige Hutzelmännchen, Spatzen aus Pappmaché und chinesische Pantoffelhelden, lebende Schaufensterpuppen, die statt Kopf und Händen riesige Strickbälle trugen. Dazwischen spazierten einige Menschen mit riesigen Trommeln auf dem Rücken, sie trugen Gitarren und seltsame Vorrichtungen mit Mundharmonikas, Panflöten und Triangeln, sie spielten alle möglichen Instrumente gleichzeitig und sangen dazu.

Und Astóirín in der Mitte des Treibens drehte sich mit weit ausgestreckten Armen um sich selbst und strahlte wie ein kleines Kind im Spieleparadies.

„Ist das nicht cool?“, jubelte er.

Stuaire stand der Mund offen vor Staunen.

Er deutete nach oben. „Sieh dir den Himmel an!“ Sie sah hoch. Der Himmel hing voller Geigen.

Der ganze Raum war mit Musik gefüllt. „Ich weiß, du liebst Musik“, sagte er. Um sie herum fingen die Leute an zu tanzen.

Er streckte ihr die Hand entgegen.

Hinterher saß sie atemlos auf einer Wurzel und hatte Tränen in den Augen. Er saß neben ihr und wirkte irgendwie traurig. Immer wieder sah er aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Nichts.“ Er räusperte sich und starrte hinauf in den Himmel. Einige Zeit später linste er wieder zu ihr. „Bist du glücklich?“

„Ich weine vor Glück“, sagte sie und deutete auf ihr Gesicht. „Natürlich bin ich glücklich.“

Er sah zufrieden aus, und gleichzeitig noch ein bisschen trauriger.

Schließlich seufzte er und stand auf. „Wir müssen zurück.“

„Wieso können wir nicht hierbleiben?“

„Was ist mit deiner Schwester?“, fragte er. „Mit der nationalen Krise?“

Sie fühlte sich hin und her gerissen, Es dauerte eine Weile, bis sie sich durchrang aufzustehen. Als sie gingen, musste sie sich immer wieder und wieder umdrehen.

Zurück im Zug setzte sie sich in die Schaukel, die seit neuestem in der Steuerkabine hing, und schwang langsam hin und her. „Du verschweigst mit etwas“, sagte sie.

Er tat so, als wäre er völlig mit seinem Bedienerpult beschäftigt.

„Ich weiß, dass du mich gehört hast.“

Er drehte sich zu ihr um und ließ die Schultern hängen. „Du solltest eigentlich gar nicht hier sein“, sagte er traurig. „Nicht jetzt, zu dieser Zeit. Es ist gefährlich hier. Ich weiß, was passiert, und es ist meine Schuld, wenn dir etwas zustößt.“

„Wieso?“

Er deutete auf ihre High Heels. „Die Schuhe aus dem Zug. Ich hätte verhindern müssen, dass du sie in deine Welt mitnimmst. Sie tragen dich immer wieder hier her zurück. Und heute – ausgerechnet jetzt …!“ Er unterbrach sich und drehte sich um. „Du wolltest nach deiner Schwester sehen.“

Sie trat neben ihn. Er legte die Hände auf den Globus und nahm die obere Hälfte ab. Eine Art Projektor schien darin zu sein, denn auf der gegenüber liegenden Wand erschien plötzlich ein Bild, wie ein Kinofilm.

Ein Raum war zu sehen. Sie erkannte ihn sofort: das Wohnzimmer von Paul Deuxfous. Er saß auf seiner Couch. Daneben saß Eirín. Sie weigerte sich anscheinend immer noch, ihn anzusehen.

„Wie hast du es herausgefunden?“, fragte Paul gerade.

„Ich habe nachgedacht“, erwiderte Eirín schnippisch. „Man muss nur logisch kombinieren, wer dahinter steckt – dann ist es ein Kinderspiel. Dann muss man denjenigen nur noch beobachten und warten. Die Mitarbeiter überprüfen. Danach war es ein Kinderspiel! Meine Güte, Chuchot war so oft in der ganzen Welt unterwegs, und das in seiner Position?“ Sie lachte. „Und jetzt ist er verschwunden, wie ein Geist. Man muss außergewöhnlich gute Verbindungen haben, um das zu ermöglichen.“

Paul nickte zustimmend.

„Ich wusste, dass du dahinter steckst“, sagte Eirín.

„Ich wusste, dass du es wusstest“, erwiderte er.

„Ich beobachte dich schon seit Jahren“, sagte sie kühl. „Der Anschlag auf den Dogenpalast? Der Raub der Kronjuwelen vor zwei Monaten?“

„Und für nichts davon gibt es Beweise, aber das weißt du ja.“

„Die graue Eminenz hinter dem Thron“, spottete Eirín. „Und zugleich der größte Verbrecher, der jemals über diese Welt gewandert ist.“

„Seit wann wusstest du es?“, fragte er.

Eirín drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen. „Von der ersten Sekunde.“ Als sie den Arm hob, zuckte er zurück in Erwartung einer Ohrfeige. Sie legte die Hand auf seine Wange, beugte sich vor und küsste ihn.

Der Raum begann zu leuchten. Einen Moment später erklang auf einmal fröhliche Musik und über die Leinwand schwebten Herzchen; aus dem Rohr des Zugs explodierten Feuerwerkskörper und sausten durch den Waggon.

Astóirín duckte sich, als einer haarscharf an seinem Kopf vorbeiflog.

„Das Stimmungsbarometer des Zugs“, erklärte er.

„Aber … aber …“, stotterte Stuaire fassungslos. „Eirín! Sie weiß nicht einmal, was Gefühle sind! Sie hat nur ein wissenschaftliches Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen!“

„Das Stimmungsbarometer lügt nicht“, sagte Astóirín und stülpte den Deckel auf den Globus. „Lassen wir ihnen lieber ihre Privatsphäre.“

Plötzlich tat es einen Knall, und eine Klappe öffnete sich in der Decke des Zugs. Ein Trapez schwebte herunter, begleitet von einem Regen glitzerndem Silberglitter. Auf dem Trapez, das sich langsam drehte, saß niemand Geringerer als Pritorniji. Er rückte seine Fliege zurecht, sprang von dem Trapez und zog, sich verneigend, theatralisch seinen Zylinder.

„Hier bin ich wieder, der Vielgeliebte, der König der Welt, ein Kämpfer, ein Krieger, ein Erzengel, eine Legende!“

Stuaire und Astóirín sahen ihn schief an.

„Du“, sagte Astóirín genervt. „Was willst du?“

„Duuu hast mich letztes Mal in den Himmel geworfen“, klagte Pritorniji weinerlich. „Ich bin eine Ewigkeit durch das eiskalte Nichts geflogen, im Dunkeln.“

„Du hast ihn in den Himmel geworfen?“, fragte Stuaire empört.

„Ich habe ihm nur einen Schubs gegeben“, sagte Astóirín ebenso empört. „Du warst doch dabei! Kann ich was dafür, dass er nicht bremsen kann?“, und zu Pritorniji gewandt: „Du musst immer so übertreiben!“

„Ich will Rache!“, heulte Pritorniji auf. „Ich verfluche dich, Astóirín, du sollst in allen Höllen verrotten, die es in dieser und allen anderen Welten gibt!“

„Findest du nicht, du übertreibst wirklich ein bisschen?“, fragte Stuaire vorsichtig.

„Ich könnte dir die Finger brechen“, säuselte Pritorniji, ignorierte Stuaire komplett und tänzelte durch den Zug. „Mit rot glühenden Eisen.“

„Er ist übergeschnappt“, murmelte Astóirín Stuaire zu.

„Aber!“, donnerte Pritorniji und stieß seinen Spazierstock in den Boden, „das wäre noch viel zu großmütig von mir! Du hast eine wirklich außergewöhnliche, eine exquisite, eine einzigartige Strafe verdient.“

„Beruhig dich“, sagte Astóirín.

„Sie!“ Er deutete auf Stuaire.

„Was ist mit ihr?“, fragte Stuaire verwirrt.

„Sie wird für dich büßen!“, rief Pritorniji.

„Wieso ich? Was habe ich denn getan?“, fragte Stuaire empört. „Abgesehen davon, dass du generell gerade ein bisschen übers Ziel hinaus schießt?“

Er heulte laut auf. „Rache!“

Stuaire schielte zu Astóirín, der geschrumpft zu sein schien. „Kannst du nicht deinen Bruder holen wie damals, als du den Traumfänger in meine Wohnung gehängt hast?“

„Woher soll ich denn jetzt einen Traumfänger nehmen?“, schrie Astóirín sie an.

„Dein Bruder wird dich diesmal nicht retten“, donnerte Pritorniji.

Astóirín zuckte zusammen. „Er hat Recht. Zu viel Zeit ist seitdem vergangen. Sieh ihn dir an. Er ist erwachsen geworden.“

„Er verhält sich aber nicht so.“

„Das Geschwätz wirst du noch bereuen“, sang Pritorniji fröhlich. Er wandte sich an Astóirín. „Ich weiß, du hast Angst vor meinen Alpträumen“, lächelte er und schnippte, kleine Funken stoben um seine Hände. Er sah zärtlich darauf herab. „Wie voreingenommen von dir. Du solltest sie erst einmal kennenlernen, bevor du sie verurteilst.“ Er drehte sich einmal um sich selbst und breitete seine Arme aus. „Deswegen mache ich dir ein fantastisches Geschenk, in meiner unendlichen Großzügigkeit, und deine geliebte Stuaire zum schlimmsten Alptraum, den ich habe.“

Er vollführte glücklich einen kurzen Stepptanz. „Ich weiß! Das ist kaum zu glauben – wo ich von dir noch nie ein Geschenk bekommen habe. Stattdessen verschwendest du deinen besten Traum an irgendein dahergelaufenes Flittchen.“

„Pritorniji, ich warne dich“, sagte Astóirín mit wütend zusammengekniffenen Augen. „Wenn du das tust, bringe ich dich um!“

Pritorniji lächelte ihn strahlend an. „Das kannst du doch gar nicht“, flüsterte er fast liebevoll.

„Aber wieso sie?“, schrie Astóirín.

„Weil dir das mehr weh tut.“ Er klang, als hätte er vor, Astóirín ein schönes Stück Schokolade zu schenken.

Astóirín heulte auf und stürzte sich auf ihn. Pritorniji machte eine nachlässige Bewegung mit seinem Spazierstock. Es knallte, und wo Astóirín eben noch gewesen war, explodierte eine Wolke Silberstaub in der Luft.

Stuaire keuchte. „Was hast du mit ihm gemacht?“, schrie sie.

Er schlug den Stock auf den Boden.

Astóirín erschien wieder – er war mit Handschellen an die Zugtür gekettet

„Tu das nicht!“, flehte Astóirín. „Damit gehst du zu weit!“

„Zu weit gibt es nicht für mich!“, brüllte Pritorniji manisch.

„Stuaire“, sagte Astóirín, versuchte sich aufzurichten und musste husten. Die ganze Luft war voll Flitter. Er setzte nochmal an. „Stuaire Scothdhearg, heiratest du mich?“

Ihr traten Tränen in die Augen. Sie nickte. „Ja. Natürlich.“

Der Raum begann zu leuchten. Einen Moment später erklang auf einmal fröhliche Musik und über die Wand schwebten Herzchen; aus dem Rohr des Zugs explodierten Feuerwerkskörper und sausten durch den Waggon.

„Das verdammte Stimmungsbarometer“, weinte Stuaire.

Pritorniji richtete seinen Spazierstock auf sie und schnippte.

Als Stuaire wieder aufwachte, fühlte sie sich verändert. Sie setzte sich langsam auf. Etwas in ihr kam ihr irgendwie … dunkel vor.

Pritorniji stand vor ihr und reichte ihr die Hand. Als sie sich aufgerichtet hatte, verneigte er sich. „Meine beste Schöpfung, die Schönste unter der Sonne, Herrscherin, Königin, Medusa höchstpersönlich!“

Er drehte sich um und strahlte Astóirín an. „Ist sie nicht fantastisch?“

Astóirín hatte die Augen fest zusammengekniffen. „Du bist so böse!“, schniefte er.

Medusa streckte sich, hob die Hände und fühlte nach ihren Haaren. Schlangenleiber wanden sich um ihre Finger. Ihre Haare wogten hin und her und tasteten ihr Gesicht ab.

Sie wandte sich langsam Astóirín zu. Sie spürte in sich Kälte lodern, und Astóirín schien vor Hitze zu glühen. Furcht war warm, stellte sie fest.

Irgendwie hatte sie das alles beherrschende Gefühl, dass er ihr gehörte. Sie erprobte ihren neuen Körper, die ersten Schritte in Astóiríns Richtung waren ein wenig ungelenk. Er wand sich panisch hin und her.

Pritorniji schnippte erneut mit den Fingern. Astóiríns Fesseln lösten sich. Er sprang auf.

„Lauf“, sagte Pritorniji leise und drohend.

Astóirín wirbelte herum, riss die Tür auf und rannte hinaus.

Medusa drehte sich zu Pritorniji: „Unwürdiger! Was hast du getan!“, kreischte sie. „Er gehört mir, und du lässt ihn gehen!“ Sie drehte sich um und stürmte hinaus.

Der Unrealist

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