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Kapitel 2

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Kapitel 2

Die Ärzte hatten irgendetwas geschrieben, das Gero bescheinigte, dass er für angestellte Tätigkeiten vorerst nicht mehr in Frage kam. Sein Psychologe hatte ihm erklärt, es wäre nicht gleichbedeutend damit, dass er weiterhin mental erkrankt sei. Ganz im Gegenteil hatte er eine eigenständige Entscheidung getroffen, freiberuflich zu arbeiten. Das Attest war ausgestellt worden, damit er, nachdem er wieder gesundet war, die Möglichkeit und gute Aussichten hatte, gesund zu bleiben. Ärzte und Psychologen hatten auch kein Patentrezept gegen Mobbing, das statistisch gesehen häufiger bei Angestellten, in abhängiger Beschäftigung, als bei beruflicher Selbstständigkeit vorkam. Geros Attest war eine bürokratische Notwendigkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Eigentlich hätte es ihm schwer fallen müssen, einen guten Beruf und sicheres Geld sausen zu lassen, schließlich war er mit Bestnoten ausgebildet, aber dieses Gefühl, etwas zu verlieren, stellte sich bei ihm nicht ein. Er sah in seiner beruflichen Selbstständigkeit, die zunächst aus einem leeren Blatt Papier bestand, das er mit Worten zu füllen hatte, sich jedoch mehr und mehr, im Verbund mit anderen Tätigkeiten, ein großes Ganzes ergeben würde, etwas Neues, das ihn positiv verändern könnte, ihm Freude bereitete, vielleicht glücklich machte. Gar nicht wenige Menschen in seiner Umgebung jammerten oft über ihren Chef, der ihnen ebenso lästig war wie manche Kollegen, änderten jedoch nichts, weil sie auf materielle Sicherheit nicht verzichten konnten oder wollten. Wenn es gar nicht mehr anders ging, gab es den alkoholischen Absturz, den Vollrausch am Wochenende. Gero war nicht bereit, einen solchen Preis zu bezahlen, auch wenn er wusste, dass es genug Angestellte gab, die in einem guten Umfeld gerne arbeiteten, denen ihr Beruf Spaß machte. Vielleicht würde er in einigen Jahren, wie sein Psychologe meinte, die Dinge wiederum anders sehen und es nochmals angestellt in einem Groß- und Außenhandelskaufmannsbetrieb versuchen, in dem der Chef ebenso menschlich okay wie die Kollegen sein würden.

Es war Montag morgen und Gero saß am PC, vor einer leeren Seite seines Schreibprogramms. Er überlegte, womit er anfangen sollte. Vielleicht mit einem Gedicht, das wird am einfachsten sein, dachte er. Doch über welches Thema sollte er schreiben? Ein Mobbinggedicht etwa? Nein. So etwas würde bestimmt keiner lesen wollen. Gero wartete auf einen Anfangsimpuls, von dem berühmte Schriftsteller immer im Gespräch mit dem Publikum nach Lesungen oder bei Literatursendungen im Fernsehen sprachen. Schon eine geschlagene Viertelstunde saß er jetzt vor seinem PC und nichts, aber auch gar nichts wollte ihm einfallen. War das die Schreibblockade, bevor es überhaupt losging? Gero stand auf und ging etwas in seinem Zimmer umher. Am Fenstersims hatte er sich eine Flasche Mineralwasser und ein Glas hingestellt, die ihm mit dem prickelnden Inhalt schon helfen würden, auf Ideen zu kommen. Bei Goethe war dort immer Wein gestanden, der dem großen Meister der deutschen Dichtkunst bei Schreibblockaden weitergeholfen hatte. Doch Gero wollte nichts Alkoholisches trinken, keinen Wein, kein Bier, keinen Schnaps, keine synthetischen Drogen nehmen. Nichts. Er sah jene Künstler, ob sie nun Musiker, Literaten, Maler, Bildhauer oder etwas anderes waren, als Vorbild, die ohne Alkohol und Drogen versuchten, ihren Weg zu gehen. Da Gero früher ein guter Tennisspieler war, in der Jugendauswahl seines Wohnkreises spielte, hatte er ein gewisses Rückgrat, wusste, was es hieß, stundenlang zu trainieren oder ein Pflichtspiel zu bestreiten. Auch mit Niederlagenserien kannte er sich bestens aus. Er wusste, dass Alkohol der falscheste Weg war, um wieder ein Sieger zu werden. Da er beim Tennis keine Betäubungen gebraucht hatte, würde er auch die negativen Seiten der Literatur, wie es Schreibblockaden und Verlagsabsagen waren, ohne Alkohol und Drogen überwinden. Beim Blick auf die Uhr fiel Gero auf, dass er nun bereits 30 Minuten vor seinem PC saß, ohne dass ihm eine Idee gekommen wäre. Wo war das erste Wort, das das zweite ergeben würde? Er stand auf, ging zum Fenstersims, füllte das Mineralwasser ins Glas, so dass es halbvoll war. „Das Glas ist halbvoll, nicht halbleer“, sagte er leise vor sich hin, um sich zu motivieren. Mit dem Glas zurück am PC änderte sich nichts. Ihm wollte und wollte keine Idee kommen, was er schreiben könnte. Reflexartig griff er in die Schublade, in der sein Romanversuch von früher lag. Plötzlich bemerkte er, dass sich unter dem Manuskript noch etwas befand, das mindestens 100 Seiten dick und fein säuberlich in eine Mappe eingeordnet war. Als er auf die Beschriftung sah, stand da „Gero Lebenhaber – Meine ersten Gedichte“ zu lesen. Nein, das war ja ein Ding. Er hatte vollkommen vergessen, dass er vor Jahren schon einmal wesentlich kreativer gewesen war als an jenem Tag, an dem ihm partout nichts einfallen wollte. Er las die Gedichte, 88 an der Zahl, alle durch, fand sie ganz gut und stellte fest, dass auch ein anderer Mensch, sein ehemaliger Kumpel, der Germanistikstudent Hans-Peter Hitt, derselben Meinung gewesen war. „Die Gedichte sind dir durchweg ganz gut gelungen. Mal mehr, mal weniger. Du solltest daraus irgendwann ein Buch machen“, stand da zu lesen. Seine Schreibblockade war Gero auf einmal völlig egal. Nun galt es herauszufinden, welche Verlage Gedichte veröffentlichten, und sie anzuschreiben. Er wusste jedoch, dass die meisten Manuskripte, auch manche gute, bei den Verlagen weggeworfen, nicht zurückgeschickt oder mit Rücksendung abgelehnt wurden. Na ja, dachte sich Gero, von meinem Geld kann ich so viel abzwacken, dass es für 4 Bewerbungen reicht. Vier war auch seine Glückszahl. Er ging in ein Schreibwarengeschäft, um sich Ordner und Umschläge zu besorgen. Anschließend kaufte er sich ausreichend viele Briefmarken. Wieder zu Hause angekommen, schaute er im Internet nach, welche Verlage Gedichte publizierten und wie man eine Bewerbung gestaltete, mit Anschreiben, Exposé, Textproben usw. Das selbstständige Arbeiten und Entscheidungen treffen, ohne dass ein Chef oder Kollege alles torpedierte, gefiel ihm. Am Abend hatte er alle 4 Bewerbungen fertig und ging hoffnungsfroh zum Briefschalter, um sie einzuwerfen. „Toi, toi, toi“, murmelte Gero vor sich hin, bevor er die Briefkastenklappe öffnete und wieder schloss. Zu Hause zurück, fragten seine Eltern, was er den ganzen Tag gemacht habe. Als er erzählte, vier Bewerbungen abgeschickt zu haben, ohne zu sagen, für was, huschte ein Lächeln übers Gesicht seiner Mutter. „Bewerbungen sind immer gut“, sagte sein Vater beiläufig und schob sich ein Stück seiner Lieblingswurst, des Bierschinkens, in den Mund. Nach dem Abendessen versammelten sich seine Eltern vor dem Fernsehapparat, um die Tagesschau zu gucken. „Business as usual“, auch nach Feierabend. Gero hatte eine ältere Schwester, die längst ausgezogen war, mit ihrem Freund in München ein Tanzlokal unterhielt und dort auch wohnte. Auf seinem Zimmer zurück, war er voller Hoffnung, was die eingesandten Manuskripte betraf. Er hörte noch ein bisschen Radio und schlief danach zufrieden ein.

Am folgenden Tag stieß er gleich am Frühstückstisch auf das Feuilleton, das ihm sein Vater gereicht hatte, weil er sich ausschließlich für den Sport, die Politik und die Sterbeanzeigen interessierte. Da war ein kleiner Bericht zu lesen, in dem stand, dass nur knapp 2000 Menschen in Deutschland regelmäßig Gedichte lasen. Ihm wurde schlagartig klar, dass er vom Schreiben von Gedichten auf keinen Fall würde leben können. Ein gewisser Durs Grünbein konnte das und ein paar andere, die er namentlich nicht kannte, auch. Doch die Mehrheit der insgesamt wenigen Literaten, die ausschließlich vom Schreiben leben konnten, ernährte sich vom Schreiben von Romanen, Kurzgeschichtenbänden, Sachbüchern, Auftragsarbeiten für Zeitungen und Zeitschriften, … Ob er von einem der vier angeschriebenen Verlage eine Zusage bekam oder nicht, er musste sich eine andere, freie Nebentätigkeit suchen, mit der er zumindest etwas sicheres Geld verdienen konnte. Er hatte sein Abitur mit den ersten beiden Prüfungsfächern Französisch und Englisch gemacht, doch Gero wollte den Vorschlag seines Ex-Psychologen mit dem freien Sprachlehrer zunächst verwerfen, noch etwas aufschieben. Nein, er erinnerte sich viel mehr daran, dass er in der 12.Klasse im Sport eine herausragende Leistung erbracht hatte. Gero war 1,80 m hoch gesprungen, eine Leistung, die bei so manchen Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften im Damenwettbewerb als Einstiegshöhe diente. Lediglich Marcel, die absolute Sportskanone, hatte ihn noch um 5 cm übersprungen. Aber auch nur, weil er als Womanizer von den Mädels angefeuert worden war. Warum nicht bei der Leichtathletikabteilung des TSV Fuchsstadt anrufen und fragen, ob sie einen Hochsprungtrainer bräuchten. Fragen kostete nichts. Er nahm das Handy zur Hand und tippte die Nummer ein. Am anderen Ende der Leitung war ein freundlicher, netter Mann, der sich mit Willy Wurster meldete und Gero versicherte, dass er wie gerufen kam. Dieser Bereich der Leichtathletik schien etwas verwaist zu sein. Es gab lediglich 8 Aktive, 4 Männer und 4 Frauen, gleichmäßig hübsch verteilt, und es wurde händeringend ein Trainer gesucht. Als Gero fragte, wie hoch diese Sportler denn so sprangen, meinte der Vereinsvertreter „So zwischen 1,20 m im unteren und 1,50 m im oberen Bereich“. „Darf ich fragen, was Sie qualifiziert, um 4 Stunden die Woche jeweils 11 DM die Stunde zu bekommen?“ „Ich weiß, dass man heute nicht mehr mit dem Kopf voraus über die Latte springt, sondern mit einer Technik, die „Flop“ heißt. Der Weltrekord bei den Männern liegt bei 2,45 m, ich meine, dass ihn ein Schwede namens Patrick Sjöberg aufgestellt hat und hält. Bei den Frauen weiß ich es nicht so genau, ich glaube zu wissen, dass er dort bei 2,07 m liegt, gesprungen von einer gewissen Stefka Kostadinowa, ich bin mir nicht ganz sicher, also drei Fragezeichen dahinter. Wenn man von links anläuft, springt man mit dem rechten Bein ab, von rechts mit dem linken, man schraubt sich hoch und kann gerade oder auch quer über die Latte springen und vor 3-4 Jahren habe ich selbst 1,80 m geschafft.“ Am anderen Ende der Leitung kam Begeisterung auf. „Sie sind genau der richtige Mann für uns. Kommen Sie Mittwoch abend einfach vorbei. Dann können wir die Formalien regeln.“ „Na wunderbar. Bis dann“, sagte Gero. Sich 176 DM im Monat hinzuverdienen war ein ganz ordentlicher Einstieg in Geros Art von Selbstständigkeit. Am Mittwoch morgen holte Gero zwei Verlagsabsagen, mit standardisierten Ablehnungsfloskeln, auf die an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden soll, aus dem Briefkasten. Diese Niederlage war erwartbar gewesen. Doch Gero hatte noch zwei Eisen im Feuer und am Abend trat er seinen Job als Hochsprungtrainer, als „Dietmar Mögenburg der Provinz“, an. Gero freute sich wahnsinnig darauf. Was konnte da noch schiefgehen?

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