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Carola

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Nachdem ich mein Abitur gemacht und die Lehre beendet hatte, wurde ich im Oktober zur Armee eingezogen. Die Meldestelle war in der Turnhalle der Oberschule eingerichtet. Wir standen auf dem Schulhof, wurden dort den einzelnen Standorten zugeordnet, warteten darauf, auf die bereitstehenden Mannschaftstransportwagen aufzusteigen, die uns zu den Kasernen bringen würden. Ein Oberleutnant ließ uns mit einer Liste in der Hand noch einmal antreten. Jeder einzelne von uns bestätigte seine Anwesenheit, in dem er »Hier« rief, wenn sein Name genannt wurde.

»Eppers, Hermann!«

Niemand antwortete. Verärgert drehte sich der Oberleutnant um, suchte zwischen den Umstehenden. Auf der Eingangsseite des Schulhofes standen Frauen, Männer, Mädchen die gekommen waren, um sich zu verabschieden. Der Oberleutnant ging auf ein Pärchen zu, dass, ohne sich um die anderen zu kümmern, eng umschlungen stand.

»Eppers, kommen Sie.«

Eppers löste sich nur langsam von einem blonden und langhaarigen Mädchen. Ich konnte sein von Tränen verquollenes Gesicht erkennen. Es stand da, schnäuzte sich, hatte sich ein wenig nach vorn gebeugt, wie um loszurennen, Eppers noch einmal zu umarmen. Eppers nahm seine Tasche auf, deutete an, sich zu beeilen.

Eppers war ein schlanker muskulöser schmalschultriger Mann. Sein Haar war kurzgeschnitten. Er hatte einen dunklen Teint. Um seinen Mund über die Kiefer bis hinauf zu den Schläfen schimmerte sein Gesicht schwarz. Der Schimmer ging fast ins Bläuliche über. Er hatte große und dunkelbraune Augen. Sein Nasenrücken war leicht gebogen. Die letzten Schritte rannte er, rief dem Oberleutnant beschwichtigend zu: »Ja, ja.«

Der Oberleutnant zeigte sich zufrieden, fragte: »Sind sie Deutscher?«

Eppers lachte, zeigte seine weißen geraden Zähne. »Schon seit meiner Geburt.« Er schien diese Anspielungen gewohnt. »Mein Urgroßvater war römischer Legionär. Ihn hat man in der Schlacht im Teutoburger Wald vergessen zu erschlagen. Er hat sich im Wald versteckt, eine sächsische Frau vergewaltigt. Seitdem ging es weiter bis zu mir.«

Der Oberleutnant bog seinen Oberkörper zurück, lachte laut. »So etwas habe ich auch noch nicht gehört«, sagte er dann immer noch belustigt: »Steigen sie auf.«

Eppers kam auf die Ladefläche, drängte sich zwischen uns. Ich rutschte zur Seite, damit er sitzen konnte.

Wir waren vierzehn Mann auf der Stube. Eppers hatte sich das Bett über mir ergattert. In der Zeit zwischen Abendessen und Revierreinigen saßen wir am Tisch zusammen. Einige hatten sich auf ihr Bett gelegt, lasen, andere spielten Karten. Jeder erzählte von sich.

Eppers war der Älteste von uns. Er war Lehrer für Geschichte und Geografie, trainierte zu Hause im Stadtclub Langstreckenlauf. »Für die Olympiade hat es nicht gereicht«, zuckte er bedauernd die Schultern. »Das Mädchen, das du gesehen hast, ist meine Verlobte. Sie spielt Tennis. Ihr Vater ist Wolk, der Trainer des Boxclubs in unserer Stadt.«

»Wolk?«, wiederholte ich den Namen, sagte dann höflich. »Ja, den Namen habe ich schon in der Zeitung gelesen.«

Die Tage waren anstrengend. Immer wieder hieß es: »Rechts um! Links um! Geradeaus! Im Gleichschritt Marsch!« Ich fürchtete mich vor den Kraftübungen, schaffte an der Reckstange gerade drei bis vier Klimmzüge. Eppers sprang hoch, zog seine Brust zehnmal bis zur Stange, ließ sich abfallen, lachte, wenn er sah, wie wir uns mühten. Dann hing er sich wieder gestreckt an die Stange, zog seinen Körper um die Stange herum, stützte sich auf, ließ sich wieder fallen, wiederholte die Übung mehrmals. Die Eskaladierwand war für Eppers kein Hindernis. Während ich mit meinen Händen die Wandkante oben umklammerte und mühsam immer wieder mit meinem linken Bein Schwung holen musste, um über die Wand zu kommen, sprang Eppers hoch, war mit einem Satz auf der anderen Seite.

Im Ausdauertraining mussten wir regelmäßig 1000 Meter nach Zeit laufen. »Das ist doch keine olympische Disziplin«, mäkelte Eppers. »3000 und 5000 Meter sind olympisch. Die lassen uns 1000 Meter üben, weil die Schützengräben im Krieg etwa 1000 Meter gegenüberliegen. Das hängt mit der Reichweite der Kalaschnikow zusammen.«

Eppers tändelte beim Ausdauerlauf an der Spitze, lief vorneweg, ließ sich zurückfallen. »Los, los«, feuerte er mich an, »du musst unter drei Minuten kommen. Teile deine Kräfte besser ein.«

Wir verließen eines Tages nach dem Mittag das Küchengebäude, warteten auf den Abmarsch. In einiger Entfernung stand eine Gruppe Frauen, die miteinander schwatzten.

»Da sind sie.«

»Wer?«

»Na die beiden Frauen, die uns immer beim Exerzieren zusehen. Hast du keine Augen im Kopf?«

Eppers deutet auf die Frauengruppe, blaffte mich an: »Gaffe nicht so, sonst bilden die sich noch etwas ein.«

Ein junges Mädchen mit langem blondem Haar stand mit dem Gesicht zu uns, beobachtete den Ausgang des Küchengebäudes. Immer wieder hob es den Kopf, musterte die Soldaten, die auf die Straße traten. Es erkannte Eppers, errötete, schlug verlegen die Augen nieder. Seine Nachbarin, sie hatte einen dunklen kurzen Haarschnitt, lachte immer wieder, redete, lachte wieder, schlug dabei beide Hände auf ihre Oberschenkel.

Ich zuckte gleichgültig die Schultern. Es waren Frauen, die hierher gehörten. Ich war nur Soldat.

»Du musst nachher aufpassen. Die Blonde mit den langen Haaren steht im Verwaltungsgebäude immer am Fenster, wenn wir vorbeimarschieren«, belehrte mich Eppers wieder.

Wir gingen in die Unterkunft, legten unsere Ausrüstung an, marschierten zum Exerzierplatz. Ich sah im Vorbeimarschieren auf die Fensterfront des Verwaltungsgebäudes, erkannte hinter einer großen Fensterscheibe ein Gesicht und blondes Haar, sah, wie Eppers als rechter Flügelmann seine Schultern reckte.

Nach der Grundausbildung kam Eppers ins Zimmer, räumte seinen Spind aus. »Ich bin jetzt Gruppenführer«, grinste er. »Ich muss zu den Unteroffizieren ziehen.«

Eppers war jetzt der Kommandierende. Jedes Mal, wenn er uns vom Exerzierplatz marschieren ließ, führte er uns den Umweg an dem Verwaltungsgebäude vorbei. Einmal beobachtete ich, wie das blonde Mädchen hinter dem Fenster zu uns herabwinkte, lächelte. Eppers hob nur leicht seinen rechten Arm von sich weg, spreizte die Finger als geheimes Zeichen, dass er es erkannt hatte.

Wir mussten Wache schieben. Eppers, als Wachhabender, hatte mich als Kontrolldurchlassposten eingesetzt. Er war vor sechs Uhr losgegangen, hatte die Außenwachen eingezogen, befahl mir, mich an das Kaserneneingangstor zu stellen. Manfred, mein Stubennachbar, war Bereitschaftsposten, musste die Fahrzeuge kontrollieren, die raus und rein fahren wollten. Meine Aufgabe war es, die Ausweise der Eintretenden zu kontrollieren. Besucher oder Handwerker, die keinen Kasernenausweis hatten, musste ich zu Eppers in das Wachlokal schicken. Er telefonierte, Offiziere kamen, begleiteten die Besucher zu den Dienstzimmern.

Ich stand stramm an dem Kaserneneingang. Der Stahlhelm begann nach einer Weile zu drücken und die Maschinenpistole hing auch mit leerem Magazin als Last vor meiner Brust.

Gegen sieben Uhr fuhren die ersten Busse aus den Offizierssiedlungen vor. Ich hörte das Öffnen der pneumatischen Bustüren. Es wurde laut. Gesprächsfetzen flogen, Morgengrüße wurden ausgetauscht, dazwischen war immer ein Lachen der Frauen. Das Kasernentor wurde aufgeschoben. Die Offiziere, die Fähnriche, die Unteroffiziere drängten sich durch das Tor. Die Offiziere und die Unteroffiziere kamen einzeln, ordneten sich diszipliniert in Reihe, griffen in ihre linke Brusttasche, zogen ihren Kasernenausweis heraus, zeigten ihn mir. Die Frauen kamen in Gruppen. Sie redeten, schwatzten, zogen nebenbei ihre Kasernenausweise aus ihren Handtaschen, hielten sie flüchtig hoch. Mit dem zweiten Bus kamen das blonde Mädchen und die Frau mit dem dunklen Bubikopf. Auf den paar Metern zwischen der Tür und mir hatte die Frau mit dem Bubikopf schon mehrmals ihren Kopf hin und her gedreht. Sie lachte, drehte sich wieder, gab eine Antwort, um sich dann wieder ihrer Nachbarin, dem jungen Mädchen mit dem langen blonden Haar, zuzuwenden.

Ich ärgerte mich, dass sie mich nicht zur Kenntnis nahm, hielt meinen Arm vor, hielt sie auf: »Ihren Ausweis bitte!« Erschrocken sah sie mich an: »Ich bin Carola Schwarz.«

»Ihren Ausweis«, wiederholte ich.

Die Schwarz blieb stehen, kramte in ihrer Handtasche, wurde nervös, weil sich hinter ihr die Eintretenden drängten. Während sie in ihrer Handtasche kramte, rief sie ihrer blonden Nachbarin hinterher: »Martina, warte doch.«

Die Schwarz fand ihren Ausweis, hielt ihn mir vor die Nase: »Können Sie lesen?«

»Passieren«, antwortete ich kalt.

Die Schwarz holte ihre Nachbarin ein. Doch bevor sie ihren Weg in das Dienstgebäude fortsetzte, drehte sie sich noch einmal empört um.

Eine Woche später musste ich mich beim Kompaniechef, Hauptmann Müller, melden. Unruhig ging ich in meinen Gedanken die letzten Tage durch, ob ich irgendwo etwas falsch gemacht hatte. Ich klopfte an der Tür des Kompaniechefzimmers an, trat ein, stand stramm, nahm mein Käppi in die rechte Hand.

Der Offizier saß hinter seinem Schreibtisch, musterte mich: »Sie sind also der Schaller?«

Er stand von seinem Stuhl auf, ging zum Fenster, grinste. »Kennen Sie eine Carola Schwarz?«

»Sie hat ihren Ausweis nicht gezeigt.«

Müller lachte, winkte ab, ging zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich, trommelte mit einem Bleistift auf seiner Schreibtischunterlage. »Sie sind Abiturient? Sie wollen Eisenbahnbautechnik studieren?«

»Jawoll.«

»Können Sie zeichnen?«

Ich zuckte die Schultern: »Das muss ich wohl.«

Müller lachte wieder in sich hinein. »Schaller. Sie sind ab morgen in die Dokumentenstelle abkommandiert. Der Stabschef hat Sie angefordert. Sie melden sich bei Stabsfeldwebel Klosch. Und damit es keine Unstimmigkeiten mit ihren Kameraden gibt, ziehen Sie in das Gruppenführerzimmer zu Eppers.«

Ich schlug die Hacken zusammen, setzte mein Käppi auf, wollte wegtreten. Müller saß, die Unterarme auf seinen Schreibtisch gestützt, hatte den Kopf gehoben, sah mir nach, sagte: »Eigentlich hatte ich für diese Stelle den Eppers vorgeschlagen.«

Klosch war ein kleiner zierlicher Mann mit dünnem weißblondem Haar, weißer Gesichtshaut und weißen Wimpern. Er musterte mich misstrauisch. »Wir werden doch miteinander klarkommen?«

»Ich denke schon«, antwortete ich dienstbeflissen. Er wies mich ein. Bereits am anderen Morgen musste ich die Ausgabestelle ab sieben Uhr besetzen.

Die Schwarz war eine der ersten Frauen, die kamen, um ihre Dokumententaschen zu holen. Sie legte ihre Karte vor. Während ich ging, um ihre Taschen aus dem Panzerschrank zu holen, fühlte ich ihre Blicke in meinem Rücken. Nervös legte ich ihr das Nachweisheft vor, in dem sie den Empfang der Taschen quittieren musste.

»Sie werden sich schon noch eingewöhnen.«, versuchte sie mich zu trösten, nahm die Taschen von dem Ausgabebord herunter, stellte sie ab, um die Ausgangstür zu öffnen. Während sie sich bückte, sah sie noch einmal zu mir auf. Um ihren Mund spielte ein selbstsicheres Lächeln.

»Du hast es gut«, begrüßte mich Eppers am Abend. »Du brauchst keine Wache mehr zu schieben. Darauf müsstest du eigentlich einen ausgeben.«

»In Ordnung. Ich trage mich für Sonnabend zum Ausgang ein.«

Es war ein später Sonnabendnachmittag. Ich wurde unruhiger, je mehr der Abend heranrückte, putzte meine Schuhe, holte meine Ausgangsuniform aus dem Schrank, lief hinüber zur Bügelstube, um die Falten aus meiner Hose zu plätten, bürstete meine Jacke aus, ging duschen, rasierte mich, wusch meine Haare, rieb sie intensiv trocken, zog frische Socken und Unterwäsche an.

Eppers lag auf seinem Bett, las ein Buch. »Du musst dich nicht beeilen«, lachte er. »Der Schwof geht erst um sechs los. Die Frauen und Mädchen kommen erst so gegen sieben. Sie kommen überall her, aus der Stadt, von den Dörfern. Sie kommen mit den Omnibussen, mit der Bahn, manche kommen mit dem Fahrrad. Sie wissen, wo die Männer sind.« Eppers schwang seine Beine aus dem Bett, gähnte. »Im Prinzip geht es erst nach um acht los. Dann sind die meisten von uns schon besoffen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Kasernenhof. »Dann hast du mehr Auswahl.« Er lachte in sich hinein, warf sich sein Handtuch über die Schulter.

Es dämmerte bereits, als wir die Kaserne verließen. Wir gingen ein Stück stadteinwärts, überquerten die Hauptstraße, gingen auf dem Spazierweg, der zwischen dem Fluss, der vom Osten herankam, und der Landstraße in die Stadt hineinführte. Der Wasserlauf machte eine Biegung von der Straße weg. Wege führten in die weitläufige Aue, in die feuchten Wiesen. Während wir gingen, sah ich hinter den Baumkronen bereits die Lichter der Stadt. Musik klang zu uns herüber. An einer Wegbiegung sagte Eppers: »Ich muss hier entlang.« Er deutete in Richtung des Seitenweges, dessen Ende sich bereits in dem Nachtdunkel verlor. Am Ende des Weges sah ich durch das Gebüsch ein hell schimmerndes Kleid und blondes Haar. Verärgert, weil Eppers mich nicht eingeweiht hatte, ging ich weiter, beobachtete, wie eine Frauengestalt sich von einem Baumstamm löste, das Gestrüpp zur Seite bog, sich mir in den Weg stellte. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, sah das Gesicht der Frau vor mir. Es war Carola Schwarz.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie und es machte ihr Freude, mein Erschrecken zu beobachten. »Du bist also der Schaller?«, Carola trat etwas zurück, musterte mich mit funkelnden Augen: »Habe ich das nicht gut gemacht?«

»Was?«

»Na, dass du jetzt in der Verwaltung bist.«

Wie, als würde ich ihr gehören, umschlang sie meinen Hals, küsste mich, fuhr mit ihrer Zunge in meinem Mund herum, lehnte ihren Kopf zurück, betrachtete mein Gesicht. »Ich war neugierig, wer das ist, der mich da vorn am Kasernentor so blamiert hat. Ich habe mir deine Unterlagen geholt und gelesen, dass du zu den Sternen fliegen willst. Eigentlich ist Martina für die Besetzungsnachweise zuständig. Sie hatte auch schon den Eppers für diese Planstelle eingetragen. Sie ist ganz verrückt nach ihm. Ich habe Eppers ausradiert und dich dafür eingetragen.«

Carola drängte mich. Oben auf der Landstraße gingen Soldaten in Richtung des Tanzlokals. »Du brauchst keine Angst zu haben. Diese Leute kennen mich nicht. Mein Mann ist mit seiner Kompanie auf dem Schießplatz.«

Ich schob meine Hand unter ihren Rock, umfasste ihr Gesäß. Carola half mir ihren Schlüpfer herunterzuziehen. Ich musste in die Knie gehen, um in ihre Vagina einzudringen.

Wir gingen weiter. Jeden zweiten oder dritten Schritt blieb ich stehen, zog Carola an mich heran, küsste sie, liebkoste ihr Gesicht, ihren Hals, umfasste ihre Brüste. Diesmal drängte ich. »Es war alles so schnell vorhin.«

Wieder gingen wir. Ich konnte nicht genug kriegen von ihrem Entgegenkommen, ihrer Zärtlichkeit. »Carola.«, sagte ich, »wenn ich hier fertig bin, nehme ich dich mit.«

Diesmal war es Carola, die unser Gehen beendete. Sie schlang wieder ihre Arme um meinen Hals, legte ihr Gesicht an das meine und wir standen, als wollten wir uns nicht wieder voneinander lösen.

Doch dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie nahm ihre Arme zurück, sah mich an: »Zu spät, Johann.« Unbewusst gingen wir aneinandergeschmiegt tiefer in das Nachtdunkel des Parks hinein, gingen nebeneinander her, schwiegen, küssten uns, wussten, dass der Morgen anders sein würde.

»Johann«, begann Carola. »Ich bin fünf Jahre älter. Ich habe mit siebzehn mein erstes Kind gekriegt. Damals war ich in den Mann meiner Schwester verliebt. Ich habe sogar sein Passfoto aus der Geldbörse meiner Schwester geklaut und in meinem Portemonnaie versteckt. Eines Tages hat sie das mitgekriegt. Seitdem ist Krieg zwischen uns. Meine Neugier waren immer Männer, die älter waren als ich. An einem Tanzabend, da kam einer und holte mich immer wieder zum Tanz. Danach bin ich mit ihm vor die Tür gegangen. Er war zärtlich, drängend und ich war neugierig. Am nächsten Wochenende kannte er mich nicht mehr. Ich begriff, dass ich schwanger war, stellte ihn zur Rede. Er hat mich ausgelacht, denn ich würde ja jedes Wochenende hier beim Tanz sein. Ich habe mich geschämt, dass er mich zu einer Hure stempelte. Ich bekam meinen Sohn Mirko. Mein Vater und meine Mutter haben keinen Aufruhr gemacht. Im Gegenteil. Als Mirko da war, war es nicht mehr mein Kind, es war ihres. Sonnabends oder sonntags, wenn ich den Kinderwagen nahm, um mit Mirko spazieren zu gehen, kam ich mir vor, als würde ich mein eigenes Kind entführen. In der Innenstadt war ein großer Imbiss eröffnet worden, in den ich mühelos auch mit Kinderwagen hineinkam. Ich war neugierig, wollte einfach nur unter anderen Menschen sein, setzte mich an einen leeren Tisch, wollte warten bis der Menschenandrang an der Verkaufstheke nachließ, um mir eine Bockwurst zu kaufen. Robert kam beiläufig an meinen Tisch, trank einen Kaffee, aß seine Wurst.

Ich hatte Hunger. ›Würden sie mal auf mein Kind aufpassen? Ich will mir nur eine Wurst kaufen.‹ Er sah mich an, zog seine Augenbrauen zusammen. ›Sie werden doch nicht ihr Kind einem wildfremden Mann überlassen?‹ Er stellte sich wieder in die Reihe vor der Verkaufstheke, brachte mir eine Bockwurst und für Mirko einen Schokoladenriegel.

Es war, als hätte ich seit diesem Tag wieder ein Ziel. Jeden Sonnabend fuhr ich mit Mirko mit der Straßenbahn zum Markt, setzte mich immer wieder auf den gleichen Platz, beobachtete den Eingang, in der Hoffnung, Robert würde kommen. Eines Tages war er da. Er saß mit einem älteren Ehepaar am Tisch. Ich überwand meine Schüchternheit, ging auf den Tisch zu, schob meinen Kinderwagen heran, fragte: »Ist bei Ihnen noch ein Platz frei?«

Robert sah auf, erkannte mich, lachte. »Na klar. Das sind meine Mutter und mein Vater«, erklärte er mir kauend. »Sie wollen sich heute einen Fernseher kaufen.«

Roberts Mutter musterte mich. Sein Vater blickte zur Seite, als sei es ihm peinlich, sich zwischen mich und seinen Sohn zu drängen. Sie standen auf. Auch Robert wollte aufstehen.

»Lass man«, legte Roberts Vater die rechte Hand auf seine Schultern. »Wir können uns den Apparat auch alleine kaufen. Kümmere du dich um deine Frau.« Roberts Mutter lächelte, nickte mir zu. Seitdem war ich verheiratet.

Robert war Reparaturschlosser in der Braunkohle. Ich nähte Pantoffeln in der Schuhfabrik. Wir zogen in die Mansardenzimmer in seinem Elternhaus in Zwingau. Das Dorf war verwahrlost. Die Häuser standen grau und niedrig neben den von Braunkohlestaub verschmutzten mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen. Der Putz fiel von den Außenwänden und die Fensterrahmen waren von Wind und Regen zermürbt. Alle wussten, eines Tages würden die Bagger kommen, die Häuser zermalmen, den Boden aufreißen, um die Braunkohle aus der Erde zu holen. An warmen Junitagen saßen Robert und ich am Giebelfenster unserer Mansarde. Vor uns sahen wir die Bagger, die Abraumhalden. Vor unserem Haus war noch eine Wiese. Das grüne Gras war immer ein Zeichen für uns, dass es auf dieser Welt noch anderes gab. Manchmal hörten wir sogar Nachtigallen schlagen. Wenn wir dann aus dem Fenster sahen und der Himmel war wolkenlos, strahlten uns die Sterne an. Wir träumten, die Sterne zu uns ins Zimmer zu holen.

»Robert«, fragte ich, »wollen wir nicht da hoch fliegen?« Betreten stand er neben mir, als schämte er sich dafür, dass er noch hier war. Ich wurde schwanger als er zur Armee eingezogen wurde. Bei seinem ersten Urlaub sagte er mir, er habe sich für die Offiziersschule beworben. Dann kam er drei Jahre nur aller vier Wochen nach Hause. Nach seiner Ernennung zum Unterleutnant wurde er hierher als Zugführer versetzt. Wir erhielten eine sonnige Neubauwohnung. Ich bekam in der Kaserne Arbeit im Verpflegungslager. Eines Tages kam Major Meier, mein jetziger Chef, zu mir und fragte mich, ob ich nicht bei ihm arbeiten wolle. Die Gewerkschaft hätte zugestimmt und auch die Staatssicherheit hätte genickt. Er hatte in den Unterlagen gelesen, dass mein Mann aus Zwingau stammte. Er, Meier, war damals als Flüchtling mit seiner Mutter auf einem Gutshof nahe Zwingau einquartiert worden. Ich hatte zugestimmt. Außerdem gab es dort mehr Geld. Mein Mann wurde Kompaniechef, soll im nächsten Jahr zur Militärakademie gehen. Vielleicht wird er noch ein großer Kommandeur.«

Carola horchte auf. »Ich muss jetzt gehen. Sie spielen schon ›Muss i denn zum Städtele hinaus‹.« Vorsichtig bog sie die Zweige der Büsche am Wegrand zur Seite, stieg die kleine Böschung hinauf, die unseren Weg von der Landstraße trennte, kam zurück, schüttelte den Kopf. »Es sind noch zu wenige Leute auf der Straße.«

Carola wartete noch eine Weile. Bevor sie wieder losging küsste sie mich noch einmal, rieb mit ihrem rechten Zeigefinger auf meinem Nasenrücken, sagte drohend: »Mein lieber Schaller, wenn du eines Tages von deinem Sternenflug zurückkommst, oben auf der Bühne stehst, einen großen Orden empfängst, ich mit meinem Mann unten in der ersten Reihe sitze und du kennst mich nicht mehr, weil ich einen dicken Arsch habe, dann erzähle ich Jeder und Jedem, dass du mich gevögelt hast.« Sie bekräftigte ihre Drohung durch ein heftiges Nicken, drehte sich, sprang auf die Straße.

Ich hörte, wie ihre Absätze auf das Pflaster schlugen. Ich ging los als das Klacken ihrer Absätze immer leiser wurde.

Am Montag kam Carola wie immer als wäre nichts gewesen. Nur manchmal, wenn sie glaubte, ich würde es nicht bemerken, beobachtete sie mich aus den Augenwinkeln. Um ihren Mund spielte dann ein Lächeln.

Eppers hatte für das Wochenende Sonderurlaub beantragt. Ich hatte mit Verwunderung festgestellt, dass in den letzten Wochen seine rosaroten Briefe ausgeblieben waren. Er kam Montagvormittag vorzeitig zurück.

»Gibt es denn zu Hause etwas Neues?«, fragte ich.

Eppers zuckte die Schultern. »Der Bahnhof steht noch, die Straßenbahn fährt noch. Außerdem habe ich nicht viel mitbekommen.« Er stellte sich ans Fenster, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, blickte stumm auf den Kasernenhof.

»Ein anderer?«

Eppers zog resigniert seine Mundwinkel nach unten, nickte zu sich in die Fensterscheibe hinein.

Am Diensttagnachmittag ließ er wieder antreten, zog die Reihen auseinander, kontrollierte die Ausrüstung, marschierte mit der Wache zum Kasernentor. Seine Befehle waren wie immer klar und exakt.

Am Mittwochmorgen erwachte ich von der Salve einer Maschinenpistole. Ungläubig sprang ich aus dem Bett. Am Kasernentor war plötzlich lautes Rufen. Offiziere rannten hastig über den Kasernenhof. Oben vom Krankenrevier kam ungewöhnlich schnell der Sanitätskraftwagen gefahren. Klosch kam kopfschüttelnd ins Zimmer, legte seine Mütze ab, hing seinen Mantel an die Garderobe, stellte wie gewöhnlich seine Tasche an ihren Platz, schloss die Panzerschränke auf, schob mir die Kartenblätter hin, die ich für eine Bataillonsübung zusammenkleben sollte.

»Was ist denn da draußen los?«, fragte ich neugierig.

»Der Wachhabende hat sich am Kasernentor erschossen.«

»Eppers?«

»Ja, ich glaube er heißt Eppers.« Dann tippte er sich an die Stirn. »Wegen eines Mädchens.«

Meine Knie zitterten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl am Schreibtisch.

Vom Flur her kam ein durchdringender Frauenschrei: »Nein!« Eine Tür wurde aufgeschlagen. Schnelle Frauenschritte waren zu hören. Der Schrei riss mich von meinem Stuhl hoch. Ich öffnete die Tür, sah Martina den langen Kasernenflur entlang rennen. Carola rannte hinter Martina her, rief immer wieder laut und ängstlich: »Martina, Martina.« Carola verlor ihren rechten Schuh, schleuderte den linken gegen die Wand, lief auf Strümpfen weiter, holte Martina ein. Beide verschwanden sie hinter der Tür der Damentoilette.

Nach einer Weile kam Carola zu uns in die Ausgabestelle. Sie lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen, legte ihren Kopf zurück, schloss die Augen, öffnete sie wieder. »Johann«, sagte sie, »Martina ist schwanger.«

Klosch horchte auf, weil Carola mich beim Vornamen nannte.

Ich suchte wieder meinen Stuhl: »Von Eppers?«

Carola nickte. Über ihr Gesicht rannen Tränen. Sie holte ein Taschentuch hervor, begann sich die Augen trocken zu reiben, schluchzte. Sie verließ das Zimmer wieder.

Ich wollte beginnen an den Kartenblättern die Ränder zu beschneiden. Doch meine Hände zitterten. »Stabsfeldwebel«, sagte ich. »Ich muss noch einmal auf die Unterkunft. Ich habe meine Essenmarken noch im Spind.«

Klosch sah von seinem Tisch auf, betrachtete mich eine Weile, nickte dann, hob drohend seinen rechten Zeigefinger. »Aber mach keine Scheiße.«

Ich lief über den Kasernenhof zur Unterkunftsbaracke. Die Sonne überflutete an diesem Tag bereits ungewöhnlich hell die Kasernenanlage. Die Luft war für einen Tag mild und es roch nach regennasser Erde. Im Zimmer setzte ich mich auf Eppers Stuhl, starrte auf sein Bett. Auf dem Kopfkissen lag noch das Buch, in dem er immer gelesen hatte. Draußen auf dem Flur hörte ich den Schreiber gehen, die angekommenen Briefe zu verteilen. Er erschrak, als er mich am Tisch sitzen sah, drehte unschlüssig einen rosaroten Brief in den Händen.

»Gib her«, sagte ich. »Ich schicke ihn zurück.«

Als der Schreiber wieder die Tür geschlossen hatte knickte ich den Brief zusammen, schob ihn in meine linke Brusttasche. Ich wusste, ich würde diesen Brief nie zurückschicken oder lesen.

Johannes Schaller – eine andere Biografie

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