Читать книгу DIE MORITAT VOM DRACHEN GARGANTOFF - Gerd Schuster - Страница 3
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Unsinnsgedichte: Quatsch mit Soße oder, trotz des Namens, Sinn im Überfluss? Eine kurze Einführung über eine ganz besondere Sparte der Lyrik.
Eine literarische Konsumempfehlung ist der Kategorie-Name »Unsinns-Gedichte« nun wirklich nicht. Der Leser des Begriffs bringt ihn vielmehr unwillkürlich in Zusammenhang mit plumpen Reimen, holprigem Versmaß und abstrusen oder sinnentleerten Inhalten - kurz Eigenschaften, die unseren Dichterfürsten Goethe dazu bringen würden, in seiner hochherrschaftlichen Gruft zu rotieren.
Mit Schuld an dieser Fehleinschätzung ist ein Übersetzungsfehler, dessen man sich schuldig macht, wenn man »Unsinns-Gedichte« für die Entsprechung von »Nonsense Poems« hält: Das englische Nonsense ist jedoch ein weitaus weniger drakonischer Begriff als das deutsche Unsinn, denn es hat Sinn für Humor und lässt auf liberalen Spielwiesen allerlei Skurriles, Schräges und Groteskes gedeihen, statt – wie seine fast ausschließlich verwendete vermeintliche deutsche Entsprechung – alles derartige zu diffamieren.
Was tut ein Übersetzer, wenn er für eine zu übertragende Vokabel in der Zielsprache kein deckungsgleiches Wort findet? Er nimmt eines, das einigermaßen passt!
Wollte man auf derartige Kompromisse verzichten, würde der Übersetzerei, die an skandalösen Hungerhonoraren und einer schleichenden Unterwanderung durch Stümper leidet, der Boden entzogen.
Ich habe mir viel Zeit genommen, weitaus mehr, als ein Übersetzer, der die Wahl hat zwischen Hungern und Hudeln, sich leisten könnte. Frucht des Grübelns ist die Erkenntnis, dass »Nonsense-Gedicht« die optimale deutsche Entsprechung von »Nonsense Poem« ist.
Klammern wir diese Übertragungsprobleme einmal aus, indem wir auf der »sicheren« englischen Seite verweilen. Hier werden wir früher oder später mit der Nase auf das Gedicht »Jabberwocky« von Lewis Carroll gestoßen. Es ist Urmutter und Leitstern der schrägen Reimerei – und bis auf zwei kurze Halbsätze – Warnungen vor den Zähnen und Pranken des Untiers Jabberwocky – völlig unverständlich, da seine Wörter zwar englisch aussehen und englisch klingen, aber mit Ausnahme der Artikel und Bindewörter kein Englisch sind.
»Jabberwocky« wurde anno 1871 in dem Buch »Alice behind the Looking Glass« veröffentlicht und ist bis heute hochaktuell, wie ein kurzer Blick in Google belegt. »Alice hinter dem Spiegel«, so der deutsche Titel des schrägen Werks, war eine Art Fortsetzung von »Alice in Wonderland«. Der Autor – er hieß mit bürgerlichem Namen Charles L. Dobgson und wirkte als Mathematik-Professor an einem edlen Oxforder College – musste den späteren Weltbest- und Superdauerseller auf eigene Kosten drucken lassen, weil kein einziger Verlag dessen Potential erkannte.
Um einen Hauch von Ordnung in diese anarchische und ungebärdige Gedichtgattung zu zwingen, kann man die Nonsense Poems in zwei Kategorien mit jeweils zwei Klassen einteilen:
Zu Kategorie I) Stücke ohne Veränderung der Sprache gehören erstens lustige Ulkgedichte a la Heinz Erhard und zweitens genialische, sprachlich feinst geschliffene, oftmals düstere Lyrik a la Christian Morgenstern.
Kategorie II) Stücke mit Veränderung der Sprache, beinhaltet erstens Gedichte mit geringer bis mäßiger Modifikation beziehungsweise, zweitens mit starker oder völliger Veränderung der Sprache. Meine Moritat »Die Abenteuer des Drachen Gargantoff« gehört in die weniger schwierige erste Gruppe, während »Jabberwocky« zu Klasse zwei zählt.
Bei den Poemen dieser Machart ist fast alles anders. Ihren Wörtern sind keine festgelegten Bedeutungen zugeordnet, die – wie im Beispiel »Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar ...«- kinderleichten Konsum quasi ohne Eigenleistung ermöglichen. Stattdessen wird dem wagemutigen Leser von Nonsense Poems auferlegt, nachzuvollziehen, was der Schöpfer des Gedichtes vor dem poetischen inneren Auge hatte, als er ein bestimmtes Neu-Wort kreierte.
So kommt es, dass der vorher relativ unwichtige, beziehungsweise total im Schatten des Sinngehalts stehende Wortklang zur bestimmenden Größe wird.
Schaffen und verstehen des neuen Lyrik-Lingos wird dadurch erleichtert, dass viele Worte unserer Sprache einen fest »imprägnierten« Vorgeschmack ihrer Bedeutung besitzen. Beispielsweise ist schon vom Klang her sonnenklar, dass die Wörter Blauwal, oder Rhinozeros im weitesten Sinne für große Gegenstände stehen, während Distelfink und Kolibri kleine Dinge bezeichnen.
Andere Vokabeln sind neutral wie Lego-Bausteine und verraten nichts. Beispiele sind »Baum« oder »Stamm«. Ihnen muss der Autor mit einer Portion lautmalerischer Würze Profil verleihen.
Während ich an meinem Katzenkrimi »Der Professor mit dem Katzenfell« arbeitete, stieß ich zufällig wieder auf »Jabberwocky«. Da ich die Persönlichkeit meines Protagonisten, des ein wenig weltfremden und unangepassten Historikers Professor Sebastian Schlichtkohl, noch ein wenig abrunden musste, beschloss ich, ihn zum leidenschaftlichen Schmied von »Unsinns-Gedichten« zu machen. Um sein Hirn fit zu halten, dichtet der mega-multilinguale Gelehrte ein mittelalterliches Ritterepos – im Kopf, ohne etwas aufzuschreiben und obendrein in einer Art dramatisch knarrenden, konsonantenschweren Landsknecht-Deutsch, das er während des Verseschmiedens erfindet.
Das war, wie ich feststellen musste, tatsächlich eine Aufgabe für einen Gelehrten. Zusätzlich machte ich es mir selber schwer: In fast fünfzig Jahren Journalismus hatte ich nämlich verinnerlicht, dass es wenig Sinn machte, etwas zu verfassen, bei dem die Leser nur Bahnhof verstanden. Also verwarf ich mehrere Anfänge, die fast so kryptisch waren wie bei Lewis Carroll, zugunsten einfacherer Kost. Graue Haare machten auch die Reime: Nicht selten hatte ich – endlich! – ein mustergültiges Pärchen gefunden, als mir aufging, dass ich mich in der falschen Sprache – Normal-Deutsch – bewegte.
Ich musste also die neue Sprache nicht nur entwickeln und lernen; ich stellte bald fest, dass ich nur dann Fortschritte beim Versezimmern machte, wenn ich mich dem Alt-Sprech exklusiv widmete und das Idiom der Drachen, Ritter und Raben nicht durch Parallelarbeit in modernem Deutsch in seiner Entwicklung störte.
Als der Krimi fertig war und mit ihm die ersten drei Lieder der Gargantoff-Moritat, geriet das Dichten etwas ins Stocken. Die folgenden Verse waren für die weiteren Romane der geplanten kleinen Katzenkrimi-Serie gedacht; aber die Verlage, denen mein Agent oder ich das Buch anboten, hielten es nicht einmal für angezeigt, zu antworten, und dieses schäbige Verhalten löste bei mir nicht gerade Kreativitätsstürme aus.
Erst nach ein paar Monaten Pause - und viel Lob für den Krimi aus dem Bekanntenkreis - raffte ich mich auf und trieb die Moritat von Gargantoff, dem Knappen Kunibert und dem ebenso tatkräftigen wie schönen Edelfräulein Adelgund aus Burgund voran – auch ohne Romane. Eine Geschichte unfertig aufzugeben, das war noch nie mein Fall gewesen.
Schließlich übernahm die Moritat das Kommando und trieb mich mit ihrer siebenschwänzigen Sklavenpeitsche voran, die den meisten Schreibern wohlbekannt ist. Wochen gingen ins Land, während sich die Handlung bunt, witzig und spannend oft ganz ohne mein Zutun weiterentwickelte und mir neue Wörter der Rittersprache zuflogen. Als das Opus – endlich! - beendet war, umfasste es dreizehn Lieder und einen zweiteiligen Epilog –zusammen einhundertundfünf Strophen!
Mit Herzklopfen schritt ich zum Test der Verständlichkeit. Würden die Probeleser mein Neu-Sprech verdauen können?Obwohl bei einigen der Versuchskaninchen beim ersten Blick auf den Text Sorgenfalten auf der Stirn wucherten, waren spätestens beim zweiten Lesen alle, oder fast alle, Unklarheiten ausgeräumt. Zu meiner Verblüffung waren einige Probanden regelrecht beglückt, das »Ausländisch« so gut verstanden zu haben, ohne dass sie Vokabeln oder Grammatik bimsen mussten.
Ich könnte eine komplette Vortragsreihe über Nonsense Poems verfassen; ganz besonders, wenn ich mich auf die begnadeten Gedichte Christian Morgensterns stürzen würde – das Kleinod von dem Werwolf etwa, der nachts einen Dorfschullehrer aus dem Grab bittet, der seinen Namen deklinieren soll, oder das vom Nachtwindhund, der »weint wie ein Kind, dieweil sein Fell von Regen rinnt«. Was den Gehalt an echtem »Sinn« betrifft, so muss sich kein Morgenstern-Poem etwa vor Schillers »eherner, scheinbar unvergänglicher Glocke« verstecken!
Und was die Form angeht, so geht Morgenstern meiner Meinung nach ungleich souveräner und eleganter mit der Sprache um als der schwäbische Verseschmied.