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Hochzeitsreise nach Riva
ОглавлениеDas Weihnachtsfest wurde in unserer Familie immer groß gefeiert. Am Christtag. Im Hause der Bouviers, der Tante Erika und ihrer Tochter Elise, Cousine Elise. Zwischen ihr und mir gab es da Dinge, die man nicht preisgibt, nur dass anstatt meiner Eltern Elise die Aufklärungsarbeit übernommen hatte, allumfassend, in einer Badekabine eines Kärntner Sees. Wir waren beide ١٤. Das lag nun schon ein Vierteljahrhundert zurück, aber immer dann, wenn wir aufeinandertrafen, schwang das unausgesprochen mit. Der seidene Faden, der uns seit damals verband, war all die Jahre nicht gerissen.
Aus dem Mädel Elise war im Laufe der Jahre eine nicht nur hübsche, sondern auch faszinierende Frau geworden. Das Aussehen? Ich verglich sie mit Fanny Ardant aus dem Film Die Frau nebenan mit Gerard Depardieu. Schönes schwarzes Haar, grüne Augen.
Elise bekam in jedem Jahr, sofern ich nicht berufsbedingt im Ausland gewesen war, ein ungleich größeres Geschenk von mir als die anderen. Diesmal war es eine Anstecknadel mit einer kleinen Perle, die ich beim Verspeisen einer Miesmuschel im südlichen Istrien, in Medulin, im Mund gespürt hatte. Im ersten Augenblick hatte ich an den Verlust eines Zahnstückes gedacht. Schenk sie mir, hatte mich meine Begleitung damals gebeten, ich hatte sie aber schon an das andere Ende des Seidenfadens geknüpft.
Von Elise bekam ich in diesem Jahr ein in blassblaues Seidenpapier eingewickeltes Büchlein. Eines mit Geschichte, flüsterte sie mir zu. Vorsichtig entfernte ich die Verpackung. Hochzeitsreise nach Riva.
Ich kenne Riva. Riva del Garda. Mich hatte einmal eine Reise mit Sportfreunden an den Gardasee geführt. Und ich erinnere mich an malerische Seepromenaden und Restaurants in Riva, Saló und Torri del Benaco. Mir fiel sogleich die herrliche Bebilderung des Büchleins auf. In Riva gekauft?, fragte ich Elise. Sie schüttelte den Kopf. In einer Stunde sind die Alten erschöpft, dann ziehen wir uns in das obere Geschoß zurück, dann erfährst du alles, sagte sie.
Dann rauchten wir beide auf dem Balkon eine Zigarette. Du bist verliebt, sagte ich. Und Elise nickte. Sie holte eine Flasche Rotwein aus dem Keller und schnappte sich zwei Gläser, wir ließen uns auf der großen Couch, die immer schon am Ende des Ganges im ersten Stock gestanden hatte, nieder und Elise erzählte.
Eigentlich hatte alles am 5. September begonnen. Eine Woche Urlaub war schwer erkämpft worden und sie stellte sich die Frage: Wohin? Riva fiel ihr ein. Da war sie damals mit Franz gewesen. Auch die Wettervorhersage für den Gardasee war günstig. Vaduz – Riva, das müsste in drei, vier Stunden machbar sein – es wurden doch sechs.
Dann war sie also in Riva. Damals war es eine Privatunterkunft, erzählte sie, kein Hotel, das sei intimer hatte Franz gemeint. Es war ihr egal. Sie waren verliebt und sie erinnerte sich daran, dass sie mehr Zeit im Bett als am Strand verbracht hatten. Vor Franz waren zwar andere Männer da gewesen, aber er war zu Beginn ihrer Verbindung etwas Besonderes.
Ich nickte bei dieser Schilderung, fand aber, dass Franz diese mich nur an ein Sahnetortenstück erinnernde Auszeichnung nicht verdiente.
Das empfohlene Hotel in Riva nun sei ein kleines Schmuckstück gewesen. Nur acht Zimmer, ein schöner Salon, ein Leseraum, eine liebenswerte Hotelinhaberin, Signora Carla.
Anders als mit Franz habe sie sich der Stadt Riva genähert. Riva, die Schöne, wird sie genannt. Dass Kafka hier war und die Manns hatte sie in einem Prospekt gelesen. Und es sei ihr dazu diese Kurzgeschichte, die sie in der Schule gelesen habe, von Heinrich Mann, Jungfrauen, Clair und Ada, eingefallen. Und damals habe sie sich vorgenommen, falls sie zwei Mädchen bekommen sollte, sie so zu nennen.
Und sie erinnerte sich auch daran, dass ihr Chef regelmäßig mit seiner Frau hier Urlaub machte. Kurzurlaube, habe sie im Gespräch mit ihm eingewandt. Er habe genickt und gelacht. Liechtensteinische Stiftungen würden, das wisse sie, keine längeren Abwesenheiten erlauben. Und davon leben wir ja, ergänzte er. Ja, das wusste sie nur zu genau. Zu Hause, bei Mama, erwähnte sie, wenn diese nach ihrer Tätigkeit fragte, nur, dass sie bei einem Anwalt in Liechtenstein arbeite. Auch mir gegenüber hatte sie Details ihrer Arbeit stets ausgelassen. Sie vermied den Ausdruck Treuhänder, der hatte einen schlechten Ruf bekommen. Jeder einigermaßen Belesene wusste von Geldwäsche und Steuerflucht in Millionenhöhe. Aber damit hatte die Kanzlei, schon wegen der Seriosität ihres Chefs, nichts zu tun, wie sie im Gespräch ergänzte.
Obwohl natürlich, das hatte sie zwischenzeitlich erfahren, gerade bei den Reichen und Superreichen immer wieder Stifter und Begünstigte dabei waren, auf die Begriffe wie Kauz oder Spinner zutrafen. Ihr fiel dieser Erwin Hämmerle, Stifter der E.H. Stiftung ein. Zig Millionen vom Vater geerbt und die ersten zehn Millionen an Anwälte, korrupte Kunsthändler und kurzfriste Bekanntschaften aus dem Osten verloren, an Ivankas und Rezas. Und wenn Erwin nach Vaduz kam, dann habe er sie charmant mit Handkuss begrüßt und ihr einmal von seinem jüngst abgeschlossenen Kauf eines Fahrzeugs mit Flügeltüren erzählt. Ein anderes Mal musste sie ihn in Velden am Wörthersee, dort hatte er sich eine Seevilla gekauft – nein, vielmehr hatte er die Stiftung dazu veranlasst, diese zu kaufen und an ihn zu vermieten –, auslösen. Ja, auslösen, betonte sie. Er war mit 220 kmh über die Wörtherseeautobahn gerast und dann den Führerschein los. Elise, bitte kommen Sie, bringen Sie viel Geld mit und bringen Sie uns nach Wien. 1000 Euro, die er ihr zustecken wollte, habe sie abgelehnt. Erwin war – wie erwähnt – nur einer. Wenn ihr jemand beim Jusstudium in Wien gesagt hätte, dass es neben der juristischen Seite auch noch das Absurde, das Unglaubliche, das Verrückte gibt, hätte sie ihn ausgelacht. Später habe sie einen ihrer Professoren getroffen und angeregt, nicht nur die Norm, auch die Abweichungen davon zu lehren.
Beim nachmittäglichen Glas Wein an der Promenade in Riva habe sie an Franz gedacht. An ihren Franz.
Ich nickte und nahm einen größeren Schluck Wein. Franz, der Schweizer, ich war auf eine besondere Art auf ihn eifersüchtig. Er war ihr beim Skifahren in Lech am Arlberg über den Weg gelaufen. Dr. Franz Brunner, der Volkswirtschaft in Zürich oder St. Gallen studiert hatte und dann in diese Versicherungs-AG eingetreten war. Groß, sportlich, braun gebrannt. Wie sie damals meinte: ein Glückstreffer. Wie lange war das jetzt her? Mindestens fünf Jahre. Aber dann war es ja aus und ich war fast ein wenig erleichtert.
Das Ende war ja doch überraschend, gab es nie Anzeichen davor?, fragte ich Elise.
Da war der letzte Urlaub mit Franz, und dabei strich sie sich mit beiden Händen durchs Haar. Zuerst wollte er nach Zürich, zwei Tage, er habe seine Eltern doch etwas vernachlässigt. Ihr sei das neu gewesen, er war doch regelmäßig zur Niederlassung nach Basel gefahren und dann eine Nacht länger ausgeblieben, er schaue noch bei seinen Eltern vorbei. Gut, dachte sie, zwei Tage bei seinen beiden Alten, nette, einfache Leute, die sie ins Herz geschlossen hatten.
Dann aber, so hatten sie es vereinbart, auch einige Tage zur Mama nach Wien. Sie hatte es sich so sehr gewünscht. Diesmal aber nicht alleine, mit Franz, hatte sie ausdrücklich betont. Dr. Brunner, meine Tochter ist mit ihm, dem Dr. Brunner, verlobt. Direktor einer großen Züricher Versicherung – was nicht stimmte, er war damals stellvertretender Gebietsleiter. Charmant wie ein Wiener, betonte sie oft, vielleicht spielte auch der kleine Geschenkkarton mit einigen Tafeln Lindt-Schokolade, die er ihr immer aus Zürich mitbrachte, in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Franz war nun bei diesem letzten Wienaufenthalt unruhig, nervös, schlecht gelaunt. Was solle er da. Dabei hatte sich meine Mutter ein ganz nettes Programm für sie ausgedacht. Am ersten Abend auf den Kahlenberg, mit dieser herrlichen Aussicht auf Wien, die Nacht war sternenklar. Wir beide haben es jedenfalls sehr genossen. Dann einen Tag nach Retz, in die Weinberge, zum Heurigen, das hatte Herr Dr. Brunner immer so gemocht.
Diesmal wollte Franz nicht mit. Gut. Und am Abend, nachdem wir beide angeheitert heimgekehrt waren, dieser Anruf.
Wer war es? Ich dachte an seine Gesellschaft, vielleicht war etwas passiert. Und dann seine überstürzte Abreise. Ohne Erklärung. Frag nicht.
Was hat er?, wollte Mutter wissen. Elise zuckte mit den Achseln und ihre Tränen waren nur der Anfang, die Ouvertüre, Auftakt zu einem Drama.
Dann war Franz telefonisch nicht mehr erreichbar. Zwei Tage später fuhr sie dann zurück nach Vaduz. Sie spürte, eigentlich wusste sie damals schon, dass da eine andere Frau im Spiel war. In letzter Zeit hatte er ihre Liebkosungen nur irritiert angenommen, vorgegeben, bei Fußballübertragungen eingeschlafen zu sein, und er war nicht mehr ins Schlafzimmer gekommen. Und bei der Frage: Wer war es?, wenn er einen Anruf wegdrückte, gab es keine oder eine unwirsche Antwort.
Dafür kam eine Woche später ein Brief. Es tue ihm leid.
Wer?, fragte sie sich. Es war die junge Blonde mit dem üppigen Busen. Seine Empfangsdame in der Filiale Basel. Gerade die, dachte sie sich, als sie es erfuhr. Einmal hatte sie Elise bei einer Veranstaltung, zu der sie Franz mitgenommen hatte, getroffen. Kindfrau, habe sie dabei gedacht. Weißes Rüschchenkleid mit großem Ausschnitt und ein Herzchen-Tattoo auf dem rechten Busen. Mein Gott, Franz, was hatten wir uns alles vorgenommen, dachte sie, die Kinder wollte man einmal nach England zur Ausbildung schicken. Hatte sie ihm zu wenig geboten? Gut, mit Busen- und Pogröße dieser Kindfrau konnte sie nicht mithalten. Vorbei. Ihr schien, dass damals ihre Tränen einen ganzen See hätten füllen können.
Sie wollte jedenfalls danach weg, zurück nach Wien. Ich lasse sie nicht gehen, Elise, sagte ihr Chef. Und nach einem langen Abend bei ihm zu Hause, an dem dann auch etwas mehr als üblich Alkohol floss, und der liebevollen Umarmung seiner Frau und ihren Tränen beim Abschied, bekam sie Sonderurlaub. Und ein Flugticket nach Paris.
Am Abreisetag befüllte sie noch einen Abfallsack mit den verbliebenen Sachen von Franz. Zahnbürste, Kamm, Parfum, sein Basenpulver. Das leise ausgesprochene Schwein folgte beim Entsorgen seiner Markenpullover und Maßhemden in einen Textilcontainer.
Im Hotel in Paris frühstückte sie am ersten Morgen mit einem Franzosen aus Honfleur. Jean, Kinderarzt, den seine Frau vor Kurzem verlassen hatte. Ein Typ, ganz anders als die Männer, die Elise kannte, näher gekannt hatte. Kein blonder Nordmann, nein, schwarzes Haar, nicht größer als 1,70 – ein Aznavour-Typ.
Den Kongressbesuch sagte Jean sogleich ab und sie bummelten durch Paris. Île de la cité, unten an der Seine entlang, Place de la Concorde, dann nach Montmartre und ein kleines Gebet für Mama in der Kathedrale, danach ein Kaffee in einem kleinen Bistro und zwei Gläser Pastis. In Paris wird die Wende in meinem Leben eingeläutet, sagte sie sich. Mit Jean noch heute ins Bett. Am besten gleich. Und er wollte. Jean. Der Kinderarzt aus Honfleur. Am nächsten Tag, erst gegen Mittag, standen sie auf. Jean schlug eine Busfahrt zum Eiffelturm vor. Sie nickte verträumt. Alles, was er vorschlug, akzeptierte sie. Kunst?, habe er gefragt und sie seine Frage bejaht. Er führte sie in den Louvre. Nach vielen Mona Lisas führte Jean sie ins Modemuseum und zu den Roben von Chanel, Dior und Cardin. Bis Elise ihn bat, sie nach Hause zu bringen. Nach wunderbaren, aber anstrengenden Nächten mit Jean war Kunst pur einfach zu viel. Am vorletzten Tag entführte sie Jean dann noch in den Jardin du Luxembourg. Jean schlug ihr im Schatten eines großen Baumes vor, mit ihm nach Honfleur zu kommen. Statt einer ablehnenden Antwort streichelte sie nur seine Hand.
Dann war diese Woche zu Ende. In Erinnerung blieb ihr seine Umarmung am letzten Tag, als sie beide nackt am Hotelfenster, diesem typischen französischen Fenster, standen und er ihr ins Ohr flüsterte: wunderbare Frau, auf Deutsch, aber mit diesem französischen Akzent, sanft und gleichzeitig rau gesprochen. Und Elise gestand mir, wenn sie an Jean denke, fallen ihr diese beiden Worte ein.
Von Jean hast du mir nie erzählt, warf ich ein und schenkte ihr nach. Sie lächelte und streichelte mich, indem sie mit dem Zeigefinger über meinen Unterarm fuhr.
Danach war sie fast geheilt. Und nach einigen Wochen begann sie die Anzeigen von Partnervermittlungen in der Zeit und der Süddeutschen zu lesen. Sie las von ganz tollen Männern. Arzt, Golfspieler, Jachtbesitzer, 60, jünger aussehend, schuldlos geschieden, Kinderwunsch kein Problem. Mit dem?, dachte sie. Nein, diesen Weg wollte sie nicht einschlagen. Und die Männer in Vaduz? Businessmänner. Sprechen selbst noch in den wenigen Bars vom Vermögen ihrer Stifter und den steuerfreien Ausschüttungen an die Begünstigten. Und haben höchstens einen Blick auf den Hintern der allzu jungen Kellnerinnen. Nicht ihr Fall, beschloss sie.
Nun zurück zu dieser Woche am Gardasee. Sie genoss die herrliche Nachmittagsstimmung des ersten Tages auf der Terrasse eines Cafés unten am See, was sie auch auf das nunmehr dritte Glas Wein zurückführte. Und sie bemerkte die Blicke der älteren Männer mit ihren weißen Sakkos, die ihre Bäuche nur schlecht verhüllten. Von Männern, denen sie verschwiegene Stiftungen in Liechtenstein zutraute, aber kein verschwiegenes Verhältnis mit ihr. Noch ein Glas zum Vergessen, dann ging sie nach Hause, sie hatte Franz endgültig hinuntergespült. In den See, dabei habe sie etwas zu laut gelacht.
Noch vor dem Abendessen packte sie ihren Koffer aus. Goethes Italienische Reise, dann einen Kirchhoff, der immer etwas vom Gardasee einbaut, einen Krimi, den ihr die Buchhändlerin empfohlen hatte, Pullover und Windjacke. Gardaseewetter. Die Worte ihres Chefs. Er hatte ihr auch Saló am Westufer empfohlen. In Riva müsse sie ins Ristorante Leon d’Oro. Falls Sie mögen, Risotto mit schwarzen Trüffeln der Norcia. Er war dabei ins Schwärmen gekommen. Und dass er am liebsten mitfahren würde. Verstehen Sie es bitte nicht falsch, hatte er ergänzt.
Am nächsten Tag regnete es, Nebel lag über dem See. Sie hatte Lust, sich im Leseraum zu entspannen. Dazu hüllte sie sich in ihre Gott sei Dank mitgebrachte Stola, die sie im letzten Herbst in Wien erstanden hatte, und ließ sich auf ein dunkelrotes Sofa neben der Stehlampe fallen. Die anderen Gäste akzeptierten im Laufe der Woche die Inbesitznahme. Wäre es schöner mit Franz?, fragte sie sich noch einmal angesichts des immer stärker werdenden Regens und der Sorge, sich zu langweilen. Sie verneinte, dachte an Jean aus Honfleur und dann vertiefte sie sich, um keine Traurigkeit aufkommen zu lassen, in den Kriminalroman. Er war schlecht geschrieben, unspannend, obwohl auf jeder Seite eine Leiche dazukam. Und den Kirchhoff? Später dachte sie.
Sie betrachtete den Raum. Blümchentapete an den freien Wänden, rundumlaufende indirekte Beleuchtung, dunkler Holzboden, Fischerbilder vom See. Ihr Blick fiel auf die Bibliothek. Man könne sich gerne etwas ausborgen, Signora Carla lächelte freundlich. Mit dem Finger tippte sie dann einen nach dem anderen Buchrücken an, so, als müsse jedes Exemplar rufen: nimm mich. Dann las sie: Hochzeitsreise nach Riva. Roter Einband, sie hob die Augenbrauen, entnahm das Buch aus dem Regal und las den Klappentext:
Rita und Erich, jung vermählt. Mit einem Roller an den Gardasee, 1960. Sie ließ sich mit dem Buch in ihr Sofa fallen und begann die Zusammenfassung zu lesen.
Rita, blond gelockt, lebenslustig und unbeschwert, Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, und Erich, junger Ingenieur, Pfeifenraucher und leidenschaftlicher Tänzer, einen Nichttänzer hätte Rita nie genommen. Der liebste Tanz: ein Tango.
Dabei fiel Elise dieser Satz ein, den ich ihr einmal bei einem Tanz ins Ohr geflüstert hatte: Tango sei das vertikale Vorspiel für das Horizontale. Ich erinnere mich an Zeit und Ort.
Also Rita und Erich auf der Hochzeitsreise. Von Salzburg, dort hatte man geheiratet und sich eine Nacht in der Blauen Gans geleistet, nach Riva. Mit kleinem Gepäck.
Elise lachte leise. Schade, habe sie gedacht, mit einem Liebhaber und geringem Gepäck, vielleicht mit einer Vespa an den Gardasee. Nicht auf der Autobahn. Auf Nebenstraßen, stehenbleiben, wo man will, an einem Bach, auf einer Passhöhe, sich in einem kleinen Ort ein Zimmer suchen, eine Polsterschlacht, sich hemmungslos lieben. Jean sei ihr dabei wieder eingefallen, ihr letzter Liebhaber. Und plötzlich war sie weit weg und eingeschlafen.
Vom Kaffeeduft war sie wachgeworden. Eine Tasse Kaffee stand neben ihrem Tischchen. Signora Carla lächelte sie an. Das Buch in ihren Händen, sagte sie, das lesen alle Gäste gerne. Eine süße Geschichte. Elise nickte.
Beim Weiterblättern fiel eine Visitenkarte heraus. Tillman Schneider. Elise dachte sofort an Tilman Riemenschneider, an diesen deutschen Bildschnitzer und Bildhauer. Eine Wiener Adresse. Signora Carla, die sich neben sie gesetzt hatte, nahm die Karte in die Hand. Ein netter Gast, sagte sie, groß, dunkelblond, höflich, noch nicht 50. Zwei Nächte, so weit sie sich erinnere. Auf der Durchreise nach Paris. Er habe seine Wiener Wohnung einem Ehepaar aus Paris überlassen und sie ihm dafür dort ihr Domizil. Das komme jetzt öfters vor. Und er, der Durchreisende, wollte lieber mit dem Auto fahren, er habe ihr auch gestanden, Flugangst zu haben. Dabei lächelte sie wieder. Und er habe sich für den Buchtipp bedankt. Und es fiel ihr ein, dass er mit einem dunkelblauen Saab Cabrio unterwegs gewesen sei.
Elise trank den Kaffee und sah dabei hinaus auf die Bäume im Garten, die sich im Wind bewegten. In einigen Wochen würde sie wieder in Wien sein, dann könnte sie ihn, diesen Tillman Schneider, anrufen. Tausche Wohnung in Vaduz mit ihrer in Wien. Für eine Woche oder zwei. Vielleicht würde sich der Glücksfall Jean wiederholen. Ein Mann, der eine so süße Liebesgeschichte wie die von Rita und Erich liest, Flugangst hat und mit einem betagten Cabrio fährt, der kann kein Macho sein. Der hat Gefühl. Und dazu noch groß und dunkelblond und höflich. Sie erinnerte sich an die Worte der Hotelbesitzerin. Diese Gedanken machten sie froh. Vielleicht mit diesem Tillman Schneider und seinem Cabrio statt mit dem Roller an den Gardasee? Etwas in ihr hatte Fahrt aufgenommen. Sie nahm sich vor, Signora Carla über diesen Tillman näher zu befragen.
Ich unterbrach Elise bei ihren Schilderungen und sprach sie auf den Namen Schneider an, ich hatte ihn vorher auf dem Buch gelesen.
Ich möge ihr bitte nicht vorgreifen, sagte Elise.
Beim Frühstück also ergab sich dann die Gelegenheit, Signora Carla zu fragen, was dieser Tillman Schneider beruflich mache.
Soweit sie sich erinnern könne, habe er von seiner Tätigkeit als Kinderbuchillustrator und Fotograf berichtet. Er habe einfach einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Vielleicht auch, weil sie die Österreicher liebe. Die Männer, ergänzte sie mit einem Augenzwinkern.
Um ihre Gedanken wieder zu beruhigen, las sie im Buch. Die beiden, Rita und Erich, 1960 mit einem Puch-Roller rund um den Gardasee. Das erste Mal in ihrem jungen Leben, sie 27, er 30, sie sehen Olivenbäume, Oleander, Pinien, Steineichen und Aleppokiefern, erfreuen sich am Lärm der Zikaden und genießen das Fremdländische, die Sprache, die Kellner, nicht einfach Eis, nein Gelato, nicht Liebe, sondern Amore.
Amore, wiederholte sie und dachte nach, wann sich die nächste Gelegenheit ergeben würde, diesen Tillman Schneider kennenzulernen. Irgendein Schriftstück war doch sicher von einem Stifter im Original zu unterfertigen oder irgendeine Transaktion müsste in den nächsten Wochen in Wien abzuwickeln sein. Dabei dachte sie an einen Stein, der, ins Wasser geworfen, viele Kreise zieht.
Der Spaziergang am nächsten Tag fiel kurz aus, es regnete ihr zu stark. Sie verkroch sich nach dem Essen wieder auf ihre Couch, trank schon am frühen Nachmittag ein Glas Rotwein und las in ihrem Buch.
Erich schlug Rita vor, für die letzten beiden Tage nach Venedig zu fahren. Rita fiel ihm um den Hals. Sie hatte sich nicht getraut, ihm das vorzuschlagen. Sie fanden ein kleines Zimmer in der Nähe der Kirche am Campo S. Angelo. In der Kirche warfen sie einige Lire in den Opferstock und zündeten zwei Kerzen an. Für wen?, fragten sie. Sie sahen sich an und dann beschlossen sie, jeder eine für den anderen. Und sie küssten sich vor dem Bildnis der Heiligen Maria.
Im Café am Campo San Polo tranken sie Kaffee. Ewig hier leben?, fragten sie sich. Und beide nickten. Rita zeigte dann in die Auslage eines Murano-Glasgeschäftes. Den kleinen blauen Fisch-Anstecker. Bitte! Und Erich erfüllte ihr den Wunsch. Und am Abend, bitte, sagte Rita, einmal Spaghetti vongole und dazu Vino biancho. Sie bummelten durch den Stadtteil Dorsoduro, Rita zeigte auf das Restaurant Ai Gondolieri. Glaubst du, dass wir uns das leisten können?, dabei sah sie Erich an.
Erich kramte in seiner Brieftasche und nickte.
Augenblicklich habe sie sich dann entschlossen, nach Venedig zu fahren, und auf den Spuren der beiden durch Venedig zu bummeln. Auch sie hatte noch zwei Tage Urlaub.
Sie überlegte, ob sie das Buch einfach mitnehmen sollte, das hieße stehlen. Sie entschied sich dagegen. Und fragte. Und bekam es in Seidenpapier eingewickelt mit. Wenn Sie diesen Tillman Schneider in Wien treffen, dann schreiben Sie mir, sagte Signora Carla. Sie dürfte eine lebenserfahrene Frau gewesen sein, die dieses von Elise anscheinend zu wenig unterdrückte Verlangen mitbekommen hatte.
In der Nähe des Campo San Angelo fand sie ein kleines Hotel. Sie öffnete die Balkontüren und sah hinunter auf eine der vielen Brücken, die über die Kanäle Venedigs führen. Da standen zwei, die sich umarmten, und sie dachte dabei an Erich und Rita. In einem Café am Campo San Polo trank sie einen Kaffee, nur abends fand sie im Stadtteil Dorsoduro nicht das Restaurant der beiden. Sie nahm in der Cantinone del Vino zwei Cicchetti zu sich – das hatte sie sich gemerkt. Und nahm Abschied von Venedig und Erich und Rita.
Vier Wochen später saß sie tatsächlich im Zug nach Wien. Und las noch einmal Hochzeitsreise nach Riva. Es hatte für sie die Wirkung einer Droge. In Wien angekommen rief sie diesen Tillman Schneider an und war überrascht, dass sie sich auf das Gespräch nicht besser vorbereitet hatte. Hallo, ja, in aller Kürze, es gehe auch um seine Wohnung in Wien, Wohnungstausch.
Dann seine Stimme. Die war anders als alle, die sie Männern zuordnen konnte. Nicht Heinz, nicht Georg, nicht Franz, am ehesten Jean, aber da verfälschte ja das Französische. Am ehesten diesen Schriftsteller Humbert Fink, sie war ein Fan von ihm, wenn er im Radio seine Reiseberichte las. Der hatte diese ruhige, bemerkenswerte Stimme.
Kurz also erwähnte sie noch Riva und dieses Buch über die Hochzeitsreise.
Ja, er erinnere sich. Er bedaure, aber er müsse zu einer Buchpräsentation. Er sei in Eile. Kommen Sie doch auch ins Café Landtmann, am Ring. In einer Stunde.
Eine Stunde, dachte sie. Nicht einmal noch ausgepackt hatte sie, war ungeduscht, innerlich aufgewühlt und äußerlich zerknittert. Mama, rief sie, du bist die beste Mutter der Welt, aber das Essen muss jetzt warten. Sie werde ihr später alles erklären, sagte sie, während sie in ihrem Koffer wühlte. Rock und Bluse, darüber den roten Blazer und die flachen Schwarzen? Das blaue Kleid von Bogner und die Perlenkette? Sie entschied sich für die dunkelgraue Hose und den hellgrauen Rollkragenpullover, aus Kaschmir, und die neuen Sneakers von Hogan.
Mama hatte sie dabei beobachtet. Und während sie sich in eine leichte Duftwolke hüllte, den Duft hatte sie sich in Paris gekauft, nein, Jean, hielt die Mutter ihr den Regenmantel und einen Schirm hin. Es regnet und unten wartet das Taxi. Und mach keine Dummheiten!, rief sie ihr ins Stiegenhaus nach. Sie sei 38, rief sie zurück, aber Mutter bleibt Mutter, diesen Satz formulierte Elise aber nur leise.
Der Taxifahrer, ein Armenier, wie er ihr erklärte, zeigte mit seiner Linken bei der Fahrt über den Ring auf die Gebäude. Naturhistorisches, Parlament, Rathaus. Sie habe stumm genickt. Eigentlich müsste sie ihm die Stadt erklären. Dabei sah sie ihn an. Vielleicht kommt er aus dem Dorf von Aznavour, dachte sie und stieg vor dem Landtmann aus. Au revoir, sagte sie, es war ihr einfach so herausgerutscht.
Sie saß mit zwei älteren Damen an einem der hinteren Tische im kleinen Salon. Vorne, etwas erhöht, ein kleiner Tisch, kein Mikro, eine Frau und ein dunkelblonder Mann mit Brille. Ihr wurde ganz heiß, sie zog nervös am Rollkragen ihres Pullovers. Seine Frau, seine Lebensgefährtin? Sie ärgerte sich, dass sie nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte. Fahrig setzte sie sich ihre Brille auf. Entwarnung, die war um einiges älter. Vielleicht seine Verlegerin, die Moderatorin, seine Lektorin? Ja, sagte sie sich, so sehen Deutschprofessorinnen am Ende ihrer Schullaufbahn aus.
Dann stand diese Frau auf, zuvor hatte sie die Zigarette ausgedrückt und einen Schluck Rotwein zu sich genommen, begrüßte die Gäste und begann über das nun schon siebente, nein, sie korrigierte sich, das achte Buch, das Tillman, auch da korrigierte sie sich, Tilli, illustriert habe, zu sprechen. Die Texte, ihre Texte, seien wie immer bei den gemeinsamen Büchern nur das Beiwerk. Jetzt stand er, Tillman Schneider, auf. Blödsinn, sagte er, ohne deine, ohne ihre Texte wäre er nicht in der Lage, auch nur eine Seite zu zeichnen. Ihre Texte, nein sie sei seine wahre Muse.
Dass er sie mit Françoise Gilot, Picassos Muse, vergleiche, ehre sie, aber das müsse sie, angesichts ihres Alters und Aussehens zurückweisen. Aber ja, schon beim Verfassen der Texte sei sie wahnsinnig gespannt darauf, was Tilli sich zeichnerisch dazu einfallen lasse. Er sei eben ein genialer Künstler und sie danke Gott, ihn als Partner für ihre Kinderbücher gefunden zu haben.
Elise atmete tief durch. Wenn nun doch schon das Ende der Veranstaltung wäre, sie würde sofort nach vorne gehen, dachte sie und korrigierte sich gleich. Nein. Sich als Letzte anstellen, da hätte er dann mehr Zeit. Und dann stand sie vor ihm. Sie sei die Frau aus Vaduz oder Riva, je nachdem. Und auch sie sei, wie er, von diesem Buch über die Hochzeitsreise nach Riva begeistert gewesen.
Er müsse ihr gestehen, dass er nahe daran gewesen war, dieses Buch einfach mitzunehmen und zu illustrieren. Im Stil der 50er-Jahre. Flatternde weite Damenröcke, große Strohhüte, Campari mit Trinkhalm, blauer Himmel, dunkle Berge, blauer See, weiße Segel, zwei Verliebte in einem Ruderboot, Lebenslust pur.
Dann schlug er ihr vor, sich morgen zum Kaffee bei ihm zu treffen, damit er ihr die Wohnung zeigen könne? Liechtensteinstraße, im Ersten. Ich sage das, weil Sie mir ja Ihre Wohnung in Vaduz angeboten haben. Dabei lachte er und verabschiedete sich.
Gleich in seine Wohnung?, fragte ihre Mutter dann zu Hause. Ist der Mann seriös?
Es sei ihr wichtig. Und sie versprach ihr, danach gleich anzurufen.
Am nächsten Tag war sie wie vereinbart um 10 Uhr dort. Eine ältere Frau erwartete sie. Herr Schneider musste zu einem Interview, überraschend. Aber sie könne sich in seiner Wohnung gerne alleine umsehen. Wenn Sie fertig sind, läuten Sie bei mir im Mezzanin, König.
Sie bedauerte es, ihn, Till oder Tilli, nicht persönlich angetroffen zu haben. So aber hatte sie die Chance, sein Umfeld näher kennenzulernen. Sie sah sich also um. Zuerst im Badezimmer, keine Utensilien einer Frau.
Typisch Frau, warf ich ein und schenkte vom Rotwein nach.
Dann das Schlafzimmer, Doppelbett mit einer Decke, Schreibtisch, kein eingerahmtes Frauenbild. Auf einem großen Esstisch lagen einige Bücher, vermutlich wollte er ihr die zeigen. Sie blätterte darin. Tomi Ungerer fiel ihr ein. Die drei Räuber und der Mondmann und Zeraldas Riese.
Und der Nebelmann, ergänzte ich.
Und dann war ihr eingefallen, dass sie früher einmal, vor 15 oder 20 Jahren, für unsere beiden Neffen, Bodo und Lorenz, die Kinder von Onkel Bruno, eine Kindergeschichte geschrieben hatte. Und sie setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und schloss die Augen. Wenn da nun etwas wird, mit diesem Till, und sie mit ihren 38 oder 39 noch ein Kind bekommen würde, und er für dieses gemeinsame Kind … Dann unterbrach sie ihre Gedanken. Ich spinne, sagte sie sich, ich kenne den Mann gerade einmal seit einem Tag für ein paar Minuten.
Was aber sollte sie nun mit diesem Buch Hochzeitsreise nach Riva, das noch immer ins selbe Seidenpapier eingewickelt war, tun? Sie legte es auf den Schreibtisch und schrieb auf einen Notizblock ihren Namen und ihre Telefonnummer. Dann habe sie die Wohnung verlassen, habe den Schlüssel abgegeben und sei nach Hause gegangen.
Dann der erwartete Anruf. Schneider. Sie war überrascht, sie hatte nicht mit einem raschen Rückruf gerechnet. Er würde das Angebot eines Wohnungstausches Wien gegen Vaduz gerne annehmen. Er habe noch etwas fertigzustellen, das brauche Zeit, ehrlich gesagt, habe er damit noch gar nicht angefangen, aber die Idee sei gut, sehr gut sogar, er würde es ihr gerne mitbringen, quasi zu einer privaten Buchpräsentation. Und dass er sie gerne nochmals treffen würde, solange sie noch in Wien sei. Vielleicht könne Elise, als Juristin, das habe er herausgefunden, mehr über die Autorin des von ihnen beiden so geliebten Buches erfahren, ob es da noch Verlagsrechte gebe und so weiter. Er würde nämlich gerne eine kleine Auflage drucken lassen und an Freunde und Bekannte verschenken.
Morgen oder übermorgen?, frage sie.
Morgen, die Antwort kam schnell. Im Schwarzen Kameel. Um 11.
Elise war schon eine Viertelstunde vorher dort, diesmal hatte sie das blaue Kleid von Bogner gewählt und ein weißes Tüchlein um den Hals gebunden. Dabei hatte sie lange darüber nachgedacht. Weiße Fahne hieße doch, die Festung aufgeben. Sie lachte still.
Wieder waren da die Blicke der älteren Herren, meine fiktiven Stifter, sinnierte sie. Geldmenschen. Und es fielen ihr die Drei Räuber ein. Auch Schneider kam ein paar Minuten zu früh. Lässig einen Pulli um die Schulter gehängt. Sie begann damit, dass sie ihm ein Kompliment zum gelungenen Kinderbuch, das er vorgestern präsentiert hatte, machte. Und auch, dass ihr die Wohnung, seine Wohnung, zusage. Sie wohne derzeit bei ihrer Mutter, da sei sie aber nicht so ungebunden.
Er lächelte.
Meinte er, wegen eines Männerbesuchs? Sie wollte das klarstellen, unterließ es aber. Dann sahen sie sich beide an. Können wir uns duzen?, fragte er. Sie nickte. Sie hätte ihn gerne auf die Wange geküsst, auch auf seine unrasierte.
Er habe, das habe er ja gestern schon kurz angedeutet, eine grandiose Idee, die hänge auch mit ihr zusammen. Und noch nie habe er so früh, am Beginn eines Projektes, an das Finale gedacht.
Eine neue Muse?, fragte sie Till. Er schwieg vorerst. Dann kam ein zögerliches Ja – vielleicht. Jedenfalls würde er sie bitten, das mit der Autorin und den Verlagsrechten abzuklären.
Dann kam man auf Paris zu sprechen und sie erzählte ihm, dass sie einmal für eine Woche dort gewesen sei. Ob sie allein gewesen sei. Die Frage erheiterte sie. Also ein Abtasten. Ein vorsichtiges Vordringen in Privates, erobern der Festung, die sie längst schon aufgegeben hatte.
Elise nickte, man könnte das später ja als Notlüge erklären.
Und du?, fragte sie. Auch er nickte. Es sei für ihn eher ein Arbeitsurlaub gewesen, er habe Galerien und Museen besucht, sich ein Konzert angehört und einfach Eindrücke gesammelt. Und sich die Tomi Ungerer-Ausstellung angesehen. Und sie zählte all die Bücher auf, die sie von Ungerer gelesen oder vorgelesen bekommen hatte.
Am liebsten seien ihm Die drei Räuber, sagte er. Zuerst hatten sie unter seinem Kinderkopfpolster gelegen und dann seine Berufsentscheidung beeinflusst.
Hast du Kinder?, fragte Schneider dann.
Nein. Es habe sich noch nicht ergeben, sagte sie und sah ihn dabei an.
Und du? Elise hatte ein wenig Angst vor der Antwort. Vielleicht eine Frau und vier Kinder, irgendwo auf der Welt.
Es habe sich noch nicht ergeben, antwortete er und lächelte sie dabei an. Dann verschränkten sich die Erzählungen ihrer Lebensläufe ineinander. Und natürlich ließ sie das eine oder andere, den einen oder andern, dabei aus. Nach drei Stunden Brötchen, Kuchen, Kaffee und einigen Gläschen Wein ging man auseinander. Mit drei Wangenküssen, sie hätte auch mehr vertragen.
Du bist heillos verknallt, damit habe sie ihre Mutter empfangen. Und sie habe gelacht und genickt.
In Vaduz angekommen recherchierte sie, wie sie es Till versprochen hatte. Die Autorin des Riva-Buches war verstorben, der Verlag existierte nicht mehr. Gut, sagte Till, dann machen wir eben eine kleine Auflage im Eigenverlag.
Ihre Telefonate häuften sich, die Ungeduld wurde größer. Ich arbeite wie ein Wahnsinniger, glaub mir, sagte Till. Ungeduld war das richtige Wort, fand Elise.
Dann war es soweit. Till stand am ersten Adventsamstagabend vor ihrer Wohnungstür, mit einem in Seidenpapier eingewickelten Buch – und einem kleinen Handkoffer. Er habe doch von einem Wohnungstausch gesprochen und überreichte ihr dabei seine Wohnungsschlüssel. Und weil Weihnachten vor der Tür stehe, habe er ihr etwas mitgebracht. Hochzeitsreise nach Riva, neu verlegt, illustriert von Tillman Schneider, für Elise.
Ich hatte beim Zuhören nicht bemerkt, dass ihr Tränen über ihre Wangen liefen.
Hochzeitsreise nach Riva?, fragte ich Elise.
Sie nickte. Hochzeitsreise nach Riva.