Читать книгу Der lange Arm meiner Mutter - Gerhard Gröner - Страница 3
Prolog
ОглавлениеLustlose Gleichgültigkeit langer Tage ohne fordernde Aufgabe hing prägend über diesem Abend. Der kleine Garten war längst angelegt, Beet für Beet akkurat eingeteilt und den Jahreszeiten zugeordnet. Das gelegentlich aufkommende Verlangen nach einer größeren Familie mit Kindern war Wunsch geblieben. Erlerntes berufliches Wissen, Routine und langjährige Berufserfahrung verhinderten jede Vorbereitung auf den nächsten Arbeitstag.
Vor der Tür, seit Stunden, ein alle Kleider durchdringender Nieselregen. Er unterband einen gemeinsamen Spaziergang.
Elvira und Frank Cramer saßen wie fast jeden Abend im Wohnzimmer. Nicht nebeneinander sondern mit weitem Abstand über Eck. Mitten auf dem Tisch, einer Mischung aus Esstisch und Couchtisch, lag in einer Edelstahlschale aufgereiht geschältes Gemüse. Daneben, links und rechts, muschelförmige Dipschalen aus weißem Porzellan.
Frank Cramer favorisierte Dip mit frisch gepresstem Knoblauch, dazu einem Hauch Chili. Seine Frau dippte in pure Joghurtsauce, schob ihre bunte Lesebrille zurecht und blätterte mit der linken Hand abwechselnd in Programmvorschau und Modejournal.
Links von Elvira Cramer stand in zartem japanischen Stil bemalt, ein klassisches Stövchen mit bauchiger Teekanne. In einer geflochtenen Bambusschale lag grober Kandiszucker aufgehäuft und davor duckte sich eine transparent wirkende Tasse im Stil der Kanne. Bedächtig rührte sie ihren schwarzen Tee in immergleichen Kreisen.
Der Schaum in Frank Cramer's Bierglas hatte sich bereits gesetzt.
Elvira Cramer beobachte aus den Augenwinkeln ihren Mann,
der sich in ein Magazin mit den neuesten Ergebnissen vom Sport vertieft hatte.
„Frank“, Elvira Cramer schaute über die Lesebrille und sagte fast belanglos, „du wackelst wieder mit dem Kopf. Bemerkst du das nicht? Dein Vater hatte gelegentlich auch so gesessen und mit dem Kopf gewackelt.“
Frank Cramer legte die Selleriestange zur Seite und klappte das Sportmagazin zu: „Mag sein. Elvira.“
Er sagte Elvira und nannte sie nicht wie üblich beim Kosenamen Elvi, „ich jedenfalls habe nichts bemerkt. Doch schau dich zuerst selbst an. Deine Mutter hatte immer und überall die Beine übereinander geschlagen. So sitzt nun auch du. Immer. Egal ob im Sessel, auf der Couch oder auf einem Stuhl, gleichgültig ob beim Lesen oder Essen.“
„Ist ja für andere Leute nicht wichtig, wie ich sitze. Für mich ist es eben bequem, so wie ich sitze.“
Frank Cramer legte nach: „Es ist nicht nur wie du sitzt, du hältst auch die Teetasse wie deine Mutter und spreizt genauso den kleinen Finger ab. Und deine Vorwürfe kommen genauso überfallartig wie die deiner Mutter, die ständig und überall deinen Vater rügte.“
„Frank“, Elvira Cramer schaute eine längere Kunstpause zur Decke und legte ihre Lesebrille auf den Tisch, „glaube mir, ich will dich nicht ärgern aber du wackelst wirklich mit dem Kopf. Ich möchte dir nur helfen. Wenn man etwas realisiert hat, kann man es leichter abstellen. Und nun reagierst auch du genau so grummelig wie dein Vater, wenn deine Mutter ihm helfen wollte.“
Missmutig schweigend schauten beide in ihre Leselektüren ohne diese zu lesen. Frank Cramer fragte sich kurz und ergebnislos, weshalb sie in den letzten Jahren oft über ähnliche Themen stritten.
Elvira Cramer legte die Programmzeitschrift zur Seite und vergrub ihre Händen in den Schoss. Sie dachte mit geschlossenen Augen an ihr über alle Ehejahre eisern gehütetes Geheimnis, der tief eingenisteten Angst, zu werden wie ihre Mutter.
Heimlich hatte sie im Internet recherchiert und sogar einen Namen für diese wohl weit verbreitete Angst von Frauen entdeckt: Matrophobie* nennen Wissenschaftler diesen aufgewühlten Seelenzustand.
Elvira Cramer nahm einen Schluck Tee und dachte, ich schaue in den Spiegel, entdecke meine Mutter darin und empfinde sogleich undefinierbare Schuld. Auch Traurigkeit, dass meine Augen, meine Haare, nein, mein ganzes Ich ihr ähnelt.
Gibt es denn Schuld, fragte sie sich weiter, wenn meine Gene über mich bestimmen? Mir vorgeben wie ich sitze, gehe, rede oder aussehe?
Frank Cramer unterbrach die Stille, ohne die gefährlich glitschige Schiene der Vorwürfe zu verlassen:
„Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu debattieren, warum ich die Marotten meines Vaters annehme, wenn du mit zunehmenden Alter eine volle Breitseite der kuriosen Angewohnheiten deiner Mutter abbekommst.“
Dann stand er auf, schob die Hände in die Hosentaschen und schaute durchs Fenster in die Weite. Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er in die Scheibe: „Findest du nicht, dass sich deine Vorwürfe unüberlegt und pauschal anhören?“
„Nein, mein lieber Schatz, das finde ich nicht. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Menschen sich verändern, jeder Mensch. Und gerade du hast in jungen Jahren immer betont: Ich will niemals werden wie mein Vater. Frank, hör zu, ich will dir nur helfen.“
„Was ist daran Hilfe wenn du mich ständig kritisierst. Es ist ja nicht das erste Mal. Gestern erst waren meine Socken zu kurz und meine Schienbeine behaart wie die meines Vaters. Mir wäre Ruhe am Feierabend wesentlich lieber als unergiebige Diskussionen über Ähnlichkeit mit meinem Vater.“
„Frank, beruhige dich. Ich möchte dich nicht kritisieren. Doch es ist nun mal so, du wackelst mit zunehmendem Alter, wenn du dich unbeobachtet wähnst, mit dem Kopf. Fühle in dich selbst und überlege, ob ich in diesem Fall, nur in diesem Fall, nicht recht habe.“
Frank Cramer legte seine Stirn in tiefe Falten. Er sprach weiter ins Fenster: „Ich sage dir was, Elvira, wenn du nicht mit einem Mann zusammen leben kannst der mal mit dem Kopf wackelt, dann müssen wir uns eben trennen.“
Nun stand auch Elvira Cramer auf: „Das ist unfair, sehr unfair sogar. Hast du dir diesen Satz überhaupt überlegt? Du solltest nicht gleich mit Scheidung drohen.“
„Aber du fingst doch mit diesem Blödsinn an. Mitten in einen entspannten Abend hast du Gift gesprüht: Genau wie dein Vater wackelst du mit dem Kopf. Ich fasse es nicht“, schimpfte Frank Cramer laut. Er stapfte, wild mit den Armen rudernd, aus dem Wohnzimmer und schlug wütend die Tür hinter sich zu.