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Erfolgsroman

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Astern, Rittersporn, Levkojen, Kornblumen, Tagetes, Chrysanthemen, Löwenmäulchen, Klatschmohn, Ringelblumen, Bechermalven, Veilchen, Kapuzinerkresse und Vergißmeinnicht: Ich schüttete alle Samenkörner zusammen, rührte sie durcheinander und verstreute sie dann auf dem Acker, den ich umgegraben hatte. Eine schöne bunte Blumenwiese sollte dort erblühen.

Auf der anderen Hälfte meines Gartenstücks hatte ich Rasen ausgesät. Die Halme sprossen schon.

2948 Schortens, Stadtteil Heidmühle, Margarethenweg 121: Irgendwann würde aus einer Gedenktafel hervorgehen, daß hier der Schriftsteller Martin Schlosser Wurzeln geschlagen hatte, als Mieter einer Vierzimmerwohnung im ersten Stock. Daß ich mir diese Bleibe mit zwei tamilischen Flüchtlingen hatte teilen müssen, nachdem ich von meiner Freundin sitzengelassen worden war, brauchte auf der Tafel nicht unbedingt draufzustehen. Das gehörte in den Fußnotenapparat, den meine Biographen anlegen würden.

In den Namensregistern kämen dann auch meine Vermieter vor: Antje und Frerk Ricklef. Und Rainer Dickhoff – der Gastwirt, in dessen Disco in Jever ich noch gelegentlich kellnerte. Und natürlich Oma Jever:

Emma Lüttjes (*1906) hatte das Glück, daß ihr Enkelsohn Martin Schlosser, nachdem er 1989 in ihre Nähe gezogen war, zweimal wöchentlich für sie einkaufen ging. Sie bewohnte damals als Witwe eine Dreizimmerwohnung im jeverschen Dannhalmsweg und mußte zwei schwere Schicksalsschläge verkraften: Im April 1989 hatte ihr ältester Enkelsohn Gustav Lüttjes sich das Leben genommen, und im November des gleichen Jahres war ihre älteste Tochter, Ingeborg Schlosser, Martin Schlossers Mutter, an Krebs gestorben. Trotzdem büßte Emma Lüttjes ihre Lebensfreude nicht vollständig ein. Sie hatte oft ihre anderen vier Töchter zu Besuch – Therese, Gisela, Luise und Dagmar –, und ihr Appetit war ungebrochen. Zu ihren Leibgerichten gehörten Smoortaal, Putengulasch, Labskaus und Granat. Während die hohe Qualität ihrer Kochkunst über jeden Zweifel erhaben bleibt, deutet die Quellenlage darauf hin, daß sie eine lausige Malefizspielerin war und ihren Enkel Martin nur ungefähr jedes dreißigste Mal schlagen konnte.

So würde es im Kürschner stehen. Oder im Munzinger-Archiv. Wo dann auch ein Eintrag über Papa fällig wäre:

Richard Schlosser (*1927), Vater von Martin Schlosser, brach nach dem Tod seiner Frau Ingeborg fast alle Kontakte zu seiner Familie ab und verschanzte sich in seinem Haus in der niedersächsischen Kleinstadt Meppen. Mit dem beruflichen Erfolg seiner Töchter, der Grundschullehrerin Renate und der NDR-Sekretärin Wiebke, konnte er zwar zufrieden sein, aber es ärgerte ihn, daß sein Sohn Volker für eine Softwarefirma arbeitete, ohne sein Maschinenbaustudium abgeschlossen zu haben, und daß sein zweiter Sohn Martin sein Germanistikstudium abgebrochen hatte und sich als freier Schriftsteller zu etablieren versuchte. »Der Leichtsinn, mit dem Du heute zu Werke gehst, wird Dir eines Tages heimgezahlt werden«, schrieb Richard Schlosser seinem Sohn im Januar 1990. »Nicht mehr von mir, sondern von der Gesellschaft, in der Du dann lebst. Gesundheit ist kein unvergänglich Gut. Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!«

Nachdem wir jeder eine große Portion Seelachs mit Pellkartoffeln und Gurkensalat verputzt hatten, las ich Oma in ihrem Eßzimmer wieder ein paar Seiten aus Walter Kempowskis Roman »Tadellöser & Wolff« vor. Das hatte sich so eingebürgert.

Wie Walters Bruder Robert da im Kinderzimmer das Bild von einer Bauernstube mit Hühnern abgehängt und stattdessen Porträts von Jazzgrößen angepinnt hatte:

Warum er das tue, fragte meine Mutter.

»Das will ich dir ganz genau sagen«, antwortete mein Bruder, »einzig und allein aus dem einfachen Grunde, weil wir uns das lange genug angekuckt haben. Da kriegt man ja ’n ganz verqueren Blick.«

Das begriff selbst Oma, die sonst aber treu an allem festhielt, was bei ihr seit dem Miozän an den Wänden hing: die Gemälde von Arthur Eden-Sillenstede, die kleine Trompete aus den Tagen des Weltkriegs, der Jahreskalender des Ostfriesland Magazins und das Holzdings mit der Aufschrift, über die Mama sich immer so aufgeregt hatte:

Ein guter Gast ist niemals Last!

Ich kümmerte mich dann um die Küche, während Oma ihren Mittagsschlaf hielt.

Tante Hanna hatte mir zweihundert Mark überwiesen. Aus lauter Liebe. Und ich brauchte jeden Pfennig, weil es mit der Zahlungsmoral des Hamburger Satiremagazins Kowalski, für das ich schrieb, nicht zum besten bestellt war. Hin und wieder kam ein Scheck hereingeflattert, aber nicht so regelmäßig, wie ich die Redaktion mit neuen Texten versorgte.

In einem den Äther verpestenden Schlager besangen zwei dicke Wonneproppen in Trachtenjankern ihre Unentschiedenheit zwischen Wein und Weib:

Herzilein, du mußt nicht traurig sein,

ich weiß, du bist nicht gern allein,

und schuld war doch nur der Wein …

Dafür hätten ihnen die Stimmbänder gekappt gehört.

Über seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg hatte der Schriftsteller Georg von der Vring in den zwanziger Jahren den Roman »Soldat Suhren« geschrieben, und zwar in Jever, wo er damals als Zeichenlehrer tätig gewesen war. Jetzt sollte der Roman neu aufgelegt werden, und weil Oma sich dafür interessierte, bestellte ich ihn bei Tolksdorf. Sonst las sie immer nur Bücher von Johannes Mario Simmel und Utta Danella und ähnlichen Schmus.

Da ich inzwischen der Künstlersozialkasse angehörte (an die ich monatlich 79,32 DM abführen mußte), brauchte ich nicht mehr so zu tun, als würde ich noch studieren. Ich fuhr nach Oldenburg und exmatrikulierte mich, und dann fuhr ich weiter nach Meppen und besuchte Papa im Krankenhaus Ludmillenstift. Eigentlich sollte dort nur sein gebrochener Arm behandelt werden, aber die Ärzte schienen Gefallen an Papa gefunden zu haben und wollten ihn gar nicht wieder hergeben.

»Und ist Post für mich gekommen?« fragte er.

»Nein. Bloß Reklamesendungen.«

In Marco Ferreris Verfilmung der Storys von Charles Bukowski zeigte Ornella Muti abends auf RTL plus ihre Brüste, ihr Hinterteil und ihre Muschi vor, was zwar hübsch aussah, aber schauspielkünstlerisch auch nicht mehr hermachte als die Stripteasenummern, mit denen Helmut Kohls geliebte Privatsender die geistig-moralische Wende herbeizuzwingen versuchten.

Die Lektüre der Meppener Tagespost glich einer Geisterbahnfahrt durch alle Schrecken der Provinz: »Blutzuckermeßgeräte vorgestellt«, »Müll brannte«, »Wochenmarkt verlegt«, »Sozialamt geschlossen«, »Frauengymnastik fällt aus«.

Say okay, I have had enough, what else can you show me?

Ich stattete Papa einen weiteren Besuch ab, bevor ich mich wieder nach Heidmühle aufmachte, mit seinem Jetta, an dessen Rückspiegel sich unten ein Schalter befand, mit dem sich der Spiegel so einstellen ließ, daß man dem Fahrer, der hinter einem fuhr, nicht in die Fresse zu kucken brauchte. Eine geniale Erfindung. Wenn mir irgendwas verhaßt war, dann die dämlichen Visagen der Autofahrer, denen ich nicht schnell genug fuhr.

Regnerisch war’s. Das richtige Wetter für einen Anfall von Liebeskummer. Es war mir immer noch schleierhaft, wieso Andrea sich von mir getrennt hatte. Nach fünf glücklichen Jahren. In tiefer Armut, zugegeben, aber jetzt stieg mein Glücksstern doch auf!

I can’t understand

She let go of my hand

An’ left me here facing the wall …

Und es war weit und breit kein Ersatz in Sicht für diese blöde Pute.

In dem Buch »Johannes«, dem zweiten Band seiner Autobiographie, kommentierte Horst Janssen Adolf Hitlers Ausspruch, daß die deutschen Jungen flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein müßten:

Da die Erben solcher Dümmlichkeit »eigentlich« heut dasselbe gerne vorsichhermurmeln (NOCH bei geschlossenen Lippen), »würde« ich denen sagen: »… und wie sieht sowas IM BETT aus? (Von mir verlangte man »zu meiner Zeit«: eher seidenzart-geschmeidig wie’ne Schnecke, ebenso glitschig wie langsam und zwischendurch mal sekundenzeigerflink, und dabei bestenfalls so hart wie ein 7 Tage abgelagerter welker Rettich – für DEN, der dafür steht).

Nicht so ganz der richtige Lesestoff, wenn man gerade vor Sehnsucht verging.

In der DDR war der Christdemokrat Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Der neue DDR-Außenminister Markus Meckel sah wie ein Strauchdieb aus, und als Minister »für Abrüstung und Verteidigung« diente der einstige Pazifist Rainer Eppelmann, der zu Vorwendezeiten demonstrativ ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet hatte. Nun amtierte er als Soldatenvater. Hatte der noch alle Latschen an der Kiefer?

Über Ostern kamen alle fünf Blums und auch Volker und Wiebke zu Besuch und schlugen ihr Matratzenlager bei mir auf. Da wurde es sofort so wuselig wie in der alten Fernsehserie 3 Mädchen und 3 Jungen. Die Kinder stellten alles auf den Kopf und hätten sogar meine Fotoalben zerfetzt, wenn ich nicht eingeschritten wäre.

Wiebke prunkte mit einer Frisur wie aus Miami, während Renate sich den gleichen herben Look wie die Sängerin Ina Deter zugelegt hatte. Bei Volker und Olaf fiel nur die fortschreitende Glatzenbildung auf.

In welchem Comic war das noch, wo Dagobert Duck seine ausgefallenen Federn betrachtete und sich Gedanken darüber machte, daß die Leute zu ihm sagen könnten, er müsse sich jetzt wohl mit dem Schwamm frisieren?

Volker hatte mir seinen alten Schaukelstuhl mitgebracht. Der paßte gut in mein Arbeitszimmer.

Im Sommer wollten sie alle Mann nach Italien fahren, verkündete Renate und rannte dann auf den Balkon, um Nantje von der Brüstung zu klauben.

Am Ostersonntag ging in Omas Wohnzimmer eine irre Eiersuche los, bei der die Kinder um ein Haar das Büfett zum Einsturz gebracht hätten.

Austoben konnten sie sich dann im Hallenwellenbad Hooksiel. Lisa tauchte durch die Wellen, während Julius von seinen Schwimmärmelchen über Wasser gehalten wurde und Nantje von einem riesigen Reifen mit Haltegriffen.

Schon niedlich, die Kinderchen, aber auch anstrengend. Und dann gleich drei von der Sorte!

Auf der Rückfahrt steckte Julius die Nase aus dem Fenster.

Van See her bruust de Wind in’t Land …

Das war mal was anderes als Bonn-Beuel.

Im Schloßgarten hätte ich gern eine Pfauenfeder für Nantje aufgetrieben, doch ich fand leider keine. Stattdessen kamen wieder die giftenden Höckergänse angeschossen, als sie sahen, daß wir die Enten mit Brot fütterten. Die quäkenden Höckergänse gehörten wahrlich nicht zu meinem gefiederten Freundeskreis. Welcher Dämel hatte diese Viecher überhaupt im Schloßgarten ausgesetzt?

Auf dem Friedhof erklärte Renate den Kindern am Ostermontag, wer wo begraben lag: Uropa Jever, Gustav und Oma Inge. Von den älteren Vorfahren wollten sie begreiflicherweise nichts wissen. Das hätte ich in ihrem Alter auch nicht gewollt, aber jetzt fand ich es schade, daß von den allermeisten nur die eingemeißelten Lebensdaten übrig waren und keine Briefe oder Tagebücher oder wenigstens der eine oder andere Terminkalender.

Julius blieb noch ein paar Tage bei mir. Ich sollte ihn dann in Oldenburg in den Zug nach Bonn setzen.

Als er das Halmaspielen satt hatte, nahm ich ihn in die Gemeindebücherei mit, wo er sich Bilderbücher aussuchen durfte. Eins davon las ich ihm vor. Es hieß »Erwin, das abenteuerlustige Erdferkel«. Darin verschlug es den Titelhelden ins Reich der Schweine, wo er wegen seines Aussehens ausgelacht wurde. Eines der Schweine begleitete ihn sodann ins Erdferkelreich und wurde ebenfalls ausgelacht, woraufhin Erwin die Erdferkel streng zur Ordnung rief: Niemand habe das Recht, ein Schwein wegen seines Aussehens zu beleidigen.

Da schwiegen die Erdferkel beschämt.

Und die Moral von der Geschicht:

Seit diesem Tag herrscht ein reger Schiffsverkehr zwischen den beiden Reichen. Mal kommen ein paar Erdferkel zu den rosaroten Schweinen auf Besuch, und mal segelt ein Schiff voll rosaroter Schweine über den Ozean zu den Erdferkeln. Und keiner lacht mehr über den anderen.

Wie langweilig! Ich schämte mich vor dem armen Julius für diesen faden, aber pädagogisch natürlich wertvollen Plot.

Erschienen war das Buch im Nord-Süd-Verlag. Nieder mit ihm! Und nieder mit allen Kinderbüchern, die sich als Abenteuerromane ausgaben, obwohl sie nur dazu dienten, kleine Kinder, die etwas Spannendes lesen wollten, mit dem Nord-Süd-Dialog zu belemmern!

Um Julius in eine andere Welt zu versetzen, kaufte ich eine CD, auf der Hermann Prey einige von Beethoven vertonte Gedichte von Goethe interpretierte.

Tiefe Stille herrscht im Wasser,

Ohne Regung ruht das Meer,

Und bekümmert sieht der Schiffer

Glatte Fläche ringsumher.

Julius hörte ergriffen zu.

Keine Luft von keiner Seite!

Todesstille fürchterlich!

In der ungeheuern Weite

Reget keine Welle sich.

Das sei ihm unheimlich, sagte Julius. »Ist der Mann ertrunken?«

Für Eis und Pommes war der Junge immer zu haben, und wenn ich mal Ruhe brauchte, konnte ich ihn bei Oma parken. Wegen einer Kreislaufstörung mußte sie dann jedoch ins Sophienstift eingeliefert werden. Da kam sie in ein Zimmer mit Blick auf den Schloßturm und fühlte sich pudelwohl.

Lothar de Maizière rauchte auch vor laufender Fernsehkamera. Das tat sonst nicht mal mehr Fidel Castro. Das waren noch Zeiten gewesen, als Ludwig Erhard die Zigarre zu seinem Markenzeichen erkoren hatte!

Wo der Roman »Soldat Suhren« blieb, konnten sie mir bei Tolksdorf nicht sagen. »Wenn Sie möchten, rufen wir Sie an, wenn das Buch gekommen ist …«

Die Tulpen- und die Krokuszwiebeln, die ich gesetzt hatte, schienen unterirdisch verfault zu sein. Die ließen sich einfach nicht blicken, und ich beäugte auch meinen künftigen Blumengarten mit Argwohn. Das bißchen, was da keimte, wies nur wenig Ähnlichkeit mit einem Bewuchs auf, der zu großen Hoffnungen berechtigt hätte.

In seinem Werk »Irischer Lebenslauf« schilderte Flann O’Brien das Dasein bitterarmer Kleinbauern aus der Sicht eines kummergewohnten Kindes.

Bei Sonnenuntergang wurden Binsen über den ganzen Fußboden gebreitet, und der Haushalt legte sich zur Ruhe auf ihnen nieder. Dort ein Bett mit Schweinen darauf; hier ein Bett mit Menschen; dort wieder ein Bett mit einer alten, schlanken Kuh, im Schlaf auf ihrer Flanke ausgestreckt und einen Sturmwind von Atem ausstoßend, dazu angetan, inmitten des Hauses widrige Strömungen zu erzeugen; dazu Hennen und Hühner im Schutz ihres Bauches schlummernd; und noch ein Bett zunächst der Feuerstelle, auf dem ich lag.

In diesem Haus verrottete dann ein riesenhaftes Schwein. Ein Nachbar glaubte, das Haus stehe in Flammen, doch es stiegen nur »Schwaden von Schweinedampf« auf, worüber ich so lachen mußte, daß Julius wach wurde.

Übersetzt hatte das Buch Harry Rowohlt, und zwar sehr gut, wie mir schien.

Im Waldschlößchen konnte Julius nach Herzenslust rutschen und karussellfahren, wovon er allerdings schon nach zehn Minuten die Nase voll hatte.

Ein Toto-Lotto-Reklameplakat hing dort aus, mit zwei Gedankenblasen über einem Selbstporträt von Wilhelm Busch:

Noch mehr Videorecorder

und

Jede Menge Geld!

Womit hatte Busch das verdient?

Nachdem wir eine Zeitlang im Forst Upjever herumspaziert waren, spielten wir wieder Halma, und dann gingen mir allmählich die Ideen aus, zumal ich mir eine Erkältung eingefangen hatte. Zum Glück war Julius dazu bereit, sich im Vorabendprogramm irgendeine amerikanische Arztfilmserie anzusehen. Danach füllte ich ihn mit Hähnchen und Pommes ab, gab ihm ein Asterixheft mit ins Bett und bestellte uns ein Taxi für den nächsten Morgen, denn wir mußten bereits um kurz nach sieben im Zug sitzen, und ich wollte nicht mit Julius zu Fuß zum Bahnhof krautern.

Ich verarztete mich mit einem Grippemittel namens Wick MediNait und arbeitete noch bis halb zwei Uhr morgens an einer Reportage über Meppen, die ich Kowalski verkaufen wollte. Am Ende fiel mir noch ein Clou ein:

Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird sicherlich auch verrückt genug sein, der eigenen Betroffenheit durch eine starke Überweisung auf das von mir geführte »Notkonto für Meppengeschädigte«, Oldenburgische Landesbank, Kontonummer 938 25362 00, Bankleitzahl 282 222 08, den angemessenen Ausdruck zu verleihen.

Versuchen konnte man’s ja mal.

Als der Taxifahrer unten hupte, wurde mir klar, daß ich den Wecker im Halbschlaf ausgemacht haben mußte. Gottverdammich!

Ich rief dem Taxifahrer vom Balkon aus zu, daß wir gleich runterkämen, weckte Julius, raste zur Toilette, zog mich in Weltrekordgeschwindigkeit an, raffte die Klamotten zusammen, mit denen mein kleiner Gast die Bude übersät hatte, und sank eine Viertelstunde später schweißüberströmt neben ihm auf die Abteilbank. Und als wir hinter Sande im Anschlußzug saßen und mein Schweiß getrocknet war, dachte ich, als nächstes komme bereits Oldenburg, und scheuchte Julius hoch, obwohl wir, wie ich dann merkte, erst in Rastede einrollten …

»Was ist denn los mit dir?« fragte Julius, der sich sehr über seinen hektischen Onkel wunderte.

Nachdem ich den lieben Jungen in Oldenburg in den richtigen Zug gesetzt hatte, kaufte ich mir zwei, drei Zeitungen und tuckerte gemächlich und allein zurück ins Jeverland.

In der Süddeutschen berichtete der Literaturkritiker und Arno-Schmidt-Forscher Jörg Drews, daß er sich bei einem Besuch in Oshos Ashram in Poona »sympathetischen Träumereien« hingegeben und festgestellt habe, »daß der Laden da drüben gar keinen so hanebüchen verrückten Eindruck« mache. Der Drang, »sich über das Ganze möglichst heftig und naseweis lustig zu machen«, lasse schnell nach.

Nein, so gemein und besserwisserisch will ich nicht schreiben über den Osho. Ein Photo von ihm habe ich mir aus dem Ashram-Bookshop mitgenommen; darauf sieht er ganz frech und gerieben und wissend aus. Das alte Schlitzohr ist mir gar nicht so unsympathisch, muß ich gestehen.

Und ich hatte mich für den weltweit einzigen Arno-Schmidt-Leser gehalten, der auch Osho etwas abgewinnen konnte.

Zuhause lag ich dann wieder mit laufender Nase im Bett und versuchte, nicht an Andrea zu denken.

Most of the time

She ain’t even in my mind

I wouldn’t know her if I saw her

She’s that far behind …

In ein paar Jahren würde sie es bereuen, daß sie mir abtrünnig geworden war. Diese hohle Nuß. Aber da hätte sie halt früher drüber nachdenken sollen.

Als ich wieder auf dem Damm war und mich endlich des verranzten, seit drei Tagen liegengebliebenen Küchengeschirrs angenommen hatte, schrieb ich für Kowalski einen Aufsatz über die leidigen nahöstlichen Scharmützel zwischen Christenmilizen, Schiiten, Sunniten, Prozyprioten, Falangisten, Jesiden, Maroniten, Alawiten, Sadduzäern und Hirnanhangdrusen, die alle zu dumm waren, Frieden miteinander zu halten. Sich in eine Hängematte legen, unter Palmen, Tee trinken und Kempowski lesen, das hätten sie doch auch mal tun können, anstatt immer wieder aufeinander einzudreschen.

Nach ihrer Entlassung aus dem Sophienstift mußte Oma eine Serie von Niederlagen im Malefizspiel verarbeiten, weil sie nicht einmal dann gewann, wenn ich sie siegen lassen wollte. Sie tölpelte mit ihren Männchen auf dem Brett herum, als hätte sie erst fünf Minuten vorher die Regeln gelernt, und blieb blind für sämtliche goldenen Brücken, die ich ihr baute.

Aber dafür war sie eine begnadete Köchin. Das mußte man ihr lassen.

Irgendeine Geisteskranke hatte den SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine bei einer Wahlkampfveranstaltung in Köln lebensgefährlich verletzt – war mit einem Blumenstrauß auf ihn zugegangen und hatte ihm ein Messer in den Hals gerammt.

Eine kleine, dicke Frau in weißem Kleid. Mit einem irren Blick.

Die armen Psychiater, die sich mit der jetzt abgeben mußten. Was die wohl für einen Quatsch erzählte, um ihre Tat zu rechtfertigen?

Dann kam mal wieder ein Brief meiner alten Mitschülerin Astrid Kohler:

Ich wohne jetzt in ’ner vornehmen Gegend, glücklicherweise aber in einer weniger bürgerlichen Ecke von Hamburg-Eimsbüttel, Nähe U-Bahnhof Schlump. Das sollte übrigens ein diskreter Hinweis auf die Haltestelle sein, an der Du aussteigen mußt, wenn Du mich mal besuchen willst …

Ich würde sehr gerne mal wieder mit Dir reden, weiß aber nicht, ob ich in nächster Zeit im Emsland auftauche. Vielleicht machst Du ja mal aus »beruflichen Gründen« Station in Hamburg?

Diese Einladung behielt ich im Hinterkopf.

Papa lag noch immer im Krankenhaus. Seine Wunden wollten nicht heilen, sagte er mir am Telefon.

Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, daß Oma Jever wohlauf sei, fiel mir nichts mehr ein, was ich ihm noch hätte erzählen können, und ich wünschte ihm gute Besserung.

In seiner Titanic-Kolumne widmete Max Goldt sich Österreichs Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA):

Allerdings wird über die Existenz der EFTA außerhalb ihrer selbst nur wenig Wind gemacht; ich habe von ihr bislang nur selten vernommen, und ich wußte auch nicht, wer außer Österreich da noch Mitglied sein soll – neutrale Mauerblümchen-Staaten vermutlich, Länder, die keiner kennt oder haben will, solche, die abseits im Schatten stehen, Kinder von schlagenden Eltern, schorfige Lippen, Tristesse.

In den Texten von Max Goldt saß jedes Wort am rechten Platz. Ich hätte ihm ja gern mal bei der Arbeit zugesehen. Wie er das so machte. Still daheim? Oder etwa an einem Kneipentisch?

Zu meinem 28. Geburtstag erhielt ich Post von meinen beiden Patentanten: ein Oberhemd von Dagmar und einen Kartengruß der in Bad Pyrmont kurenden Gertrud. Und der Kowalski-Redakteur Günther Willen schrieb mir, daß ihnen in Hamburg meine Reportage über Meppen und die Analyse der Lage im Nahen Osten gerade noch gefehlt hätten.

Eine »Nickligkeit« (Marcel Reif) fällt mir dazu noch ein: Nachdem Harald »Toni« Schumacher den SV Meppen seinerzeit angepfiffen hatte und vielviel lieber mit Kamerad Türk spielen wollte (als in der zwoten Liga gegen die van der Püttens, Thobens und Rusches anzutreten), stellten ihm gute Anhänger des SV Meppen einen Möbelwagen vor seine Kölner Wohnung, um damit auf die schreiende Ungerechtigkeit dieser modernen Welt aufmerksam zu machen … was weiß ich.

Und ich solle ihm mal meine Telefonnummer mitteilen.

Oma Jever schenkte mir zwanzig Mark. »Und denk mal an, wer heute kommt! Gisela und Egon!«

Als kinderreiche Mutter kriegte Oma oft Besuch, obwohl es nach Jever für alle ihre Nachfahren außer mir eine halbe Weltreise war.

Gisela und Egon brachten jedenfalls Leben in die Bude, und am Abend kamen sie sogar auf einen Schoppen mit in Rainer Dickhoffs anrüchige Discothek Na Nu, um mir beim Kellnern zuzusehen.

»Du machst das ja, als hättest du das von der Pike auf gelernt!« rief Egon, als er mich an den kopfüber aufgehängten Spirituosen hantieren sah, und Gisela sagte, daß die Jugend hier ja ganz schön am Bechern sei.

Als die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt erreichten, waren Gisela und Egon aber längst gegangen: Um halb eins trugen untereinander verfeindete Bauernsöhne auf der Herrentoilette eine Vendetta aus, die Polizei erschien mit Blaulicht, und es fuhr sogar ein Krankenwagen vor.

Mien Jeverland, wo leev ik di …

Nach diesem Zwischenfall spendierte Rainer dem Thekenpersonal, das nur noch aus der Fachkraft Steffi, mir und ihm selbst bestand, eine Runde Sambuca-Baileys, wobei ich erfuhr, daß unsere Ex-Kollegin Moni, die auch schon viele Schlachten im Na Nu überstanden hatte, von einem gesunden Jungen entbunden worden sei, und darauf tranken wir so viel, daß ich erst um halb acht Uhr morgens zum Dannhalmsweg und ins Kellerbett torkelte.

Oskar Lafontaine befand sich inzwischen außer Lebensgefahr. Von Adelheid Streidel, der Frau, die das Attentat auf ihn verübt hatte, las man, daß sie an Wahnvorstellungen leide. Es gebe, habe sie erklärt, »in Europa Menschenfabriken und unterirdische Operationssäle, wo Leute aus der Bevölkerung körperlich und geistig umfunktioniert werden«.

Nach allem, was ich in den Nachrichten von Adelheid Streidel gesehen hatte, sah sie nicht so aus, als ob sich jemals irgendwer für sie interessiert haben könnte. Weder ein seiner Sinne mächtiger Privatmann noch ein Konsortium böser Menschenfabrikanten.

»Eventuell rutscht in das Juniheft die Drusensache noch mit rein«, berichtete Günther Willen mir telefonisch. »Das wird dann ein richtiges Schlosserfestival …«

Außerdem fragte er nach Fußballtexten zur WM, und ich bot ihm einen über den Verfall der Jubelkultur an. Dafür mußte ich nur einen Text, den Michael Rutschkys Alltag ignoriert hatte, etwas umformulieren.

Einer von Omas Vettern war gestorben, Tjako Rickels, und sie wollte gern an seiner Beerdigung in Rastede teilnehmen.

Um bei der Trauerfeier gut dazustehen, borgte ich mir von meinen Vermietern ein Dampfbügeleisen aus. Das Ding hieß Siemens Portatronic 2000 oder so ähnlich, und es tropfte und zischte und stank, aber bügeln ließ sich damit absolut nichts.

In der Kirche in Rastede kamen wir viel zu spät an. Der Trauergottesdienst war schon im Gange. Alle drehten sich nach uns um, während wir uns in die letzte Reihe quetschten, und dann drehten sich noch einmal alle nach uns um, weil Omas Hörgerät so teuflisch pfiff.

Ich kannte dort niemanden, aber Oma unterhielt sich nach der Beisetzung noch äußerst angeregt mit Kusinen und Nichten und Neffen ersten oder zweiten Grades. Um da durchzublicken, hätte man ein zweihundertseitiges Personenstandsbuch mit sich führen müssen.

Mein Rasen war gut gediehen, doch mit den Blumen sah es mau aus. Wollten sie nicht? Oder konnten sie nicht? Ich hatte ihnen alle Freiheiten gelassen, und jetzt hätten sie mal zeigen können, was sie draufhatten, aber sie kriegten es nicht hin.

In der FAZ schrieb der Literaturkritiker Michael Maar:

Daß Eckhard Henscheid ein außerordentlicher Schriftsteller sei, einer der wenigen wirklich bedeutenden unserer Zeit, ist eine Auffassung, die noch weit davon entfernt, verbreitet Anerkennung zu finden, heute immerhin weniger sektiererisch anmutet als noch vor einigen Jahren.

Sie würden es schon noch begreifen, die Leute, daß es auf die Dauer keinen Spaß machte, auf dem alten Graubrot der Gruppe 47 herumzukauen.

Die Außenminister der Bundesrepublik, der DDR, der UDSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs trafen sich in Bonn zu »Zwei-plus-Vier-Verhandlungen« über die deutsche Frage. Mit einem Kometenschweif aus Diplomaten, Staatssekretären, Dolmetschern und Bodyguards. Da klingelten sicherlich auch die Kassen der Bonner Edelprostituierten.

Wenn es nach Günter Grass gegangen wäre, hätten es wahrscheinlich Zwei-plus-Fünf-Verhandlungen sein müssen, mit ihm selbst als eigenständiger Supermacht.

Oma war in ihrem Fernsehsessel eingeschlafen, mit ihren orangen Plastikkopfhörern am Hals, und ich machte ein Foto von ihr.

Post von Günther Willen:

Bravo! Ihre Geschichte des Torjubels können wir vielleicht noch in der Rubrik Lötzinn unterkriegen, so daß Sie in der nächsten Nummer – wenn’s hochkommt – mit drei Beiträgen vertreten sind. Ist es da ein Wunder, wenn wir das Juni-Heft einfach »Martin Schlossers interessantes Magazin« nennen wollen? Ich bitte Sie. Der anschließende Jubel in und um Jever ist natürlich unbeschreiblich. Oder?

Im Na Nu bediente jetzt auch eine sehr resolute Frau namens Sabine, die sofort zuschlug, wenn ihr einer blöd kam, und das hatten die Gäste von der ersten Minute an begriffen. Selbst die aus der Zone, die immer noch in Scharen mit ihren saudummen Reichskriegsflaggen in den Laden hereingeschwappt kamen.

Nachdem ich die Einkäufe in Omas Küche abgestellt hatte, setzte ich mich im Wohnzimmer zum Zeitunglesen hin.

Zwar gebe es auch Schattenseiten, doch alles in allem gäben die Entdeckung, die Eroberung und die Christianisierung der Neuen Welt ein strahlendes Bild ab, sagte der Papst am zweiten Tag seines Mexiko-Besuchs in der Hafenstadt Veracruz.

Ihre Ahnen waren von den katholischen Eroberern gekillt worden, und nun huldigten diese Esel einem Pfaffen, der ihnen lauter Lügen erzählte. Ein strahlendes Bild!

Bei meiner nächsten Visite hatte Papa noch immer keinen Entlassungstermin in Aussicht. Er dämmerte im Ludmillenstift vor sich hin und musterte mit gerunzelter Stirn die Kontoauszüge, die ich mitgebracht hatte.

Im Ali-Baba-Grill hätte ich ein mit Knoblauchwurst, Schafskäse und Salat gefülltes Fladenbrot namens Meppburger bestellen können, aber ich entschied mich für zwei Schaschlikspieße.

Dann besuchte ich die Lohmanns: Mamas alte Freundin und ihren Mann, der mit Papa lange auf der E-Stelle gearbeitet hatte.

»Und wie geht’s dem Meister?« fragte Herr Lohmann und stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch.

Der Armbruch sei noch nicht verheilt, sagte ich.

Frau Lohmann, die beim Weißwein blieb, fragte mich auch nach Renates, Volkers und Wiebkes Ergehen, und sie sprach davon, wie wundervoll es 1977 in Venezuela gewesen sei, »mit deiner Mutter – die ist da richtig aufgeblüht!«

Wäre sie dort mal geblieben, dachte ich.

Weil im Fernsehen später wieder nur Mist lief, setzte ich mich in der Dammstraße mit einem weiteren Bier auf die Gartenterrasse und dachte an die Zeiten, in denen ich dort mit Andrea gesessen hatte. Wie lange lag das alles schon zurück.

And the crickets are breaking

His heart with their song

As the day caves in

And the night is all wrong …

Warum hatte sie mich verlassen?

Am Samstag stieg ich früh genug in den Zug nach Hannover, um noch auf den Flohmarkt gehen zu können. Ich kaufte mir einen Gedichtband von Leonard Cohen und ein Bootleg von Dylans 1966er Englandtournee – von dem Luxemburger Label Swingin’ Pig Records –, und dann ließ ich mir von Dagmar in der Baumstraße Spaghetti bolognese vorsetzen und ging abends ins Kino und sah mir den lustigen Film »Kuck’ mal, wer da spricht!« an. Wie die Spermien plappernd durch den Geburtskanal rauschen und wie die schöne Kirstie Alley sich vorstellt, daß John Travolta ihren Kindern irgendeinen Drecksfraß von der Müllkippe als Abendessen hinknallt …

Auf der Zugfahrt nach Meppen las ich am Sonntag Cohen.

I am almost 90

Everyone I know has died off

except Leonard

He can still be seen

hobbling with his love.

Womit man bei Papa nicht rechnen konnte. Er war erst 62, aber schon beinahe greisenhaft hinfällig. Und aus welchem Born hätte er in Meppen neuen Lebensmut schöpfen können?

Bevor ich mit dem Jetta wieder nach Heidmühle fuhr, besuchte ich Papa noch einmal in seinem Krankenzimmer.

»Nächste Woche lassen sie mich vielleicht raus«, sagte er. »Dann wär’s gut, wenn du kommen könntest. Für die nötigsten Besorgungen.«

In Papenburg stand eine Tramperin, und ich hielt an und fragte sie, als sie die Beifahrertür öffnete, wo’s denn hingehen solle, wobei ich jedoch nicht bedacht hatte, wie ungut es aussehen mußte, daß zwischen meinen Oberschenkeln eine Literflasche Cola stand.

»Egal«, sagte die Frau und warf die Tür wieder zu.

Dann halt nicht, dachte ich und fuhr weiter. Und da erst ging mir auf, daß es ja auch närrisch von mir gewesen war, die Frau nach ihrem Reiseziel zu fragen. Normalerweise fragten Tramper den Autofahrer, wohin er fahre.

Ich mußte der Frau verdächtig vorgekommen sein. Ein Sittenstrolch, der durch die Lande kurvt und Mädchen abzuschleppen versucht …

In Heidmühle konnte ich bei den niedersächsischen Landtagswahlen gerade noch meine Stimme für die Grünen abgeben, bevor das Wahllokal im Bürgerhaus schloß.

Die Tamilen entfernten sich augenblicklich aus der Küche, als ich ankam, und ich briet mir vier Spiegeleier und verfolgte die Hochrechnungen: Die SPD und die Grünen schienen eine knappe Mehrheit gewonnen zu haben und konnten sofort mit den Koalitionsgesprächen beginnen.

Endlich kein Ernst Albrecht mehr! Dessen Glommse hatte mich durch mein Leben begleitet, seit ich mit vierzehn zum Spiegel-Leser geworden war.

Gerhard Schröder, der Ministerpräsidentenkandidat der SPD, gefiel mir gar nicht schlecht. Der besaß einen robusten Willen zur Macht.

Auch in Nordrhein-Westfalen war gewählt worden. Dort hatte die SPD sogar fünfzig Prozent geholt, und die Grünen konnten in den Landtag einziehen.

Auf der Bootleg-CD war zu hören, wie Bob Dylan »Judas!« zugeschrien wurde, weil er mit elektrisch verstärkten Instrumenten auftrat. »I don’t believe you«, sagte Dylan. »You’re a liar!« Seiner Band rief er zu: »Play fucking loud!« Und dann spielten sie »Like a Rolling Stone«.

In dem Set hatte Dylan auch »One Too Many Mornings« gesungen. Atemberaubend. Aber dem Zwischenrufer und denen, die ihm Beifall gespendet hatten, wäre es lieber gewesen, wenn Dylan sein Leben lang nur »Blowin’ in the Wind« gesungen hätte. Zur Wandergitarre.

Wollte man bei Harms Pfandflaschen zurückgeben, stand man sich jedesmal die Beine in den Bauch, bis da jemand kam.

Dafür überraschte mich meine Stammbäckerei in Heidmühle mit einer Novität namens »AOK-Aktivbrot« (»aktiv gekaut, aktiv verdaut«). Wer mochte diesen Buchstabenmüll ausgebrütet haben?

Post von Andrea. Aus Oldenburg.

Nachdem ich heute im Supermarkt, als ich neugierig in »Kowalski« blätterte, wieder mal einen Artikel von Dir fand, beschloß ich, Dir endlich zu schreiben.

Ich hoffe, Du wirst Dir überhaupt die Mühe machen, meinen Brief zu lesen. Daß Du Dich mir gegenüber erst einmal völlig verschließen würdest, habe ich nicht anders erwartet, dazu kenne ich Dich zu gut. Aber ich würde es sehr schade finden, wenn nun ewig die absolute Funkstille zwischen uns bliebe. Ich weiß, ich habe Dich sehr verletzt, aber meine Entscheidung war ehrlich, und ich hätte Dir und mir nichts Gutes getan, wenn ich halbherzig bei Dir geblieben wäre. Mein Entschluß, mich von Dir zu trennen, ist nicht gefallen, weil ich Dich nicht mehr schätze, sondern gerade weil ich finde, daß Du keine Frau verdient hast, die schon ewig ein Bein aus der Tür hinausgesetzt hat. Ich finde es schade, fünf gemeinsame Jahre völlig vom Tisch zu wischen. Okay, okay – aus Deiner Sicht habe ich genau das getan, aber ich sehe trotzdem keinen Sinn darin, wenn wir nun auf ewig nichts mehr miteinander zu tun haben.

Sondern?

Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn die Zeit irgendwann vorbei wäre, wo Du Dich völlig von mir zurückziehen mußt, und wenn Du danach nicht einfach aus Sturheit dabei bliebest, Dich in eisiges Schweigen zu hüllen. Die Entscheidung liegt ganz bei Dir.

Ob Du Dich mal wieder meldest oder nicht – ich wünsche Dir wirklich von Herzen alles Gute.

Sollten wir jetzt »Freunde sein« oder wie? Und Nettigkeiten austauschen? Und wer hatte sich denn bitteschön zurückgezogen – sie oder ich?

Von Zeit zu Zeit konnte ich meiner Sammlung sonderbarer Nachrichten aus dem Jeverschen Wochenblatt ein neues Fundstück zuführen:

Heißes Bett in

Wilhelmshaven

Fürwahr eine die Wißbegierde weckende Überschrift.

Wilhelmshaven. Die Feuerwehr wurde gestern um 11.35 Uhr in die Gökerstraße gerufen. In einem unbewohnten Haus standen ein Bettgestell und angrenzende Stellwände in Flammen. Ein ordentlicher Wasserstrahl löschte das heiße Bett.

Schon allein für diese erzählerische Antiklimax hätte das Wochenblatt mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet werden müssen.

Noch immer kein »Soldat Suhren«. Und auch noch immer kein Honorar fürs Aprilheft von Kowalski. Gottlob hatte ich momentan genug auf der hohen Kante und mußte nicht hungern.

Ab Wiesmoor gurkte ich auf der Autofahrt nach Meppen hinter einem LKW her, auf dessen Heckklappe die Worte standen:

KitKat – die superleichte Schokopause

In Brinkum bog er endlich ab.

Die Ärzte hatten Papa aus ihrer Obhut entlassen, und er brauchte dringend neue Lebensmittel und natürlich Wein und Sekt und Zigaretten.

Ich mußte viermal zu Aldi dackeln, bis ihn die Vorratsmenge zufriedenstellte. Und den Rasen mähen.

Nachdem wir die üblichen Salamibaguettes aus der Mikrowelle gegessen hatten, dozierte Papa im Wohnzimmer über den Wissenschaftsjournalisten Hoimar von Ditfurth. Das sei ein Geist gewesen, der sich über das Niveau der Masse der uns umgebenden Holzköpfe erhoben habe. »Den schätze ich hoch. Aber nicht seine Tochter!«

Er meinte die Grüne Jutta Ditfurth, die gern Provokantes von sich gab.

»Erkenntnisgewinne kann man sich jedenfalls nur von Naturwissenschaftlern versprechen«, sagte Papa. »Und nicht von Politikern. Und schon gar nicht von Juristen! Wenn die Menschen sich an die Zehn Gebote hielten, wäre dieser Berufsstand überhaupt nicht mehr nötig …«

Dagegen brachte ich den Einwand vor, daß ein moderner Industriestaat sich nicht auf der überholten Rechtsgrundlage der Zehn Gebote verwalten lasse.

»Und was ist daran überholt?« fragte Papa. »Wenn die Leute ihren Vater und ihre Mutter ehren und nicht lügen und nicht stehlen und nicht töten und nicht ihres Nächsten Weib begehren würden, dann könnten die Juristen ihre Kanzleien allesamt dichtmachen!«

»Aber so ist es eben nicht. Und in den Zehn Geboten steht auch nichts übers Kartellrecht. Oder über die Frage, wer schadenersatzpflichtig ist, wenn irgendwo ’ne Chemiefabrik in die Luft fliegt. Wie willst du sowas denn mit dreitausend Jahre alten Gesetzestafeln aus dem Vorderen Orient regeln?«

Er bleibe dabei, sagte Papa. »Aber die Menschheit ist eben verrückt geworden. Alle versuchen sich gegenseitig aufs Kreuz zu legen. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Im Grunde kannst du mich als Aussteiger betrachten. Ich hab hier mein Haus und keinen Pfennig Schulden mehr darauf, und jetzt können mich alle mal am Arsch lecken. Die Juristen, die Politiker, die Politologen, die Nachbarn … und die Emanzen. Die erst recht!«

Ich solle ihm mal das Buch »Laßt endlich die Männer in Ruhe« besorgen, sagte er. Das würde er gern lesen.

Nach dem Frühstück chauffierte ich Papa nach Lingen zum Finanzamt, wo er sich anderthalb Stunden lang mit einem Sachbearbeiter herumstritt, während draußen die Sonne auf Gerechte und Ungerechte herabschien, auf eisschleckende Kinder, hüftkranke Gemüsehändler, verrentete Kieferorthopäden, katholische Dixielandfans, CDU-wählende Hausfrauen und irgendwo auch auf Andrea.

Don’t even remember what her lips felt like on mine …

»Die Sorge, wie man Nahrung findet, ist letztlich nicht ganz unbegründet«, sagte Papa, als er sich nach geschlagener Schlacht auf den Beifahrersitz setzte.

Den Jetta ließ ich Papa da und fuhr mit dem Zug wieder nachhause, voller Hoffnung auf den einen oder anderen Scheck, aber in meinem Briefkasten gammelte nur Reklame für Grillfleisch, Planschbecken und elektrische Zahnbürsten herum.

Ich mahnte bei der Redaktionssekretärin der Zeitschrift Der Alltag das seit Monaten ausstehende Honorar für meine Kohlfahrtreportage an, und im Vertrauen auf neue Honorarschecks überwies ich dem münsterländischen Lotus-Hof 1200 Mark für meine Teilnahme an einem zehntägigen Tantra-Workshop, der Ende Juli stattfinden sollte. Mit Vollpension.

Für die Weltpolitik hatte ich immer weniger übrig. Bürgerkrieg im Kaukasus und Sezessionsbestrebungen im Baltikum. Wollten die Leute denn alle zurück in die Steinzeit?

Die Sowjetunion löste sich auf, und der sogenannte Radikalreformer Boris Jelzin war zum russischen Parlamentspräsidenten ernannt worden. Ein schwammiger und selbstverliebter Autokrat, wie man auf den ersten Blick erkennen konnte. Armes Rußland! Als ob da nicht schon genügend Miesnickel herumregiert hätten.

Anläßlich des achtzigsten Geburtstags der Schauspielerin Inge Meysel ingemeyselte es auf allen Fernsehkanälen, und sie wurde einem als »Mutter der Nation« aufgeschwatzt, obwohl oder weil sie immer nur Inge Meysel gespielt hatte, die burschikose Putzfrau, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Miss Dicke Lippe. Eine schaurige Person.

Probehalber stellte ich einen geliehenen Gartenstuhl auf meinen Rasen und versuchte da ein Buch zu lesen. Doch wie sollte man sich konzentrieren, wenn einem ständig Fliegen oder Käfer um die Nase surrten?

In meinem Blumenbeet hatte sich irgendeine Kletter- oder Schlingpflanze breitgemacht und alles andere überwuchert und erstickt. Von wegen Blumenmeer! Todtraurig sah’s da aus.

Wozu hätte ich dieses behämmerte Gartenstück noch weiter pflegen sollen?

Ich trat es an meine Vermieter ab und war sehr froh, dieses Kapitel abhaken zu können.

Michael Rutschky, dem ich schon vor längerer Zeit einen Bericht über meine Selbsterfahrungsworkshops angeboten hatte, antwortete mir, daß er das gern läse. Die Sache sei bloß die, daß er zu viele von meinen Sachen angenommen habe:

»Der Alltag« kommt mit dem Abdruck nicht mehr nach, Sie werden auch nicht Jahre darauf warten wollen, daß eine Geschichte endlich erscheint, deshalb sage ich besser nein.

Andererseits habe ich mit Kurt Scheel, dem Redakteur des bescheiden zahlenden, aber höchst renommierten »Merkur« über Sie gesprochen: Er wäre keineswegs abgeneigt, mit Ihnen »mal was zu machen«. Es kann Ihnen auch nicht schaden, wenn Sie, was nötig wäre, die Geschichte in einem etwas anderen Sound zu erzählen hätten – kurzum, dies ist die Adresse: Kurt Scheel/Merkur/Angertorstr. 1 A/8 München 5/089 – 2 60 96 44. Ihre Anfrage wird erwartet.

Ich schrieb noch am selben Tag nach München.

In der Juninummer von Kowalski erschien meine Reportage über Meppen, und in der Titanic glänzte Achim Greser mit einem Cartoon: Ein Mann meldet sich bei der Reparaturannahme einer Werkstatt. Neben ihm steht eine dicke alte Frau mit Hängeschultern und schlaffem Gesicht. Der Mann sagt: »Sie läßt in letzter Zeit sehr in ihrer Waschleistung nach.« Und im benachbarten »Prüfzentrum« leuchtet ein Techniker einer anderen alten Frau mit einer Taschenlampe unter den Rock.

»Stell dir vor – ich werde wieder Urgroßmutter!« rief Oma Jever. »Dein Vetter Norman und seine Frau Maxine erwarten ein Kind!«

Von mir selbst hatte Oma keinen Nachwuchs zu erwarten, wie sie wußte. Wozu hätte ich mir Neugeborene aufhalsen sollen, die mich beim Lesen, Schreiben oder Musikhören störten?

Bei meinem nächsten Meppenbesuch mußte ich mich einer Schwadron Wespen erwehren, als ich die Flaschen in den Altglascontainer schmeißen wollte. Die Wespen kamen von überallher angebraust, auch aus dem Inneren des Containers. Sie schienen in mir einen Aggressor zu wittern, und ich machte, daß ich wegkam.

Die neuen Wein- und Sektflaschen reihte ich in einem Kellerregal auf. Aus Papas Sicht waren es noch nicht genug.

Der Jetta hatte jetzt einen Knauf am Lenkrad. Der war von Herrn Lohmann dort angebracht worden, damit Papa das Herumkurbeln leichter fiel. Sein lädierter rechter Arm bereitete ihm Probleme, auch nach der langen Behandlung im Ludmillenstift.

Von dem Buch »Laßt endlich die Männer in Ruhe« von Cheryl Benard und Edit Schlaffer war Papa schon nach fünf Minuten bedient: »Da wird ja auch nur wieder auf den Männern rumgehackt …«

Er stellte dann die These auf, daß Frauen von Natur aus weniger Interesse am Sex hätten als Männer.

»Und auf welche empirischen Erhebungen stützt du diese These?«

Das sei nun mal so, sagte Papa. »Die Frauen sind da anders.«

Ach? Und wie viele Frauen hatte Papa herangezogen, um die Stichhaltigkeit seines Befunds zu überprüfen? Auf der Erde lebten rund 2,5 Milliarden Frauen, und zu den wenigsten davon hatte Papa eine nähere Beziehung unterhalten, die es ihm erlaubt hätte, einen solchen Generalverdacht zu erheben.

In einem Zeitschriftenkiosk fragte ich nach Kowalski und bekam zur Antwort: »Ausverkauft! Restlos in ganz Meppen ausverkauft! Ausverkauft bis runter nach Lingen! Aber ich hab schon fünfzig Stück nachbestellt!«

»Da steht was über Meppen drin, hab ich gehört …«

»Aber was für’n Ding!«

»Was steht denn drin?«

»Fußgängerzone, Fußballverein, Katholiken – alles! Morgen hab ich wieder welche! Morgen!«

So machte es doch Spaß, das Leben. Selbst in Meppen.

Ich versprach Papa, schon in einer Woche wiederzukommen. Dann fuhr ich mit dem Jetta gen Heidmühle und ließ unterwegs eine Kassette mit Songs von Elvis Presley laufen, die ich in einem der Geschäfte in der Meppener City entdeckt hatte.

A rose grows wild in the country …

Im Emsland war »the country« natürlich nicht das gleiche wie in Amerika.

A tree grows tall as the sky …

Was freilich auch in Papenburg vorkommen konnte.

The wind blows wild in the country,

And part of the wild, wild country am I.

Das glaubte ich Elvis nicht. So gut es auch klang. Sonst hätte er sich nicht von der amerikanischen Plattenindustrie domestizieren lassen.

Was ich nicht verstand: Wieso wurden die Spione aus der DDR nicht amnestiert? Von denen ging doch überhaupt keine Gefahr mehr aus? Und der BND hatte seinerseits ja auch Spione in die DDR entsandt. Hätte man die dann nicht ebenfalls verknacken müssen?

Endlich trudelte mal wieder ein Scheck von Kowalski ein (über 1190 Mark). Und dazu ein an mich weitergeleiteter Leserbrief:

Betr.: Ausgabe 6/1990, »Wer kennt eigentlich Meppen?«

Da war ich gespannt.

Was meinte der Autor obiger Stadtbeschreibung bei der Erläuterung der sieben Errungenschaften Meppens eigentlich mit dem hier auszugsweise zitierten Wortlaut »Dank der ungebührlich recklinghausenhaften Umgehungsstraße …«?

Meine Geburtsstadt Recklinghausen verfügt tatsächlich über einige sehr hübsche Umgehungsstraßen, deren Asphaltbelag übrigens leidlich zu ertragen ist und recht zügig befahren werden kann, es sei denn, er wird mal grad eben wieder frisch erneuert.

Sorgen hatten die Leute!

Zwischen den Tamilen und mir gab es keine Probleme. Die wisperten und knusperten in ihrem Teil der Wohnung, und wenn sie etwas kochten, machten sie hinterher alles penibel sauber.

Aus der Buchfassung der Titanic- und dann Kowalski-Kolumne »Teddy’s Trends«, die im Haffmans Verlag erschienen war, erfuhr man endlich auch offiziell, daß Teddy Hecht ein Pseudonym von Richard Kähler war. Eckhard Henscheid hatte ein Vorwort geschrieben, in dem es hieß:

Auch wenn unserem Teddy Hecht nichts ferner gelegen haben sollte, so behaupte ich meinerseits doch nahezu ungescheut dies, daß »Teddy’s Trends« durchaus so etwas wie die »Minima moralia« der achtziger Jahre abgaben.

Das war ein Ritterschlag.

Den Mittelfeldkicker Lothar Matthäus konnte ich nicht leiden, aber als er in dem WM-Spiel gegen Jugoslawien alle ausdribbelte und ein Tor schoß, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

In der Halbzeitpause rief Dagmar an und sagte, daß ich doch mal was für den NDR schreiben könne.

Wieso nicht? Ich verfaßte drei lobende Seiten über »Teddy’s Trends« und schickte das Ganze los, und dann fuhr ich wieder nach Meppen.

Wild, wild, like the deer and the dove

Wild and free is this land that I love …

Nur daß ich das Land desto weniger liebte, je näher ich Meppen kam.

Nachdem ich den Kühlschrank, die Gefriertruhe und das Flaschenregal im Keller wieder aufgefüllt hatte, spielte Papa im Wohnzimmer die mir schon hinlänglich bekannte Volkerplatte ab: »Der hat sich mit seiner Computerwirtschaft benebelt, und jetzt glaubt er, daß er ohne Diplom durchs Leben kommt! Aber irgendwann bin ich nicht mehr da, um diesem Bruder Leichtfuß aus der Klemme zu helfen, wenn ihm die Rechnung für seine Fahrlässigkeit präsentiert wird. Dann muß er selber zusehen, wo er die Moneten herkriegt, um sich sattfressen zu können. Völlig zu schweigen von irgendeiner Form der Alterssicherung. Der drömelt einfach vor sich hin und glaubt, daß ihn der himmlische Vater schon irgendwie ernähren wird. Aber wenn man mit dem Kopf in den Wolken lebt, dann bringt man’s zu nix …«

Was natürlich auch für mich galt.

Laut Spiegel hatte der vom Pazifisten zum Verteidigungsminister aufgeschossene Pfarrer Eppelmann auf einer Kommandeurstagung erklärt, daß die Nationale Volksarmee der DDR »weiterhin« zum europäischen Frieden beitragen werde.

Eine »Demilitarisierung im Sinne einer schnellstmöglichen Auflösung der NVA« betrachte er als »nicht akzeptabel«.

Bei jenen Bürgern, die das anders sähen, sei Großzügigkeit fortan fehl am Platze, verkündete der Minister. Zivildienstleistende dürften gegenüber Wehrdienstleistenden nicht bevorzugt werden. Und die Möglichkeit, »ohne weiteres aus dem aktiven Wehrdienst heraus in den Zivildienst« zu wechseln, müsse ausgeschlossen werden.

Aber Schwerter zu Pflugscharen umschmieden! Was ritt diesen Mann? Die blanke Machtgier?

Die Zeit verging mit Rasenmähen, Einkäufen, Haushaltsgeprüttjer und dem Verspeisen von Mikrowellengerichten. Aber eigentlich verging sie gar nicht. In Meppen stand sie still. Jedenfalls in der Dammstraße 43.

Meinen Vorschlag, eine Putzfrau anzuheuern, wies Papa zurück: Das fehle ihm noch, daß irgendso’n Weibsbild hier herumzufuhrwerken beginne!

Gegen Ägypten – Ägypten! – holten die Holländer in der Vorrunde nur ein 1:1 heraus. Wie es den alten Johan Cruyff da beim Zuschauen wohl in den Beinen gezuckt haben mochte.

»Mit solchen Mohrrübenhosen können die ja auch gar nicht gewinnen«, sagte Papa.

Um seinem Nasenbluten ein Ende zu setzen, hatten die Ärzte ihm im Krankenhaus die Adern in der Nase »verödet«, wie der Fachausdruck lautete, aber am Mittwochnachmittag ging’s wieder los. Und selbstverständlich lehnte Papa jede ärztliche Hilfe ab. Stattdessen saß er mit zurückgelehntem Kopf auf dem Sofa und preßte sich ein Taschentuch unter die Nase.

Alle paar Minuten mußte ich ein neues bringen und das verbrauchte zu den anderen verbrauchten in der Wäschetonne befördern, und als die Blutung schließlich etwas nachgelassen hatte, schickte er mich in die Waschküche, die alte Plastikwanne holen, in der Renate, Volker, Wiebke und ich als Babys gebadet worden waren: Die stellte er sich auf den Schoß, um nicht versehentlich das Sofa zu beferkeln, und dann diktierte er mir einen langen Brief an seine Schwester Doro, in dem er ihr darlegte, weshalb er an der Feier ihres 60. Geburtstags nicht teilnehmen werde. Ihm stehe der Sinn »bis heute nicht nach derlei Lustbarkeiten«, weil er dafür noch immer zu traurig sei. Außerdem werde bei solchen Familientreffen unentwegt über nicht anwesende Lebende und auch über Tote gelästert, und das sei ein Verstoß gegen das vierte und das achte Gebot …

Das Diktat zog sich fast zwei Stunden lang hin. Und dann fiel Papa noch ein Nachsatz ein:

Bitte verschont mich mit Besuchen mindestens bis Weihnachten 1990. Ich bin zufrieden mit dem Besuch meiner Kinder.

Es war aber auch nicht so, als ob seine Geschwister ihm sonst die Bude eingerannt hätten.

Das Nasenblut kippte ich aus der Wanne in den Küchenausguß.

Nach vier Tagen mußte ich aus Meppen wieder raus, sonst wäre ich die Wände hochgegangen.

Zum Abschied schenkte Papa mir einen Cartoonband von Gary Larson, den er auf seiner letzten Dienstreise in Washington auf dem Dulles Airport gekauft hatte. »Bride of the Far Side« hieß das Büchlein.

Ein Zebra, das andere Zebras davon abhält, einem Löwen beim Auffressen eines erlegten Zebras zuzusehen:

»Let’s move it, folks … Nothing to see here … It’s all over … Move it along, folks … Let’s go, let’s go …«

Gary Larson war ein Guter.

Irgendein Witzbold hatte zwanzig Mark auf mein »Notkonto für Meppengeschädigte« überwiesen, aber das war auch alles.

»Dieser Lothar Matthäus ist in einer Superverfassung«, erklärte der Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge während des WM-Spiels gegen die Vereinigten Arabischen Emirate, das ich mir in Omas Wohnzimmer ansah. Rummenigge mochte ja ein guter Torjäger gewesen sein, aber er hätte seinen Schnabel halten sollen.

Das 4:1 erzielte Uwe Bein. Mein deutscher Lieblingsspieler. Ein Mann ohne Allüren.

»Und? Wie steht’s?« fragte Oma, als sie mit zwei Schnittchentellern reinkam.

Da fiel gerade das 5:1.

Schon ein starkes Stück, daß die DDR, wie nun herauskam, diversen RAF-Terroristen Unterschlupf gewährt hatte.

Aber andererseits waren die dort ja ordentlichen Berufen nachgegangen. Und resozialisiert worden.

Papa rief an: Seiner Mutter gehe es sehr schlecht. »Wenn es stimmt, was Gertrud von dem Pflegepersonal gehört hat, dann muß man sich jetzt auf das Ende gefaßt machen. Ich würde jedenfalls gern nochmal nach Bielefeld fahren, bevor es zu spät ist. Und du ja vielleicht auch …«

In Bielefeld-Sennestadt kamen wir an einem grauen Montagnachmittag an und parkten vor dem von-Plettenberg-Stift.

Oma Schlosser lag in einem klinisch sauberen Zimmer auf einem Krankenbett und schlief.

»Wir wissen nicht, ob Ihre Frau Mutter noch einmal aufwachen wird«, sagte eine der Pflegerinnen zu Papa. »Aber es geht ihr gut, und sie hat keine Schmerzen. Wenn sich irgendwas in ihrem Befinden ändern sollte, rufen wir sofort Ihre Schwester Gertrud an. Die Nummer haben wir ja.«

Vom Altenheim war es nicht weit bis zum Haus von Gertrud und Edgar im Johann-Fichte-Weg. Auf der Fahrt dorthin sagte Papa, daß Oma oft genug Paul Gerhardt zitiert habe: »Mach End, o Herr, mach Ende!« Aber traurig sei es natürlich trotzdem.

Gertrud trug eine Kartoffelsuppe mit Mettwurst auf, und als wir später im Wohnzimmer saßen, schenkte Edgar uns Weißwein ein, und Gertrud erzählte von ihrer Flucht im Januar ’45. Mit Kommißbrot, Schmalz und Wurst im Proviantbeutel und aus Decken genähten Rucksäcken und mehreren übereinander angezogenen Kleidungsstücken, so sei sie mit ihrem BDM-Trüppchen durch Eis und Schnee gestapft, und hinter sich hätten sie schon die Kanonen grummeln gehört. Dann sei’s per Lazarettzug nach Küstrin gegangen, wo es Verpflegung vom Roten Kreuz und von der NS-Frauenschaft gegeben habe: »Das war vorbildlich organisiert!«

Nur daß es ohne die Nazis überhaupt nicht nötig gewesen wäre, das alles zu organisieren.

Von Küstrin sei es mit einem Fronturlauberzug nach Thüringen gegangen, in ein Lager des Reichsarbeitsdienstes in Artern an der Unstrut. »Man konnte in der Ferne das Kyffhäuserdenkmal sehen. Sagt dir das was?« fragte sie mich.

Kyffhäuser? Standen die nicht eher in Amsterdam? Hahaha …

Der Kyffhäuser sei ein thüringisches Gebirge, sagte Gertrud, und dort stehe ein Denkmal von Kaiser Wilhelm I., und Edgar ließ uns wissen, daß er jetzt mal jene Lokalität aufsuchen müsse, zu der auch der Kaiser zu Fuß gehe.

Papa und ich bekamen je ein Gästezimmer im von-Plettenberg-Stift. Da konnte man sich schon mal darauf einstimmen, wie es sich anfühlte, aufs Altenteil gesetzt zu sein, abgeschnitten von allen Quellen des Vergnügens und dafür eingewiesen in ein steriles Kabuff mit Neuem Testament und Rauchverbot.

Am Dienstagmorgen schlief Oma noch immer. Ihre Gesichtshaut war so dünn wie Pauspapier, und ihre Hände bestanden fast nur noch aus braunen Altersflecken.

Gott der Herr hat sie gezählet …

Was diese Frau alles durchgemacht hatte. Zwei Weltkriege, sechs Schwangerschaften (Fehlgeburten nicht mitgerechnet), Nazizeit, Vertreibung, Hungerwinter, Jahre voller Entbehrungen und einen langen Lebensabend im Rollstuhl. Zwischen Rheumakissen und Pantoffelkino.

Des Menschen Leben: das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch!!) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.

Oma Schlosser, Jahrgang 1899, hatte es auf neunzig Jahre gebracht. Sie war unsere letzte Erinnerung an das 19. Jahrhundert.

Zum Rauchen gingen Papa und ich abwechselnd auf einen Balkon, über dem sich der farblose ostwestfälische Himmel wölbte. Aber der wölbte sich nicht einmal richtig. Der hing bloß herunter wie eine ausgeleierte Gardine.

Wieso ergriffen nicht alle Bielefelder die Flucht aus diesem Loch?

»Sie sollten besser mal hereinkommen«, sagte eine der Altenpflegerinnen zu mir. »Die Nasenspitze Ihrer Großmutter ist etwas wächsern geworden, und das ist ein Zeichen dafür, daß sie wahrscheinlich bald sterben wird.«

Da war Papa gerade zum Mittagessen in die Kantine gegangen.

Ich bat die Pflegerin, ihm Bescheid zu sagen, und eilte an Omas Bett.

Sie atmete nur noch schwach. Ihr Atmen ging in ein Röcheln über, das leiser und leiser wurde. Und immer leiser.

Papa kam herein. Und dann standen wir beide vor Omas Leichnam.

Ein Arzt hielt den Todeszeitpunkt fest: 13.31 Uhr.

»Jetzt bin ich Vollwaise«, sagte Papa, als wir zu den Erhards fuhren.

Gertrud weinte, als wir ihr die Nachricht überbrachten, und wahrscheinlich fühlte sie sich auch erlöst von ihren Tochterpflichten. Sie war selbst nicht mehr die Jüngste, und sie hatte Oma viele Jahre treulich gedient.

Dann begann eine Riesentelefoniererei mit allen möglichen Verwandten. Nach einer Stunde erreichte Papa auch Renate in Italien, und er sagte ihr, daß sie ihren Urlaub nicht abzubrechen brauche, denn davon hätte Oma auch nichts mehr.

Nur Walter und Mechthild waren nicht an die Strippe zu kriegen, weil sie sich bereits auf dem Weg nach Bielefeld befanden.

Ich wollte mir gern das WM-Spiel Deutschland – Kolumbien ansehen, und dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.

Es kam jedoch zu keinem Kantersieg, sondern nur zu einem mühsam erzwungenen 1:1. Und es verdroß mich, daß Franz Beckenbauer in der Halbzeit Uwe Bein ausgewechselt hatte.

In der Hoffnung, Oma Schlosser noch lebend anzutreffen, sahen Walter und Mechthild sich getäuscht.

»Ihr müßt mit uns Lebenden vorliebnehmen«, sagte Edgar.

Die beiden hatten ein Hotelzimmer in Bielefeld gemietet und blieben zum Abendessen. Sie hätten auch im Johann-Fichte-Weg schlafen können, wenn das Dachgeschoß schon fertig gewesen wäre, aber dieses seit vielen Jahren verfolgte Projekt schien sich schwieriger zu gestalten als der Turmbau zu Babel.

Im April hatten Mechthild und Walter Urlaub auf Kreta gemacht. »Da haben wir uns einer deutschsprachigen Führung durch die Tempelanlagen von Knossos angeschlossen. Aber vieles war nicht sachgemäß restauriert worden. Die bemalten Ruinen haben mich eher an Disneyland erinnert«, sagte Walter. Danach habe er an einer Radfernfahrt von Dortmund nach Berlin teilgenommen und die »Buckelpisten« in der DDR kennengelernt. Besonders Magdeburg sehe schlimm aus: »Grau in grau, kaum Farben, der Dom halbverfallen und überall Plattenbauten. Wir sind auch an einem stillgelegten Stahlwerk vorbeigekommen. Die rostigen Hochöfen und die leeren Fabrikgebäude schienen mir direkt beispielhaft für den Verfall der DDR-Wirtschaft zu sein …«

Das Tischgespräch bewegte sich dann von allein in immer tiefere Schichten der Vergangenheit hinab.

Dietrich, sagte Walter, habe als kleiner Junge auf die Frage, was er mal werden wolle, angesichts der Trümmer die Äußerung getan: »Ich will Dortmund wieder aufbauen.« Und er sei ja tatsächlich Bauingenieur geworden.

Dazu merkte Papa an, daß 1945 ganz Deutschland am Hungertuch genagt habe.

»Ich weiß noch«, sagte Gertrud, »daß wir auf der Flucht in Artern an der Unstrut zum Einsatz kamen und daß ich einem alten Rentnerehepaar geholfen habe, also eingekauft, gefegt, gewischt und was so anfiel. Doch nach kurzer Zeit brach im Lager Scharlach aus, und wir wurden unter Quarantäne gestellt. Verbindung nach draußen bestand nur durch die Post. Ich hatte ja überall viele Verwandte, in Berlin, Bochum, Cottbus und Hamburg, und so erfuhr ich recht bald, wo die Eltern und Geschwister gelandet waren. Und ich erfuhr auch, daß unsere liebe Großmutter Charlotte Grote auf der Flucht gestorben war und daß der Großvater Eduard in Swinemünde im Krankenhaus lag. Der Postverkehr lief immer noch reibungslos, was zu dieser Zeit ja eigentlich an ein Wunder grenzte …«

Briefträger im Bombenhagel! Dann schon lieber Spüler auf Norderney.

Am Mittwoch kamen auch Rudi und Hilde aus Hannover nach Sennestadt und nahmen am Eßtisch Platz.

Walter hatte inzwischen bereits Traueranzeigen in drei Dortmunder Tageszeitungen geschaltet – in der Westdeutschen Allgemeinen, der Westfälischen Rundschau und den Ruhr Nachrichten, damit möglichst alle alten Bekannten aus der Zeit, in der Oma und Opa Schlosser in Dortmund gewohnt hatten, von dem Todesfall erfuhren. Walter wollte sich auch um die Abwicklung der Formalitäten kümmern und in den Federkrieg eintreten: mit dem Kreiskirchenamt, der Dortmunder Versorgungskasse für Pfarrer, der Victoria-Lebensversicherung, der Barmenia-Krankenversicherung, dem Postgiroamt und der Stadtsparkasse Bielefeld.

Der Nachlaß sei ja nicht besonders groß, sagte Gertrud. »Aber es sind eben doch ’ne Menge Bücher. Und dann die Schallplatten. Was sie da alles gehabt hat. Händel, Chopin, Telemann, Brahms, Tschaikowski, Mozart, Schubert, Bach und Beethoven und Schütz und Bruch … und natürlich die Kommoden und die Schränke und so weiter.«

Als Bundesverfassungsrichter hatte Rudi es gerade mit einem Fall zu tun, der die Titanic betraf: Ein Querschnittgelähmter, der partout zu einer Wehrübung einberufen werden wollte, hatte einen Prozeß gegen die Bundeswehr angestrengt und war in der Titanic als »geb. Mörder« bezeichnet worden. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte ihm dafür 12000 Mark Schmerzensgeld zugesprochen, und nun mußte das BVG entscheiden, wer recht hatte. »Die freiheitliche Ordnung, die das Grundgesetz konstituiert, schützt auch die Satire«, sagte Rudi, »aber wenn Kurt Tucholsky sagt, daß die Satire alles dürfe, muß sich das Bundesverfassungsgericht dieser Auffassung nicht vorbehaltlos anschließen, denn es kann ja nicht an der Erkenntnis vorbeigegangen werden, daß eine absolut schrankenlose satirische Betätigung von der Verfassung kaum gewollt sein dürfte.«

»Wieso muß sich denn das Bundesverfassungsgericht überhaupt damit befassen, was Tucholsky mal gesagt hat?« fragte Papa.

Solche Äußerungen, sagte Rudi, müßten in Betracht gezogen werden. »Wir leben ja nicht in einem gleichsam geschichtslosen Raum, sondern in einem Gemeinwesen, dessen Vorstellungen vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit und vom Gewicht des Schutzes der persönlichen Ehre einer fortlaufenden Wandlung unterworfen sind, und dieser Wandlung muß das Bundesverfassungsgericht von Fall zu Fall justitiable Konturen verschaffen …«

Oma sollte am Freitag in Dortmund-Großbarop beerdigt werden, neben ihrem Mann, und Papa wollte vorher nochmal nach Meppen fahren und seinen Papierkrieg mit den Behörden weiterführen.

Also wieder zurück über die hirntote, verschissene, von Autohäusern und Kfz-Werkstätten gesäumte B 68 nach Meppen, wo alles Leben schon in der Neandertalerzeit erloschen war.

Abends diktierte Papa mir einen Brief an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte:

Mit Vorgang 1 teilen Sie mir mit, daß der Antrag auf Hinterbliebenenrente eingegangen und in Bearbeitung sei, mit Vorgang 2, daß die erforderlichen Formulare für den Antrag nicht eingesandt worden seien …

Mit diesen Ämtern kämpfte Papa wie ein Sagenheld.

Aus der Stadt brachte ich am Donnerstag außer dem Üblichen auch eine CD mit Songs aus der Zeit Shakespeares mit, gesungen von Alfred Deller, für später, und eine Nummer der Meppener Tagespost. Darin nahm der Sozi Hermann Proske Stellung zu der Planung eines Parkhauses in der Innenstadt:

Wer wird denn dieses Parkhaus in erster Linie annehmen? Das ist doch die Frage. Und: Wer ist denn als Kurzzeitparker darauf angewiesen, nun genau an diesem Punkt, der nach unserer Meinung heute genausowenig akzeptabel ist wie vor drei Jahren, zu parken? Wer morgens um halb zehn auf den Parkplatz »Neuer Markt« geht, der wird feststellen, daß die ersten, die besten Parkreihen besetzt sind mit Wagen, die auch mittags noch dort stehen. Sinnvoll wäre es doch, hier eine wesentlich größere Anzahl von Kurzzeitparkplätzen zu schaffen …

Das hatte er davon, der Proske, daß er zu knauserig gewesen war, Hermann Gerdes und mir ein Getränk zu spendieren, als wir ihn 1980 vor der Bundestagswahl für unsere Schülerzeitung interviewt hatten. Jetzt mußte er sich mit popligen Parkplatzproblemen in Meppen herumärgern, während Rudolf Seiters, der uns eine Cola ausgegeben hatte, Weltgeschichte schrieb.

Von Meppen nach Großbarop war es wieder ein sehr langer Ritt mit Papas altem Jetta. Wir kamen um elf Uhr auf dem Friedhof an, eine ganze Stunde vor Beginn des Trauergottesdienstes, und gingen zu dem ausgehobenen Grab.

Auf dem Grabstein stand:

LASSET IHN UNS LIEBEN,

DENN ER HAT UNS ZUERST GELIEBT.

Im Januar 1961 war Opa Schlosser dort beerdigt worden, und danach hatte Oma Schlosser als Witwe gelebt. Mehr als 29 Jahre lang! Immer nur Gebetbücher und Arien und Leitartikel und die sich mehrenden körperlichen Gebrechen …

Vor dem Friedhof, auf der anderen Seite der Straße, wogte ein Kornfeld im Sommerwind, und auf dem Parkplatz rollten die Pkws der Verwandten ein: Walter und Mechthild mit Christiane, Tante Hanna und Fräulein Kunze, Papas Kusine aus Köln, Gertrud mit Bodo, aber ohne Edgar, und dann auch Doro und Jürgen mit zweien ihrer Trabanten.

Walter hatte schon Trauerkarten drucken lassen und versandt. Eine davon nahm ich an mich, um sie Andrea zu schicken. Auf der linken Innenseite standen Verse von Matthias Claudius:

O Du Land des Wesens und der Wahrheit.

Unvergänglich für und für,

Mich verlangt nach Dir und Deiner Klarheit,

Mich verlangt nach Dir.

Und rechts oben ein Bibelvers:

Denn wir haben hier keine bleibende Statt,

sondern die zukünftige suchen wir.

Hebr. 13,14

»Und der hiesige Pfarrer hat sich vielleicht angestellt!« sagte Walter. »Der meinte, damit Mutter hier beigesetzt werden könne, müsse erst eine Genehmigung von dem Pfarrer eingeholt werden, der für das von-Plettenberg-Stift zuständig ist. Eine total überflüssige Maßnahme. So ein Gnitzepriem!«

Dietrich erschien ohne seine Frau Jutta, weil sie mit Oma Schlosser über Kreuz gelegen hatte. Er stand dann an der Straße und hielt Ausschau nach dem Auto von Rudi und Hilde, und als endlich alle da waren, gingen wir in die Friedhofskapelle.

Vor dem aufgebahrten Eichensarg lagerten die Kränze.

Auf der linken Schleife des von Papa bestellten Kranzes stand:

Auf

Wiedersehen

liebe Mutter

Seine Geschwister hatten sich dagegen alle für ein schlichtes Kreuz als Schleifenschmuck entschieden.

Ein junger Pastor trat auf die Kanzel und hielt eine sehr dürftige Traueransprache. Hatte offenkundig keinen Dunst davon, mit wem er es zu tun hatte, aber wir ließen uns nichts anmerken.

Befiehl du deine Wege

und was dein Herze kränkt

der allertreusten Pflege

des, der den Himmel lenkt …

Als der Sarg ins Grab gelassen wurde, mußte ich aber doch wieder weinen.

»Das war alles so blaß und unpersönlich«, sagte Walter, als wir danach im Café saßen. »Dieser Pastor hat überhaupt nichts aus Mutters Leben erwähnt, sondern nur lauter Bibeltexte verlesen! Das hat sich alles angehört, als ob hier ein Mensch begraben wird, zu dem man keinerlei persönliche Beziehung gehabt hat. Schade, kann ich da nur sagen. Sehr schade …«

Und wieder hinab in die Sedimente der Familiengeschichte. Anfang 1960 sei die Familie nach Dortmund-Großbarop übergesiedelt: »Gertrud und ich unterm Dach und die Eltern mit Dietrich darunter«, sagte Walter. »Und im Nachbarhaus, da wohnte Edgar, der beruflich bei der Firma Zuse tätig war. Ich glaube, Dietrich hat ihm mal meine VW-Autozeitschrift geliehen, und bei der Rückgabe hat Edgar Gertrud kennengelernt. Geheiratet haben die dann, wann war das, ’63 so um den Dreh …«

Was Gertrud nicht bestätigen konnte, weil sie an einem anderen Tisch saß.

Um das vom Pfarrer Versäumte nachzuholen, hielt Dietrich eine Rede über Omas Lebensweg, ihre Kinder- und Jugendzeit, die Jahre in Ost- und Westpreußen, die kargen Nachkriegsjahre, die Verdienste für die Familie, die Jahre nach Opa Schlossers Tod und die rege Teilnahme am kulturellen Leben. »Wenn auch nur in Form von Schallplatten und Büchern.«

Walter hatte eine Inventarliste erstellt. Außer Omas Büchern, Schallplatten und Klaviernoten gab es nicht viel, was sie zu vererben hatte. Eine Schreibkommode, ein paar Schränkchen, zwei Tische, vier bis fünf Sitzgelegenheiten, eine Stehlampe, ein Sofa, einen Zeitungsständer, eine Dralondecke, eine Lamahaardecke, einige Kissen, sechs Tischdecken und einen Rollstuhl.

Ich setzte mich auch einmal neben Dietrich. Es sei »ein Wink mit dem Zaunpfahl« gewesen, sagte er, daß er und seine Geschwister von ihrer Mutter irgendwann alle ihre Briefe zurückgeschickt bekommen hätten. »Nämlich um uns mitzuteilen: Ihr sorgt euch nicht genug um mich!« Dabei hätte sie mit ihrem Schicksal gar nicht so zu hadern brauchen. »Unsere Mutter hatte es doch gut getroffen mit ihrem Altenheim!«

Mir war es nicht so vorgekommen, als hätte Oma Schlosser mit ihrem Schicksal gehadert.

Wir kamen dann auch auf ganz andere Themen, zum Beispiel auf die gängigen Mantawitze. Die müßten für Opel ja katastrophal sein, sagte Dietrich, aber ich hielt es für denkbar, daß es auch Töffel gab, die extra deswegen auf den Manta umstiegen.

Gertrud erzählte wieder von der Flucht: »In den letzten Märztagen rückten die Russen näher, und so wurden wir am ersten April mit dem Bescheid ›Beurlaubung wegen häuslichen Notstandes‹ auf die Reise geschickt. Jetzt waren wir auf uns allein gestellt. Von Bahnhof zu Bahnhof sind wir gefahren. Warten auf Anschluß, überfüllte Züge – kaum glaublich, daß wir doch immer wieder einen passenden Zug gefunden haben!«

»Wer ist wir?«

»Na ja – da etliche Arbeitsmaiden aus dem Westen und aus dem Norden stammten, waren wir eine größere Gruppe. Einige andere von uns sind nach Osten gefahren und wahrscheinlich den Russen in die Hände gefallen. Da ich aber ja nun wußte, wo meine Familie war, habe ich nach Zügen gesucht, die gen Norden fuhren. Mit vielen Unterbrechungen durch Tieffliegerangriffe, Bombenalarm und Aufenthalte auf freier Strecke ging’s von Artern über Sangerhausen, Halle, Magdeburg, Stendal, Uelzen und Lüneburg nach Hamburg …«

Sie wurde von einer Kellnerin unterbrochen, die kassieren wollte, und dann sagte Papa, daß es langsam Zeit sei für die Heimfahrt.

In Meppen erwischte ich noch die letzte Bahnverbindung nach Heidmühle, wo ich mich von der Überdosis Familie erholen konnte.

Es lag ein Brief von Kurt Scheel im Kasten:

Skeptischskeptisch bin ich. Aber da auch neugierig, sollten Sie mir Ihren Text schicken – ich kann Ihnen so ins Blaue hinein keine Versprechungen machen, aber wohl doch sagen, daß ich Ihrem Aufsatz wohlgesonnen sein werde.

Dafür wollte ich noch Material zusammentragen.

Außerdem hatte Renate mir die Kopie eines langen, noch vor ihrem Urlaub an Papa gerichteten Briefs geschickt, in dem sie sich über sein Gebrüll am Telefon, seine Dickköpfigkeit, seinen Alkoholkonsum und seine Bananenkartonwirtschaft beschwerte und ihm riet, sich einen Automatikwagen zuzulegen, eine Kur zu machen und die Renovierung des Hauses dem nächsten Besitzer zu überlassen.

Wie recht Renate hatte! Aber wenn sie glaubte, daß Papa sich ihre Worte zu Herzen nähme, lag sie schief.

Ich ließ mir was von Alfred Deller vorsingen.

Take, O take those lips away,

That so sweetly were forsworn …

Schon stand mir Andrea wieder vor Augen.

And those eyes, the break of day,

Lights that do mislead the morn;

But my kisses bring again

Seals of love, but sealed in vain.

Oma Jever kondolierte mir zu Oma Schlossers Tod und sagte: »Wie gut, daß sie nicht so schrecklich hat leiden müssen wie Inge.« Und es gebe auch erfreuliche Nachrichten – Maxine erwarte nicht nur ein einziges Kind, sondern Zwillinge!

Ob das so erfreulich war?

Im WM-Achtelfinalspiel gegen Holland stellte Beckenbauer Uwe Bein idiotischerweise nicht auf, und dann ging’s holterdipolter hin und her.

Als Frank Rijkaard Rudi Völler angerotzt hatte, zeigte der Schiri einfach beiden die Rote Karte. Das brachte selbst Oma in Rage.

Mit der Zeit gewann das deutsche Team die Oberhand, was besonders dem unermüdlich rennenden Jürgen Klinsmann zu verdanken war.

Endstand 2:1.

Für Ruud Gullit tat’s mir leid. Dem hätte ich den Weltmeistertitel gegönnt.

Im Spiel gegen Kamerun war der kolumbianische Torwart René Huigita zu einem seiner übermütigen Ausflüge aufs Spielfeld aufgebrochen und hatte nahe am Mittelkreis den Stürmer Roger Milla auszutricksen versucht. Und der hatte den Ball erobert und ins leere Tor geschossen.

Aus dem Na Nu vergraulte mich sofort ein blöder Schlager von Marius Müller-Westernhagen:

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Mit Pfefferminz

Mit Pfefferminz

Mit Pfefferminz

Mit Pfefferminz

Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz …

Das sollte er wiederkriegen. Mit einem Artikel in Kowalski.

In meinem Briefkasten fand sich eine Postkarte aus einem Ort namens Marina di Castagneto an:

Lieber Martin, wir haben es hier schön!!! Auch wenn Du’s nicht glaubst, Dir würde es gefallen: Pinienwälder, Wildkräutergeruch, Glühwürmchen und viele Sonnenblumenfelder, Zypressen und Zitronen … Unser Haus ist sehr geräumig, und jeder hat Platz genug. Der Strand ist idyllisch, das Wasser aber dreckig. Heute abend fahren wir (den Sonnenuntergang beobachten) nach oben auf ’m Berg, wo wir schon ’ne Stammkneipe haben. Liebe Grüße von Dagmar, Lisa, Volker, Wiebke, Renate, NANTJE, Olaf + JULIUS

Den Sonnenuntergang konnte man doch aber auch in Deutschland beobachten, wenn einem danach war. Und was hatte ich in Pinienwäldern zu suchen?

Günther Willen unterrichtete mich telefonisch davon, daß in Oldenburg Ende August ein »Jonglierfestival« steige. »Sollten wir zwei beide nicht davon berichten? Als rasende Reporter? Um diesen faulen Zauber mal zu beleuchten?«

Ja, dazu hatte ich Lust.

Leider warf mich dann die nächste dicke Erkältung nieder, und ich verdämmerte drei Tage mit zuer Nase im Bett. In den Wachphasen las ich »Tom Sawyers Abenteuer« – ein Buch, zu dem man immer wieder zurückkehren konnte, auch wenn man es schon zwanzigmal gelesen hatte.

Tom dachte, er könnte sich jetzt von Becky Thatcher unabhängig machen. Ihm genügte der Ruhm. Jetzt, wo er hochgeachtet war, wünschte sie vielleicht, sich wieder mit ihm zu vertragen. Nun, mochte sie – sie sollte mal sehen, daß er ebenso gleichgültig sein konnte wie gewisse andere Leute …

Ich legte das Buch weg und ließ die CD von Alfred Deller laufen.

Alas my love, you do me wrong

To cast me off discourteously;

And I have loved you so long,

Delighting in your company …

Hätte Andrea, diese Schnatze, sich nicht endlich mal aus meinem Seelenleben verziehen können? Nach all der Zeit?

Und was lag im Kasten? Eine Karte von Andrea:

Ich hoffe, daß Ihr neben Eurer Traurigkeit auch Freude darüber empfinden könnt, daß Deine Oma den Tod, den sie sich, glaube ich, schon lange gewünscht hat, gefunden hat.

Es war meine eigene Schuld, denn ich hatte Andrea eine Trauerkarte zukommen lassen. Doch was sollte ich jetzt mit dieser Beileidsbekundung anfangen?

I don’t even care if I ever see her again …

Als sich der »Röhm-Putsch« wieder einmal jährte, fragte ich Oma Jever, was ihr damals durch den Kopf gegangen sei.

»Na, was schon«, sagte sie. »Ich fand das natürlich richtig, daß mit der Bande da aufgeräumt worden ist! Die wollten doch den ganzen Staat kaputtmachen!«

Gespannt war ich auch, wie Oma auf meine acht Schreibmaschinenseiten lange »Geschichte der Deutschen« reagieren würde, die ich für Kowalski verfaßt hatte. Ich las ihr das alles vor, aber sie sagte nichts, bis ich zu dem Abschnitt über die Weimarer Republik kam:

Meistens war man arbeitslos und angetrunken oder auch schön beim Picknick im Grunewald und mit einer modernen Geschlechtskrankheit behaftet. Jedenfalls kannte man sich auf einmal nicht mehr aus und atmete erleichtert auf, als das größte Arschloch aller Zeiten die Macht an sich riß. In ihm erkannten sich die Deutschen freudig wieder.

»Also nein!« rief Oma. »Und du glaubst, daß das gedruckt wird?«

»Wieso nicht? Wenn’s doch die Wahrheit ist?«

Oma schüttelte den Kopf. In einem Winkel ihres Herzens trauerte sie wahrscheinlich immer noch dem Führer nach. Obwohl sie längst zu einem Fan von Helmut Schmidt geworden war. Doch das schloß sich ja nicht aus.

Gegen die Tschechoslowakei, die jetzt ČSFR hieß, ging Deutschland nach einem Strafstoß von Matthäus früh in Führung. Diesmal war auch Uwe Bein wieder dabei. Er trug bloß die Edelreservistennummer 15, doch er schlug sich gut. Ein harsches Torwartfoul an ihm blieb leider ungeahndet.

Der beste Mann auf dem Platz war Jürgen Klinsmann. Wie der rackerte und rannte! Als hätte er zwölf Lungenflügel.

Aber Beckenbauer schimpfte wie ein Rohrspatz, und nach dem Spiel beanstandete der schwabbelige DFB-Chef Hermann Neuberger die mangelhafte Chancenverwertung. Obwohl Deutschland sich für das Halbfinale qualifiziert hatte.

»Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt«, hatte Helmut Kohl anläßlich der deutsch-deutschen Währungsunion erklärt.

Und was war mit dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate?

Seine Heilsgewißheit bezog Kohl wahrscheinlich aus der Erfahrung, daß seine Tischgerichte in den Wirtschaftswunderjahren immer üppiger ausgefallen waren.

Die olle Sonne: Morgens blendete sie mich in der Küche, mittags im Wohn- und Schlafzimmer und nachmittags im Arbeitszimmer. Selbst durch die Schlitze der halb heruntergelassenen Jalousie schienen die Strahlen so rabiat auf meine Schreibtischplatte, daß mir die Spiegelung in den Augen wehtat.

Nachts piesackten mich dafür die Stechmücken. Diese Bestien fanden immer irgendeinen Weg in meine Gemächer. Wie fies die schon aussahen mit ihren aufwärtsgebogenen Rüsseln!

Und Gott sah, daß es gut war.

Ich nicht.

Tante Hanna hatte einen monatlichen Dauerauftrag über 100 Mark für mich eingerichtet, und ich nahm mir vor, als Großonkel irgendwann auch mal so kulant zu sein. Falls ich es mir leisten konnte.

Das Halbfinalspiel zwischen Argentinien und Italien sah ich mir als Gast im Na Nu an. Es ging in die Verlängerung, und beim Elfmeterschießen war ich bereits bei meinem zehnten kleinen Bier angelangt.

Donadoni und Serena hießen die Pechvögel, die an Argentiniens Torhüter Goycochea scheiterten. Konnten die sich in Italien je wieder blicken lassen?

»Die Argentinier sind zu selbstbewußt«, sagte Rainer. »Wenn ich schon sehe, wie der Maradona rumläuft! Immer mit Brust raus! Ich sag es euch – im Endspiel machen wir die platt!«

Der Stammgast Norbert wiegelte ab: Deutschland werde nur alle zwanzig Jahre Weltmeister. Das habe er im Urin.

Nach »Tadellöser & Wolff« las ich Oma peu à peu »Uns geht’s ja noch gold« vor, Kempowskis Roman über die Nachkriegszeit. Der Einmarsch der Russen in Rostock:

Im Schlafzimmer hatten sie Körperpuder ausgestreut, Fettpuder. Die Glasplatte dick voll, das war gar nicht wieder abzukriegen. Wie nach einer Verfolgungsjagd von Dick und Doof: Wie du mir, so ich dir. Alles um und dumm, und überall hingequalstert. »I gitt!«

Von solchen und schlimmeren Erlebnissen war Oma 1945 im britisch besetzten Jeverland verschont geblieben.

Rainer hatte sich in den Urlaub verabschiedet und mir die Schlüsselgewalt überlassen. An dem Abend, als Deutschland im Halbfinale gegen England antrat, wagte ich es, das Na Nu zu öffnen, nachdem ich das angestammte Personal zusammentelefoniert hatte: Steffi, Ina und Joanne für den Thekendienst und den DJ Ulf aus Wittmund für die Mucke.

Der Laden füllte sich blitzgeschwind und war beim Anstoß rappeldickevoll.

Und Deutschland spielte wieder ohne Uwe Bein und rettete sich nur mit sehr viel Glück in die Verlängerung.

Pearce und Waddle hießen diesmal die Unglücksraben, die beim Elferschießen versagten. Damit war Deutschland im Endspiel.

Es wurde gesoffen und gebrüllt, und wir machten enorm viel Umsatz, aber dann wollte ich die Meute auch mal loswerden.

We are the champions

We are the champions

No time for losers …

Als ich die Tür um halb fünf Uhr morgens zuschloß, schwor ich mir, sie für das Endspiel nicht wieder zu öffnen.

Die Italiener, so stand es in der Nordwest-Zeitung, seien »im Elfmeterscheißen am Maradona-Team gescheitert«. Ich mußte immer wieder lachen, wenn ich mir diesen Druckfehler ansah, und wunderte mich dabei selbst über mein schlichtes Gemüt.

Erst jetzt wurde mein Beitrag für das Maiheft von Kowalski honoriert. Als Supermarktkunde wäre man verhaftet worden, wenn man sich mit dem Bezahlen so viel Zeit gelassen hätte.

Post vom Lotus-Hof: Man solle nach Möglichkeit »kostbare Baumwoll- und Seidentücher«, Parfums und Massageöl, Schmuck und Schminke sowie »Kristalle« mitbringen.

Ich besaß nichts von alledem. Schon gar keine Kristalle. Sowas kam mir nicht ins Haus.

Oben auf dem Speicher lagen im Dannhalmsweg lauter alte Ausgaben der Hörzu herum. Mit dem Fernsehprogramm von 1969: Lassie, Bonanza, Westlich von Santa Fé, Die kleinen Strolche, Pat und Patachon, Daktari, Yancy Derringer, Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger, Big Valley und Skippy, das Buschkänguruh. Das hatte ich alles gesehen. Aber wie hatte ich es dann geschafft, trotzdem jeden Tag im Wald zu spielen?

Das Endspiel in Rom kuckten Oma und ich uns zusammen an. Die mauernden Argentinier und die glücklos agierenden Deutschen …

Auf Uwe Bein hatte Franz Beckenbauer wieder verzichtet. Plemmplemm.

»Völlig destruktive Spielweise bisher der Argentinier«, erklärte Karl-Heinz Rummenigge. »Völlig untypisch südamerikanisch!«

Untypisch südamerikanisch? Vielleicht hatte er »völlig typisch unsüdamerikanisch« gemeint. Was allerdings auch nicht gescheiter klang.

»Das einzige, was wir positiv umsetzen müssen, sind die Chancen zu verwerten«, sagte er außerdem noch, und da machte ich im Geiste noch einmal drei Kreuze: Wie weise von mir, daß ich meine Spielerkarriere bereits in der B-Jugend des SV Meppen abgebrochen hatte! Tagtäglich mit Eierköpfen wie Rummenigge auf dem Platz zu stehen, das wäre mir schlecht bekommen.

Ich hatte mich schon auf eine Verlängerung eingestellt, als der Schiedsrichter sieben Minuten vor Schluß auf Elfmeter für Deutschland entschied. Die Argentinier drehten fast durch – sie zeterten auf den Schiri ein und droschen den Ball weg und führten sich auf wie die Narren, obwohl ihnen klar sein mußte, daß sie damit nur die Zeit vertändelten, die ihnen noch blieb, um den drohenden Rückstand aufzuholen. Welcher Schiedsrichter hatte jemals wegen lauten Gemeckers eine Entscheidung rückgängig gemacht?

Andreas Brehme, in dessen Haut ich in diesem Moment nicht hätte stecken mögen, lief an und traf ins linke untere Eck.

1:0 für Deutschland.

Oma ging danach aufs Klo und kehrte erst zur Siegerehrung zurück.

In einem und demselben Jahr die Wiedervereinigung und der Weltmeistertitel, das war eigentlich zuviel des Guten für die Deutschen.

Einmal hielt auch Uwe Bein den WM-Pokal hoch. Es mußte eine Tortur sein, mitfeiern zu müssen, ohne mitgespielt zu haben …

Franz Beckenbauer sah man einsam über den Rasen schreiten, mit den Händen in den Hosentaschen, während auf den Rängen alles johlte.

Ich wollte noch ein Bier zischen, im Jever Faß, aber es gab kein Durchkommen: Die halbe Stadt war auf den Beinen, grölte, tobte, schrie, blockierte die Mühlenstraße und versuchte, die in den Massen steckengebliebenen Pkws umzukippen; Besoffene kletterten an den Verkehrsschildern hoch und schwenkten Deutschlandfahnen oder schmissen mit Bierflaschen und Böllern, und es wurde nach Kräften in die Rabatten gebrunzt. Wenn Deutsche sich freuten!

Über den Umweg Von-Thünen-Ufer – Schlachtstraße – Neue Straße arbeitete ich mich von hinten an den Alten Markt heran und schlängelte mich durch ins schweißdampfende, brodelnde und von Schlachtgesängen tosende Jever Faß, wo es dann fast unmöglich war, zum Tresen vorzustoßen. Von dem Bier, das ich mir schließlich erkämpfte, ging im Gedränge die Hälfte verschütt, während Tony Marshall aus den Boxen blökte:

Ach, laß mich doch in deinem Wald der Oberförster sein,

der Oberförster sein, der Oberförster sein …

Selbst auf der Toilette wütete das Volk wie in der Tobsuchtszelle. Ein Australopithecus packte mich am Hemdkragen und röhrte mir ins Gesicht: »Öi doh, Alder – wir sünn Wäldmeisdoh!«

Ich stahl mich hinaus und zog ins Godewind in der Schlachtstraße um, wo es nicht ganz so voll war und etwas gesitteter zuging.

Dort saß Ulf, der DJ. Als er mich erkannte, kam er angeflitzt und bekniete mich, das Na Nu zu öffnen: »Wann ist in Jever schomma so ’ne Stimmung gewesen? Das ist die Nacht der Nächte! Party, Party, Party! Martin, los – faß dir ein Herz!«

Dem Mob die Pforten öffnen? Und ganz allein hinterm Tresen stehen, während Ulf den Irren einheizte? Die hätten den ganzen Laden auseinandergenommen …

»Was denn, was denn!« sagte Ulf. »Die wollen doch bloß feiern! Und ich hätte jetzt echt tierisch Bock darauf, Mucke zu machen!«

Nein. Ich blieb eisern. Und als ich auf dem Rückweg noch einmal dem rülpsenden Pöbel begegnete, war ich überzeugter denn je, daß ich richtig gelegen hatte.

Am Tag nach dem Spiel hatte Beckenbauer getönt: »Ich glaube, daß die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird. Das tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden für die nächsten Jahre nicht zu besiegen sein.«

Schlimm genug, wenn er das wirklich dachte. Aber es auch noch sagen?

Mit dieser Bürde mußte sich der neue Bundestrainer Berti Vogts nun als Nachfolger des Teamchefs Beckenbauer abplagen.

Der Kicker, dessen Redakteure vermutlich betrunken gewesen waren, erschien am Montag mit der Schlagzeile:

1:0 im großen Finale vom Rom

Und die Bundesregierung wandte sich über eine große Anzeige in der Bild-Zeitung ans Volk:

VORBILD ÜBER DEN SIEG HINAUS – Gratulation dem Fußball-Weltmeister! Mit Freude am Spiel, Stärke und Durchhaltevermögen hat unsere Mannschaft alle begeistert. Unsere Spieler setzen sich für ein Leben ohne Drogen ein und stehen dazu. Die Bundesregierung dankt den Weltmeistern für ihr Engagement bei der Initiative KEINE MACHT DEN DROGEN.

Gleich daneben berichtete Bild, wie unsere Spieler sich nach dem Schlußpfiff für ein Leben ohne Drogen eingesetzt hatten:

In der Kabine des Weltmeisters geht die Post ab. Die Korken knallen, 40 Flaschen »Clicquot«-Champagner machen die Runde. Völler und Klinsi tanzen unter der Dusche. Kurz nach 23 Uhr läuft der Kanzler ein. »Männer, ich bin stolz auf euch«, sagt er gerührt. Schampus-Fontäne – Völler zielt auf Kohl … Nach dem Essen geht die Feier erst richtig los … Ausgelassen tanzen Häßler und Kohler auf dem Tisch, klatschen zur Musik – bei der Party im Hotel ging’s hoch her. Da wurde lautstark gesungen und kräftig gebechert … Beim Käpt’n würde beim Alkohol-Pusten das Röhrchen platzen – er fällt DFB-Präsident Neuberger in die Arme … Morgens um 6 fallen die Helden in die Betten … Nur eine Stunde später stürmt Bein auf Littis Zimmer, Schampus spritzt durch die ganze Bude …

Interessant auch, was sich so bei der vergleichenden Zeitungslektüre ergab.

Dirk Schümer in der FAZ:

1990 hat man zu politischen Anlässen genug schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken gesehen, als daß man sich ihrer beim Fußball noch hätte schämen müssen. Doch genau wie bei der Wiedervereinigung ist hier nichts von einem arroganten Überlegenheitsgefühl zu spüren.

Nordwest-Zeitung:

Zur selben Zeit zettelten Hunderte Rechtsradikale in Ostberlin schwere Krawalle an … Auseinandersetzungen zwischen Skinheads und Hooligans … mit Eisenstangen und Knüppeln … Danach zogen laut Volkspolizei Gruppen von Randalierern zum Alexanderplatz, wo sie Scheiben einwarfen und Passanten angriffen. Nach Augenzeugenberichten machten Neonazis in Ostberlin regelrecht Jagd auf Vietnamesen, die sich in Hauseingänge und Restaurants flüchten mußten. In Köln drohte die Menge kurz nach Mitternacht einen 18jährigen Türken zu lynchen. Der Mann war mit seinem Wagen zwischen den Fußballfans eingekeilt worden. Als die Menge begann, seinen Wagen zu wippen, um ihn umzukippen, verlor er die Nerven und gab Gas. Sein Wagen erfaßte drei Personen. Nur durch Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas konnte die Polizei den jungen Mann vor der aufgebrachten Menge retten. Daneben kam es in fast allen größeren Städten der Bundesrepublik zu Schlägereien und zum Teil auch Plünderungen. Randalierer schmissen Scheiben ein, beschädigten Autos, griffen Passanten an, zerstörten Ampelanlagen und verwüsteten Ladengeschäfte.

FAZ:

Verschüttete Fähigkeiten sind freigeworden, sich einfach freuen können, wie es überall auf der Welt selbstverständlich ist. Diese unschuldige Freude ist vor dem Fernseher allein nicht auszukosten. Von den Autocorsi der Italiener, von den Gesängen der Briten, von den Trommeln der Afrikaner und von den wilden Tänzen der Südamerikaner haben die Deutschen spät gelernt, daß Glück ein soziales Ereignis sein kann und daß es wunderschön und selbstverständlich ist, dieses Glück auch zu zeigen.

Jeversches Wochenblatt:

Doch leider artete dieses sicherlich spontane Volksfest unter freiem Himmel aus. Es flogen Flaschen durch die Gegend und mancher wohl hirn(kopf)loser Fußballfan, oder waren es gar keine Fußballfreunde mehr, warf die gläsernen Geschosse Autos hinterher. Auch waren Fensterscheiben Ziele dieser unverständlichen Gewalt. Vielleicht waren es die jeverschen Rechtsradikalen, die mit den alten Reichskriegsfahnen auf dem Alten Markt unübersehbar waren. Sie hatten die meiste Kraft und wackelten so manchen Pkw-Fahrer kräftig durch.

FAZ:

Und darum ist Nietzsches Wort vom »dionysischen Zauber« auch nicht zu hoch gegriffen.

Wochenblatt:

Zahlreiche Sachbeschädigungen konnten die Polizisten nicht verfolgen, weil sie eben nur zu zweit für den gesamten nördlichen Bereich des Landkreises zuständig waren. Verstärkung aus anderen Reserven zu holen, war ebenfalls unmöglich, weil überall die Fußballer hupend und auch randalierend durch die Innenstädte hupften.

FAZ:

So wurde die Weltmeisterschaft zum Kraftwerk guter Gefühle.

Wochenblatt:

Am frühen Morgen blieb es dann den Mitarbeitern des städtischen Bauhofes überlassen, die Scherben zusammenzufegen.

FAZ:

In unserer entzauberten Welt sind solche Momente der Überschreitung allzu rar geworden.

Dem Verfasser hätte ich ja gewünscht, die besagten Momente der Überschreitung einmal als Insasse eines gewippten Autos auszukosten.

Renate fragte an, ob Lisa mich besuchen dürfe, und ich willigte ein, obwohl ich nicht wußte, was ich dem Mädchen groß bieten sollte außer dem Waldschlößchenkarussell, dem Schloßgarten und dem guten Essen bei Oma.

Auch Günther Willen hatte, wie er mir schrieb, nach dem Abpfiff allerlei erlebt.

Es ist mal wieder so weit: Wir haben den Pott geholt, und ich bin bei der anschließenden Jubelfeier auf dem Hamburger Kiez mit einem blauen Auge davongekommen, als nämlich sehr unerfreuliche Hooligans eine Kneipe kurzerhand aufmischten.

Die hatten anscheinend gleichfalls gelernt, daß Glück ein soziales Ereignis sein kann und daß es wunderschön ist, dieses Glück auch zu zeigen.

Lisa kam mit dem Zug, ganz allein, und ich fütterte sie mit Pizza und Eis ab und las ihr Gedichte von Christian Morgenstern vor.

Die Tamilen waren ihr nicht geheuer, aber das legte sich bald.

Wir spielten auch mal Federball im Garten, und im Forst Upjever ließ ich Lisa Blumen pflücken. Obwohl sie in der Schule schon vom Pesthauch der Bruchrechnung angeweht worden war, schien sie die Welt für einen guten Ort zu halten.

»Du bist ja ein aufgewecktes Mädchen«, sagte Oma zu ihr, nachdem Lisa sie im Malefiz geschlagen hatte. »Neun Jahre alt und mir schon über! Aus dir wird mal was!«

Auf dem Moorlandweg entdeckte Lisa zwei Libellen, eine Eidechse und einen Hundehaufen. Wunder der Natur!

Den Pferden gaben wir Grasbüschel zu fressen, und zuhause steckte ich die nächsten Pizzen in den Ofen.

Ich hatte mir drei CDs von Marius Müller-Westernhagen gekauft.

Dein Zimmer, Zigarettenrauch

Ich wußte, daß du mich nicht brauchst

Genommen dich, gedacht an sie

Ich habe ihr niemals verziehn …

»Warum hörst du dir das an?« fragte Lisa.

»Weil ich einen Artikel über diesen Sänger schreiben will.«

»Und findest du den gut?«

»Nein.«

Du hast mich in Licht getaucht

Hast mir gezeigt, daß, wenn ich glaub’,

Meine Sehnsucht Sterne schmelzen kann …

Dann doch besser gleich Peggy March oder Julio Iglesias.

Am schlimmsten war es, wenn Müller-Westernhagen sich als hoch über allen Parteien stehender Durchblicker in Szene setzte:

rechte, linke, liberale

erkennen auf ’ner konferenz

daß sie sich stets gestritten haben

nur auf kosten von uns menschen …

Allein von den Reimen konnte man Zahnschmerzen kriegen. Müller-Westernhagen reimte »gemerkt« auf »Berg«, »dann« auf »zusammen«, »Regeln« auf »geknebelt«, »Verstand« auf »Gegenstand« und »Lösung« auf »Verblödung«.

Um Lisa zu beschäftigen, gab ich ihr meine alte mechanische Schreibmaschine. »Du kannst ja selbst mal was tippen …«

So kam es, daß auch Lisa den Liedermacher Müller-Westernhagen verriß:

Er ist 5,22 Meter groß. Wenn er singt hören ihm viele Millionen Menschen zu, obwohl sich das anhört wie Kinderzahnputzglas-Zahnbürste (Es würde mich nicht wundern wenn das Glas einen Sprung hätte) oder eine lehre Bierdose mit Frauenstimme. Die auch noch Schluckauf hat. Ich wette diese Flasche kriegt für jedes Lied 100000 DM. Er sieht genau aus wie klein doofi, ich verstehe garnicht warum man ihn mit so einer spitzen Nase als Sänger nehmen konnte, noch dazu ist er breitschultrig. Mir gefallen solche Typen nicht die wenn sie ihre Lieder selber dichten zu reimen versuchen und irgentwelchen mist zusammenkratzen z.B. Verstand zu Gegenstand so ’n Scheiß mußten mein Onkel und ich uns anhöhren.

Diesen Text legte ich meinem Artikel bei.

»Glaubst du, daß das veröffentlicht wird?« fragte Lisa.

»Kann schon sein …«

Helmut Kohl besuchte Michail Gorbatschow im Kaukasus: Kohl mit Strickjacke und Gorbatschow im Pulli.

Eigentlich unfair, daß Kohl jetzt die Ernte der Entspannungspolitik einfuhr, die er immer bekämpft hatte. Aber alles besser als ein Atomkrieg.

Und: Gorbatschow habe Deutschland die volle und uneingeschränkte Souveränität zugebilligt.

Hatten sie den bestochen?

Von der Riesenrutsche im Waldschlößchen wollte Lisa überhaupt nicht wieder weg, und ich konnte es ja verstehen, aber nach einer halben Stunde wurde ich ungeduldig.

»Oma wartet auf uns mit dem Mittagessen!«

»Och, Onkelchen! Kann ich nicht trotzdem nochmal rutschen?«

Bei Tolksdorf kaufte ich Christa Wolfs umstrittene Novelle »Was bleibt«. Es ging darin um eine DDR-Schriftstellerin, die von der Stasi observiert wird und vor sich hin monologisiert. Und alles war sagenhaft schlecht geschrieben:

Mit leiser Bestürzung beobachtete ich, wie ich anfing, aufzuatmen.

O weh.

Eine Geschichte des schlechten Gewissens, dachte ich, wäre einzubeziehen in das Nachdenken über die Grenzen des Sagbaren; mit welchen Wörtern beschreibt man die Sprachlosigkeit des Gewissenlosen, wie geht, fragte ich mich, Sprache mit nicht Vorhandenem um, das keine Eigenschaftswörter, keine Substantive an sich duldet, denn es ist eigenschaftslos, und das Subjekt fehlt ihm durchaus, so wie das gewissenlose Subjekt sich selber fehlt, dachte ich weiter, doch stimmte das überhaupt?

Was für ein Krampf.

Das Wort »Dunkelziffer« hakte sich in mir fest …

Ich glaubte ihr kein Wort. Eine Schriftstellerin, die dachte, daß eine Geschichte des schlechten Gewissens in das Nachdenken über die Grenzen des Sagbaren einzubeziehen wäre, hätte erst einmal Deutschunterricht nehmen sollen.

Renate kam dann mit Nantje und Julius für zwei Tage zu Besuch und kassierte Lisa wieder ein.

Alone at least! So süß die Kinder auch waren – das Leben in Freiheit war süßer. Lesen, fernsehen, niemanden betütern müssen, einkaufen gehen, wann es einem gerade paßte, sich alleine was brutzeln, blauen Dunst an die Decke pusten, ohne damit ein Kind zu vergiften, bis drei Uhr morgens am Schreibtisch sitzen und danach schlafen, so lange man wollte: Vermißten das die Leute nicht, die diesen Lebensstil gegen Elternabende, Lärm und schmutzige Windeln eingetauscht hatten?

Günther Willen bat mich brieflich, einen Meinungsstreit zu schlichten:

Als ich neulich im Café unter den Linden (Juliusstr./Ecke Lippmannstr.) ein »Jever« bestellte (und es wie »Jefa« aussprach), stellte mir die Bedienung ein Hefeweizen hin, was ich glattweg ablehnte. Hefeweizen! Das muß man sich mal vorstellen! Es entbrannte ein heftiger Streit um die richtige Aussprache von »Jever«. Sogar ein paar Tunichtgute vom Nebentisch schalteten sich in das Streitgespräch ein und plädierten durch die Bank für »Jewer«. Haben die denn keine Ahnung? Oder ist mein Vogel-Vau in der Mitte falsch? Herr Schlosser, bitte beenden Sie diese feuchte Aussprache! Tun Sie mir den Gefallen, schließlich sind Sie unser Jever-Experte. Außerdem habe ich mit dem Öko-Frollein um eine Flasche Pils gewettet.

Ich antwortete ihm, daß man Jever natürlich »Jéfer« ausspreche. Und nicht so wie in der Pilsreklame.

Revolution bei der Bundesbahn: Ich erhielt ein computererstelltes Fahrplanauskunftsformular. Die Zeiten, in denen Beamte mit angelecktem Zeigefinger im Kursbuch geblättert hatten, schienen vorbei zu sein. Das war mal ein Fortschritt nach meinem Geschmack.

Im Lotus-Hof hatte sich seit meinem letzten Aufenthalt nichts geändert. In der Tenne miauten die Katzen, im Garten leuchteten die Blumen, und Laila und Ganesh begrüßten alle Teilnehmer des Workshops überschwenglich.

Zehn Frauen, sechs Männer. Besser als umgekehrt. Es waren mehrere Lehrer und Lehrerinnen darunter, wie sich gesprächsweise herausstellte.

»Und was hast du in der Zwischenzeit so für Kurse gemacht?« fragte Ganesh mich.

Ich erwiderte, daß ich keine Kurse belegt, sondern viel geschrieben hätte.

»Aber du mußt doch an dir arbeiten!« sagte er da.

An mir arbeiten? Ein merkwürdiges Konzept für einen Tantriker. War einem das Leben denn geschenkt worden, damit man was zu tun hatte? Wie ein schwäbischer Häuslebauer? Und nicht, damit man es genoß?

In der Vorstellungsrunde fiel mein Blick vor allem auf Bettina, eine Gartenarchitektin mit Sommersprossen und langen braunen Haaren, und auf Anke, eine mandeläugige Lehramtsanwärterin aus Detmold, die mit Bettina befreundet zu sein schien.

Von den Männern war mir ein schlaksiger, etwas scheuer Typ namens Dieter am sympathischsten.

Wir tanzten uns ein.

Oh, how we danced and we swallowed the night

For it was all ripe for dreaming …

Wenn ich nur nicht immer so geschwitzt hätte!

Bei den Zweierübungen versuchte ich Bettina oder Anke anzusteuern, doch da mußte ich mich gar nicht sonderlich bemühen: Sie kamen schon von sich aus auf mich zu, und beim Abendessen saß ich zwischen ihnen.

Mit meinem Beruf schien ich punkten zu können. Schriftsteller, das machte irgendwie mehr her als Ergotherapeut, Krankengymnast oder Erdkundelehrer.

Dieter war Augenarzt und erzählte ein bißchen von seiner Arbeit, doch dann brachte jemand das alles niederkartätschende Thema Sternzeichen auf.

Als sie mitkriegte, daß ich Stier mit Aszendent Stier war, rief eine Frau namens Marianne aus: »Oh, wie schön! So ein treuer Mann!«

In dem mit Matratzen ausgelegten Gruppenschlafzimmer schlug Bettina ihr Nachtlager gleich neben meinem auf, und wir kamen uns näher.

Aber hatte ich mir das auch gut überlegt? Sie war schon 37 Jahre alt. Das heißt: Sie ging auf die 40 zu. Während ich noch ein Twen war. Andererseits mußte ich sie ja nicht gleich heiraten. Und sie roch so gut! Und ihre Finger waren überall … und ihre Zunge …

In der nächsten Nacht wollten wir uns ein Zimmer suchen, in dem nicht so viel Betrieb war.

Beim Frühstück erläuterte Bettina mir ihre berufliche Arbeit. »Ich sorge dafür, daß die Energie im Garten fließen kann«, sagte sie. Die Chinesen würden das als »Qi« bezeichnen. Das sei der kosmische Atem des grünen Drachen. Und »Feng Shui« bedeute »Wind und Wasser«. »Das ist das chinesische System, das die Energiemuster in der Umgebung harmonisiert.«

»Und wie sieht deine Auftragslage aus?«

»Die könnte besser sein. Ich komm schon aus, aber ich würde einfach gern mal richtig Patte haben!«

Nachdem wir uns alle im Liegen eine Kassette mit einer Lecture von Osho angehört hatten, sagte Anke, daß sie dabei das Gefühl gehabt habe, sich innerlich umzudrehen. »Als hätte ich mich vom Kopf auf die Füße gestellt … ganz komisch …«

Ganesh stellte dann fest, daß die Kassette den Titel »Die 180-Grad-Meditation« trug. Das sei doch ’n Ding, sagte er. »Findet ihr nicht auch?«

Tanzen, Schreien, Lachen, Weinen – alles kein Problem für mich.

Ihm falle es schwer, so aus sich herauszugehen, sagte Dieter, als er neben mir in der Sauna saß, die Laila und Ganesh in ihrem Bauernhof installiert hatten. »Ich bin acht Jahre älter, und du hast dich schon viel weiter entwickelt als ich …«

Na ja. Ich und meine Entwicklung! In meinem Alter war Bob Dylan längst weltberühmt gewesen, während ich noch nicht mal einen Verleger hatte.

Bettina begab sich in der Mittagspause auf einen Spaziergang, und ich landete im Wohnzimmer unter einer Decke mit Anke.

Sie schmiegte sich an mich und küßte mich und knöpfte mir die Hose auf und hauchte mir ins Ohr: »Ich bin so geil auf dich …«

Um mich entgegenkommend zu zeigen, streifte ich meine Hose ab, und wir rangelten unter der Decke, bis Anke mir mitteilte, daß sie es nicht verantworten könne, ihre beste Freundin zu betrügen.

Potzblitz! War ich jetzt bereits Bettinas Eigentum? Ich hatte mich als freier Mann zu diesem Workshop begeben und seither noch keiner Frau die Treue gelobt, aber Anke entzog sich mir, weil sie Bettinas Besitzansprüche respektierte. Die Bettina ihrerseits noch überhaupt nicht angemeldet hatte.

Scheißbesitzdenken. Und das unter Tantrikern.

Ich schnappte mir ein Buch von Osho und setzte mich damit auf eine Gartenbank.

Die Metaphysik, erklärte er, sei das Sinnloseste, was es auf der Welt gebe:

Laßt lieber euren inneren Schwachsinn heraus,

was es auch sein mag.

Versucht nichts zu manipulieren,

versucht nicht, etwas zu rationalisieren

und zu beschönigen.

Laßt die Dinge so ungehobelt, wie es nur geht.

Und:

Es sieht paradox aus, aber es ist wahr,

und ich muß es euch sagen:

Wenn Fragen da sind, gibt es keine Antwort.

Wenn keine Fragen da sind, ist die Antwort da.

Hatte ich noch irgendwelche Fragen? Außer der, wie Anke darauf kam, daß es ein Verrat an Bettina gewesen wäre, mit mir zu schlafen?

Von Laila erwirkte Bettina abends die Erlaubnis, daß wir im Musikzimmer des Bauernhofs nächtigen durften. Sie hatte auch schon eine Matratze und Kondome organisiert.

Als wir dort zur Sache kommen wollten, klopfte es an der Tür: Anke und Dieter fragten an, ob auch sie in diesem Zimmer Quartier nähmen dürften.

»Klar doch«, sagte Bettina. »Hier ist ja genug Platz.«

Es begann ein längeres Intermezzo, in dem Anke und Dieter eine eigene Matratze hereinschleppten und sich am anderen Ende des Zimmers niederließen, während Bettina und ich mit uns selbst beschäftigt waren.

Ich brauchte drei Anläufe, bis ich mir in der Dunkelheit eines der Kondome richtig herum übergestülpt hatte.

Etwas geschmälert wurde der Genuß durch das Getuschel zwischen Anke und Dieter.

»Ich kann das nicht, wenn sich andere Menschen im selben Raum befinden«, sagte er.

»Doch, du kannst das«, sagte sie.

»Aber die hören uns«, sagte er.

»Die hören nur sich selbst«, sagte sie.

»Bist du sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

Die nächsten drei oder vier Sätze wurden von Bettinas Stöhnen übertönt, aber als ich mein Tempo verlangsamte, um nicht zu früh auf die Siegerstraße zu geraten, war leider wieder alles zu verstehen.

»Fick mich«, sagte Anke.

»Ich kann das nicht, wenn noch andere Menschen im Zimmer sind«, sagte Dieter.

»Und ob du das kannst …«

Die Geräusche ließen darauf schließen, daß er es dann immerhin versuchte, wenn auch ohne großen Enthusiasmus, und da verstand ich auf einmal, was Frauen an sensiblen Männern auf die Nerven ging.

Wer wollte, konnte sich jeden Morgen unter Ganeshs Anleitung schon vor dem Frühstück einer Dynamischen Meditation unterziehen. Bettina wollte mich zum Mitmachen überreden, aber das war mir zu happig. Hochleistungssport auf nüchternen Magen? Ich drehte mich lieber nochmal auf die andere Seite.

»One orgasm a day keeps the doctor away«, sagte Ganesh zu mir, als ich ins Wohnzimmer kam, und dann legte er eine CD von Bob Marley auf und tanzte dazu.

Old pirates, yes they rob I,

Sold I to the merchant ships …

Es wäre schwer zu beschreiben gewesen, wie malerisch die Sonne dabei durchs Fenster schien.

Won’t you help to sing

These songs of freedom?

Seltsam nur, daß Bob Marley seinen Fans in diesem Lied davon abriet, sich vor der Atomenergie zu fürchten. Als hätte er dafür Schmiergeld von General Electric erhalten …

Es waren berückende Tage, aber nach all den Massagen und Meditationen und Fruchtbarkeitstänzen freute ich mich sehr auf die Zweisamkeit mit Bettina in ihrem Häuschen bei Westerkappeln im Kreis Steinfurt. Von Sonntag bis Dienstag wollte ich bei ihr bleiben.

»Da wohnt auch noch mein Ex-Freund Markus«, sagte sie. »Aber mit dem wirst du dich schon verstehen. Der würde gern nach Osnabrück ziehen, hat aber noch nichts gefunden. Er will da jetzt Deutsch auf Lehramt studieren, weil es mit der Ökogärtnerei nicht so läuft, wie er sich das vorgestellt hat …«

Nach Westerkappeln fuhren wir mit Bettinas altem VW-Käfer, aber nicht über die blöde A1, sondern über lauschige Nebenstrecken. Schafgarbe, Roggen, Eichen, Birken und Sonnenblumen, dazu das Aroma der flirrenden Sommerluft und meine Hand auf Bettinas Oberschenkel: Wenn der liebe Gott sich Kreaturen wünschte, die seine Schöpfung zu schätzen wußten, dann konnte ich ihm zu Diensten sein. Auch wenn ich mit ihm mal ein ernstes Wort über Hautkrebs, Malariaparasiten und andere Fehlkonstruktionen zu reden gehabt hätte.

Kurz vorm Ziel spielten drei Kinder auf der abschüssigen Straße, und ich ermahnte Bettina, die Geschwindigkeit zu drosseln.

»Es wäre schlauer, keine ängstlichen Gedanken auf solche Kinder loszulassen«, sagte sie. »Ich sehe die hier öfter, und ich schicke immer ein Gebet zu ihnen hin!«

Zuhause zeigte Bettina mir ihre fünf Pferde. Die grasten auf einer Weide, die sie gepachtet hatte.

Ihr Ex kam auf einem Traktor angeknattert, schüttelte mir kurz die Hand und fuhr weiter.

»Seit wann lebt ihr denn auf dieser Ponderosa?« fragte ich Bettina.

»Erst seit einem Jahr. Wir hatten vorher ’ne Wohnung in Ibbenbüren und haben uns immer danach gesehnt, irgendwo auf dem Land zu leben, wo man in der Erde wühlen und Pferde halten kann, und dann haben wir getreu der esoterischen Regel, daß alle Wünsche sich erfüllen, genau aufgeschrieben, wie unser Traumhaus und das Grundstück beschaffen sein sollten. Dieses Haus und dieses Grundstück hat das Universum uns dann auch geschenkt. Das einzige, was wir vergessen hatten, war der Wunsch, daß das Haus trockene Wände haben sollte, und deswegen sitzen wir hier in ’ner feuchten Bude fest …«

»Und wieso habt ihr euch getrennt?«

Sie hätten sich irgendwie auseinandergelebt, sagte Bettina. »Und jetzt laß uns mal was essen.«

Ich war es nicht gewohnt, in Gesellschaft einer Geliebten und ihres Ex-Freundes ein Omelett zu verschmausen, aber meine Anwesenheit schien Markus nicht zu stören. Als er hörte, daß ich vom Schreiben lebte, empfahl er mir eine Bewerbung beim »Literaturtelefon«. Das gebe es in fast allen größeren Städten. »Du sprichst da irgendeinen Text von dir auf Band, und der ist dann per Telefon abrufbar. Dafür kriegst du auch Geld, und du würdest deinen Bekanntheitsgrad steigern. Wo wohnst ’n du?«

»In Friesland.«

»Und was ist da die nächste größere Stadt?«

»Oldenburg.«

»Na siehste. Da gibt’s unter Garantie ’n Literaturtelefon …«

Er konnte gar nicht begreifen, daß mich das nicht interessierte.

Nachdem Bettina ihre Pferde in den Stall getrieben und mit Futter versorgt hatte, setzten wir uns aufs Stroh und sahen ihnen zu.

Ich hätte es ja etwas eintönig gefunden, immer nur herumzutraben und zu fressen, aber diesen Pferden schien ihr Leben zu gefallen. Sie kauten und wieherten und scharrten und verbreiteten eine Atmosphäre großen Wohlbehagens.

»Hier sitze ich abends immer«, sagte Bettina. »Das ist auch ’ne Form der Meditation.«

Am Montag mußte sie zu einem schwierigen Kunden nach Lengerich und ihn davon überzeugen, daß es ein Fehler wäre, alle Gartenwege im rechten Winkel zueinander anzulegen.

Ich aber konnte ausschlafen und mich anschließend einem zeitlich unbegrenzten Brunch hingeben. Müsli, Kaffee, Schokolade, Kirschen, Toast mit Butter und Johannisbeergelee …

Und danach ein Wannenbad mit Mandel- und Lavendelblütenöl aus Bettinas Medizinschrank und einem Roman aus ihrem Bücherregal: »Angst vorm Fliegen« von Erica Jong.

Die Voraussetzung für den wahren, optimalen Spontanfick: Man sollte den Partner nicht zu genau kennenlernen. Ich habe beispielsweise festgestellt, daß jede Betörtheit sich verflüchtigt, sobald ich mich einem Mann befreundet fühle, an seinen Problemen teilnehme, ihm zuhöre, wenn er sich über seine Frauen, seine Mutter, seine Kinder auslabert …

Wann war die Originalausgabe erschienen? 1973? Sehr viel früher hätten solche Gedanken öffentlich überhaupt nicht ausgesprochen werden dürfen.

Zum Mond fliegen und thermonukleare Waffen herstellen, das konnte sie, die Menschheit, aber was die Selbstverständigung in sexuellen Dingen anging, steckte sie noch immer in den Kinderschuhen.

Von der Arbeit kam Bettina mißgestimmt zurück, weil es ihr nicht geglückt war, dem Kunden seine rechten Winkel auszureden. »Und dann hat er auch noch lauter häßliche Kakteen aufgestellt …«

Nachdem sie ihre Pferde gestriegelt hatte, war sie wieder ansprechbar, und ich leistete ihr Handlangerdienste bei der Fabrikation eines Nudelgerichts mit Thunfisch, Hartkäse, Paprika, Basilikum und Petersilie. Die Kräuter holte sie aus ihrem eigenen Garten und zerkleinerte sie mit einem Wiegemesser auf einem nur zu diesem Zweck bestimmten Wiegebrett aus Buchenholz.

In meinem Haushalt hätte sie solche edlen Werkzeuge nicht vorgefunden. Aber ich war ja auch noch nicht so arriviert wie Bettina.

Wir schmusten auf dem Küchensofa, mit vollen Bäuchen, während Markus im Nebenzimmer an einem Vogelhaus bastelte.

It’s all in your eyes and the way that you move …

Bettina wollte noch spazierengehen, aber ich war dagegen.

Forget this dance – let’s go upstairs!

Das sah sie dann auch ein, denn wir hatten eine ganze Flasche Chianti geleert, und es war schon halb zwölf.

Bis Mitte August sei sie bis zum Gehtnichtmehr mit Arbeit überlastet, sagte Bettina, als sie mich am Dienstagmorgen nach Osnabrück zum Bahnhof brachte, und ich hatte ja auch selbst genug zu tun, vor allem mit der Reinschrift meiner Reportage über das New Age für den Merkur.

Ich fotografierte Bettina vom Zugfenster aus, und sie warf mir eine Kußhand zu.

Vom Bahnhof Heidmühle unternahm ich einen Abstecher zum Supermarkt und deckte mich mit Fressalien ein, bevor ich zuhause aufs Bett fiel.

Dagmar rief an, um mir mitzuteilen, daß im NDR am 24. Juli meine Besprechung des Buchs von Richard Kähler gesendet worden sei. »Und wo hast du dich die ganze Zeit rumgetrieben?«

»Auf ’nem Selbsterfahrungsworkshop.«

»Ach! Und wie heißt die Dame?«

»Welche Dame?«

»Die, mit der du deine Selbsterfahrungen gemacht hast.«

Wie hätte ich Dagmar am Telefon erklären sollen, was tatsächlich vorgefallen war? »Du hast da eine etwas verkürzte Sichtweise«, sagte ich. »Und wie geht’s dir selbst?«

»Ich kann nicht besser klagen«, sagte sie.

In einer Spiegel-Ausgabe, die Frerk mir zurückgelegt hatte, gratulierte Rudolf Augstein dem Regierungschef:

Den Staatsmann Kohl wird man nicht mehr von der Landkarte tilgen können. Glückwunsch, Kanzler!

Und das nach den Spiegel-Titelgeschichten »Der Minuskanzler«, »Kohls Ausfall«, »Was nun, Herr Kohl?«, »Kohl soll weg – aber wie?« und »In Eile zur Einheit – Kohls Machtrausch«. War das alles plötzlich nicht mehr von Belang?

Ich setzte mich ans Klavier.

I found a new baby

I found a new girl …

Und diesmal keine Diplom- oder Sozialpädagogin, sondern eine freie Unternehmerin. Eine gestandene Frau.

Sweetest miss

With a kiss full of bliss

Can’t resist her somehow …

Vielleicht hatte sie ja auch recht mit dem Feng Shui und dem kosmischen Atem des grünen Drachen. Ihr Blumengarten sah um Längen besser aus als das von mir herangezüchtete Gestrüpp.

Oma schrie vor Freude, als ich wieder bei ihr aufschlug. »Mir ist, als wärst du bald ’n halbes Jahr lang weg gewesen!« rief sie. »Und hast du auch Appetit mitgebracht?«

Während sie in der Küche Bohnen abstriepelte, las ich im Wohnzimmer das Wochenblatt und wurde nicht enttäuscht:

Unbekannter

in Stiefeln

stahl Kohlköpfe

Das waren die Nachrichten, für die ich das Wochenblatt liebte.

Hohenkirchen. Mit viel Mühe und Liebe pflegte ein Hohenkirchener Rentnerehepaar seinen Gemüsegarten in der Nähe des Umspannwerkes. Gestern morgen nun mußten die beiden feststellen, daß ein Teil ihrer Arbeit umsonst gewesen war. In der Nacht hatte ein Unbekannter, der nach Auskunft der Polizei Gummistiefel getragen hat, sich über den Kohl hergemacht. Er nahm sechs Köpfe Buß- und Spitzkohl mit. Lediglich ein paar Blätter ließ er übrig.

Ein Fall für Sherlock Holmes.

»Dein Vater hat hier mehrmals angerufen und mich gefragt, wo du steckst«, sagte Oma beim Essen. »Am letzten Wochenende war aber wohl Wiebke mal bei ihm und hat für ihn eingekauft. Mit seinem angeknacksten Arm scheint er noch immer so gehandicapt zu sein, daß er nicht Auto fahren kann …«

In Heidmühle schrieb ich für Kowalski einen Text mit dem Titel »Ganzheitlich fit in 5 Minuten«:

Setzen Sie sich auf ihre vierundzwanzig Buchstaben. Schließen Sie die Augen. Atmen Sie tief in die Unterhose.

Jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihr Pansenchakra. Ist es linksdrehend oder rechtsdrehend?

Wenn es rechtsdrehend ist, ist gut. Wenn es linksdrehend ist, ist es nicht so gut, aber eigentlich auch egal. Mir jedenfalls.

Tschau.

Und dann machte ich mich an den Aufsatz über das New Age. Da konnte ich als Teilnehmer an Bioenergetik- und Tantra-Workshops aus dem Vollen schöpfen.

Bei einem kühlen Bier setzte ich einen Brief an Bettina auf. Mangels aktueller Erlebnisse schweifte ich in die Vergangenheit ab und berichtete von meinen letzten vier Umzügen, ohne darüber jedoch die Liebesbekundungen zu vergessen, die sie wahrscheinlich mehr interessierten als meine Umzugspannen.

Als Grund für den Einmarsch seiner Truppen in das Scheichtum Kuweit führte der irakische Präsident Saddam Hussein einen »Hilferuf nationaler kuweitischer Kräfte« an, obwohl alle Welt wußte, daß er die Ölquellen erobern und seinen Zugang zum Persischen Golf sichern wollte. Dieser despotische Mops mit der Knarre im Holster. Die revolutionären Kämpfer des Trikont hatte man sich irgendwie anders vorgestellt.

Mit den 850000 Reservisten, die er mobilgemacht hatte, ging er bestimmt auch nicht pfleglicher um als der Schabengeneral mit seinen Armeen in der Wohnung der Freak Brothers.

Der Soziologe Norbert Elias war gestorben. Mit 93 Jahren! Als er so alt gewesen war wie ich in seinem Todesjahr, hatte Hindenburg das Amt des Reichspräsidenten angetreten, Chaplins »Goldrausch« war uraufgeführt worden, und Heinz Kluncker, Jack Lemmon, Max Morlock, Michel Piccoli und Hildegard Knef hatten das Licht der Welt erblickt. Und die waren nun selbst schon fast im Rentenalter.

Omas Fernsehwoche entnahm ich, unter welchem Titel RTL plus die deutsche Synchronfassung des Spielfilms »Australian Dream« auszustrahlen gedachte: »Ich glaub’, mich knutscht ein Känguruh«

Freuen durfte man sich außerdem auf eine »Torten-Show« mit den Unterhaltungskanonen Hugo Egon Balder und Hella von Sinnen sowie auf den Kinohit »Hot Chili – Scharfes Chili, heiße Mädchen«. Wenn es wenigstens richtige Pornographie gewesen wäre und nicht nur wieder eine dieser »Erotikkomödien«, in denen weniger nackte Haut als die Doofheit der Drehbuchautoren enthüllt wurde …

Post von Bettina:

Mich überkommt gerade wieder die Sehnsucht nach Dir. Ooooo Maaaaann, wo soll das bloß hinführen? Ich freue mich schon so sehr auf Dich, daß ich mich am liebsten sofort ins Auto setzen würde und …

Es ist gut, daß Du so weit weg wohnst, denn sonst würde ich hier nichts mehr geregelt kriegen, aber es ist auch soooo schade …

Ich würde Dich so gern einfach mal für ½ Stunde zwischendurch sehen, in den Arm nehmen, drücken, gedrückt werden, Dich fühlen, Deinem Rhabarber ein bißchen Vanillesoße übergießen und dann abschlabbern …

Ja, und sonst? Laufe im Moment etwas ziellos durch die Gegend, habe bei einem Kunden eine schnuckelige Trockenmauer gesetzt, nächste Woche kommt eine neue Baustelle dran, wo wir einen Teich komplett renovieren müssen, einen Sitzplatz pflastern, Erdarbeiten, fertig. Nein, erst die Rechnung, dann fertig.

Oh, Martin, ich weiß nicht, was ich im Moment will, am liebsten würde ich mich jeglicher Verantwortung entziehen und auflösen. So eine bekloppte Frau liebst Du?? Na gut, ich werde mich bessern.

Wenn Du mich weiter so umkrempelst, erkenne ich mich gar nicht mehr wieder.

Bewußt umgekrempelt hatte ich sie aber gar nicht.

In der Küche roch man noch, daß den Tamilen irgendwas angebrannt war. Den betreffenden Topf hatten sie danach allerdings blitzblank gewienert. Der war kaum wiederzuerkennen.

Am Sonntag schlief ich aus und mahnte dann brieflich alle Honorare an, die der Alltag mir noch schuldete.

Als ich vom Briefkasten zurückkehrte, fuhr gerade Bettina vor, stieg aus und fiel mir um den Hals. Sie habe es nicht mehr ausgehalten ohne mich, sagte sie. »Und da bin ich einfach in mein Auto gesprungen, um dir einen Überraschungsbesuch abzustatten! Ist dir das überhaupt recht?«

»Na, und ob …«

»Du lebst ja hier echt gut versteckt! Ich bin fast ’ne halbe Stunde rumgeirrt in diesem Kaff, und keiner hat mir sagen können, wo der Margarethenweg ist! Den hab ich nur durch Zufall gefunden. Und man glaubt ja auch nicht, daß das nur so’n kleiner Seitenweg ist, wenn die Hausnummer 121 lautet!«

Frerk und Antje kamen mit einem Picknickkorb aus dem Haus, und ich stellte ihnen Bettina als »eine Freundin aus dem Osnabrücker Land« vor, um der Frage vorzubeugen, wo wir uns kennengelernt hätten.

Bei der Wohnungsführung mußte ich das Bad zunächst außen vor lassen, weil dort einer der Tamilen duschte. Über meine häuslichen Verhältnisse war Bettina von mir schon auf dem Lotus-Hof unterrichtet worden.

Sie hatte ein kleines Geschenk für mich dabei. Ein Buch von Osho: »Liebe beginnt nach den Flitterwochen«.

»Da kannst du aber auch später noch reinkucken«, sagte sie. »Jetzt hätt’ ich gern ’ne große Tasse Kaffee und dann Sex. Wäre das machbar?«

Mit Bettina war alles leicht. Sogar trotz des lästigen Verhütungshandwerks.

She’s a woman who understands

She’s a woman who loves her man …

Nach getaner Tat mußte man das Kondom immer ganz oben am Rand zu fassen kriegen, damit es sich nicht abrollte. Und dann wohin mit dem nässenden Ding? Aufs Nachtschränkchen?

Nein, besser auf den Fußboden. Und beim nächsten Mal eine Untertasse bereitstellen.

Wir fuhren nach Neuharlingersiel, weil Bettina die Nordsee sehen wollte, und aßen am Anleger auf der Terrasse des Cafés gemischtes Eis mit Sahne.

Die anderen Gäste taten mir fast leid: Von denen sah keiner so aus, als ob er bald wieder Geschlechtsverkehr hätte. Während Bettinas rechte Hand sich unterm Tisch schon wieder zwischen meine Beine schlich.

Es hätte aber nichts gebracht, sich in einen Strandkorb zurückzuziehen. Dafür waren zu viele Leute unterwegs.

Wir machten Station in Jever: »Oma, das ist Bettina … Bettina, das ist meine Oma Emma …«

Oma bewirtete uns zwar vorschriftsmäßig mit Tee und Keksen, aber ich merkte ihr an, daß sie Bettina nicht als vollwertigen Ersatz für Andrea betrachtete. Es blieb bei höflichem Geplänkel, und als Bettina einmal austreten ging, fragte Oma mich: »Meinst du nicht, daß diese Frau für dich zu alt ist?«

»Wieso? Opa ist doch sogar zehn Jahre älter gewesen als du.«

»Na, das kann man ja wohl nicht vergleichen!«

»Und warum nicht?«

»Weil’s bei Männern nicht so ins Gewicht fällt, wenn sie älter sind …«

Bettina hatte Zeit bis Montagfrüh; dann sauste sie ihrem nächsten Brotjob entgegen, und ich legte mich wieder hin.

Die Bettwäsche duftete noch nach ihr.

Laut Spiegel empfahl das Umweltbundesamt der Bevölkerung wegen der hohen Ozonbelastung, »intensives Atmen zu vermeiden«.

Anstatt den Individualverkehr zu reglementieren und die chemische Industrie in die Pflicht zu nehmen, betätigte sich der Staat als Atemtherapeut! Demnächst rieten einem die Behörden womöglich noch von tiefen Seufzern ab …

In dem Buch, das Bettina mir geschenkt hatte, sprach Osho sich gegen alle Religionen aus:

Vergiß Gott ganz und gar; Liebe allein ist genug.

Doch sie sei auch nicht alles:

Wenn du jemanden wirklich liebst, gibst du ihm oder ihr vollkommene Freiheit – das ist ein Geschenk der Liebe. Und wenn Freiheit da ist, antwortet die Liebe ungeheuer stark. Wenn du jemandem Freiheit gibst, hast du das größte Geschenk gemacht, und die Liebe kommt wie eine Woge auf dich zu …

Freiheit sei ein höherer Wert als Liebe:

Wenn du eine Person liebst, wie kannst du dann ihre Freiheit zerstören?

Gute Frage.

Sogar wenn es weh tut, ist das dein Problem, ist es nicht ihr Problem. Und wenn du Schmerz fühlst, ist es nicht aus Liebe, sondern aus Eifersucht.

Mit dem Eifersuchtsmist wollte ich gar nicht erst wieder anfangen …

Liebe kann nur zwischen zwei Freiheiten fließen.

Bettina war keine Anfängerin. Sonst hätte sie mir dieses Buch nicht geschenkt.

Ich wiederum schenkte Oma zum 84. Geburtstag eine Schachtel Konfekt, die gerade noch so in meiner Preisklasse lag: Edle Tropfen in Nuß.

Von Frau Lohse, ihrer Etagennachbarin, hatte Oma den neuen Schinken von Johannes Mario Simmel bekommen (»Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche«), und Frau Böger hatte einen Blumenstrauß vorbeigebracht.

»Ich frag dann bei Tolksdorf nochmal nach dem Roman von Georg von der Vring«, sagte ich, aber Oma lachte nur, und ich hatte natürlich wieder keinen Erfolg.

Im Fernsehen sah man Neonazis in der DDR aufmarschieren. »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« schrien sie. Skinheads in martialischen Ledermonturen. Die NPD wolle dort sechshundert Ortsvereine aufbauen, hieß es, aber das traute ich diesen Leuten nicht zu. Dafür wirkten sie viel zu versoffen.

Auf SAT.1 liefen die alten Westernserien Rauchende Colts und High Chaparral. Lauter Grüße aus den Kindheitstagen.

Noch kehrt in mich der süße Frühling wieder …

Lange ankucken konnte ich mir den Käse allerdings nicht. Und ich mußte ja auch den Aufsatz für den Merkur schreiben.

Die Grüne Antje Vollmer hatte im Bundestag etwas geäußert, das auf Größenwahn schließen ließ:

Ich glaube, die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil in den beiden Teilen Deutschlands sehr viel passiert ist, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil es eine Entspannungspolitik und eine neue Ostpolitik gegeben hat, die auf Ausgleich mit dem Osten gesetzt hat, weil wir das Law-and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land und weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert und humanisiert haben.

Nach einer Nacht im Na Nu wäre Antje Vollmer etwas kleinlauter gewesen, aber solche Lokale suchte sie natürlich nicht auf.

Beim Altstadtfest half ich in Rainers Bierbude beim Amtsgericht vier Stunden lang aus und staunte, was da schon am Nachmittag so weggeschluckt wurde. Als hätten die Jeveraner ein Jahr lang darauf hingelebt, lauwarmes Pils aus Plastikbechern saufen zu dürfen, auf offener Straße, und dazu Nitritpökelsalz mit Fleischresten zu fressen.

Pump ab das Bier, pump es jetzt, pump es hier …

Rainer schaffte in einer Tour neue Fässer herbei, und einmal kam er lachend an und berichtete, daß ein Mann auf dem Kirchplatz an einer Bratwurst gerochen und dann gesagt habe: »Die stinkt ja bis nach Meppen!«

Die Sonntage konnten einem schon mal lang werden in Heidmühle. Ich rief Bettina an, aber ihr Ex-Freund sagte mir, daß sie in den Wald geritten sei, und als ich genug geschrieben hatte, griff ich zum Fackel-Reprint und las mich in dem Aufsatz über die Vertreibung des Revolverjournalisten Imre Békessy aus Wien fest, die Karl Kraus im Sommer 1926 gelungen war:

Die Zeiten sind vorbei, wo der Erpresser noch den Mund des Anklägers verschließen konnte durch den Schurkengriff an die Scham, durch den Hinweis, daß jener auch ein Geschlechts- oder sonst ein Privatleben habe; und für mich hatten sie nie begonnen. Schmach und Schande einer Stadt, die, sündig oder nicht, jahrelang unter dem Fallbeil einer solchen Gaunerei leben konnte!

Einen Schriftsteller, der die Verlegerin der Bild-Zeitung außer Landes hätte jagen können, gab es leider nicht.

Wenn man morgens gut riechen wollte, durfte man am Abend vorher keinen Rotwein trinken. Oder jedenfalls nicht mehr als 0,7 Liter. Oder es mußte ein besserer sein als der, den man für 2,99 bei Harms bekam.

Post von Günther Willen:

Ob Sie’s glauben oder nicht: Gerade lief mir Richard Kähler über den Heimweg und lobte nachhaltig Ihren Radio-Kommentar zu seinen Trends. Ach, die Welt ist doch schön.

Das fand ich auch, denn für meinen Beitrag über »Teddy’s Trends« kriegte ich vom NDR eine Gutschrift über 347 Mark, und dann lag ich in dem feuchten Haus bei Westerkappeln wieder in Bettinas Armen.

Wir saßen auch wieder im Stall auf Strohballen und sahen und hörten den Pferden beim Kauen zu und tranken dabei Bier. Ich sah mich schon als Besitzer einer Hazienda: Bettina mit einer Herde von dreihundert Pferden und ich als Gutsherr, der dem Ganzen seinen Segen erteilt. Pferdezucht, Rinderzucht, Hühnerzucht, Gänsezucht, Pfauenzucht. Bettina würde den Garten versorgen und unsere Knechte und Mägde befehligen, während ich in einem Turmzimmer Romane schrieb, die uns Millionensummen einbrächten.

Rinderbaron Martin Schlosser! Da würden sie Augen machen, die Verwandten, die mich insgeheim schon abgeschrieben hatten …

Einmal gingen wir in Osnabrück ins Kino und sahen uns »Ein Fisch namens Wanda« an. Von den vielen lustigen Szenen fand ich die am herrlichsten, in der John Cleese als Archie Leach von einer konsternierten britischen Kleinfamilie nackt in deren Wohnung angetroffen wird und seine Blöße rasch mit einem Porträtfoto bedeckt, das die Dame des Hauses zeigt.

Saddam Hussein hatte Tausende von Briten und Amerikanern internieren lassen, als »lebende Schutzschilde« gegen einen Angriff der Militärallianz, die unter der Führung der Vereinigten Staaten formiert worden war.

Das irakische Volk wurde nicht gefragt, was es von den Feldherrnkünsten seines Präsidenten hielt.

In ihre Arbeit hängte Bettina sich jeden Tag zehn, zwölf Stunden lang rein, aber am Wochenende lümmelte sie sich gern im Bett und ließ sich verwöhnen und bedienen wie Kleopatra in ihrer Glanzzeit. Dann bildete ich den gesamten Hofstaat und zirkulierte als Kammerdiener, Zeremonienmeister, Leibkoch, Hausmarschall und Kavalier zwischen Küche, Bad und Schlafzimmer.

»Fegen Sie bitte mal die Krümel aus dem Bett, James«, sagte Bettina.

»Sehr wohl, Milady.«

»Und danach dürfen Sie mir eine Fußmassage geben …«

Zwischen Osnabrück und Bremen saß ich in einem Sechserabteil, in dem unausgesetzt der Aschenbecherdeckel klapperte. Wenn man ihn öffnete, fiel er sofort wieder zu und klapperte weiter.

Schlau wäre es gewesen, ein Papiertaschentuch unter den Deckel zu klemmen, aber das kam mir erst beim Umsteigen in den Sinn.

Der übergewichtige Teenager, der in Heidmühle in kurzen Hosen auf einem viel zu teuren Fahrrad die Menkestraße entlanggeeiert kam und dabei eine grell kolorierte Stange Speiseeis aus mindestens 150 % Polyacryl verschlang, gefiel mir nicht, und ich hatte auch was gegen die Werbung für die dicke neue Cola-Plastikflasche:

Unkaputtbar!

Das war keine gute Nachricht für den blauen Planeten.

Und wieder kein Kowalski-Scheck. Stattdessen gab’s ein weiteres Straßenfest mit Remmidemmi und Getöse, aber es gelang mir, meinen Aufsatz für den Merkur voranzutreiben. Zwölf Seiten in einer Nacht.

Oma klagte über Rückenschmerzen, und sie hatte Ärger mit einem anonymen Anrufer: »Der meldet sich hier dauernd, aber sagen tut er nix – der schnauft nur immer in den Hörer rein!«

Na, dieser Sausack würde mich kennenlernen, falls er mal den Fehler machen sollte, Oma anzurufen, wenn ich bei ihr war. Eine alte Frau zu belästigen!

In Meppen stapelten sich die von Walter kopierten Kondolenzbriefe zum Tod von Oma Schlosser. Einer stammte von jemandem, der von Opa Schlosser konfirmiert worden war:

Ich war gewiß kein mustergültiger Konfirmand – aber die Erinnerung an Ihren Vater, der manchmal Grund zu Ermahnungen an mich hatte, werde ich immer behalten. Auch für die manchmal ungestümen Anschauungen und Handlungen in jener Zeit zeigte Ihr Vater Verständnis – jedenfalls aus meiner damaligen Sicht.

In jener Zeit – also der Nazizeit. Mit ihren manchmal ungestümen Anschauungen und Handlungen! Synagogen in Brand zu stecken und die Welt mit Krieg zu überziehen, das waren wahrlich ungestüme Handlungen gewesen.

Ich wurde früh Soldat und blieb bis in den Krieg hinein von zu Hause fort. Ich hörte aber noch oft von Ihrem Vater – und man sagte, daß er, wenn er z.B. zu Beerdigungen in ein Trauerhaus gebeten wurde, voraussetzte, daß eine Bibel im Haus ist. Zum Konfirmandenunterricht in Moosbach, wo ich hinmußte, kam er mit dem Motorrad und Stiefeln, Cordhose und feiner oder ähnlicher Joppe – sich kaum von den Landwirten unterscheidend.

Ein anderes Beileidsschreiben stammte von der Tochter einer Jugendfreundin von Oma aus Okahandja in Namibia:

Sehr beschämt bin ich, daß ich es all die letzten Jahre nicht geschafft habe, ihr zu schreiben, obwohl ich es immer wollte und mein Gewissen mich gerufen hat. So etwas kann man nie wieder gutmachen, und ich habe sie doch sehr lieb gehabt. Ihr tiefes Wesen und Verständnis, ihre große Liebe zur Musik und der gütige Blick in ihren Augen steht vor meinem Herzen – unvergeßlich.

»Und willst du denen allen antworten?«

Das ginge über seine Kräfte, sagte Papa. »Außerdem sind diese Briefe an Walter gerichtet.«

Bei einer meiner Einkaufsfahrten hätte ich fast eine rote Ampel übersehen, weil ich durch eine Biene im Auto abgelenkt gewesen war. Wie schnell sowas gehen kann: Schädeltrauma, Totalschaden und drei Punkte in Flensburg wegen eines läppischen Insekts!

Abends erzählte Papa, wie herablassend die Jeverländer die Vertriebenen behandelt hätten. Und in Dortmund sei’s nicht viel besser gewesen. »Als Flüchtling war man überall der letzte Dreck. Da hat auch mein Vater drunter gelitten. Nach der Flucht hat er sich jedenfalls nie mehr irgendwo heimisch gefühlt …«

Was auch auf Papa zutraf. Aber nach Schirwindt oder Marienwerder gab es für ihn kein Zurück.

Die Volkskammer hatte den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik beschlossen. Ab dem 3. Oktober 1990 wäre Deutschland dann wiedervereinigt. Wenn auch ohne die Ostgebiete. Von denen träumten nur noch die Hardliner des Deutschritterordens, die sich wahrscheinlich gern auch Kurland, Livland und Estland wiedergeholt hätten. Um anschließend das Unternehmen Barbarossa neu aufzurollen.

Papa wollte, daß ich am Wochenende unter seiner Aufsicht den Rasen »vertikutierte«, aber dafür fehlte mir die Zeit.

»Und was hast du so dringend zu tun?«

»Ich muß einen Artikel abliefern. Und außerdem krieg ich Besuch.«

»Von wem?«

»Von ’ner Freundin.«

Papa sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Und wo hast du die aufgegabelt?« fragte er. »Etwa in deiner Hottentottendiscothek?«

»Nein. Das ist ’ne Gartenarchitektin aus dem Kreis Steinfurt.«

Darauf fiel ihm keine Erwiderung ein, und ich überließ es seiner Phantasie, wie und wo ich eine Gartenarchitektin aus dem Kreis Steinfurt bezirzt haben könnte.

Bettina brachte Berge von Papieren nach Heidmühle mit. Sie mußte sich um ihre Buchführung kümmern und saß stundenlang vor einer querformatigen Riesenkladde in meiner Küche und übertrug Additionsergebnisse in die Kästchen.

Und sie machte sich Sorgen, weil ihre Periode ausgeblieben war.

»Aber wir haben doch immer verhütet …«

»Ja«, sagte sie. »Mit Parisern. Und die sind nicht immer zuverlässig.«

O Schreck. Hatte ich Bettina geschwängert?

Sie zuckte mit den Schultern und erklärte, daß wir uns jetzt in Gottes Hand befänden. »Making love makes babies …«

Ich konnte mich so gerade mal selbst ernähren, und ein Säugling hätte mich massiv daran gehindert, mein Erwerbsleben fortzusetzen. Je größer das Geschrei, desto geringer der Verdienst, und je geringer der Verdienst, desto größer das Geschrei – ein Teufelskreis, in den ich nicht hineingezogen werden wollte.

Wie sollte man da überhaupt noch unbeschwert pimpern?

Als wir uns einmal im Grünen ergingen, pflückte Bettina Blumen: Nachtkerzen und Blutweiderich, wie sie mir sagte.

Ich selbst hätte außer Menschen und Lebensmitteln nichts Organisches in meine Wohnung hereingeholt, und die Blumen wären wahrscheinlich auch lieber draußen geblieben, statt bei mir zu verdorren.

Völlig unbegreiflich war mir Bettinas Faible für japanische Steingärten. Sie hatte einen Bildband dabei, der solche Anlagen in ihrer ganzen Ödnis zeigte: Stechpalmen, Ginster und murkelige Bonsais zwischen Felsbrocken, geharktem Kies und anderem Gestein.

»Wenn du das so abstoßend findest, dann wird dir auch ein wichtiger Teil von mir immer fremd bleiben«, sagte Bettina. »Aber vielleicht kann ich dich ja kurieren!« Es sei ihr Traum, sich irgendwann einmal in Japan von dieser Form der Gartenbaukunst inspirieren zu lassen, mit richtig viel Zeit im Gepäck, und wenn ich mitkäme, hätte ich die Chance, meinen »Eurozentrismus« zu überwinden …

Ich und nach Japan reisen? In das Land der Kamikazeflieger und der Sumoringer? Um mir Steinhaufen anzukucken und im Schneidersitz Tee zu trinken?

Nachts ließen wir unsere Divergenzen außer acht.

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde …

Ich dachte auch noch ab und zu an Anke. Was aus ihr und mir wohl geworden wäre, wenn es Bettina nicht gegeben hätte? Aber das führte zu nichts.

Als ich Bettina nachwinkte, fragte ich mich mal wieder, ob es »nachgewinkt« oder »nachgewunken« hieß. Das konnte ich mir nie merken.

Endlich traf der Honorarscheck für meine Beiträge im Juniheft von Kowalski ein. 1588 Mark 20. Im Na Nu hätte ich dafür drei Wochen lang durcharbeiten müssen. Oder eher vier oder fünf, wegen der Abzüge für die konsumierten Getränke.

Mein Aufsatz für den Merkur – »Kopfüber ins New Age« – war viel zu lang geworden. 162 handschriftliche Seiten mit 171 Fußnoten! Ich Depp! Da hatte mich mein eigener Schwung aus der Kurve getragen.

In Jever schenkte ich Oma eine in Meppen gekaufte Trillerpfeife. »Wenn dieser Idiot dich nochmal anruft, dann bläst du hier rein, damit ihm das Trommelfell platzt!«

Bei einem Testlauf stellte sich allerdings heraus, daß Oma zu schwach auf der Brust war, um der Trillerpfeife mehr als ein Mezzoforte zu entlocken.

Wir aßen Bratkartoffeln mit Rührei, Speck und Schnittlauch, und dann las ich Oma, wie immer, ein bißchen aus »Uns geht’s ja noch gold« vor. Wie der junge Walter Kempowski seine Briefmarkensammlung pflegt:

Zwei Pinzetten hatte ich. Die eine verwendete ich selten, weil uns damit, als Kindern, die Würmer entfernt worden waren.

»Da hätt’ er sich doch nicht so anzustellen brauchen«, sagte Oma, die sich sonst aber gut amüsierte und vieles wiedererkannte, auch wenn die Nachkriegszeit in Jever natürlich viel gemütlicher verlaufen war als in Rostock.

Die italienische Pornoqueen Cicciolina hatte Saddam Hussein für die Freilassung aller als Geiseln inhaftierten Ausländer eine Liebesnacht versprochen. Hätte er sich darauf eingelassen, wäre er in meiner Achtung etwas gestiegen. Obwohl es auch nicht gerade gentlemanlike gewesen wäre, sich durch die Freilassung von Geiseln einen Fick zu erkaufen.

Nachdem ich meinen Aufsatz abgetippt und an Kurt Scheel gesandt hatte, rief ich kurz in Bonn an, um Renate zu erzählen, daß im neuen Kowalski-Heft nicht nur mein Artikel über Marius Müller-Westernhagen stehe, sondern auch Lisas lustiger kleiner Text.

Da werde Lisa sich freuen, sagte Renate. »Und ich hab heute übrigens meine erste Gitarrenstunde! Ich fand schon immer, daß ’ne richtige Grundschullehrerin auch Gitarre spielen können muß, und jetzt fang ich endlich damit an …«

Ina aus dem Na Nu hatte mir für die Dauer des Jonglierfestivals einen Schlafplatz in Oldenburg vermittelt, bei ihrer Freundin Friederike, die im Stadtteil Bürgerfelde zusammen mit zwei anderen Studentinnen ein kleines Haus mit Garten bewohnte.

Mit Friederike verstand ich mich sofort. Sie war offenherzig, einnehmend und gewitzt, und ich mochte es, wie ihre blauen Augen funkelten. Doch sie war in festen Händen, wie ich mitbekam, als ein haariger Sportstudent hereinschneite und ihr einen Kuß gab.

Ich bezog ein Gästezimmer, in dem ich auch Bettina beherbergen konnte. Am Donnerstagnachmittag hatte sie einen Termin in Diepholz und wollte mich danach in Oldenburg besuchen.

Günther Willen und ich waren für Mittwochabend um neun im Casablanca verabredet. Ich kannte ihn von ein paar Fotos in Kowalski, aber auch um zehn nach neun sah ich noch keine Spur von ihm.

Im ganzen Laden saß niemand, der Günther Willen irgendwie geähnelt hätte, und am Tresen lungerte außer mir nur ein Typ herum, der wie ein Preisboxer aussah.

Konnte es denn sein, daß Günther Willen mich versetzte?

Als ich mein zweites Bier in Arbeit hatte, fragte der Barkeeper den Preisboxer, wie’s ihm so gehe, und erhielt die Antwort: »Och, nicht schlecht. Ich arbeite jetzt in Hamburg bei ’nem Humormagazin …«

Da fiel mir erst auf, daß der Mann ein zusammengerolltes Kowalski-Heft in der Hand hielt. »Sind Sie Herr Willen?« fragte ich ihn.

Er bejahte das und sagte: »Doctor Schlosser, I presume?«

Fast zwanzig Minuten lang hatten wir nebeneinander gestanden, ohne zu merken, daß wir schon vollzählig versammelt waren.

»Is’ ja drollig«, sagte Herr Willen, und dann setzten wir uns an einen der Tische und vertieften uns in ein Gespräch über Hamburg, Heidmühle, Jever, Oldenburg, Kowalski, Titanic, Eugen Egner, Eckhard Henscheid, F.W. Bernstein, Robert Gernhardt, Otto Waalkes, Chlodwig Poth, Pardon, konkret, Horst Tomayer, Ror Wolf und Arno Schmidt, wobei wir irgendwann zum Du übergingen und mehrmals Bier nachbestellten.

»Und wie findest du die Kolumne von Max Goldt?« fragte Günther.

»Die lern ich auswendig …«

Es gehe übrigens das Gerücht um, daß Eckhard Henscheid eine neue Zeitschrift mit dem Titel Christ und Hund gründen wolle, sagte Günther. »Schon mal was davon gehört?«

Hatte ich nicht. Woher auch?

Wie sich erwies, war er nebenbei ein alter Günter-Netzer-Fan und der stolze Besitzer einer Netzer-Biographie mit dem schönen Titel »Rebell am Ball«, und er hatte sogar mal in der Niedersachsenauswahl der B-Jugend gespielt und genau wie Netzer die Rückennummer 10 getragen. Sein Stammverein war der VfL Löningen gewesen. »Und heute abend hat Berti Vogts ja seinen Einstand als Bundestrainer gegeben«, sagte er. »Gegen Portugal. Das Ergebnis will ich lieber gar nicht wissen …«

Tags darauf holte Günther mich am frühen Nachmittag ab. Bevor wir loszogen, plauderten wir noch ein wenig mit Friederike und ihren Mitbewohnerinnen, die sich in der Küche an Melissentee labten und karottenmusbestrichene Dinkelbrötchen mümmelten, und wir machten kein großes Geheimnis daraus, daß wir den Jonglierfestivalteilnehmern in unserer Reportage eins auswischen wollten.

»Wie?« sagte Friederike. »Ihr wißt vorher schon, was ihr schreiben wollt? Was seid ihr denn für komische Journalisten?«

Günther ruderte zurück, indem er sagte: »Ach, wir gehen da ganz unvoreingenommen ran, der Kollege Schlosser und ich. Oder nicht?«

Ich pflichtete ihm bei und bekräftigte unseren Anspruch, objektiv zu berichten und unsere eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen.

Die Mädels, bei denen ich da wohnte, seien ja ganz nett, sagte Günther auf dem Weg in die Innenstadt. »Aber die haben irgendwie den letzten Pfiff nicht gehört. Kann das sein?«

Der popmusikbeschallte Schloßplatz füllte sich allmählich mit rund zweitausend Jongleuren, Feuerspeiern, Clowns und Pantomimen. Ein besonders gräßlicher Vertreter dieser Spezies stellte augenscheinlich jemanden dar, der in einer U-Bahn eine Trittleiter ißt und gleichzeitig eine Harfe stimmt und ein Ei zu legen versucht.

»Marcel Marceau, ick hör dir trapsen«, sagte Günther. Ihm könnten ja auch die Jongleure gestohlen bleiben, aber Pantomimen seien tatsächlich ein noch niedrigeres Gewürm. »Die hängen sich hier einfach dran, so woodstockmäßig, um sich auch was in den Hut werfen zu lassen …«

Wir schauten uns das Spektakel zwei Stunden lang an und vertagten uns dann auf Freitag.

Bettina war bestens gelaunt, als sie in Oldenburg ankam. In Diepholz hatte sie einen lukrativen Auftrag an Land gezogen, und sie lud mich zum Essen ein, in ein Restaurant meiner Wahl.

Im Mandarin in der Nadorster Straße, das Friederike uns empfohlen hatte, teilte Bettina mir bei Bambusspitzen, Sojabohnenkeimen und Entenbrust mit, daß es noch keine Entwarnung gebe. Eine Schwangerschaft liege nach wie vor im Bereich des Möglichen. »Und ich bin da ganz altmodisch. Abtreibung kommt für mich nicht in Frage. Ich halte mich an den Grundsatz: Lieber eins mehr auf dem Kissen als eins auf dem Gewissen! Auch wenn mir ein Kind jetzt wirklich nicht in meine Lebensplanung passen würde …«

Den Gedanken an die dräuenden Vaterfreuden stellte ich zurück. Vielleicht ging es ja noch einmal gut.

Für September planten wir eine Reise nach London. Bettina hatte dort Bekannte, bei denen wir wohnen konnten, und sie wollte sich ein paar englische Gärten ansehen.

Weil ich es unanständig gefunden hätte, die in der Nacht verschlissenen Kondome im WG-Mülleimer zu entsorgen, steckte ich sie in eine leere Tempotaschentücherhülle, die ich dann draußen in einen Abfallkorb schmiß, als Bettina und ich zu ihrem Auto gingen.

Günther und ich wollten uns um elf bei Tchibo treffen, aber wir liefen ihm schon vorher über den Weg. Er saß cappuccinotrinkenderweise vor einem Café in der Mottenstraße und winkte uns zu. Gleich neben ihm saß unverkennbar Bernd Eilert, einer der Gründerväter der Titanic.

Wir setzten uns dazu – »Bettina, darf ich vorstellen?« – und orderten Milchkaffee.

»Vor einer Minute hat Herr Eilert ein Bonmot aus der Taufe gehoben«, sagte Günther. »Wenn ich mal zitieren darf: ›Es ist noch keine Pantomime, wenn einer den Mund halten kann.‹«

Herr Eilert lachte und reichte die Erklärung nach, daß er die Kunst der Pantomime und verwandte Clownerien für verstaubt halte. »Da stellt sich so’n Mensch in die Fußgängerzone und tut so, als würde er ’ne Leiter hochsteigen, obwohl gar keine da ist, und das soll man dann auch noch poetisch finden …«

»Und die kucken alle so, als hätten sie das Rad erfunden«, sagte Günther.

»Aber höchstens das Einrad«, sagte Herr Eilert.

Bettina fragte, ob’s nicht auch was Gutes gebe auf dem Festival, doch da mußten wir passen. Es war etwas schwierig, in dieser Konstellation ein Gespräch in Gang zu setzen, das allen gleichviel Vergnügen bereitet hätte. Für schnippische Bemerkungen über Jongleure und Pantomimen hatte Bettina keine Antenne, während Günther und Herr Eilert ihrerseits keine Neigung zeigten, über Gartenarchitektur zu sprechen.

Bettina mußte dann bald los, und ich begleitete sie noch zu ihrem Parkplatz.

Something in her style that shows me

I don’t want to leave her now …

Sie liebe mich, sagte Bettina, bevor sie die Fahrertür ins Schloß zog. Ein Abschied für neun Tage.

Das Hauptgeschehen spielte sich am Freitagnachmittag auf dem Universitätsgelände ab: Seilhüpfen, Hand- und Fußjonglage und – Bernd Eilert hatte es geahnt – Einradhockey. Und Hunderte von Studenten kuckten dabei zu.

»Haben die nichts anderes zu tun?« fragte Günther.

Jongliert wurde mit Keulen, Bällen, Tellern, Stäben, Stangen und Tabletts. Und die Jongleusen sahen zum Anbeißen aus. Machte Jonglieren schön? Wenn ja, warum klappte es dann bei den Männern so schlecht?

Auf einem Flohmarkt gab es alles zu kaufen, was man nicht brauchte: Frisbeescheiben, Seifenblasen, Qi-Gong-Murmeln, Drachen, Leuchtschminke, Zauberblut, Papierflieger und Luftballons.

Auf einer der Bühnen bemühte sich jemand darum, »die Geschichte des Universums« nachzujonglieren, und manche Leute trugen Buttons, auf denen »Juggle for Peace« stand.

Über kurz oder lang würden auch die Skatspieler und die Kegelbrüder behaupten, daß ihr Hobby dem Frieden diene, sagte ich zu Günther, aber er konnte nicht antworten, weil er einem Bumerang ausweichen mußte.

Am Abend gab es ein Rencontre im Haus des Oldenburger Universitätsbibliothekars Ralph Gätke am Haarenufer. »Guter Mann, das«, sagte Günther auf dem Hinweg. »Hat ein prima Buch geschrieben über Henscheid, Gernhardt, Flann O’Brien, Arno Schmidt und andere Koryphäen. ›Schöne Helden‹ ist der Titel. Sehr verdienstvoll …«

Ich rechnete es mir als Ehre an, in Gätkes Haus zu Gast zu sein.

Auch Herr Eilert war dort wieder zugegen. Als Günther und ich im Wohnzimmer Platz nahmen, ging es gerade um den schlechten Ruf des Nationalspielers Thomas Berthold, den auch Herr Gätke schnöselig fand.

Den könne wirklich keiner leiden, sagte Herr Eilert. »Gibt’s überhaupt einen Thomas-Berthold-Fanclub?«

Günther stellte mich als freien Autor von Kowalski vor, und wir kriegten jeder ein Glas Weißwein.

Herr Eilert brachte das Gespräch dann auf Horst Janssen: Der habe einen schweren Unfall gehabt. Er sei mitsamt seinem morschen Balkon in Blankenese abgestürzt und habe sich mehrere Knochen gebrochen. Und es sei ihm Salpetersäure in die Augen gelaufen. »Kann sein, daß er erblindet ist. Man weiß das nicht so genau …«

Horst Janssen erblindet! Das waren mir ja schöne Geschichten.

Weitere Themen: Franz Alts trotteliger Bestseller »Jesus – der erste neue Mann«, Gerhard Seyfrieds neuer Comic »Flucht aus Berlin«, Italo Svevo, Daniil Charms, Dorothy Parker, Eric Burdon, der ermordete Schauspieler Walter Sedlmayr, die noch lebenden Schauspieler Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis und Tom Cruise und der nächste Otto-Film.

Solche Abende hätte es ruhig öfter geben können.

Am Samstagvormittag versammelte sich das Publikum noch einmal auf dem Schloßplatz. Es geisterten auch bemannte Zahnattrappen herum, die für den Niedersächsischen Zahnärztetag warben. Außerdem marschierte der »Fanfarenzug Rastede 1798« auf, ein Flugblattlotse machte Reklame für »Oldenburgs erste T-Shirterie«, auf der Bühne balancierte jemand ein Plastikhühnchen auf der Nase, und aus den Lautsprechern ertönte die Aufforderung: »Bitte jetzt alle gackern!«

Das gehe ihm zu weit, sagte Günther. Er habe jetzt genug erlebt und mache sich vom Acker. »Wir erwarten deine große Reportage dann Mitte nächster Woche. Vielleicht geb ich auch noch meinen Senf dazu. Mal sehen …«

Den Abschluß bildete eine »Public-Show« in der Weser-Ems-Halle. Mit dabei:

Sergej Ignatow vom Moskauer Staatszirkus, der es als erster Artist der Welt schaffte, mit 11 (!) Reifen zu jonglieren.

Zuerst erschien jedoch ein weihevoll gestikulierender Clown mit einem Globusluftballon, und das Publikum vollführte die sogenannte La-Ola-Welle, aber ohne mich.

Als Sergej Ignatow auftrat, stellte sich die Frage, wo er die elf Autoreifen gelassen hatte, mit denen er jonglieren wollte. Das war offenbar ein Mißverständnis. Jedenfalls beschränkte er sich auf das Jonglieren mit elf kleinen Plastikreifen.

Danach bot das »Trio Airjazz« aus den USA eine »Gruppen-Jonglage mit Elementen des Tanztheaters« dar. Akrobatik mit symbolischer Bedeutung: Wer hatte diesen Leuten bloß den Floh ins Ohr gesetzt, daß ihre Kabinettstückchen mit Tiefsinn aufgepetert werden müßten?

Daß es auch anders ging, zeigten zum Schluß die »Flying Dutchmen« beim Jonglieren auf vier Meter hohen Einrädern. Diese Jungs waren wirklich klasse, und sie kamen spielend ohne das ganze Hochkunstgehuber aus, mit dem man als Festivalbesucher drei Tage lang geelendet worden war.

Friederike und ihre Mitbewohnerinnen schliefen schon, als ich kam – an einem Samstagabend um kurz nach elf! Was war in das Studentenvolk gefahren? –, und als ich am Sonntagvormittag aufstand, lag ein Zettel auf dem Küchentisch:

Sind spazieren!

Gruß F.

Das klang weder wie ein offenes noch wie ein verklausuliertes Ersuchen um eine Gegeneinladung nach Heidmühle.

Zuhause zählte ich die Häupter meiner Lieben – zwei Weberknechte an der Flurdecke, drei Fliegen und eine Mücke im Schlafzimmer und eine tote Wespe auf der Fensterbank des Arbeitszimmers.

In der Küche hing der Geruch von etwas Eintopfartigem, das die Tamilen gekocht hatten.

Den Montag verzuckerte mir ein Kärtchen von Bettina:

Ich freue mich schon sehr auf Dich und die schöne Zeit, die vor uns liegt. Und ich schicke Dir tausend Küsse, damit Du einen kleinen Vorrat hast.

Wie eine kalte Dusche wirkte dagegen die Buchmessen-Extranummer des Spiegel, in der Prominente Auskunft über die »Bücher ihres Lebens« gaben. An dieser Umfrage hatte sich auch der deutsche IBM-Chef Hans-Olaf Henkel beteiligt:

Ich erinnere mich gern an »Das Chagrinleder« von Honoré de Balzac, weil mir bei dieser Lektüre zum erstenmal klar wurde, daß es nichts umsonst gibt.

Von Luft und Liebe schien der Wirtschaftsboß Henkel noch nichts gehört oder gelesen zu haben. Und wollte er einen wirklich glauben machen, daß er seine Millionen ebenso hart verdient habe wie ein Bergarbeiter seine Invalidenrente?

Nachdem ich meine Festivalreportage abgeschickt hatte, fuhr ich Oma besuchen und erschien genau rechtzeitig zu einem neuen Anruf ihres Peinigers. Ich nahm ihr den Hörer aus der Hand und schrie: »Wenn du Fickfresse noch ein einziges Mal diese Nummer wählst, reiß ich dir die Eier ab! Ich weiß nämlich, wo du wohnst, du Arschloch!«

»Na hör mal«, sagte Oma, als ich aufgelegt hatte. »Solche Ausdrücke sind aber auch nicht eben fein …«

»Die sollen ja auch nicht fein sein. Die sollen wirken.«

»Und woher weißt du, wo der wohnt?«

»Ach, Oma! Das weiß ich doch gar nicht!«

Es dauerte noch einen Moment, bis sie begriff, wie raffiniert ich vorgegangen war, und dann sagte sie: »Das ist ja direkt zum Schießen! Der ist jetzt bestimmt so klein mit Hut, dieser doofe Kerl!«

Für meine Beiträge im Alltag kam ein Scheck aus Zürich, verbunden mit einem Kratzfuß des Herausgebers Walter Keller:

Honorar 2/90 DM 500,–
Honorar 3/89 DM 130,–
mit grosser Entschuldigung
für lausige Zahlungs-
moral meinerseits!
W. Keller
Checkspesen DM 20,–
DM 650,–

Eine willkommene Finanzspritze. Ich brauchte mal wieder neues Waschpulver, neues Schreibmaschinenpapier, ein neues Fotoalbum, neue Unterhosen und auch einen neuen Locher, weil der alte durchgerostet war.

Renate erzählte mir am Telefon, daß Volker in Hannover jetzt in eine schnieke Zweizimmerwohnung gezogen sei und daß es vielleicht gut wäre, wenn ich am Wochenende mal bei Papa vorbeikucken könne: »Der ruft ständig bei Therese an und sagt ihr, daß seine Kinder ihn alle vergessen hätten …«

In seiner Aufsatzsammlung »Reise durch das Ungeschick« schrieb Michael Rutschky, daß er Lust hätte, die Essayisten, zu denen er sich selbst rechnete, »auf ihren gesellschaftlichen Status zu befragen«:

Meist sind es, käme dabei heraus, akademische Intellektuelle mit unklarem Status, die sich, aufgrund dieser Unklarheit, plötzlich wieder als Schriftsteller präsentieren möchten, obwohl die Künstlerträume eigentlich längst hinter ihnen liegen sollten –

Waren »Künstlerträume« denn etwas Kindisches, das man abstreifen mußte?

Von den Abschlägen, die ich im ersten Jahr für die Mietnebenkosten gezahlt hatte, bekam ich fünfhundert Mark zurück. Als hätte sich ein Füllhorn aufgetan. Von allen Seiten brandete das Geld heran, und ich gönnte mir nun auch einen neuen Rasierpinsel und ein Buch des Medizinhistorikers Heinrich Schipperges (»Die Kranken im Mittelalter«).

So ungefähr das Ekligste, was ich je in der Glotze gesehen hatte, war die Serie Baywatch. David Hasselhoff als eingeölter Rettungsschwimmer, von Busenwundern umringt – um so etwas länger als dreißig Sekunden auszuhalten, mußte man gehirngewaschen sein.

Ich opferte einen Tag für einen Besuch in Meppen und hörte mir geduldig an, was Papa gegen Volkers Lebenswandel, Volkers Motorrad, Volkers Computer, meinen eigenen Leichtsinn, das moderne Reisefieber, das Finanzamt, die Juristen, die Politologen und seine drei Brüder auf dem Herzen hatte, obwohl ich das alles schon kannte. Irgendwann kam auch Mamas ewige Unrast wieder an die Reihe: »Selbst die Fernreisen nach Australien und Neuseeland und in die USA haben ihr nicht genügt! Nach dem Sightseeing in San Francisco hat sie in ihr Reisetagebuch geschrieben: ›And what comes next?‹« Er wisse nicht, woher sie dieses Zigeunerblut gehabt habe. »Von ihren Eltern bestimmt nicht! Die waren immer bodenständig!«

Das Buch von Heinrich Schipperges mißfiel mir wegen der frommen Sentenzen, die auf jeder Seite standen:

Kranksein ist im Mittelalter eine Lebensform, in der Kranke und Gesunde gemeinsam ihr ewiges Heil wirken in der uns zugemessenen irdischen Lebensfrist.

Ob das die Pestkranken damals auch so gesehen hatten? Während sie mit eitrigen Geschwüren in der Gosse lagen?

Am Samstag füllte ich den Weinkeller und die Gefriertruhe auf, wie immer, und dann überließ ich Papa sich selbst. Bis zu meinem nächsten Besuch.

Bettina holte mich in Osnabrück vom Bahnhof ab.

»Und? Entwarnung?«

»Leider nicht«, sagte sie. »Es bleibt spannend.«

Ihr Ex war verreist, was ich nicht bedauerte. Nur sie und ich und ihre Pferde und die freundliche Septembersonne: So hätte es eine Weile bleiben können. Spaziergänge, Apfelstrudel, Kaffee, Sex und gute Luft.

Sehr bekömmlich war es auch, abends umarmt auf der Terrasse zu sitzen, eingemummelt, bei einer Flasche Rotwein und Kerzenlicht. Manchmal schwirrten Fledermäuse über uns hinweg, und einmal hörten wir irgendwo einen Igel rascheln.

I was in a whirlwind, now I’m in some better place …

Am Sonntag brachte Bettina mich wieder zurück zum Bahnhof Osnabrück. Wir setzten uns dort noch ins Restaurant und bestellten jeder einen kleinen Imbiß. Und als sie einmal zur Toilette gegangen war, kam sie mit der Nachricht zurück: »Du wirst übrigens doch kein Vater.«

Uff.

Gut für das ungezeugte Kind, dachte ich auf der Heimreise. Als Vater wäre ich ein Blindgänger gewesen. Kein geregeltes Einkommen, keine festere Bindung an die Mutter als eine noch nicht krisenerprobte Liebelei und im übrigen kein Ehrgeiz, einen Kinderwagen durch die niedersächsische Steppe zu schieben – ein Baby hätte von mir nichts zu holen gehabt.

Und was war inzwischen in Friesland passiert?

Diebe machten

Koteletts heiß

Dem Wochenblatt entging doch nichts!

Horumersiel. Statt Zigaretten und Alkohol zu stehlen, wie es bei einem Kiosk-Einbruch eigentlich üblich ist, kamen unbekannte Täter am Horumersieler Strand jetzt auf eine andere Idee: Sie ließen die Rauschmittel stehen und machten sich dafür in der Fritteuse Koteletts heiß.

Kriminalität wohin?

Antje Ricklef fragte mich, wie es um meine Klavierkünste stehe. »Das ist immer so nett gewesen, dich spielen zu hören, aber irgendwie scheinst du davon abgekommen zu sein …«

Da hatte sie recht. Das Klavier übte keine große Anziehungskraft mehr auf mich aus. Wenn ich Stücke in Cis-Dur, Ges-Dur oder gis-Moll vom Blatt hätte spielen können, ja dann! Aber so? Immer nur üben und danebengreifen?

Mit meinem Rückblick auf das Jonglierfestival war Günther Willen zufrieden.

Und was zauberst Du als nächstes aus Deinem Heidmühler Hut? Ich glaube, so dann und wann macht sich eine Außenreportage aus dem prallen Leben und jenseits der Medien ganz gut in Kowalski. Vielleicht führt uns Kamerad Zufall ja mal wieder diesbezüglich zusammen …

Für die Rolle eines reinrassigen Reporters hätte ich mich nicht geeignet. Aber gemeinsam mit Günther Willen neue Schauplätze des Schreckens zu erkunden: Doch, das hörte sich verlockend an.

Erfolgsroman

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