Читать книгу Arbeiterroman - Gerhard Henschel - Страница 3

Arbeiterroman

Оглавление

In meinem Arbeitszimmerfenster konnte ich um halb fünf Uhr morgens mein Spiegelbild betrachten: Martin Schlosser, 25, Studienabbrecher, Möchtegernschriftsteller, wohnhaft in Oldenburg, Nadorster Straße 157. Niemand kennt ihn. Zur Zeit muß er seinen Unterhalt noch als Hilfskraft in der Spedition Rhenus verdienen, doch er schreibt an seinem ersten Buch, schon seit anderthalb Jahren, und bald wird es fertig sein …

My mind’s distracted and diffused

My thoughts are many miles away …

Was sollte werden, wenn ich mich getäuscht hatte? In mir selbst?

»Martin? Wird der nicht nächstes Jahr fünfzig? Soweit ich weiß, krebst der noch immer als Hilfsarbeiter rum. Hat lange nichts mehr von sich hören lassen. Feilt wahrscheinlich jede Nacht an dem Opus Magnum, das er für seine Schublade schreibt …«

»Und was ist aus seiner Freundin geworden? Dieser komischen Sozialpädagogin?«

»Frag mich was Leichteres. Oder warte mal – lebt die nicht davon, daß sie selbstgemachte Ohrringe auf Flohmärkten verkauft?«

Ab halb sechs hinkte meistens unsere Vermieterin durch den Garten. Frau Morgenstern. Hatte sich das Frühaufstehen vermutlich schon in den Schlesischen Erbfolgekriegen angewöhnt.

Ich kroch noch einmal zurück zu Andrea ins Bett, und dann mußte ich hinaus ins feindliche Leben und LKWs entladen. Eine Palette nach der anderen, mit allem, was das Herz begehrte: Schweinedarmtonnen, Gartenstühle, Spielwaren, Fernsehgeräte, Farbeimer, Konserven, Dachziegel und Süßigkeiten. Einer der Kartons war aufgeplatzt, und die dämlichen Schoko-Crossies hatten sich über die halbe Ladefläche verteilt.

Noch dümmer war’s, wenn lose Styroporkügelchen herumflogen. Die wurde man nie wieder los.

Meinem alten Kompagnon Matthias kippte dann eine ganze Palette mit Raviolidosen um. Die waren zwar eingeschweißt, aber die Plastikfolie riß, so daß die Dosen bis sonstwohin kullerten. Ein Geschepper wie bei einer Offensive der Blechbüchsenarmee.

»Da kommt Freude auf!« schrie Voss, der Schichtleiter.

Keine angenehme Arbeit. Und mit neun Mark die Stunde auch nicht gut bezahlt. Wenn Andrea putzen ging, lag ihr Stundenlohn eine Mark höher.

Zuhause setzte ich mich ans Klavier.

Blue skies

Smiling at me

Nothing but blue skies

Do I see …

Barpianist, das wäre eine luzidere Verdienstquelle gewesen, aber dazu langte es bei mir nicht.

Wir aßen Kartoffelgratin mit Blumenkohlröschen und Parmesan.

»Isch hänn dir schone mo jesorrt, dat dat net ming Leibgerischd wörr«, sagte ich in einem Phantasiedialekt, und Andrea stieg sofort darauf ein: »Mir könne net immer bloß Körriwoscht fresse, du ahle Knallbotz!«

So ging es hin und her.

»Motze, ja, dat kannste, abbä koche tuste wie ’ne Wasserleische …«

»Mußt du grad sorre, du Hängefott! Du häss doch in de Küsch noch kei einzische Handschlach getönn, seit isch disch kenn!«

»Isch hänn dir äwwens schon jesorrt, dat de gut motze kannz. Awwä sünz ooch nix!«

»Dat will isch gar net wisse, wat du mir äwwens jesorrt häss …«

»Ja. Logisch. Weil de äwwens owwens nix als motze kannz!«

»Von weesche äwwens owwens … du kannst doch net ma Deutsch!«

»Awwä dau mit deine Gosch! Da falle eime ja äwwens die Ohre ab, wemma disch babbele hört!«

Ein zänkisches altes Ehepaar spielen. Herrlich. Sofern man es nicht übertrieb.

Die Stunde der Wahrheit nahte: Nachdem ich die letzte der spinnerten Geschichten verfaßt hatte, aus denen sich mein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel »Die Weißheit der Indianer« zusammensetzen sollte, stand mir nur noch die Aufgabe bevor, alles abzutippen, die sechshundert Bilder einzukleben, mehrere Kopien zu machen und sie im Copy-Shop binden zu lassen, bevor ich die Verlage meiner Wahl mit dem fertigen Werk beglücken konnte.

Zwischendurch kam immer mal Andreas schöne Freundin Lydia zu Besuch, die bei Walter Kempowski Pädagogik studierte. In einem Restaurant namens Ali Baba würden sie und andere Studenten oft noch mit ihm zusammensitzen, erzählte sie, und er sei ausgesprochen nett zu ihr. »Obwohl er weiß, daß ich noch nie ein Buch von ihm gelesen hab!«

Was ich mir damit erklärte, daß er Lydia wegen ihrer Schönheit und ihrer charmanten Jugendfrische alles verzieh.

Die neuen Wranglers, deren Ankauf sich nicht mehr hinauszögern ließ, gingen ziemlich ins Geld. Und dann war schon wieder anderer Nachschub fällig: Waschpulver, Zahncreme, Klopapier, Seife, Rasierklingen, Streichhölzer, Tee, Marmelade, Mülltüten, Strümpfe, Tintenpatronen, Briefumschläge, Schreibmaschinenpapier, Uhu, Heftklammern und Diaphragmasalbe. Ganz zu schweigen von den Grundnahrungsmitteln.

Sie frage sich, wie wir das eigentlich hingekriegt hätten die letzten Monate über, sagte Andrea. »Wo wir doch auch noch Telefon und Strom und Öl und all so’n Killefitz bezahlen müssen …«

Dann fiel mein rechter Brillenbügel ab. Das Schräubchen hatte sich gelöst und selbständig gemacht, und ich ängstigte mich vor den Kosten der Reparatur, doch bei Optiker Bode am Schloßplatz wurde mir für das Heilemachen meiner Brille nichts berechnet: Das gehöre zum Kundendienst.

Ab und an zog ich eines von Andreas Büchern aus dem Regal. »Ich ging den Weg des Derwisch« von Reshad Feild: Darin legte der Verfasser Zeugnis von seiner Lehre bei einem sufischen Meister ab, der ihm permanent die Hammelbeine langgezogen habe:

»Du bist in mein Haus gekommen, und nun zählt jeder Augenblick. Ich möchte, daß du nicht länger hierbleibst als unbedingt nötig; wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich will dir einiges von dem Wissen weitergeben, das mir gegeben wurde, damit du heimkehren und andere lehren kannst.«

Die Tatsache, daß ein anatolischer Derwisch hier mit einem Zeitbegriff operierte, der auch dem Produktionsleiter einer Würstchenfabrik zuzutrauen gewesen wäre, hatte dem internationalen Siegeszug des Buchs keinen Abbruch getan.

Andrea besaß auch den Bericht einer gewissen Sylvia Winter über ihre Zeit als Jüngerin Bhagwans (»Die erwachende Göttin«).

Darauf folgt jetzt sofort die Nachricht, daß 21 Leute erleuchtet sein sollen! Das drückt bei mir alle Knöpfe, die drückbar sind. Warum nicht ich?

Die Stilblüten der esoterischen Literatur hätte man zu einem eigenen Roman zusammenfügen können, so wie es Cervantes mit den Versatzstücken der Ritterromane getan hatte, dachte ich. Mal alles sammeln, was es da so gab, eine Geschichte daraus basteln und ihr einen möglichst beknackten Titel geben: »Das erwachende Selber« oder so.

Ich las mich querbeet durch den Kanon der New-Age-Literatur: Carlos Castaneda, Edgar Cayce, Heinz Körner, Sri Aurobindo, Maharishi Mahesh Yogi, Fritjof Capra, Erich Fromm …

»Das wird also dein nächstes Buch?« fragte Andrea.

»Schon möglich.«

»In dem du dich über das alles lustig machst?«

»Ja. Warum auch nicht?«

»Weil nicht alles Spirituelle Quatsch ist.«

»Es ist aber auch nicht jeder Quatsch spirituell.«

»Und was ist mit Leuten, denen das, was du für Quatsch hältst, heilig ist?«

»Die müssen damit leben, daß es auch Leute gibt, denen das Quatschmachen heiliger ist als scheinheiliger Quatsch.«

»Du hast echt auf alles ’ne Antwort«, sagte Andrea, und das fand ich unfair, denn ich hatte mich nur ihren Fragen gestellt und im Gegensatz zu den Schlaumeiern aus der Esoterikabteilung nie behauptet, daß ich auf alles eine Antwort hätte. Schon gar nicht auf die letzten Fragen.

Mein Zettelkasten füllte sich mit Schrottzitaten. Beispielsweise aus dem Bestseller »Ganz entspannt im Hier und Jetzt«, den der einstige Stern-Journalist Jörg Andrees Elten alias Swami Satyananda geschrieben hatte, nachdem er in Poona erweckt, aber auch verprügelt worden war:

Inzwischen habe ich begriffen, daß Schlägereien kein Selbstzweck sind, sondern ein Mittel, um dich ins Hier und Jetzt, zur Totalität, zu voller Awareness zu bringen.

Eine prima Ausrede: »Der Faustschlag war kein Selbstzweck, Euer Ehren. Ich wollte den Kläger zu voller Awareness bringen!«

Und nicht anders als Reshad Feilds zappeliger, nach weltlichen Erfolgen gierender Meister träumte auch Swami Satyananda von einem Triumph im Diesseits:

Erst wenn Hunderttausende zu Bhagwan kommen, werden die Reporter die flachen Surfbretter ihres Verstandes auf die hochwogende Woge des Masseninteresses werfen.

Solche Deppensätze konnte ich 1:1 in meinen Roman übernehmen.

Und was gab es Neues aus der Welt der Mode?

Summerdarks. Dezente Farben und fröhliche Floralmuster, weich fließende Stoffe und klare Linien, kurze enge Formen und lange Flatterröcke. Club-Style. Frische Farben. Heavy Single.

Aha.

Manchmal sehnte sich Andrea, wie sie sagte, »doch schon sehr nach einem richtigen Badezimmer«, und ich konnte sie verstehen. Das durch zwei Holzwände und einen Vorhang abgeschirmte Waschbecken im nicht beheizbaren Flur war nur ein schwacher Ersatz. Aber deswegen zahlten wir ja auch bloß 180 Mark Miete für unsere Vierzimmerwohnung mit Außentoilette.

Am Internationalen Frauentag war im Berliner Lokalteil der taz eine »Pornoseite« erschienen, die man außerhalb Berlins leider nicht zu Gesicht bekommen hatte. Daraufhin waren die empörten »taz-Frauen« in den Streik getreten, und einige der männlichen Mitarbeiter hatten Selbstkritik geübt:

Ich hab vorher auch nicht diese Sensibilität gehabt, – also daß in dieser Seite natürlich wesentlich mehr drinsteckt, in dieser Situation, in dieser Zusammenstellung, zu diesem Zeitpunkt …

Ich empfinde das nur als ne Nabelschau, was jetzt hier passiert. Wenn, dann müßte das auf n anderes Niveau, daß sich da gesellschaftliche Konflikte eher widerspiegeln, auf ne andere Ebene gehoben werden als die, wie sie jetzt hier läuft …

Ich finde das von dir unheimlich selbstgerecht. Das ist wieder typisch männlich …

Ich für mich gehe davon aus, daß einer der gravierendsten Sozialisationsfehler, die Männern so ansozialisiert werden, damit auch mir, darin besteht, sich auf Frauen zu fixieren …

Ein heilloses Geschwalle von Typen, die sich gegenseitig mit ihrem Abscheu vor der Pornographie zu übertrumpfen versuchten.

Die Reaktion hier in den Gängen und die Diskussion darüber, – das hat mein Verhältnis dazu auf ne andere Stufe gehoben. Ich betrachte die Reaktionen auf diese Seite, von den Frauen, die da gestreikt haben, auch als Reaktionen aus nem Frust heraus …

Ich denk da muß man sich schon drüber einig sein, auf was für ner Ebene man diskutiert. Ich fand die Seite auch daneben …

Genau das gleiche ist mir mal vor Jahren passiert, da hat eine Freundin zu mir gesagt, sie hätte Angst, daß ich sie vergewaltigen kann, das hat mich total kalt getroffen … ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, daß sowas sein kann – ich ne Frau vergewaltigen … Aber die Situation ist einfach die … das ist da, es ist also ständig da … daß wir also mit diesem Umgang mit Sexualität, diese Darstellung von Frauen, daß wir da Gewalt ausüben und daß wir allein dadurch, daß Frauen eben vergewaltigt werden, potentielle Vergewaltiger sind …

Wie erfrischend wirkte dagegen Andreas Bemerkung: »Also, diese Pornoseite hätte ich gern mal gesehen!«

Die Frage der Frankfurter Rundschau, was von der Studentenbewegung geblieben sei, beantwortete der Philosoph Jürgen Habermas kurz und knapp: »Frau Süssmuth.«

Vielleicht, weil Rita Süssmuth als christdemokratische Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit die Verwendung von Kondomen propagiert hatte.

Mama und Papa inserierten in der Nordwest-Zeitung, daß sie ein Haus in Oldenburg suchten. Seit Papas Pensionierung bestand für die beiden ja auch wirklich kein Grund mehr, in Meppen wohnen zu bleiben. Mama wollte sowieso schon lange von dort weg.

Was man so für Postwurfsendungen bekam, zum Beispiel vom Autohaus Krzykowski:

Achtung! Radiergummi geschärft! Dreimal dürfen Sie rubbeln! Allerdings: Rubbelkönig kann nur werden, wer nicht mehr und nicht weniger als drei Felder entrubbelt. Zuviel gerubbelt, ist am Ziel vorbeigerubbelt. Da rubbeln wir kein Auge zu. In diesem Sinne: Fertig machen zum Rubbeln!

Und mit solchem Geblödel sollten Kunden gewonnen werden? Wenn ich die Absicht gehabt hätte, ein Auto zu kaufen, wäre ich zu einem seriöseren Händler gegangen.

Die Truppen des Diktators Saddam Hussein hatten, wenn man den Nachrichtenmeldungen trauen durfte, in einem Ort namens Halabdscha Tausende irakischer Kurden mit Senfgas massakriert. Und in Frau Morgensterns Garten hatte die Zeit der Krokusblüte begonnen.

Wie viele Kilometer lagen zwischen Oldenburg und Halabdscha? Dreitausend? Viertausend?

Unser Alltag sei ihr »irgendwie zu einförmig«, sagte Andrea, aber er hätte schlimmer sein können. Täglich ein paar Stunden Arbeit in der Spedition (ich) bzw. als Babysitterin und Putzfrau (Andrea), im übrigen viel freie Zeit fürs Schreiben, Lesen und Klavierspielen (ich) bzw. für die Beschäftigung mit Astrologie und Bauchtanz (Andrea), morgens Brötchen, mittags Müsli, nachmittags Tee und am Abend was Warmes, vielleicht ein Spaziergang oder ein Kinobesuch, in Ausnahmefällen auch mal ein Fernsehkrimi und zu gegebener Zeit Sex.

Was sollte falsch an einem solchen Leben sein? Mir fehlte nichts zum Glück außer einem Verlag. Und mehr Geld für Bücher.

In seiner »Hinkepott« betitelten Autobiographie, die ich für das Oldenburger Stadtmagazin Diabolo besprechen wollte, ging der Zeichner Horst Janssen aufs Emsland ein:

Diese Geographie wäre mir gleichgültig, gäbe es da nicht den Punkt Meppen, wo sich die Hase mit der Ems vereinigt.

Als Jugendlicher war er ab 1942 in der emsländischen Kleinstadt Haselünne in einer »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« gedrillt worden. Des Emslands gedachte er trotzdem noch immer mit Sympathie:

Es ist das melancholischste, tiefatmigste, dunkelste und hellste Land der Welt und aller Galaxien. Es stinkt nach Moor und duftet nach Kiefer. Es ist rostig und maigrün, es ist rosaviolett wie die Lüneburger Heide und so hell und blau wie eine Sommermarine; es ist so unendlich weit, voller knuffiger Enge; es ist so verschrottelt, uralt und voll ewigem Wind, der sich an sirrenden Moorsommertagen just hier so gern schlafen legt, daß es so still ist wie in Vakua. Vor, über und in Allem ist es aber ein hohes Land. Über diesem Land, das sah ich zu meiner Zeit, ist jene Öffnung, durch die allein man den Himmel sieht. Und in diesem Loch werden alle Farben zu dem schönsten Grau zusammengemischt, um sich in Licht zurückzuverwandeln. Die dicken Wolken kann man getrost der Erde zurechnen.

Eine mir gänzlich neue Sichtweise. Man konnte diese Landschaft also auch lieben!

Mama und Papa kamen zum Tee. Sie hatten ein Haus in Oldenburg-Osternburg besichtigt: Baujahr 1973, Wohnzimmer mit Kamin und Sichtbalken, Eßzimmer, Küche, Abstellraum, zwei Bäder und fünf weitere Zimmer sowie ein Partyraum mit Bar. Außerdem eine Doppelgarage mit Abstellkammer. Festpreis 340000 Mark.

»In den Garten müßte man allerdings ziemlich viel Arbeit reinstecken«, sagte Mama. »Den haben die jetzigen Besitzer einfach verlottern lassen …«

Und nach Papas Ansicht war der Dachstuhl morsch.

Bei meiner sukzessiven Gesamtlektüre der Fackel war ich im November 1921 angelangt. Damals hatte Karl Kraus seinen bitteren Spott über die Deutschen ausgegossen, die Kaiser Wilhelm II. wiederhaben wollten:

Gewiß, ein Monarch kann auf Regierungsdauer ein Trottel sein, das widerstreitet nicht dem monarchischen Gedanken. Wenn er sich aber auch in der Zeit, da er kein Monarch mehr ist, wie ein Trottel benimmt, nämlich durch die Art, wie er wieder ein Monarch werden möchte, so sollte man doch meinen, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens ihm die Eignung hierzu absprechen müßten. Freilich huldigen ja die Anhänger des monarchischen Gedankens auch der Anschauung, daß ein Trottel, der einmal ein Monarch war, gar nicht aufgehört habe, einer zu sein, nämlich ein Monarch, so daß ihn der Umstand, daß er sich auch während der Unterbrechung als ein solcher gezeigt hat, nämlich als ein Trottel, nicht hindern könne, der Monarch zu werden, der er immer war und ist. Woraus ferner hervorgeht, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens nie aufhören, das zu sein, was sie sind und immer waren, nämlich Anhänger des monarchischen Gedankens.

So unwahrscheinlich es auch sein mochte, daß Wilhelm II. das gelesen hatte. Ich hätte sehr gern sein Gesicht dabei gesehen.

Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg erklärte der christdemokratische Ministerpräsident Lothar Späth, die CDU habe »den richtigen Kurs gefahren«, und der Grüne Rezzo Schlauch gab kund, seine Partei habe »einen Spagat gefahren«, obwohl gerade dieser Mann nicht so aussah, als ob er körperlich zu so etwas imstande wäre.

Jeweils ein Exemplar meines fertigen Bildergeschichtenbuchs schickte ich an die Verlage Haffmans, Rasch und Röhring, Greno, Semmel und Zinnober.

Für eine baldige Antwort wäre ich Ihnen sehr verbunden!

Wie lange ich bei Rhenus allein für das Porto ochsen mußte, rechnete ich lieber nicht aus.

Andrea fand ja, daß es genügt hätte, erst einmal nur Haffmans zu bemustern und dann abzuwarten, aber ein paar Eisen mehr im Feuer konnten nicht schaden.

In der Zeit machte sich der Kritiker Andreas Kilb über Ulla Hahns Gedichtband »Unerhörte Nähe« lustig. Doch genaugenommen hätte er sie nur zitieren müssen:

Danke ich brauch keine neuen / Formen ich stehe auf / festen Versesfüßen und alten / Normen Reimen zu Hauf // zu Papier und zu euren / Ohren bring ich was klingen soll / klingt mir das Lied aus den / Poren rinnen die Zeilen voll // und über und drüber und drunter / und drauf und dran und wohlan / und das hat mit ihrem Singen / die Loreley getan.

Heine und die Folgen! Erschienen war dieser Summs in der Deutschen Verlags-Anstalt.

Wenn ich im Aldi oder auch in anderen Supermärkten in der Schlange weit genug vorgerückt war, stellte ich mich in die Lücke zwischen dem Laufband und meinem Einkaufswagen, um meine Einkäufe möglichst weit vorn hinzulegen, damit die Kassiererin nachher nicht ewig aufs Pedal zu treten brauchte. Aber wenn ich dann an meine Ursprungsposition hinter dem Einkaufswagen zurückkehren wollte, hatte der Kunde hinter mir seinen eigenen Einkaufswagen in neunundneunzig von einhundert Fällen schon so weit nach vorn geschoben, daß das nicht mehr ging.

Wie schafften es solche Spatzengehirne überhaupt, sich zu vermehren? Dazu bedurfte es doch einer ganzen Serie zielgerichteter und gut aufeinander abgestimmter Handlungen?

Andrea warf mir vor, daß ich arrogant sei. »Es sind nun mal nicht alle Leute so schlau wie du! Und wenn du selber mehr Verstand hättest, dann würdest du nicht nach jedem kleinen Einkauf ’ne halbe Stunde rumjammern über die Blödheit der Menschen!«

Bei Rhenus mußten Matthias und ich mal wieder die großen Kabeltrommeln sortieren, die sich auf dem Brachland hinter der Halle angesammelt hatten.

Tiefe, ölig schimmernde Pfützen und der Boden ein einziger Brei. Nach anderthalb Stunden sah Matthias wie ein Golem aus. Und ich bestimmt nicht besser.

Im FAZ-Magazin gab der Schauspieler Helmut Lohner bekannt, was für ihn das größte Unglück sei:

Die immer größer werdende Unglaubwürdigkeit der Politiker.

Und wann war die Unglaubwürdigkeit der Politiker kleiner als 1988 gewesen? 1958? 1928? Im Dreißigjährigen Krieg? Oder während der Regentschaft des Königs Echnaton?

Ich kam zwar rasch voran, als ich nach Meppen trampte. Aber diese Autoradiokacke!

»Hejo, Mango, Fanta Mango, klingt’s über das Meer. Wie die Sonne auf Hawaii schmeckt die tolle Fanta Mango. Fanta Mango, klingt’s über das Meer. Eins, zwei, drei, und die Südsee kommt, ah, Fanta Mango, klingt’s über das Meer …«

»Ah – auch schon probiert? Die tolle Fanta Mango? Da, wo es Fanta gibt. Fanta Mango!«

»Mahlzeit! Hier – Lotto für mich und für Tom!«

»Ist ja nett, daß der Chef für den Lehrling seinen Lottoschein abgibt …«

»Nett! Als Chef bin ich der einzige im Betrieb, der noch Botengänge machen darf. Kucken Sie mal in die Lehrverträge!«

»Lotto, Lotto, jede Woche Lotto. Verpaß deine Chance nicht!«

»Ich will so bleiben, wie ich bin …«

»Du darfst!«

»Will so bleiben, wie ich bin …«

»Du darfst!«

»Ich hab Du darfst für mich entdeckt …«

»Du darfst!«

»Na sowas – hat mein Mann doch tatsächlich meinen Du-darfst-Fruchtjoghurt gegessen. Dabei sagt er immer, er mag keine kalorienreduzierten Sachen. Aber beim Joghurt ist das natürlich was anderes. Da sind ja auch ganze Fruchtstücke drin.«

»Du darfst! Alles was mir schmeckt!«

»Das sollte allen zu trinken geben! Hier swingt der Kaffee in der Tasse, denn hier kommt Swing, der freche Kaffee von Jacobs! Aber Vorsicht, meint Herbert, der schmeckt so schwarz, daß man kaum die Hand vor Augen erkennt. Das ist Swing. Ob mit Milch oder nicht – egal. Swing! Der Kaffee mit dem schwarzen Charakter. Swing! Der freche Kaffee von Jacobs. Denn Frech kommt weiter!«

»Ich hab mir grad ’ne Waschmaschine gekauft, so groß wie ’n Sparschwein. Die Arielette von Ariel flüssig. Mit der geht bis zu zwanzig Prozent weniger Waschmittel in der Waschmaschine verloren. Denn sie wirkt sofort mitten in der Wäsche. Fast wie ’ne kleine Waschmaschine in der Waschmaschine. So wird’s mit Ariel flüssig porentief rein.«

»Die schönsten Pausen sind lila – Lila Pause oladio!«

»Milka Lila Pause, die Schokoriegel, die so zart und crisp sind. Lila Pause Joghurt-Crisp, Lila Pause Nougat-Crisp und Lila Pause Korn-Crisp. Lila Pause Milka. Ein Genuß, bei dem man alles vergißt!«

»Die schönsten Pausen sind lila – Lila Pause oladio!«

Zum Dreinschlagen.

In Hannover hatten Mama, Papa und Volker die Computermesse CeBIT besucht. Das meiste sei allerdings Tinnef gewesen, sagte Papa. »Technisches Spielzeug für Kindsköpfe. Volker würde jedenfalls besser daran tun, sich auf den Hosenboden zu setzen, als seine Zeit mit solchen Kinkerlitzchen zu verbringen!«

Kartoffelsuppe mit Würstchen und Lauch und gerösteten Weißbrotwürfeln, die sich Croûtons nannten …

Die Körnchen, die einem beim Himbeerjoghurtessen zwischen den Zähnen steckenblieben, gingen nur mit der Zahnbürste wieder raus.

An seinem letzten Arbeitstag auf der Meppener Erprobungsstelle war Papa von seinen Kollegen mit einem Buch bedacht worden. Hoimar von Ditfurth: »Unbegreifliche Realität. Reportagen Aufsätze, Essays eines Menschen, der das Staunen nicht verlernt hat«.

Zur Erinnerung an den heutigen Tag von den Restmitgliedern des ehemaligen FBWM III aus dem Zuggebäude 1a.

Bundeswehr-Chinesisch.

Ein anderer Kollege hatte Papa zum Abschied einen Brief geschrieben:

Lieber Herr Schlosser, wir kennen uns nun schon lange, auch aus der Zeit unserer gemeinsamen Tätigkeit hier in Koblenz. Sie waren seinerzeit Referatsleiter für Waffenleitung, ich Referatsleiter für leichte Waffen. Ich weiß aus dieser Zeit, daß Sie große Verdienste insbesondere um den nun schon legendären Leo I und seine Leistungssteigerung haben, und ich weiß, daß es auch seinerzeit nicht leicht war, die sachlichen Notwendigkeiten durchzusetzen, so z.B. beim Feuerleitrechner. Deshalb können Sie heute umso mehr stolz darauf sein, daß der Leo I international hohes Ansehen genießt und viele Schießwettbewerbe gewonnen hat.

Davon, daß er auf das hohe internationale Ansehen dieses Panzers stolz gewesen wäre, hatte ich Papa nie etwas angemerkt.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie Ihren Ruhestand recht genießen können und sich die mit dem Lebensfortschritt verbundenen Sorgen für Sie auf ein Minimum beschränken werden, so daß Sie dann weitgehend unbeschwert sich neuen Interessen zuwenden und diese gemeinsam mit Ihrer Familie genießen können.

Richard Schlosser, der Genußmensch!

Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns später bei dieser oder jener Gelegenheit in Meppen treffen und ich dann in das zufriedene Gesicht eines glücklichen Pensionärs blicken darf.

Ungeachtet der Sorgen, die mit dem »Lebensfortschritt« einhergingen. Ein schnurriges Synonym für Altern und Vergreisen.

Während Papa im Keller Blumenkästen zimmerte, nahm Mama sich in der Küche das angelaufene Silberbesteck vor.

Sidol Metallpolitur.

»Auch für Papa ist das Haus inzwischen viel zu groß«, sagte Mama. »Wir brauchen was Kleineres und Pflegeleichteres! Und zwar in einer Stadt, in der ich mich wohler fühle als hier. Ich will in keiner katholischen Gegend mehr wohnen!«

»Und wenn Papa sich weiterhin sträubt?«

»Dann müssen wir uns eben gütlich trennen.«

In der ZDF-Sendung Das literarische Quartett rührte Marcel Reich-Ranicki die Trommel für Ulla Hahn: »Sie hat bewiesen, daß man melodiöse, schöne Gedichte schreiben kann!« Und: »Kennen Sie noch einen Lyriker, über dessen Band man so lange reden kann heute?«

Von Robert Gernhardt schien er noch nie was gelesen zu haben.

Vier- oder fünfmal mußte ich Papa im Keller helfen: Bretter anreichen, Pinsel auswaschen, PVC-Folie zuschneiden, Sägespäne auffegen, 3,5x30-mm-Schrauben zusammensuchen, Spachtelmasse anrühren …

Wie wäre Papa in seiner Werkstatt wohl mit begabteren Handlangern als mir umgesprungen? Hätte er auch Thomas Alva Edison als »Tränentier«, Wernher von Braun als »Weihnachtsmann« und Leonardo da Vinci als »Rhinozeros« tituliert?

Der Spielfilm »Die Körperfresser kommen«, der am Samstag im Spätprogramm lief, war so spannend, daß sich einem die Därme verknoteten, aber Papa schlief dabei ein.

Den Bösen, gegen die die kleine Schar der Guten keine Chance hatte, fiel selbst die schöne Elizabeth Driscoll (Brooke Adams) zum Opfer, und am Ende wurde die letzte Überlebende (Veronica Cartwright) von dem Duplikat eines verstorbenen Freundes (Donald Sutherland) mit einem Schrei, der sogar Papa aus dem Schlaf riß, an die außerirdischen Invasoren verraten.

In der Nadorster Straße erwartete mich das Päckchen, das ich dem Verlag Rasch und Röhring zugesandt hatte. Es war mit dem Vermerk zurückgekommen:

Annahme verweigert

Eine gute Methode, wenn man unverlangte Einsendungen abschmettern wollte. Womit man natürlich das Risiko einging, daß man aus Bequemlichkeit einen künftigen Klassiker an die Konkurrenz verlor.

Um halb drei müsse sie zu ihrer Putzstelle, sagte Andrea, und es wäre nett, wenn ich die Wäsche aufhängen könne. »Ich bin wohl so gegen sechs oder halb sieben wieder da, um dich zu verschmausen …«

Der »freche Kaffee von Jacobs« inspirierte mich zu einer Zeichnung: Vor einem müden Mann mit schweren Tränensäcken und Kartoffelnase steht eine volle Kaffeetasse, aus der sich eine Sprechblase erhebt: »Losloslos, mach die Augen auf, du mieser alter unrasierter Drecksack! Alte fette graue verschissene Ratte! Zack, zack!«

Darunter der Slogan:

MUCKEFUCK!

Der frechste von allen.

Dieses Blatt schickte ich der Redaktion des Hamburger Satiremagazins Kowalski zu. Vielleicht gefiel das da ja wem.

Nicht abgeneigt gewesen wäre ich einem Seitensprung mit der schönen Eiskunstläuferin Katarina Witt. Aber unsere Wege wollten sich einfach nicht kreuzen.

Für meinen esoterischen Roman war mir auch die »Autobiographie eines Yogi« von Nutzen. In diesem Weltbestseller führte der erleuchtete Meister Paramahansa Yogananda einen schlagenden Beweis für die Wahrheit der Lehre von der Reinkarnation ins Feld:

In zahlreichen Bibelstellen wird auf das Gesetz des Karma und seine logische Folge, die Wiedergeburt, angespielt, so z.B. in folgender: »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.« (1. Mose 9,6) Wenn jeder Mörder selbst »durch Menschen« getötet werden muß, so wird diese Vergeltungsmaßnahme in den meisten Fällen mehr als eine einzige Lebensspanne in Anspruch nehmen. Die heutige Polizei ist einfach nicht schnell genug!

Obwohl sie sich gewiß auch in Indien alle Mühe gab.

Zu ihrem 25. Geburtstag wünschte sich Andrea von mir nur eins: Ich solle nicht mehr »Tante Dagmar«, »Tante Luise«, »Tante Gisela«, »Tante Therese«, »Tante Gertrud« und »Tante Doro« sagen und auch nicht mehr »Onkel Rudi«, »Onkel Walter« und »Onkel Dietrich«, sondern meine Tanten und Onkel einfach beim Vornamen nennen. »So wie jeder Mensch, der aus dem Vorschulalter raus ist. Du sagst ja auch nicht ›Schwester Renate‹, ›Schwester Wiebke‹ und ›Bruder Volker‹ …«

Eine Ausnahme durfte ich bei meiner Großtante Hanna machen: Bei ihr war der Begriff »Tante« unauflöslich mit dem Namen »Hanna« verschweißt. Und auch Oma Jever und Oma Schlosser blieben Oma Jever und Oma Schlosser.

Im Programmkino Casablanca sahen wir uns die Komödie »Tote tragen keine Karos« an, in der Steve Martin als Privatdetektiv Rigby Reardon u.a. mit Barbara Stanwyck, Humphrey Bogart, Cary Grant, Bette Davis und James Cagney zusammentraf. Am komischsten fand ich die Szene, in der Reardon fast eine Minute lang Kaffeepulver aus einer scheinbar unerschöpflichen Packung in einen Kochtopf schüttete.

Lingam und Yoni. Romeo und Julia. Yin und Yang.

If I’m not too far off

I think we did this once before …

Ich konnte nie genug davon bekommen. Oder allenfalls für ein paar kurze Stunden.

In Kowalski stellte Richard Kähler eine These auf, die mir stichhaltig erschien:

Die ganze Computertechnikerei ist in Wirklichkeit ein gigantisches, weltweites Arbeitsbeschaffungsprogramm von Männern für Männer, die keine Freundin haben.

Solche Sätze hätten mal auf Würfelzuckerpapier gedruckt werden sollen. Und nicht immer nur irgendwelche abgedroschenen Aphorismen von Abraham a Santa Clara oder Blaise Pascal.

Sehr erheiternd war ein kleiner Aussetzer der Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff. Statt »WTC-Turnier« hatte sie aus Versehen »WCT-Turnier« gesagt, und danach konnte sie vor lauter unterdrücktem Lachen kaum noch die Lottozahlen ablesen.

Als ich unseren Küchenmülleimer leeren ging, sah ich den Vollmond.

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick …

Ich rief Andrea nach draußen. Diesen Anblick durfte sie sich nicht entgehen lassen.

Renate rief an und berichtete, daß ihre Katze Missy sieben Junge geworfen habe. »Jetzt lassen wir sie aber sterilisieren!«

Renate und Olaf waren hart im Nehmen. Wer halste sich denn nach drei Kindern auch noch acht Katzen auf?

Der Oldenburger Ostermarsch endete in der Fußgängerzone am Lefferseck. Auf der Abschlußkundgebung spielte dort ein Gitarrenschrammler-Duo namens »Kuddel und Jan«, und die Festrednerin Dorothee Sölle rief zur Begrüßung ins Mikrofon: »Liebe Friedensleute!«

Sie trug einen rot-braun-grün-orange-gestreiften Poncho und redete Stuß: »Die in den Herzen dieser Deutschen verwurzelte Friedensliebe läßt sich nicht mehr zurückdrehen …«

Als gewaltfrei konnte man den Umgang dieser Pazifistin mit der Sprache und der Logik wirklich nicht bezeichnen. Über die nicht mehr zurückdrehbare Friedensliebe der Deutschen hätte Dorothee Sölle jedenfalls anders gedacht, wenn sie mal in einen der Züge gestiegen wäre, die laut Fahrplan besonders geeignet »für Bundeswehr-Familienheimfahrten« sein sollten.

Selbst in die Fernsehnachrichten schlich sich das Frömmeldeutsch ein: Vom ZDF erfuhr man, daß Willy Brandt von seiner Moskaureise »ein zusätzliches Stück Hoffnung« mitgebracht habe.

Andrea fragte mich, ob ich sonst keine Sorgen hätte. »Was bringt dir das, wenn du dich darüber aufregst, wie andere Menschen reden?«

»Das sind nicht einfach andere Menschen, sondern Journalisten, die dafür bezahlt werden, daß sie in klarer Sprache politische Fakten erörtern. Und nicht dafür, daß sie rumsülzen wie halbdebile Kirchentagsbesucher.«

»Dann mach die Kiste doch aus!«

Welch brillante Idee – man halte sich die Ohren und die Augen zu und singe »Lalala«, und schon sind alle Probleme gelöst.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück und übte Klavier.

Love makes me treat you the way that I do

Gee Baby, ain’t I good to you …

»Nu! Nu!« schrie Frau Morgenstern von draußen durchs zue Fenster. »Scheene Musik!«

Nach der Arbeit fuhr ich zu Matthias in die Lindenstraße mit, und er las mir beim Bier was von seinem neuen Lieblingsschriftsteller Flann O’Brien vor. Eine Geschichte über die gewerbliche »Buchhandhabung« für Leute, die keine Zeit zum Lesen hätten, aber Wert darauf legten, prestigeträchtig zerlesen wirkende Bücher zu besitzen.

Handhabung De Luxe. Jeder Band wird übel zugerichtet, die Buchrücken der kleineren Bände werden in einer Weise beschädigt, die den Eindruck entstehen läßt, sie seien in Brust- oder Hosentaschen herumgetragen worden, eine Passage in jedem Band wird mit Rotstift unterstrichen plus Ausrufungs- oder Fragezeichen am Seitenrand, ein altes Programm vom Gate Theatre wird jedem Band als vergessenes Lesezeichen beigelegt (3 Prozent Ermäßigung, wenn alte Programme des Abbey Theatre akzeptiert werden), nicht weniger als dreißig Bände werden mit alten Kaffee-, Tee-, Porter- oder Whiskeyflecken behandelt und nicht weniger als fünf Bände mit dem gefälschten Namenszug des Autors versehen.

Es gebe auch »Le Traitement Superbe«, sagte Matthias. Dazu gehörten handschriftliche Randbemerkungen wie »Gut gegeben!« oder »Na, na, na«.

Später setzten wir uns zu Heike rüber. In ihrem Zimmer lag ein Buch mit Lyrik von Lesben für Lesben herum. Alles in Kleinschreibung. Am häufigsten schienen die Wörter »schlange«, »lilith«, »lippen«, »orchidee«, »schenkel«, »muschel«, »mond« und »delta« vorzukommen.

Als ich eines dieser Gedichte rezitierte, riß Heike mir das Buch aus den Händen und fauchte mich an: Das süffisante Grinsen könne ich mir schenken! »Wenn Frauen nach einer neuen Sprache für ihre Gefühle suchen, dann steht euch Wichsern kein Urteil darüber zu!«

Austeilen konnte sie immer noch so gut wie in der Zeit, als sie meine Freundin gewesen war.

Hin und wieder sah ich meinen Vetter Robert auf seinem Liegerad durch den Stadtverkehr karriolen. Merkwürdig, daß der TÜV solche Kisten überhaupt zuließ.

Meine Speditionsarbeiterschwielen cremte ich mit Ringelblumensalbe ein, die aber nicht viel half. Ich hatte Pranken wie der Homo heidelbergensis.

Ich schrieb dann auch mal wieder eine Geschichte über meinen fiktiven Freund Bruno: Er hat die Antwort auf einen Liebesbrief erhalten und will sie sich vorlesen lassen …

Ich zerschnitt, mir der Bedeutung dieses intimen Vorgangs für Brunos überspannte Nerven und den Fortgang unserer Freundschaft durchaus bewußt, den Umschlag und zog den Brief – es war nur ein einziges Blatt – hervor. Bruno zündete sich eine Zigarette an, und es entging mir nicht, daß seine Finger zitterten.

Ich entfaltete das Blatt und strich es glatt.

»Vorlesen?«

»Vorlesen.«

»Also«, sagte ich und begann. »An alle, die für den Frieden sind!«

Daß Bruno zusammenzuckte, war nicht zu übersehen, aber nun mußte er mitten hindurch.

»Dies ist ein Kettenbrief. Sorge bitte dafür, daß die Kette nicht abreißt. Schreibe bitte auf eine Karte: WIR WOLLEN FRIEDEN FÜR DIE WELT!«

In der Küche pfiff der Teewasserkessel, und ich preschte hin, bevor das Pfeifen Andrea weckte.

Was zunahm, war die Zahl der Männer mit einem weintraubenbündelförmigen, an einer Gürtelschlaufe festgehakten Schlüsselbundgehänge an der Hüfte, das bei jedem Schritt klirrte. Als wären das alles Gefängnisaufseher. Doch was hatten sie groß zu verschließen außer der Wohnungstür, der Haustür und der Autotür? Die Briefkastentür vielleicht noch und die Kellertür, aber sonst?

In der NDR Talk Show diskutierten der halbseidene CDU-Rechtsaußen Heinrich Lummer, der dubiose Barschel-Affären-Veteran Reiner Pfeiffer, der Showmaster Rudi Carrell und der Rhetorikprofessor Walter Jens über »Glaubwürdigkeit in der Politik«.

Bombenthema, Bombenbesetzung. Fehlten eigentlich nur noch Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt.

»Dein Vetter Gustav hat um einen Rückruf gebeten«, sagte Andrea, als ich weichgeregnet von der Arbeit kam. »Dem geht’s wohl gerade nicht so blendend …«

Ich besorgte Bier und besuchte ihn in seiner Rumpelkammer in der Bahnhofsallee.

Die Sache war die, daß er seine Stelle in der Cloppenburger Anwaltskanzlei verloren hatte. »Jetzt b-b-b-bin ich w-w-wieder a-a-arbeitslos«, sagte er.

Ich hatte ihn lange nicht mehr so stottern gehört.

Das gab sich aber nach dem ersten Bier, und nach dem zweiten kam er richtig in Schwung. Wie er zum Beispiel einmal dem FDP-MdB Detlef Kleinert begegnet sei: »Das war in Hannover auf einer Party deines Onkels Rudolf, der ja, wie du weißt, mit ihm gemeinsam eine Kanzlei innehat. Der besagte Herr Kleinert hatte sich bereits einige Schoppen Wein zugerüstet, und er stand da mit dem Ellenbogen an die Wand gelehnt und informierte alle, die es hören oder auch nicht hören wollten, mit seinem dröhnenden Bariton darüber, daß er seinem Parteifreund Werner Maihofer in dessen Amtszeit als Bundesinnenminister des öfteren die Meinung gegeigt habe …« Gustav senkte seine Stimme um eine Oktave, um Kleinert nachzuäffen: »›Herr Maihofer!‹ hab ich gesagt, ›das können Sie doch nicht machen, Herr Maihofer!‹ hab ich gesagt …«

Auf dem Sonntagsflohmarkt neben dem Famila-Center kaufte ich mir zwei Romane des Franzosen Maurice Leblanc, in denen der »Gentleman-Gauner« Arsène Lupin die Hauptrolle spielte. Champagneresk, diese Krimis. Sowas konnte in Deutschland keiner. Oder ich wußte nichts davon.

Zum 26. Geburtstag bekam ich von Andrea eine Schreibtischunterlage, aus Meppen zwei Oberhemden, von Dagmar die neue Cohen-LP und von Oma Jever zwanzig Mark:

Ich weiß, daß Du ein glücklicher Mensch bist. Vielleicht hilft der beiliegende Schein dazu, daß das Glück noch ein bißchen gefestigt wird!

Wir festigten es, indem wir essen gingen: Ente knusprig gebacken mit acht Kostbarkeiten für zwei Personen. Passenderweise wurden dazu Glückskekse mit Spruchweisheiten gereicht. Die für Andrea lautete:

Fröhlichkeit und Mäßigkeit sind die zwei besten Ärzte.

Und die für mich:

Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln.

Wäre nicht ein Kinnhaken der kürzeste gewesen?

Von Cohens neuen Songs mochte ich »Take This Waltz« am liebsten.

Now in Vienna there are ten pretty women

There’s a shoulder where Death comes to cry …

Und wie viele Jahre mußte man nun wieder auf die nächste Platte warten? Vier? Oder gar fünf?

In der Innenstadt verbreitete sich ein Irrer über die nahende Apokalypse: »Dem Adolf habt ihr gehorcht, ihr Versager! Und heute gehorcht ihr dem Helmut! Aber wenn das siebente Siegel bricht und der erste Engel in seine Posaune bläst, dann wird ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, auf die Erde fallen! Und dann wird euch keine Haftpflichtversicherung und kein Penicillin mehr was nützen! Ihr Schweinepack! Ihr dient der Hure Babylon! Denn von dem Wein des Zorns ihrer Hurerei haben alle Heiden getrunken! Hat jemand Ohren, der höre!«

Er hatte seine braune Lederjoppe lose über den Schultern hängen und die Hände in den hinteren Hosentaschen stecken, während er da lang lief und herumschrie.

Als um vier Uhr morgens, wie üblich, mein Wecker klingelte, war Andrea verschwunden.

Ich hätte ihr zu laut geschnarcht, sagte sie später, und da sei sie halt ins Gästezimmer umgezogen. »Und dann hast du auch noch wie verrückt mit den Zähnen geknirscht …«

Unter aller Kanone waren Tag für Tag die politischen Karikaturen von Felix Mussil in der Frankfurter Rundschau. Auch diesmal wieder: Helmut Kohl trägt ein großes Paket, auf dem »Steuerreform« steht, und schreitet an einem Loch vorüber, neben dem ein Deckel liegt, auf dem »Niedersachsen« steht. Aus dem Loch ragt eine Hand, die einen Stock hält, an dem ein Zettel hängt, auf dem »Sozialhilfekostenfrage« steht, und über diesen Stock droht Kohl zu stolpern.

Es konnte nicht jeder Karikaturist ein Honoré Daumier sein, aber wenn man so mörderisch untalentiert war wie Felix Mussil, hätte man doch wirklich besser einen anderen Beruf ergreifen sollen.

Ich trampte nach Göttingen, um an einer Fete teilzunehmen, die in der Wohngemeinschaft meines alten Konfraters Hermann stieg.

Mit einer Flasche Bier in der Hand stand ich dort vor dem Bücherregal eines neu in die WG eingezogenen Geologiestudenten: »DuMonts Bastelbuch der Drachen«, »Einstein für Anfänger«, »Die Grenzen des Wachstums«, »Nach uns die Zukunft«, »Utopie der Barrikaden«, »Glück des Fliegens«, »Warten auf Godot«, »Worte des Statthalters Kohl«, »Das Heyne-Buch der Zimmerpflanzen«, »Die offenen Adern Lateinamerikas«, »Die Kunst des Liebens«, »Haben oder Sein«, »Entmündigung durch Experten«, »Der kleine Prinz« …

Die Bibliothek des geistigen Mittelstands.

Als Hermann und ich anderntags an der Leine entlangspazierten, warf ich einen flachen Stein aufs Wasser, um ihn tanzen zu sehen, und er ditschte viermal auf, bevor er unterging.

»Daß du dich nicht schämst«, sagte Hermann. »Dieser Stein hat da womöglich seit dreihundert Jahren gelegen und sich nach und nach mit den anderen Steinen in seiner Nähe angefreundet. Steine werden nämlich nur ganz langsam Freunde! Die brauchen Jahrhunderte dafür! Und jetzt kommst du und reißt den armen Kerl aus seinem angestammten Umfeld raus!«

Von der Autobahnauffahrt Göttingen-Grone bis zur Autobahnabfahrt Oldenburg-Haarentor fuhr ich bei einem Physiklehrer mit, der mir dreieinhalb Stunden lang was über fraktale Apfelmännchen, die Mandelbrotmenge, das Möbiusband und den Schmetterlingseffekt erzählte. »Gödel, Escher, Bach«, das Buch, das solle ich mal lesen, meinte er. Da würden manche dieser Dinge auch für Laien ganz verständlich dargestellt.

Ich mußte dann noch drei Kilometer weit nachhause petten. Ofener Straße, Peterstraße, Pferdemarkt …

Von Lydia, die uns zur Teestunde besuchte, erfuhren wir, daß im Herbst Walter Kempowskis neuer Roman erscheinen werde.

Endlich! Nach vier Jahren Wartezeit!

Die aufreizend laszive Sitzhaltung, die Lydia dabei auf Andreas Sofa einnahm, hätte auch Egon Schiele gefallen.

Ich übte ein neues Stück auf dem Klavier.

I could cross the burning desert

If I had you by my side …

Während ich spielte, seilte sich vor meinen Augen eine riesige schwarze Spinne von der Decke ab, und es dauerte fast zwanzig Minuten, bis ich diesen Brocken eingefangen hatte und im Garten aussetzen konnte.

Nach der »Rhythmenlehre« des Astrologen Wolfgang Döbereiner sei für ungefähr Mitte 1989 »eine Art Untergang der Bundesrepublik« zu erwarten, sagte Andrea. »Das kann ein Atomkrieg sein oder die Wiedervereinigung oder irgendwas Drittes.«

»Und glaubst du das?«

»Man weiß ja nie …«

Den Gedanken, daß die Russen kommen könnten, weil Saturn im Jupiter steht, hatte man im Pentagon bestimmt noch nicht erwogen.

Wenn man zum Woldsee wollte, mußte man in Wechloy in den Drögen-Hasen-Weg einbiegen. Eine zauberhafte Strecke.

Wir fuhren einmal um den See herum und gingen dann im Wald spazieren.

Die Gamslein Paar um Paare,

Sie kommen von weit her,

Die Rehe und das Hirschlein,

Das schöne Wildbret schwer …

Als kleineres Tier, zum Beispiel als Ohrenkneifer oder als Feuerwanze, wäre ich wahrscheinlich schmählich an der Aufgabe gescheitert, in diesem Dickicht ein Weibchen zur Begattung aufzutreiben.

Das regelte wohl irgendwie der Instinkt, wenn man das Pech hatte, als Insekt wiedergeboren zu werden. Aber welche Tiere hatten eigentlich guten Sex?

Leider hörte man auch tief im Wald den Autobahnverkehr. Also doch besser in ein entlegenes Dorf ziehen? Wie Arno Schmidt?

Auf dem Flohmarkt erstand ich für eine Mark fünfzig ein Büchlein mit drei Dylan-Interviews aus den Jahren 1977/78. In seinem Film »Renaldo und Clara«, hatte Dylan da gesagt, trete Bob Dylan nicht auf:

Seine Stimme ist da, seine Lieder werden verwendet, aber Bob ist nicht im Film. Es wäre blöde. Hast du jemals ein Picasso-Gemälde mit Picasso im Bild gesehen? Du siehst nur seine Arbeit.

Das gleiche galt wohl für Horst Janssens Selbstporträts und Walter Kempowskis autobiographische Romane. Aber hatte Gustave Flaubert nicht erklärt, er sei Madame Bovary?

Bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen holte sich die SPD die absolute Mehrheit (54,8 %). Die CDU verlor mehr als neun Prozent, und die wetterwendische FDP flog raus.

Unrühmlich schnitten allerdings auch die Grünen ab (2,9 %). Offenkundig wollten sich die Wähler ihre schönen Atomkraftwerke in Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel nicht wegnehmen lassen.

Wie aus einem Wurfzettel hervorging, veranstalteten die Betreiber eines Sonnenstudios in der Nadorster Straße am 9. Mai die »First Sun Up’s Staff Squash Championship«.

Wenn das der Turnvater Jahn gewußt hätte!

In Flann O’Briens Roman »Der dritte Polizist« stellte ein irischer Sergeant Betrachtungen über die Vermengung der Atome von Fahrrädern und Fahrradfahrern an:

»Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, daß die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt – ein Resultat des wechselseitigen Austauschs von Atomen –, und Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind.«

Solche Leute könne man daran erkennen, daß sie sich beim Stehen mit einem Fuß auf dem Kantstein abstützten …

In diesem einzigartigen, von Harry Rowohlt übersetzten Roman fand sich auch der entzückende Satz:

Nach oben wurde das Ganze durch den Himmel abgerundet, heiter, undurchdringlich, unaussprechlich und unvergleichlich, mit einer lieblichen Insel aus Wolken, in der Stille verankert, zwei Meter zur Rechten von Mr Jarvis’ Plumpsklo.

Im Namen des Berliner Senators für Kulturelle Angelegenheiten mußte mir ein Dr. Dietger Pforte zu seinem Bedauern mitteilen, daß ich bei der Vergabe der diesjährigen Aufenthaltsstipendien für junge deutschsprachige Autoren im Literarischen Colloquium nicht hätte berücksichtigt werden können.

Wenn er glaubte, daß mich diese Absage aus der Bahn warf, hatte er sich aber geirrt.

Die beste Szene in Loriots Kinofilm »Ödipussi« war die mit den verkalkten Eheleuten, die ihre Probleme nach dem Willen einer Psychotherapeutin durch buntere Polsterbezüge »besser in den Griff kriegen« sollten. Mit dem grauen Sofabezug seien sie aber »eigentlich ganz zufrieden« gewesen, sagen sie, und da legt ihnen Loriot, der einen Möbelhändler spielt, eine Stoffkollektion in 28 Grautönen vor: »Mausgrau – Staubgrau – Aschgrau – Steingrau – Bleigrau – Zementgrau …«

Und wieder eine Flohmarktbeute: »Wilhelm Hauff’s sämmtliche Werke« in einer fünfbändigen Ausgabe von 1853. Der Kalif Storch, das Gespensterschiff, der kleine Muck und der Zwerg Nase waren mir hochwillkommen. Nur vom Gedichteschreiben hätte Hauff die Finger lassen sollen.

Drum schreiten die Turner das Thal entlang,

Drum tönet ihr muthiger froher Gesang.

Hurrah! Hurrah! Hurrah!

Du fröhliche Turnerlust!

Das klang dann doch zu sehr nach Tony Marshall.

Seit dem Eklat wegen der Lesbenlyrik hatte ich keine Lust mehr, Heike zu besuchen, und aus mir unbekannten Gründen schien nun auch Matthias verstimmt zu sein. Bei Rhenus redete er nur das Nötigste mit mir: »Dein Reißverschluß ist offen.« Oder: »Hast du Ebbo irgendwo gesehen?« Oder: »Weißt du, wo der Schlüssel für den roten Gabelstapler ist?«

Andrea meinte, daß wir »öfter mal ausgehen« sollten.

»Und was verstehst du darunter?«

»Daß wir mal tanzen gehen oder so.«

Ich wollte aber nicht in Discotheken rumhopsen. Weder im Renaissance noch im Ede Wolf oder wie die hießen. Für Läden, in denen man sich anbrüllen mußte, hatte ich nichts übrig.

Philip Roth, »Die Anatomiestunde«:

»Da ruft doch kürzlich jemand bei mir an und sagt: ›Appel, wieviel würden Sie zahlen, wenn Sie Fotos von Hugh Hefner beim Ficken veröffentlichen könnten?‹ Er sagt, er könnte ein Dutzend Fotos beschaffen, die Hefner beim Ficken mit seinen Bunnies zeigen. Ich habe gesagt, keine zehn Cents würde ich dafür geben. ›Sie glauben wohl, es ist eine Neuigkeit, daß Hefner fickt? Beschaffen Sie Fotos, auf denen der Papst beim Ficken zu sehen ist – dann kommen wir ins Geschäft.‹«

Entliehen aus der Katholischen Volks- und Jugendbücherei St. Marien des Pfarrverbandes Nord in Oldenburg. Anything goes.

Beim Palettenstapeln hatte ich löchrige Handschuhe an, und ein Holzsplitter bohrte sich in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand. Steckte fest verkeilt im Fleisch und war innendrin abgebrochen, so daß ich ihn auch mit einer Pinzette nicht zu fassen kriegte. Ich mußte die Haut erst noch mit einer Stecknadel weiter aufschlitzen. Ein kolossaler Spaß!

Am Zwischenahner Meer besuchten Andrea und ich das Freilichtmuseum: ein altes Bauernhaus mit Eichenfachwerk, ein Back- und Brauhaus, eine Scheune, eine Schmiede, eine Windmühle und manches andere. Und alles tat dem Auge wohl.

Nur hatten die Bauern, die Bäcker, die Schmiede, die Müller und ihr Gesinde damals nicht sehr viel mehr als die Bibel zu lesen gehabt. Falls ihnen das Lesen überhaupt beigebracht worden war. Ohne Kanalisation und ohne Strom zu leben mochte ja noch angehen, aber ohne Bücher? Und zur geistigen Anregung nichts als das ewiggleiche Geseier über den Ährenstand, die Rübenernte, das Wetter und banale dörfliche Querelen?

Ein Brief von der Kowalski-Redaktion:

Seit Ewigkeiten leider liegt Ihr guter Beitrag ›Muckefuck‹ hier bei uns herum. Erst wollte ich ihn nicht nehmen, weil wir selbst eine Fotogeschichte über modernen Kaffee planten … dann wurde nichts daraus … dann mochte keiner mehr so recht zugreifen. Wohin mit dem großen Blatt mit den wenigen Strichen? …

Ich wollte Ihnen nur schnell schreiben: Ihre Arbeit lag so haarscharf an unserem Gefallen, daß es eine Schande wäre, Ihnen fiele in nächster Zeit Ähnliches oder noch Ausgefalleneres ein … und aus Unlust über uns schickten Sie es uns nicht.

Das wär schade.

Mit Grüßen also:

Richard Kähler

Sehr freundlich. Nun brauchte ich bloß noch eine neue Idee.

In Meppen schien am Pfingstsonntag die Sonne, und alles grünte und blühte.

Der jüngste Befund sei sehr erfreulich ausgefallen, sagte Mama. »Keine neuen Lymphome.«

»Und sonst?«

»Ende April haben wir den kleinen Julius zu Besuch gehabt. Ich bin mit ihm mal nach Emmen zum Tierpark gefahren, aber da hat er sich mehr für die Meerschweinchen interessiert als für die Giraffen …«

Papa trug eine schriftliche Fehde mit dem Wehrbereichsgebührnisamt aus: Er verlangte, daß auch die Zeit seiner tuberkulosebedingten Heilbehandlung von 1958 bis 1961 als ruhegehaltsfähige Dienstzeit angerechnet werde, weil es sich um einen Kriegsfolgeschaden gehandelt habe.

Mit dem Leben seiner Soldaten und Kindersoldaten hatte er nicht gegeizt, der deutsche Staat, aber wenn er für ihre Gesundheitsschäden aufkommen sollte, zeigte er sich plötzlich zugeknöpft.

Ich drehte eine Runde mit dem Rad. Mal wieder zum Borkener Paradies und den toten Armen der Ems, doch es hüpften zu viele Philister in Sonntagsröcklein herum.

Mit langen Ohren saugen

Sie ein der Spatzen Lied …

Und es strömten immer noch mehr von ihnen herbei.

Diese elend langen Nachmittage in Meppen. Nichts los, keine Anrufe, keine Besucher, keine Zerstreuung, kein Appetit, kein gar nichts. Nur ein nachhaltiges Erschlaffen der Schaffenskraft.

Mama hatte Arno Schmidts Roman »Das steinerne Herz« gelesen und zitierte einen Absatz, der ihr schwer mißfiel:

Raufgehn : ihr hübsches Gesäß stieg vor mir stufenauf; die kräftigen Schenkel arbeiteten irdisch : Schlüssel zu einer Bücherkammer und ein strammes weißes Weib : was will man mehr als Mann?

Dazu sagte sie: »Bääääh! Der war doch auch bloß ’n Chauvi!«

Am Pfingstmontag gab es Kalbsrouladen mit Kartoffelpüree und Wirsing und als Dessert einen Vanillepudding, der nach Papas Einschätzung »wie Estrich« schmeckte.

Das Gespräch, das Mama und Papa abends im Wohnzimmer bei Sherry und Weißwein über den anstehenden Umzug führten, artete binnen kurzem in Gezeter und Geschrei aus. Papa saß links in der Sofaecke neben der Schrankwand, Mama saß rechts auf dem Sofa am Fenster, und ich saß auf dem Sessel dazwischen und kam mir vor wie in einem Theaterstück von Tennessee Williams. Papa brüllte, daß er das Haus nicht in zwei Teile hacken könne, und Mama brüllte, daß das ja auch gar nicht erforderlich sei, und Papa brüllte, daß es eine Milchmädchenrechnung sei, das Haus in der Dammstraße unter Wert zu verkaufen, und Mama brüllte, daß sie sich den Ausdruck »Milchmädchen« verbitte.

»Unterbrich mich nicht!« brüllte Papa.

»Doch!« brüllte Mama. »Jetzt hörst du mir mal zu!«

»Nein, jetzt hörst du mir mal zu!« brüllte Papa.

Sie einigten sich dann wahnsinnigerweise darauf, daß jeder das Recht habe, fünf Minuten lang ununterbrochen zu brüllen. Zuerst brüllte Papa (wobei Mama weinte), dann brüllte Mama (wobei Papa der Kamm schwoll), dann brüllte wieder Papa, dann brüllte wieder Mama, und dann hielt ich’s nicht mehr aus. Meine Beine trugen mich von ganz allein nach oben in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett schmiß und heulte und lachte und schrie – ein hysterischer Anfall, darüber war ich mir im klaren, doch ich konnte nichts dagegen tun.

Mama kam mir nachgelaufen, um mich irgendwie zu beruhigen …

Klapsmühle Meppen.

Da hatten Andrea und ich es weitaus besser in unserem stillen oldenburgischen Refugium.

Ihr zuliebe ging ich dann auch mal zum Tanzen mit, aber die Musik machte mich mürbe.

You know I’m bad, I’m bad, come on, you know …

Michael Jackson mit seiner Piepsstimme, die jedes seiner Worte Lügen strafte: Er wollte so gern ein harter Junge sein und war doch nur ein Fuzzi. Ein Plastikprodukt.

Mittlerweile, dachte ich, hätte sich ruhig mal einer der vier anderen Verlage, die ich angeschrieben hatte, bei mir melden können. Wenigstens mit einer simplen Eingangsbestätigung.

An meinem Hinterrad war eine Speiche lose. Doch das trug ich wie ein Mann. Auch daß das Rücklicht nicht mehr ging, warf mich nicht um. Ich hatte schon ärgere Unbill erduldet und schlechteren Wettern getrotzt.

Ganz aus der Mode gekommen waren die Revoluzzer mit ihren Büchertischen und dem vorgereckten Kinn. Wohin mochten sie sich verkrümelt haben, die kampfentschlossenen Mitglieder des KBW, des KB, der MLPD, der KPD/ML, der KPD/AO, der Liga gegen den Imperialismus, der Gruppe Internationaler Marxisten und des Sozialistischen Patientenkollektivs?

Bei Rhenus hatte sich noch keiner dieser Genossen blicken lassen, um uns Arbeiter zu agitieren.

Weil auf der Erprobungsstelle immer noch die radioaktiv verseuchte Molke lagerte, wurde Meppen öfter als früher in der überregionalen Presse erwähnt. In der Zeit zum Beispiel:

Seit 15 Monaten steht der Zug mit 150 Waggons unbeweglich auf seinem Gleis, auf einem Bundeswehrgelände bei Meppen im Emsland, vor Blicken verborgen und mit Stacheldrahtzäunen gesichert. Doch bald wird der erste Waggon mit radioaktiv verstrahlter Molke rollen. Die Altlast von Tschernobyl soll im niedersächsischen Lingen entsorgt werden. 24 CDU-Parlamentarier des dortigen Stadtrates stimmten vor zwei Wochen für die Genehmigung einer Pilotanlage, mit der die Dekontaminierung der Molke in der Praxis erprobt werden soll.

Und in Gorleben wurde seit 1979 der Salzstock als mögliches Endlager für unseren Atommüll »erkundet«. Ich glaubte ja, daß die Kernphysiker dort hauptsächlich Skat und Flaschendrehen spielten.

Zum Fünfzigsten von Andreas Mutter mußten wir natürlich nach Würselen, und auch da machte mich die Musik wieder fix und fertig: Michael Schanze, Roberto Blanco, Karel Gott, Rex Gildo, Costa Cordalis und Jürgen Drews.

Ein Bett im Kornfeld, das ist immer frei …

Die nicht totzukriegenden Evergreens aus dem Paläozoikum.

Über den Diabolo hatte ich zwei Bücher über die Barschel-Affäre als Rezensionsexemplare bestellt, und in beiden wurde herumgeschnulzt. Volker Skierka, »Macht und Machenschaften«:

Was die Abgeordneten in siebzig Sitzungen an die Öffentlichkeit lockten, wird das Weltbild der Deutschen erschüttern, im Besonderen die Gewißheiten über den moralischen Abstand zwischen uns und der Welt.

Welche Gewißheiten?

In dem von Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen Band mit dem Titel »Vom Verlust der Scham und dem allmählichen Verschwinden der Demokratie. Über politische Kultur und Moral in der Bundesrepublik Deutschland« ging es noch höher her. Darin äußerten Politiker und Publizisten ihre Betroffenheit.

Dieter Lattmann:

Angesichts der Kieler Vorgänge können einem Begriffe wie politische Kultur oder Glaubwürdigkeit nur vergehen …

Inge Sollwedel:

Kein Zweifel, Regierende und Regierte haben sich entfremdet, das kollektive Gefühlsbarometer steht auf Null …

Nicht weinen, Inge!

Jörn Kraft:

Die Fehlbeträge an Kompetenz und Ansehen werden addiert zu einem Fehlbetrag an Glaubwürdigkeit.

Manfred Delling:

Das Vertrauen der Bürger in eine zuverlässige Rechtschaffenheit von Politikern und von Verwaltern empfindlicher Institutionen ist auf dem Nullpunkt.

Heinrich Vormweg:

Bleibt vor solchem Tableau etwas anderes als zu verstummen?

Erhard Eppler:

Wichtiger ist die Frage: Warum hat die Gründung einer christlichen Partei unsere politische Kultur nicht vorangebracht, warum hat sie manchen Streit eher zusätzlich vergiftet?

Und warum war die Banane krumm?

Klaus Staeck:

Bleibt die bange Frage: Ist eine funktionierende Demokratie überhaupt noch vorstellbar in einem »Sumpf von Machenschaften und Intrigen« unter lauter »korrupten und verlogenen Politikern«?

Hermann Glaser:

Die dunkle Zukunft, illuminiert, aber nicht erhellt durchs Flackerlicht der Warenästhetik, hat längst begonnen. Nur der Wille zur Zukunft, zu einer anderen humanen Zukunft, könnte Umkehr bewirken. Politik müßte aus dem Psychodrom der einstudierten und liturgisch zelebrierten wie kaschierten Leere ausbrechen.

Das Psychodrom der Leere? Was der Kulturdezernent Glaser und seine Mitstreiter da abgesondert hatten, war so leer wie nur irgendwas.

Ich schickte Richard Kähler drei taufrische Brunogeschichten zu und setzte mich dann ans Klavier. Wenn mich nicht alles trog, hatte ich die Zukunft auf meiner Seite.

Als Andrea von einem Putzjob wiederkam, den sie in Wiefelstede aufgetan hatte, war sie lüstern und erhitzt.

And she’s moving her body so brave and so free …

Es war einer der Tage, an denen wir nicht verhüten mußten.

In der Ossietzky-Buchhandlung entdeckte ich eine Literaturzeitschrift, die ich noch nicht kannte: Der Alltag. Untertitel: Die Sensationen des Gewöhnlichen. Herausgegeben von Walter Keller, Erscheinungsort Zürich, Berliner Redakteur: Michael Rutschky. Dort stand auch Rutschkys Adresse, und weil diese Zeitschrift meine Kragenweite zu sein schien, schickte ich ihm eine Kurzgeschichte zu, die davon handelte, daß jemand unter Drogeneinfluß seine Küchengeräte miteinander sprechen hört, als sie Gericht über ihn halten.

Und »J’accuse!« rief auch der Hängeschrank, dessen Weheklagen über das Quietschen seiner ungeölten Türscharniere und die ihm und seinesgleichen »unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein« zuteil gewordenen »Roheiten« vom Tumult des Inventars ebenso übertönt wurde wie das Geschrei der vom »Senfglaspack« im Kern ihrer »kulturellen Identität« bedrohten Weingläser und die Behauptung der ergrimmten Spülbürste, ich hätte mich »wiederholt ins Waschbecken zu urinieren erkühnt« – eine bodenlose Verleumdung …

Dem Erzähler will aber niemand glauben, daß er von seinem eigenen Hausrat angeklagt worden sei.

Am schmutzigsten lachte der Hausmeister. Er erbot sich, »tollkühn«, wie er spottete, während meiner Abwesenheit die Blumen zu gießen und »bei eventuellen Zwergenaufständen« für »Ruhe im Puff« zu sorgen: »Bangemachen gilt nicht!«

So reiste ich ab.

Den Hausmeister fand man, wie ich von der Polizei erfuhr, verrenkt auf dem Küchenboden, die Gießkanne noch in der Hand, den Schädel vom herabgestürzten Hängeschrank zerschmettert.

Das ist alles.

Von den LKW-Fahrern, denen man bei Rhenus begegnete, schien nur selten einer weniger als zwei Zentner zu wiegen. Wenn man immer nur hinterm Steuer saß und Fast Food fraß und Cola soff, sah man irgendwann eben nicht mehr wie Twiggy aus.

In der Gartenlaube war Andrea eine Wespe in den Blusenkragen geflogen und hatte ihr einen Stich in den Hals verpaßt. Die wehe Stelle kühlte sie, auf dem Bett liegend, mit einem eiswürfelgefüllten Waschlappen.

»Und das lindert den Schmerz?«

»Nein, das steigert ihn natürlich, du Idiot.«

Her Ladyship was not amused.

In seinem Buch »Nacktheit und Scham« versuchte der Ethnologe Hans Peter Duerr, die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias zu widerlegen, der die die Meinung vertreten hatte, daß die Schamschranken erst im späten Mittelalter in Mitteleuropa entstanden seien: Vorher hätten die Menschen nackt miteinander gebadet und öffentlich kopuliert, ohne sich zu genieren. Dagegen wandte Duerr ein, daß die Bilder, auf die Elias sich berufen hatte, keine Badehäuser zeigten, sondern Bordelle, und er führte eine Fülle weiterer Belege an. Da ging es zum Beispiel um den Stamm der Onge auf den Andamanen. Auf einem Foto sah man, wie ein Ethnologe namens Cipriani eine barbusige, ersichtlich beschämte Onge-Frau dazu zwang, in die Kamera zu blicken.

Daß er dabei Gewalt anwenden mußte und daß schon vor mehr als hundert Jahren die ersten Erforscher der Andamaner die große Schamhaftigkeit der Onge, insbesondere der Frauen, beschrieben haben, hinderte ihn nicht daran, zu schreiben: »None of the Onges have any sense of modesty«, so daß nur noch übrig bleibt, festzustellen, daß die Dummheit dieses Gelehrten offenbar seine Schamlosigkeit noch übertrifft.

Es sollten mehrere Bände über den »Mythos vom Zivilisationsprozeß« folgen, und ich wollte sie mir alle holen.

Matthias kreuzte dann mal wieder mit einer Plastiktüte voller Bierflaschen auf. Wir wären doch deppert, wenn wir uns nicht vertrügen, sagte er.

Für die Verbesserung unserer diplomatischen Beziehungen nahm ich auch eine Katerbirne in Kauf.

Post vom Zinnober Verlag:

Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß wir Ihnen kein Angebot für eine Veröffentlichung machen können. Unsere Programmkonferenz war der Meinung, daß Ihr Projekt im Rahmen unseres Programms nur eine geringe Marktchance hätte. Für diese Entscheidung bitten wir um Ihr Verständnis.

Blieben noch Haffmans und Semmel. Und die Hoffnung auf den nächsten Versuch mit dem Roman, den ich in Arbeit hatte.

Der Bau der großen neuen Lagerhalle schritt voran. Im September könnten wir da rein, sagte Voss. »Und dann werden wir gar nicht mehr begreifen, wie wir mit der alten Halle ausgekommen sind …«

Michael Rutschky hatte mir geantwortet:

Vielen Dank für Ihre Rache-des-Objekts-Geschichte: Mir hat sie gut gefallen, und ich habe sie nach Zürich weitergeleitet, wo noch ein zweiter Redakteur des »Alltag« zu beschließen hat.

Ein Etappensieg. Nun wurde ich sogar schon in Zürich gelesen!

Das EM-Halbfinalspiel Deutschland gegen Holland sah ich mir bei Gustav an. Eine ausgeglichene Partie, bis Marco van Basten in der 89. Minute seinem Bewacher Jürgen Kohler entwischte und das 1:2 schoß.

Endstand.

»Es hat nicht sollen s-s-s-sein«, sagte Gustav. »Noch ein Bier?«

Ich fand es nur gerecht, daß die Holländer gewonnen hatten. Eine kleine Entschädigung für die Niederlage im WM-Finale 1974.

Gustav kam mit zwei Flaschen Jever Pilsener aus der Küche zurück und deutete auf ein Plakat, das rechts an der Zimmerwand hing und einen nackten Apollon zeigte. »Was fällt dir dazu ein?«

Was sollte mir dazu einfallen? »Das ist der griechische Gott des Frühlings …«

»Richtig. Und was meinst du w-w-wohl, aus welchem Grund ich dieses Poster aufgehängt habe?«

»Weil’s dir gefällt, nehme ich an.«

»Und weswegen gefällt es mir?«

Worauf lief diese Frage-Antwort-Spiel hinaus?

»Das Poster gefällt mir wegen des nackten Mannes, den man darauf sieht«, sagte Gustav. »Weil ich vom a-a-anderen Ufer bin!«

Potztausend. Gustav – ein Homo!

»Hast du das nicht g-g-gewußt?«

Ich schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck Bier.

»Dabei weiß das inzwischen sogar unsere liebe Großmutter in Jever. Aber das ist ein Thema, das du in deinen Gesprächen mit ihr lieber ausklammern solltest. Sie ist nicht s-s-s-sonderlich davon erbaut, daß ich sch-sch-schwul bin. Für sie ist das n-n-nicht einfach eine Laune der Natur, sondern eine Sünde und ein Kriminaldelikt …«

Unglaublich. Gustav schwul. Und ich hatte all die Jahre nichts davon geahnt.

Familienintern sei das früher nur Dagmar bekannt gewesen, sagte Gustav. »Auf Familienfeiern hat sie mich oft angepflaumt, daß ich mich nicht so schwul anziehen soll.«

»Und seit wann weißt du das selbst?«

»Das wird einem halt irgendwann im Jugendalter klar.«

»Und … und … Frauen interessieren dich überhaupt nicht? Sexuell?«

»Jedenfalls weniger als Männer.«

Nun erfuhr ich auch, was Gustavs Freund Nikolaus Mahlke – ebenfalls ein Homo – sich einmal in Jever geleistet hatte: »Wir waren für ein paar Tage bei Oma zu Besuch, und da mußte er aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, eine Urinprobe beim Arzt abliefern. Dafür hat er Omas Zahnputzbecher genommen.«

»Nein!«

»O doch. Als Oma das abends spitzkriegte, war sie f-f-fuchsteufelswild, wie man sich denken kann. Zumal sie Nikolaus von Anfang an nicht leiden konnte. Er sagte dann zu ihr: ›Frau Lüttjes, dieser Becher ist jetzt sauberer als vorher! Der ist mit Ultraschall gereinigt worden!‹ Und Oma erw-w-w-widerte: ›Das ist mir v-v-vollkommen egal! Das ist und bleibt ’ne Schweinerei!‹ Und am nächsten Morgen hat sie ihn am Fußgelenk aus dem Bett gezogen und ihm gesagt, daß er abhauen soll …«

Andrea lachte, als ich ihr davon erzählte, und mir ging auf, daß ich außer Gustav und seinem Freund Nikolaus keinen einzigen Homosexuellen kannte. Zumindest keinen, von dem ich es wußte. Schon etwas blamabel für einen vorurteilsfreien Hetero.

In der Frankfurter Rundschau stand wieder eine besonders gelungene Annonce des Heiratsinstituts IPW:

Dieter, sportlich, schlank, 1,83 groß, 33 Jahre und ein Mann, der eigentlich zehn Arme haben müßte, denn alle Fäden laufen in seiner Firma bei ihm zusammen. In seiner Geschäftsetage reißt die Hektik nicht ab. Man sieht ihn mit schnellen Schritten durch den Gang gehen, seinen modernen Leinenanzug mit dem sportlichen Hemd und die Ärmel ein bißchen hochgeschoben, wie das Moderne aus dem Film Miami Vice. Er ist gewandt und beliebt. Ja, und jetzt glaube ich, um Dich kennenzulernen, etwas tun zu müssen. Denn die Abende allein in dem Haus sind mir doch ein bißchen langweilig, wenn es auch manchmal spät wird. Darum bitte, rufen Sie mich an. Danke.

Es sah solchen schwervermittelbaren Männern ähnlich, daß sie sich mit ihrer Heiratslust zielsicher an das Institut mit den dümmsten Textern wandten.

Wenn ich in den Garten eilte, um Frau Morgenstern das Rasenmähen abzunehmen, sah sie mich jedesmal an, als wäre ich vom Himmel gefallen, und hinterher kam sie mit kleinen Geschenken an: Zimtschnecken, Käsestangen, Leibnizkekse oder auch mal Petersilie.

Nachdem Holland im EM-Finale die Sowjetunion besiegt hatte, analysierten Fritz Walter, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer im Fernsehen das Spiel. Der Fritz, der Uwe und der Franz.

Der Fritz sagte, die Holländer seien völlig zu Recht Europameister geworden. »Nach dem Zwo-Null haben sie auch befreit aufgespielt, und die Russen sind immä schwäschä gewoddn.« Er glaube, sagte der Uwe, daß Holland ein würdiger Europameister sei, und der Franz sagte, er habe zunächst einmal ein gutes Fußballspiel sehen wollen, und er glaube, das hätten wir alle gesehen. Der Uwe wiederum sagte, daß sich seit seiner Zeit sicherlich vieles verändert habe und das Spiel sicherlich etwas schneller und athletischer geworden sei, doch »auf der anderen Seite ist natürlich das System als solches … hat sich etwas verändert«. Aber er glaube, »egal, welches System man spielt und welche Art – wichtig ist, daß die Spiele rassig sind und Tore fallen«. Und auch unsere Mannschaft habe sich »super verkauft«.

Ich bot der Rundschau eine Humoreske über einen Informatikstudenten an, der von grünen Männchen entführt wird und ihre Fragen beantworten soll. Er freut sich darauf, den Außerirdischen Auskunft über den Stand der menschlichen Informationstechnologie zu geben, aber die interessieren sich für ganz andere Sachen:

Was wissen Sie über städtische Wahrnehmung als Palimpsest spätmittelalterlicher Versromane?

Oder auch:

Wie beurteilt man heute auf der Erde das Verhältnis Goethes zum poetologischen Programm der Frühromantik?

Weil er das nicht weiß, schmeißen ihn die Außerirdischen aus ihrem Ufo wieder raus. Das Niveau der FR-Humorseite hätte ich damit merklich heben können.

Aus unserem Kleiderschrank flatterte eine Motte heraus und nahm an der Schlafzimmerdecke Platz.

»Fehlen nur noch Mäuse und Ratten«, sagte Andrea. »Ich würde ja gerne mal wieder in ’ner richtigen Wohnung wohnen statt im Tierheim …«

Hermann L Gremliza widmete sich in konkret dem neuen Hamburger Senator für Soziales, Ortwin Runde (SPD), der sich als »proletarischen Humanisten« bezeichnet hatte:

Eines mut’gen Mannes Wort sollt’ man wohl lassen stehn – und doch: Auf dem Weg, den die Erwägungen des Herrn Runde genommen haben, bis er, am sozialistischen Demokraten, am engagierten Linken, am humanistischen Sozialisten, am sozialistischen Radikalhumanen, am demokratischen Linkssozialisten und an anderen, mal dem Landesamt für Verfassungsschutz, mal der Delegiertenversammlung, mal der Lokalpresse verdächtigen Bekenntnissen vorbei, schließlich zum proletarischen Humanisten sich durchgewurstelt hatte – auf dem Weg hätte man ihn gerne begleitet. Und zu Fall gebracht.

Die schöne Kunst, politischen Würdenträgern ein Bein zu stellen, beherrschte Gremliza wie kein Zweiter. Seine Kolumne »Express« las ich in konkret immer als erstes.

Mit dem Wetter hatten Gustav und ich Glück, als wir nach Jever radelten. Es waren sechzig Kilometer: Rastede, Hahn-Lehmden, Neuenwege, Langendamm, Cäciliengroden, Sande, Schortens …

Unterwegs erzählte Gustav von seiner Studentenzeit in Göttingen. Viele seiner Kommilitonen von der juristischen Fakultät hätten Verbindungen angehört. »Wartburg-Coburgia, Germania, Brunsviga, Frisia und wie die alle heißen. Bekanntermaßen gebieten die auch über fürstlich zu nennende Anwesen. Und wenn ein höheres Semester nachts um drei besoffen ins Haus gestrauchelt kommt und noch ein Spiegelei gebraten kriegen will, dann muß ein sogenannter Fex, der für sowas zuständig ist, sofort aufspringen und seines Amtes walten. Das hab ich selbst mal miterlebt!«

Es heiße übrigens »Burschenschafter« und nicht »Burschenschaftler«.

Bei Oma gab es grünen Aal mit Kartoffeln und Tomatensalat. »Hier soll keiner vor Hunger umfallen«, erklärte sie, und damit wir auch vor Durst nicht umfielen, zog Gustav zum Kiosk los und holte Bier.

Als er später seine Pfeife rauchte – Mac Baren Plumcake –, sagte Oma: »Das riecht, wie wenn man die Nase übers Klo hält!«

Sie hätte wirklich im Fernsehen auftreten sollen. In der Sendung Oma Jever sagt, wie’s ist. Die Einschaltquoten wären sensationell gewesen.

Zu Omas und Gustavs Unterhaltung trug ich den von Eckhard Henscheid fingierten Brief eines Zeitschriftenlesers vor, der sich bei einem »Lebensberater« Hilfe erbittet und immer abstrusere Probleme schildert:

Zudem meine kleine Adoptivtochter mit fünf Jahren immer noch Bettnässerin ist. Sie heißt Nina. Unsere Liebe ist sehr groß, aber meine exhibitionistische Großmutter steht zwischen uns. Was soll ich tun? Ich sehe kein Land mehr! Mein geschiedener Stiefbruder, ein taubstummer Leichenaussauger, vergewaltigt mich täglich, und ich stöhne dabei sogar vor Wollust …

»Schluß damit!« rief Oma. »So’n Schiet bruukt wi nich!«

Sie erhob sich und verließ brummelnd das Wohnzimmer, und Gustav sagte: »Du b-b-bist aber auch einer …«

Oma verfolgte abends die NDR Talk Show mit den als Revuegirls irgendwie noch aus der Adenauerzeit übriggebliebenen Kessler-Zwillingen und der Schlagersängerin Vicky Leandros. Die hatte auch so manches Unausrottbare zusammengesungen.

Die Bouzouki klang

durch die Sommernacht …

Ohne die Kessler-Zwillinge und Vicky Leandros hätte mir nichts gefehlt, aber die gehörten nun mal zur Grundausstattung der Bundesrepublik. So wie leider auch Helmut Kohl, die Bild-Zeitung und die Bundeswehr.

Gustav nächtigte im Kellerzimmer und ich auf dem Ausziehsofa im Eßzimmer, wo ich aber erst einmal den Tisch und die Stühle verrücken mußte.

Im Zeitschriftenständer das Ostfriesland Magazin und im Regal Romane von Johannes Mario Simmel: »Und Jimmy ging zum Regenbogen«, »Doch mit den Clowns kamen die Tränen« und »Bitte laßt die Blumen leben«. Schon von diesen Titeln kriegte man Schuppenflechte und Dermatitis.

Gustav und ich stockten am Samstagvormittag die Bierreserven auf, während Oma einen Sauerbraten schmorte. Dazu sollte es Stovkartoffeln und Möhren geben.

»Und zum Nachtisch?« fragte Gustav.

»Bauer-Joghurt.«

Oma hielt Mittagsschlaf, Gustav löste pfeiferauchend ein Kreuzworträtsel, und ich suchte in der Hörzu in der Rubrik »Original und Fälschung« nach den Fehlern. So wie einst im Mai, als Oma und Opa noch in der Mühlenstraße gewohnt hatten und ich in kurzen Lederhosen rumgelaufen war.

Wir spielten Malefiz, bis Oma es satt hatte, immer zu verlieren, und dann machten wir einen Gang über den Friedhof. Das Lüttjes-Grab und die Grote-Gruft.

Vor einer der Hecken hob ein Friedhofsgärtner ein frisches Grab aus. Er stand bis zur Hüfte darin und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Nacken.

Totengräber – auch kein sehr schöner Beruf. Wenn auch schöner als Henker.

Den Nachmittag nutzten Gustav und ich zu einem Besuch bei dem Dichter Oswald Andrae, der am Kirchplatz wohnte und plattdeutsche Gedichte und Geschichten schrieb. Von den Gedichten hatte Hannes Wader einige vertont, und 1979 war in der Zeit ein Artikel über Oswald Andrae erschienen, den er uns zeigte:

Den meisten Jeveranern ist er zu politisch, zu kritisch, zu linkslastig. Darum geht er – fragt man einen Jeveraner nach den Besonderheiten der Stadt – immer nur am Rande mit. Unter den Tisch kann man ihn aber nicht fallen lassen. Dafür ist er schon viel zu bekannt …

Jahrgang 1926 war er. Ein Jahr älter als Papa.

Beim Tee erzählte er uns von einem Aufstand der friesischen Deicharbeiter im 18. Jahrhundert: Da habe das preußische Militär mit Kanonen auf die Streikenden geschossen. Für den Deichgrafen Anton Günther von Münnich seien solche Leute nur »dat minner Volk« gewesen. »Dat weer ook so’n Morslock!«

Ein Sommerabend in Jever mit dem Geruch von gemähtem Gras in der Luft, und es gab nichts zu tun, aber genug zu essen und zu trinken und zu lachen. Gustav kannte schwarze Kinderwitze: »Alle Kinder sitzen um das Feuer. Nur nicht Brigitte, die sitzt in der Mitte.« Und: »Alle Kinder stehen vor dem brennenden Haus. Nur nicht Klaus, der kuckt raus!«

Darüber lachte Oma sichtlich wider Willen, und dann sagte sie, nun sei es auch mal gut.

Zurück fuhren wir mit dem Zug, aber es war kein Vergnügen, die Fahrräder durch die Waggontüren zu würgen.

Gustav fragte, ob ich mich noch an den Schokoriegel namens 3 Musketiers erinnerte. »Lang wie ein Degen – süß wie eine Prinzessin!«

Nur sehr dunkel. Viel leichter konnte ich den Riegel Leckerschmecker aus meinem Langzeitgedächtnis abrufen.

Die Amerikaner hatten einen iranischen Airbus über dem Persischen Golf mit einem angreifenden Kampfflugzeug verwechselt und abgeschossen. 290 Tote.

Come you masters of war

You that build all the guns …

Wie starb man als Passagier einer abgeschossenen Linienmaschine? Explodierte die? Oder stürzte man angeschnallt ab und fand erst beim Aufprall den Tod? Und wie lange dauerte das Abstürzen? Dreißig Sekunden? Eine Minute?

In einem Oldenburger Plattenladen lag Dylans neues Album im Schaufenster aus: »Down in the Groove«.

Kaufen oder nicht?

Ich entschied mich dagegen. Erstens scheute ich die Ausgabe, und zweitens hatte mir auf dem vorangegangenen Album nur ein einziger Song gefallen.

Nach allem, was man hörte, wollte Nicolae Ceauşescu, der rumänische Diktator und »Titan der Titanen«, wie er sich nennen ließ, achttausend Dörfer plattwalzen und ihre Bewohner in »agroindustrielle Komplexe« pferchen.

Völlig durchgeknallt. Vom Wahnsinn umjubelt. Und die geschurigelten Kleinbauern und Hühnerzüchter mußten dieses Riesenarschgesicht auch noch anbeten.

Eine Frau vom Semmel-Verlach bedankte sich brieflich für die Übersendung meines Buchmanuskripts.

Die Sache ist ja ganz witzig, aber für uns nicht zu verwenden, da wir überwiegend Comics machen. Ich würde Dir empfehlen, die Sachen mal zu Eichborn zu schicken. Da könnte es klappen.

Könnte. Ja. Ich wollte aber nicht zu Eichborn, dem Verlag mit der Fliege, weil mir dort zu viele Schrottbücher erschienen.

Endlich, endlich hatte Andrea sich die Anerkennungspraktikumsstelle im Jugendzentrum Petersfehn gesichert. Ab dem 1. September. Der Beginn einer neuen Epoche.

In seiner 1957 publizierten Streitschrift »Kitsch, Konvention und Kunst« hatte der Kritiker Karlheinz Deschner die Prosa Ernst Jüngers als »Brei auf Stelzen« charakterisiert und Hermann Hesses epigonale Fließbandgedichte verrissen, und sieben Jahre danach war er in dem Folgeband »Talente, Dichter, Dilettanten« auch mit Heinrich Böll, Gerd Gaiser, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger ins Gericht gegangen. Am allerschlechtesten war Johnson weggekommen: In dessen Büchern sehe man sich »einer phänomenalen Fülle blanken Blödsinns« gegenüber. So wie diesem:

»Er war neugierig geworden auf das härtere Mädchengesicht, das inmitten zerfließender Alterswülste zuweilen bestürzend an sich erinnerte als fast eckige Bestimmtheit der kleinen Fläche zwischen Augen und Lippen, zart zerschlissen bewegte sich dünne Haut über Wangen und Stirnbein zu verschiedenem Ausdruck.«

Deschners Kommentar:

Unmöglich, hier auch nur einen Fetzen, auch nur einen Schimmer von Gesicht zu sehen.

Im Literaturbetrieb hatte Deschner sich mit solchen Attacken bestimmt keine Freunde gemacht.

Äußerst ungern kam ich Andreas Wunsch nach, ihr aus einer Drogerie Damenbinden und Tampons mitzubringen. Wie sah denn das aus! Ein männlicher Kunde, der sich mit Damenbinden und Tampons eindeckte!

Die FR hatte mir meine Ufo-Geschichte wieder zurückgeschickt. Anbei lag die Kopie einer Zeichnung, auf der ein in Papieren erstickender Redakteur abwehrend die Hand hob:

BEDAURE – ZUR ZEIT KEIN BEDARF!

Nur für den Diabolo konnte ich schreiben, was ich wollte. Aber da gab’s eben auch nur lachhaft wenig Geld.

Weil es anders nicht mehr machbar war, mußte ich in meinem Arbeitszimmer an der Wand über dem Klavier ein neues Bücherregal befestigen.

Ich haßte jede Sekunde dieser Tätigkeit. Die von Frau Morgenstern gepumpte Bohrmaschine bebte in meinen Händen, überall flog Steinmehl rum, und die verflixten Dübel wollten nie in die Löcher passen …

Sie gehe jetzt schwimmen, sagte Andrea. »Ich hab genug von deinem Geschimpfe!«

Anstatt mich zu bemitleiden. Was doch wohl auch eine Option gewesen wäre. Mich traf keine Schuld daran, daß Gott mir zwei linke Hände gegeben hatte! Und aus bioenergetischer Sicht kam lautes Fluchen, wenn man wütend war, der Gesundheit zweifellos besser zustatten als verbissenes Schweigen!

Am Abend tischte Andrea einen Brokkoli-Tofu-Pamps mit Erdnußsoße auf und legte mir ihre Reisepläne dar: »Ich fahr morgen mit ’ner MFG nach Köln und von da weiter nach Würselen, und am Samstag will ich nach Essen. Da feiert mein alter Freund Carsten seine Hochzeit. Du bist natürlich auch mit eingeladen! Wir können dann bei Georg in Düsseldorf übernachten, wenn du nachkommst …«

Als grüner Witwer stieg ich auf Nackensteaks mit Pommes um. Und auf Spaghetti mit Spiegeleiern. Das nährte auch seinen Mann.

Von meiner reproduzierten Arbeitskraft profitierte Rhenus aber stärker als ich selbst. Mein Leib war eine Schwiele und mein Schweiß das Salz auf dem Tische des Zwingherrn, und ich bückte mich in den Dornäckern der Knechtschaft, wenn wieder einmal sieben Tonnen Schmierstoffe, Edelstahlreiniger und Kalklöser der Firma Annen-Chemie sortiert werden mußten.

In einer Brunogeschichte ließ ich den Erzähler in Brunos Traumtagebuch schmökern:

»Ich bin irgendwo am Meeresstrand und renne um mein Leben. Danach befinde ich mich in einer Art Umnachtung oder Besenkammer (oder unter Wasser). Dann verwandelt sich das Ganze auf einmal in einen Geräteschuppen, der verschlossen und verdunkelt oder angestrichen wird. Ich gehe daran vorüber und setze mich auf einen Baumstumpf oder auch auf einen ausgestopften Schwan, der einem Lämmerhirten irgendwie als Geige zu dienen scheint. Oder als Spaten.

Später nochmal irgendwas mit diesem Schuppen. Dann bin ich aufgewacht.«

Was man eben so zusammenträumte, wenn die Nacht lang war. Sigmund Freud hätte selbstredend wer weiß was darin erkannt.

Als ich am Freitag die letzte Palette verladen hatte und nach Meppen trampen wollte, fing es wie bescheuert an zu regnen. Typisch!

Mußte ich also mit der Bahn fahren. Und konnte mich darüber ärgern, daß die Deckel der Aschenbecher in den Raucherabteilen der schnieken neuen Waggons bei der leisesten Erschütterung zuklappten. Bestimmt von Nichtrauchern konstruiert.

Mama stellte für mich einen Teller Gulaschsuppe in die Mikrowelle und erzählte, daß in Geeste der größte künstliche See Westeuropas eingeweiht worden sei. Doppelt so groß wie der Titisee. Scheinbar ein Freizeitparadies; tatsächlich aber das Kühlwasserreservoir für das Lingener Atomkraftwerk. Darüber habe sie eine Glosse geschrieben und sie der Zeit angeboten. »Und nächsten Freitag fahr ich für zwei Wochen nach Almería! Von da komm ich dann am ersten Augustwochenende direkt nach Hildesheim.«

»Und was hat sich in Sachen Umzug getan?«

»Bislang noch nichts. Aber dies ist mein letzter Sommer in Meppen. Darauf kannst du dich verlassen!«

Papa sagte, er überlege, in der strittigen Frage seiner ruhegehaltsfähigen Dienstzeit Rudi zu konsultieren.

Schon sehr praktisch, wenn man den juristischen Rat eines Bruders einholen konnte, der Bundesverfassungsrichter war. Aber Papa fehlte ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß er sich seine 1958 offen ausgebrochene Tuberkulose schon 1945 in der russischen Kriegsgefangenschaft geholt hatte.

Schwer mißhandelt wurde nachts mal wieder der auf der anderen Straßenseite lauernde Zigarettenautomat, bei dem die Schubladen klemmten und der trotzdem die Münzen nicht wieder rausrückte. Es gab immer noch gutgläubige Raucher, die auf ihn hereinfielen und sich dann zu Affekthandlungen hinreißen ließen.

Zu der Hochzeitsfeier kam ich zu spät, weil ich irgendwo zwischen Bottrop und Gelsenkirchen hängengeblieben war und meilenweit hatte laufen müssen. Doch ich schien nicht viel versäumt zu haben.

»Jetzt geht die Party erst richtig los«, sagte Georg, der Trompeter. »Auf dein Spezielles!«

Ich versorgte mich am Büfett mit Roastbeef, Lachstatar, Räucherforelle, Blätterteigschnecken, Radieschen und Russischen Eiern, angelte auch ein Bier und machte es mir an einem der Tische gemütlich. Von den Anwesenden waren mir nur Andrea, Georg und der Bräutigam Carsten persönlich bekannt, und da ich keinen rechten Anschluß fand und auch kein großer Tänzer vor dem Herrn war, saß ich reichlich dumm herum, bis Georg uns um ein Uhr morgens ein Taxi bestellte, das Andrea, ihn und mich nach Düsseldorf bringen sollte. Gut dreißig Kilometer. Die Kosten teilten wir durch drei.

An den Wänden des Zimmers, in dem Georg das Trompetenspiel zu üben pflegte, klebten Eierkartons.

»Und an der Pappe bricht sich der Schall?«

»Leider bloß in den Frequenzen zwischen fünfhundert Hertz und einem Kilohertz, wie ich mir hab sagen lassen. Aber besser wie nix! Professionelle Noppenplatten sind unbezahlbar …«

Schlafen mußten Andrea und ich auf zwei Luftmatratzen in der Küche, unter einer Steppdecke, die augenscheinlich ein bewegtes und nicht immer unblutig verlaufenes Leben hinter sich hatte.

Vor der Rückreise gingen wir am Sonntag über die Rheinkirmes, und Georg und ich probierten die Achterbahn aus. Was ich schon bald bereute! Beim Einsteigen hatte ich zwar noch großen Bock darauf gehabt, aber als wir in die schwindelnde Höhe stiegen, schlug meine Vorfreude in nacktes Grauen um. Wie konnte man nur so bedasselt sein, das eigene Leben für ein bißchen Nervenkitzel aufs Spiel zu setzen?

»Alter! Augen zu und durch!« schrie Georg, und wir rauschten in den Abgrund …

… und hinauf in den ersten teuflischen Looping und nach einer Reihe ausgedehnter Schrecksekunden in den zweiten, bis man nicht mehr wußte, wo einem der Kopf stand …

… und dann durch weitere Kurven und Schlünde, die einen schocken sollten und das auch schafften …

Als die Achterbahn zu guter Letzt ausrollte und stehenblieb, hatte das Kapitel Kirmes seinen Reiz für mich verloren.

Bei einem anderen Fahrgeschäft war ein Unfall passiert. Man sah Blaulicht und rennende Rettungssanitäter, und die Polizei drängte die Schaulustigen ab.

Andrea sagte, daß sie diese Leute nicht verstehe. »Wenn sich jemand verletzt hat, dann lauf ich da doch nicht hin, um dessen Wunden anzugaffen!«

Im Zug las ich die Gothic Novel »Das Schloß von Otranto« von Horace Walpole, eine Gruselgeschichte aus dem achtzehnten Jahrhundert, in der das nächtliche Scharren rostiger Türangeln in klösterlichen Kreuzgängen nicht zu kurz kam, und Andrea las die Romanschwarte »Der Medicus« von Noah Gordon, der man schon am ordinären Cover ansah, daß sie nichts taugte.

Eine Frau mit etwas höheren literarischen Ansprüchen hätte eigentlich besser zu mir gepaßt als Andrea. Doch ich war auch immer wieder hingerissen von ihr.

I love you more than ever and I haven’t yet begun …

»Was kuckst du denn so?« fragte sie, von ihrem Buch aufblickend. »Hab ich was im Gesicht?«

Eine in Tornähe abgestellte Palette mit Schokoladenkram hatte so lange in der Sonne gestanden, daß die Schokolade angeschmolzen war.

»Echt ’ne reife Leistung!« schrie Voss und fuchtelte mit den roten Lieferscheinen. »Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann! Und von euch Helden isses natürlich wieder keiner gewesen!«

Nachdem ich ihnen oft genug zugehört hatte, stellte ich mir den Feierabend der normalen Rhenus-Arbeiter folgendermaßen vor: Schnitzel, Glotze, Bier. Und am Wochenende außerdem noch Bundesliga, Autowaschen, Disco oder Dart-Club und entweder Ehekrach oder – um mit dem Gabelstaplerfahrer Ansgar zu sprechen – »ebend mal das Rohr verlegen«. Gemäß dem auf der Herrentoilette verewigten Motto:

Des kleinen Mannes Sonnenschein ist Bumsen und Besoffensein!

Die gesetzteren Arbeiter über dreißig gingen vielleicht auch mal mit dem Hund raus. Oder mit dem Nachwuchs auf den Spielplatz. Aber von der Geschichte der Klassenkämpfe hatte keiner irgendeinen Dunst. Im Pausenraum wurde nur über Heckspoiler und Videorecorder und Fußball und Ferienziele geredet. Und nie über Marx und Engels oder gar über Lenins Abhandlung »Materialismus und Empiriokritizismus«.

Ende Juli kam Hermann in Oldenburg vorgefahren. Mit seinem Studium war er mehr oder weniger fertig, aber vor dem Einstieg ins Berufsleben wollte er noch einmal was von der Welt sehen und ab Anfang August gemeinsam mit seiner Gefährtin Marita mehrere Wochen lang durch Asien touren: Thailand, Singapur, Malaysia, Indonesien und so weiter.

»Und was erhofft ihr euch davon?«

»Impressionen, du Banause! Weißt du nicht, was diese Länder alles bereithalten? Elefanten! Affen! Höhlen! Vulkane! Tropische Inseln! Regenwälder! Dschungelpfade! Tempelanlagen! Die Brücke am River Kwai!«

»Und Malaria und Lepra.«

»Davor sind notorische Stubenhocker allerdings gefeit. Wenn’s nur Leute wie dich gäbe, hätte die Menschheit sich nie über die Erde ausgebreitet. Dann säßen wir heute noch alle in Afrika auf den Bäumen!«

»Ich nicht. Ich wäre nach Mitteleuropa ausgewandert und hätte die Stadt Oldenburg gegründet.«

»Und wenn Marco Polo angekommen wäre, um dich zu einer Reise nach China einzuladen …«

»… hätte ich ihm einen Vogel gezeigt.«

»Dir ist wirklich nicht zu helfen.«

Während die Kartoffeln und die Bohnen köchelten und ein Rollbraten im Ofen garte, tranken wir Bier, und ich ließ Cohen laufen.

Everybody knows that you love me, baby

Everybody knows that you really do

Everybody knows that you’ve been faithful

Ah, give or take a night or two …

Und dann die Pointe:

Everybody knows you’ve been discreet

But there were so many people you just had to meet

Without your clothes …

Darüber mußte Hermann lachen. Soweit er wisse, sei Marita ihm allerdings immer treu gewesen.

»Wie lange seid ihr jetzt zusammen?«

»Fast fünf Jahre.«

»So kann es natürlich nichts werden mit der Revolution. Du weißt doch: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!«

Er wette, daß der Erfinder dieses Spruchs inzwischen längst verheiratet sei, sagte Hermann. »Das issen Familienvati mit ’nem gut dotierten Job in der Versicherungsbranche und ’nem dicken Benz in der Garage …«

Schon irgendwie desillusionierend. Aber immer noch besser, als wenn dieser Mann und seine Genossen 1968 tatsächlich die Macht erobert hätten. Da waren Hermann und ich uns einig. Eine Westberliner Räterepublik mit Rudi Dutschke, Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann im Obersten Sowjet – das wäre nicht gutgegangen.

»Man kann sich leicht ausmalen, was das zur Folge gehabt hätte«, sagte Hermann. »Diadochenkämpfe, Bürgerkrieg und Schauprozesse! Aber das hätten sich die Amerikaner nicht lange bieten lassen. Lyndon B Johnson hätte mal eben die U.S. Air Force rübergeschickt und den Laden mit Luftlandetruppen aufgemischt …«

Andrea zitterte vor Wut, als sie von ihrem Putzjob heimkam. »Diese blöde Frau Fissen! Zu der geh ich nie wieder hin! Die hat immer nur an mir rumgenörgelt! Daß ich das Wischwasser nicht häufig genug wechsele und für die Fenster den falschen Lappen benutze und daß an dem Geschirr noch Spüli dran ist und daß unten am Waschbeckenstöpsel im Badezimmer noch Haare hängen! Und am Ende wollte sie mir was von meinem Lohn abziehen! O Mann! Ich könnte die echt auf den Mond schießen, die doofe Kuh!«

Hermann meinte, daß wir ja mal zu der hingehen könnten, er und ich, »als kleines Rollkommando, um ihr Benimmunterricht zu erteilen«, und diese Vorstellung stimmte Andrea etwas heiterer.

Mit Hermanns Karre unternahmen wir einen Tagesausflug nach Dangast am Jadebusen. Am Strand stand dort eine mehr als drei Meter hohe Granitskulptur, die einen erigierten Phallus mit gebleckter Eichel darstellte.

»Sieht ziemlich viereckig aus«, sagte Andrea.

Wir krempelten die Hosen hoch und stiegen in den Schlick. Man versank darin bis zu den Knien, und wenn man wieder draußen war, mußte man den Modder in der Sonne aushärten lassen, bevor man ihn abpulen konnte.

In einem Fischgeschäft in Varel kauften wir drei geräucherte Aale, und ich nahm ein Gratisblättchen mit, das sich Zeitschrift für gesunde Ernährung nannte. Daraus las ich Hermann und Andrea vor:

Als erste von allen Lebewesen wurden am fünften Tage der Schöpfungsgeschichte die Fische geschaffen – sie allein auch konnten in ihrem eigenen Element die Sintflut überstehen … und der Schellfisch gar überstand den Fischzug im See Genezareth. »So ein Schelm«, rief Petrus damals, als er ihm nachsah. Erst später wurde aus dem »Schelmfisch« der Schellfisch …

»Aufhören!« rief Hermann.

»Wieso? Das ist eben augenzwinkernder Humor!«

»Humor? Das ist einfach nur Bockmist. Totgeborener, verpupter, witzloser, verlauster, muffiger, gequirlter Bockmist!«

»Auch wieder wahr. Soll ich euch trotzdem noch was vorlesen?«

»Nein!«

Zuhause setzte ich Reis auf und schob das Backblech mit den Aalen in den Ofen, Hermann holte Bier, und Andrea zauberte einen Salat. Wenn man bedachte, daß sie eine Putzfrau war und ich ein Hilfsarbeiter, führten wir eigentlich ein recht kommodes Leben.

Nach Hermanns Abreise vertiefte ich mich in ein Sachbuch über Ameisen. Da gab es Königinnen, die sich oben auf eine Ameise aus einem anderen Stamm pflanzten, auf deren Rücken unbemerkt die Einlaßkontrollen passierten, sich tief in den Bau hineintragen ließen, die regierende Königin killten und deren Stelle einnahmen. Ein diabolischer Trick. Und der übertölpelte Ameisenstamm diente fortan, ohne es zu ahnen, einer eierlegenden Usurpatorin.

Große Freude bereitete mir wieder das Heiratsinstitut:

Harald, 34 J., 1,83 groß. Ich sage zu Dir: »Komm gib mir Deine Hand, ich halte Dich fest!« Ja, ich fange Dich auf. Geschäftsmann, aber man nennt mich Jungunternehmer. Ich bin ganz schön erfolgreich. Meine Eltern haben es mir ganz schön früh beigebracht, mit Geld umzugehen und mehr daraus zu machen. Aber in mir steckt noch mehr, Sehnsucht, Liebe, Geborgenheit. Darum sitze ich manchmal am Swimmingpool und gucke verklärt in das Wasser, dann sehe ich mein Spiegelbild, und ich sage, das bist du nicht. An deiner Seite müßte jetzt jemand sitzen, denk’ daran, du wirst nicht älter.

Nicht älter? Wie machte der das?

Und so habe ich mich aufgerafft, Dir diese Zeilen geschrieben, und laß uns beide glücklich werden. Aber ruf’ sofort an. Ja, tun Sie es.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich da jemand drauf meldet«, sagte Andrea. »Oder wenn, dann höchstens Frauen, die vor lauter Geldgier nicht mehr klar denken können …«

Die säuische Augusthitze. Und Millionen Leute buchten Flüge, um sich in noch heißeren Staaten braten zu lassen! Ich schwitzte jeden Tag drei Hemden durch und sehnte den Herbst herbei.

In Telefongesprächen mit Dagmar waren Klagen über die hohen Sommertemperaturen jedoch tabu. Sonst sagte sie sofort: »Du hast ja ’ne Macke! Zieh doch zum Nordpol um!«

Ein guter Fang für meine Romanzwecke war das Buch »Der lebende Meister« von Katherine Wason.

Maharaj Ji war wie ein König. An diesem Morgen erschien er, wie es kein gewöhnlicher Sterblicher jemals konnte. Der Morgennebel wirbelte sanft um seine Gestalt und ließ seinen Darshan noch himmlischer erscheinen. Sein Blick streifte jeden von uns für Augenblicke, und im gesamten Sangat hatte die Aufmerksamkeit ihren Gipfelpunkt erreicht …

Beim »Satsang« solle man »unaufhörlich« in des Meisters Augen schauen:

Wenn der Betreffende dabei auch nur von einem einzigen, flüchtigen Blick seiner Augen getroffen wird, so werden, sagt man, die Sünden unzähliger Leben ausgelöscht; denn es ist in Wirklichkeit ein göttlicher Blick, direkt vom höchsten Vater selbst.

Zu den Lehren dieses Meisters gehörte auch die, daß man das im Verlauf eines ganzen Jahres durch Verspeisen von Gemüse angesammelte Karma durch eine einzige Tagesmeditation aus dem Weg räumen könne.

Die Arbeit bei Rhenus beschleunigte meinen Hosenverschleiß. An den Knien fing es immer an, und wenn das Gewebe dort erst einmal fadenscheinig war und ich beim Ankleiden nicht achtgab, kratschte ich mit dem großen Zeh durch den Stoff und hatte einen Winkelriß im Hosenbein.

Am Zeitungskiosk am Lappan hing die Hamburger Morgenpost mit der Schlagzeile aus:

Barschel doch ermordet?

Die kalten Spuren schienen sich im Sommerloch zu erwärmen. Aber so ganz koscher fand auch ich die Selbstmordhypothese nicht.

Zur traditionellen Familienfeier in Hildesheim-Itzum reisten Andrea und ich mit der Bahn an. Den Gedanken an die vielen Tonnen Annen-Chemie, die ich sortieren mußte, um die Fahrtkosten wieder einzubringen, hätte ich gern verdrängt. Nur wie?

Volker holte uns vom Bahnhof ab.

»Und wer ist schon alles da?«

»Oma Jever … Mama … Wiebke … die Blums … Therese … Dagmar … Gisela und Egon … Gustav … und die Moorbachs natürlich. Also alle außer euch!«

Einen Vollbart hatte Volker sich stehen lassen. Vielleicht als Ersatz für das schütter gewordene Haupthaar.

Luise, Corinna und Hedda trugen Kuchenplatten und Thermoskannen in den Garten, und Mama erzählte von ihrem Spanienurlaub: Zitronenplantagen, Palmen und Eukalyptusalleen sowie einen in den Fels gehauenen Weinkeller habe sie gesehen und einen fotogenen Stausee knipsen wollen, aber dann gerade keinen Film mehr gehabt. Und beim Baden sei sie mit dem rechten Knie auf einen Stein geknallt und habe sich einen »Innenbandschaden« zugezogen.

Lisa, Julius und Nantje birsten hinter dem alten Kater Simba her.

»Eine der Katzen aus Missys Wurf haben wir behalten«, sagte Renate. »Pinky heißt die. Die ist echt ’ne Süße …«

Für das Mutter-Töchter-Foto, das nicht fehlen durfte, postierten Mama, Therese, Gisela, Luise und Dagmar sich hinter Oma, die auf einem der Gartenstühle saß und sich an ihrem Gehstock festhielt. Eine lebensfrohe Matriarchin.

Gustav hatte sich mit seiner mondänen Fünfziger-Jahre-Brille ausgerüstet, und er ließ sich einen Doornkaat schmecken: »Heißgeliebt und kalt getrunken!«

»Ist das nicht ’n bißchen früh am Tag für solche hochprozentigen Geschichten?« fragte Mama.

»Darüber, meine werte Tante, gehen die Meinungen der Sachverständigen weit auseinander, aber ich wollte eigentlich ein anderes Thema anschneiden: Ist dir bekannt, weshalb Harald Schumacher, genannt Toni, jetzt bei Fenerbahçe Istanbul im Tor steht?«

»Nein«, sagte Mama. »Und das ist mir auch völlig schnurz!«

»Ich will’s dir trotzdem verraten: Toni Schumacher hat Deutschland verlassen, weil er nach dem Abstieg von Schalke 04 in der Zweiten Liga gegen den SV Meppen hätte spielen müssen. Und das wollte er sich, nach eigenem Bekunden, nicht zumuten.«

Diese Fußballer seien doch alle irgendwie überkandidelt, sagte Gisela.

»Und überzahlt!« rief Egon. »Der eine Holländer, wie heißt er noch, der jetzt in Italien spielt …«

»Ruud Gullit«, sagte Gustav.

»Ja, der! Der kriegt beim AC Mailand eine Milliarde Lire im Jahr! Das sind eins Komma drei sechs Millionen Mark! Und dann hat er noch irgendeinen Werbevertrag …«

»Mit Philips«, sagte Gustav.

»… der ihm nochmal das gleiche einbringt! Das sind zusammen …«

»Zwei Komma sieben zwei Millionen«, sagte Luise. »Aber die muß er natürlich versteuern. Und jetzt wollen euch Lisa und Julius was vorführen!«

Nämlich einen Tanz zu einem Lied von Esther und Abi Ofarim, das aus einem von Luises und Immos Filius Bodo auf dem Terrassentisch vor dem Wohnzimmerfenster aufgebauten Recorder erscholl.

Komm, lieber Franz,

noch einen Tanz …

Überaus ergötzlich, wie die Kinder das machten, mit einem Zylinder als Accessoire und einer ausgefeilten Choreographie.

»Wie alt sind die beiden jetzt?« fragte Therese.

»Lisa ist sieben und Julius fünf«, sagte Renate. »Und Nantje ist fast siebzehn Monate alt.«

Als der Applaus verklungen war, praktizierte Andrea auf dem Rasen einen Bauchtanz. Sie hatte sich ihr schickstes Kostüm angezogen, und die orientalische Jengelmusik hallte wie eine Drohung durch Itzum. Als hätten die Osmanen ihre Niederlage in der Schlacht am Kahlenberg nachträglich ungeschehen gemacht und das christliche Abendland überrannt …

Gegessen wurde drinnen. Dreierlei Fleisch und massenweise Sonstiges und dazu Rheingauweine oder Bier.

Renate und Olaf schwärmten von ihrem Urlaub auf Korsika.

»Von sowas hätten wir nur träumen können, als ihr noch klein wart!« rief Mama. »Ferien auf Korsika! Du lieber Himmel! Bei mir hat’s nicht mal zu ’ner Reise in den Schwarzwald gereicht, als Richard da nach seiner Lungenoperation die ganzen Monate zur Kur war!«

Größere Reisen seien ja damals völlig undenkbar gewesen, sagte Luise. »Wir fühlten uns doch schon sehr gut damit bedient, daß wir mit den Kindern jederzeit nach Jever kommen konnten!«

»Ins Grandhotel Mühlenstraße«, sagte Therese, und Oma lachte und langte sich ihr zweites Putensteak.

Um halb zwei Uhr morgens hielten nur noch wir Babyboomer die Stellung. Es wurde die Frage erörtert, inwieweit sich der Bau eines Eigenheims zerstörerisch auf die Ehe des Bauherrn auswirke.

Wenn man sich liebe, behauptete Olaf, dann könne man sogar eine Pyramide bauen, ohne sich dabei zu entzweien. »Gell, Renatchen?«

»Woher soll denn ich das wissen?« sagte sie. »Bau du lieber mal noch ’n Bier vor mir auf!«

Von uns hatte jedenfalls keiner die Absicht, ein Haus zu bauen.

»Häuser kann man ja auch kaufen«, sagte Wiebke.

»Sofern man, meine teure Base, das nötige Kleingeld besitzt«, sagte Gustav, und dann sagte Corinna, daß so ein Haus doch was Schönes sei, und Hedda sagte, daß sie gern einen Kotten in Irland hätte, und Volker sagte, er würde ein Habitat bevorzugen, in das es nicht reinregne, und Andrea sagte, sie müsse jetzt in die Heia.

Am Sonntagvormittag weckten mich Lisa und Julius: Es gehe gleich los!

»Und was?«

»Das wirst du dann schon sehen, Onkelchen!«

Andrea hatte, wie sich herausstellte, Therese, Renate, Corinna und Hedda Unterricht gegeben, und nun führte diese Combo unter Andreas Leitung im Garten gemeinschaftlich einen Bauchtanz auf.

»Wenn das der Führer w-w-wüßte«, sagte Gustav.

Ich hielt es für sicherer als das Amen in der Kirche, daß umgekehrt noch bei keiner einzigen Familienfeier in Anatolien ein deutscher Folkloretanz zur Aufführung gelangt war. Weder oberbayrische Plattler noch niederschlesische Holzschuhtänze.

Mama wollte Oma und Therese im Auto nach Jever spedieren, und Andrea und ich konnten bis Oldenburg mitfahren.

Für Kurzweil sorgte Therese unterwegs mit Schoten aus ihrer Zeit als Hausmädchen 1949 bei einer katholischen Familie in Wangen im Allgäu. Der Vater, ein cholerischer Studienrat, habe Kartoffeln als »Saupreißenkost« abgelehnt. »Da hat’s immer nur Mehlspeisen gegeben. Grießauflauf oder Flädlesuppe oder Spätzle. Und bei jeder Mahlzeit hat dieser Kerl seine Frau angebrüllt! O nee – da hab ich erst begriffen, wie schön ich’s vorher in Moorwarfen bei Mutti und Vati gehabt hab …«

In Oldenburg servierten wir den Damen Tee in der Gartenlaube, und es trug zum Lokalkolorit bei, daß aus dem Kandiszuckertopf, als ich ihn öffnete, ein Weberknecht herausgestiefelt kam.

»Spinne am Abend, erquickend und labend!« rief Oma.

Wir würden hier halt sehr naturverbunden leben, sagte Andrea, um die Situation zu retten, und Mama sagte, daß ihr jeder Weberknecht lieber sei als die biestigen Cucarachas, die sie in Venezuela kennengelernt habe: »Ijasses! In den Schlaf zu finden, während diese Viecher durch das Zimmer kreuchen, das ist ein wahres Kunststück!«

Von der Großfamilientagung erholte Andrea sich, indem sie den Kleinen Bornhorster See durchpflügte, und ich, indem ich die Arbeit an meinem Roman wieder aufnahm.

Die behämmerten Brautpaare, die den Standesbeamten am 8.8.88 die Bude einrannten, hätten wahrscheinlich auch alle noch gern um 8.88 Uhr geheiratet, wenn es möglich gewesen wäre.

Es betrübte mich, daß Richard Kähler mir nicht schrieb. Mich zu neuen Einsendungen ermutigen und sich dann totstellen? Sollte das die feine hanseatische Art sein? Oder waren die Brunogeschichten so miserabel, daß ich mir damit nicht mal ein Ablehnungsschreiben verdient hatte?

Von Haffmans kam auch keine Antwort.

Dann war ich mal damit dran, eine neue Tube Ortho-Gynol zu beschaffen. Das wäre mir leichter gefallen, wenn die Pharmafirma Cilag ihrem Produkt einen etwas weniger nach Frauenarzt und Untenrum klingenden Namen verliehen hätte.

Patentex oval, das war auch so ein Name, der an der Pornokinokasse besser gezogen hätte als in der Apotheke.

Mama rief aus Bonn an: Sie sei in Köln zur Untersuchung gewesen, und der Befund sei gut. »Für zwei oder drei Tage hüte ich bei den Blums noch ein. Dann geht’s wieder nach Meppen. Und jetzt will Nantje dich sprechen!«

Aber Nantje brachte nichts Vernünftiges heraus.

Selten in meinem Leben und vielleicht nicht einmal in den knöchernsten und zähesten Mathestunden hatte ich mich so gräßlich gelangweilt wie in den 127 Minuten des Spielfilms »Der Himmel über Berlin«. Bruno Ganz als Engel, der sich in eine Zirkusartistin verliebt und große Augen macht, und das Ganze garniert mit poetischem Zuckerwasser von Peter Handke: »Als das Kind Kind war, war es die Zeit der folgenden Fragen: Warum bin ich ich und warum nicht du? Warum bin ich hier und warum nicht dort? Wann beginnt die Zeit und wo endet der Raum? Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?«

Unbegreiflich, weshalb Peter Falk als Nebendarsteller in diesem Kunstschmalz mitgewirkt hatte.

»Ein oberschwacher Film«, sagte hinter mir eine Frau beim Hinausgehen, und die hätte ich gern auf ein Bier eingeladen. Doch wie stellte man das an? Eine Fremde auf ein Bier einzuladen? Zumal, wenn sie sich, wie ich wohl bemerkte, in männlicher Begleitung befand?

Beim Nachhauseradeln fiel es mir ein. Man drehte sich um und sagte: »Stimmt! Ein oberschwacher Film! Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt ein Bier zusammen trinken und lästern über Wim Wenders!«

Andrea und Lydia saßen rotweinschlürfend in der Küche, und als ich mich dazusetzte, richtete Lydia mir einen Gruß von Walter Kempowski aus. »Ich hab ihm erzählt, daß ich jemanden kenne, der ihn mal angemeckert hat, weil er bei einem seiner Seminare in Nartum das Deutschlandlied gespielt hat, und da hat er gesagt, daß er schon weiß, wen ich meine!« Sie strahlte mich an, und ich mußte stark an mich halten, um den Blick nicht zu senken, denn sie saß in ihren engen Jeans sehr breitbeinig auf dem Stuhl.

»Wir haben aber nicht den ganzen Abend über dich und Kempowski geredet«, sagte Andrea. »Falls du das denkst.«

»Sondern?«

»Sondern über … ach, das geht dich gar nichts an!«

Zum Klavierspielen kam ich erst am nächsten Abend wieder.

Lately I’ve found you on my mind

More than you know …

Irgendwann wollte ich mal ein Haus mit einer Empfangshalle haben, die groß genug für einen Flügel war. Ein Château im Grünen. Mit Gemäldegalerie, Bibliothek, Atelier, Salons, Kaminen, Speisesaal, Kinosaal, Billardsaal, Gewölbekeller, Brunnen und Wasserspeiern. Unterm Dach eine kleine Sternwarte und ringsherum viel alter Baumbestand und wilde Streuobstwiesen. Und Fischteiche. Und Hühner, Gänse, Katzen, Kühe, Schafe, Störche, Pferde und Pfauen, um die meine Diener sich kümmern würden. Und dreißig Hektar Laubwald mit blitzblauen Seen.

War das etwa zuviel verlangt?

Ein guter Autor war Stanley Ellin. Von dem fand ich manchmal Kurzgeschichtenbände auf dem Flohmarkt, teils übersetzt von Arno Schmidt. In einer der Geschichten beging ein Milliardär einen perfekten Mord: Er kauft für einhunderttausend Francs die letzte Flasche des angeblich besten Weins aller Zeiten, einen Nuits Saint-Oen von 1920, und lädt zur Verkostung jemanden ein, an dem er sich rächen will. Dieser Mann, der sein Leben lang nach dem berühmten Wein gelechzt hat, leidet an einer schweren Herzkrankheit. Als der Milliardär den Flascheninhalt schließlich auf den Boden gießt statt in die Gläser, regt sich der Weinliebhaber so auf, daß er stirbt.

Andrea hatte sich für vierhundert Mark einen pastellgrünen Ford Fiesta gekauft. Ohne diesen Gebrauchtwagen hätte sie die zehn Kilometer bis Petersfehn und die zehn Kilometer zurück ab September jeden Tag mit dem Rad fahren müssen, bei Wind und Wetter, und danach stand ihr nicht der Sinn.

»Wir können ja mal eine Spritztour zu meiner neuen Wirkungsstätte machen«, sagte sie, und ich stieg ein.

Mit dem Anfahren und dem Gängewechseln hatte Andrea noch allerhand Schwierigkeiten.

Das JZ Petersfehn sah nicht besonders einladend aus. Als Teenager hätte ich es gemieden. Tischkickern und Cliquenbilden und Herumsumpfen?

Time passes slowly up here in the daylight …

Jungsein in der niedersächsischen Provinz. Ein hartes Brot. Und Jugendliche in der niedersächsischen Provinz sozialpädagogisch zu bemuttern ein noch härteres.

»Ich weiß«, sagte Andrea. »Da kommt noch ziemlich was auf mich zu.«

In den Tagesthemen lief ein Interview mit einem von zwei Bankräubern, die in Bremen einen Linienbus gekapert und die Passagiere als Geiseln genommen hatten. Der Mann stand mitten auf der Straße, mit einer Knarre in der tätowierten Hand, und drohte damit, den Bus in die Luft zu sprengen. Sein »Kumpel« sei »brandgefährlich«, und: »Das Letzte ist dann« – er steckte sich den Lauf der Waffe in den Mund – »diesen hier.«

Was waren denn das für neue Sitten? Interviews mit Kriminellen?

Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Brutale Arschgeigen. Und vielgefragte Medienstars. Übernächtigt, abgedreht und verroht.

Am Donnerstagvormittag saßen sie mit einem Fluchtwagen und zwei Geiseln in der Kölner Innenstadt fest und wurden von Reportern umlagert. Es war zu sehen, wie Degowski einer der Geiseln, einer jungen Frau, einen Revolverlauf an den Hals hielt.

In Bremen hatte einer der beiden Gangster einen fünfzehnjährigen Jungen erschossen.

Und wohin wollten diese Schwachköpfe fliehen? Nachdem ihre Visagen in der ganzen Welt bekannt waren? Und welcher Teufel ritt dieses gewissenlose Journalistenpack?

Mittags wurde gemeldet, daß die Polizei die Gangster überwältigt habe, auf einer Autobahn, nach einem Schußwechsel, bei dem eine der Geiseln ums Leben gekommen sei.

Silke Bischoff. Ein achtzehn Jahre altes Mädchen.

Denkwürdige Tage!

Auf dem Stadtfest sah ich Ansgar von Rhenus rabenduhn durch die Fußgängerzone wanken. Schräger als Robert Mitchum in »El Dorado«.

Ich hätte wahrhaftig nicht mit Ansgar tauschen wollen. Weder im allgemeinen noch an diesem besonderen Abend und erst recht nicht am Morgen danach.

Und dicker und dicker schwillt der Kopf;

Er ist von Blech, er wird zum Topf …

Vorausgesetzt, daß Ansgar überhaupt nachhause fand. Aber ihm dabei zu helfen, das ging auch nicht, denn in seinem aktuellen Zustand war er nicht mehr kontaktierbar.

Für den Diabolo besprach ich die »Bargfelder Kassette« der Werke Arno Schmidts, die auch die »Dichtergespräche im Elysium« enthielt, die er 1940 seiner Frau gewidmet hatte:

Wie oft sind wir zusammen in die alten geduckten Gäßchen gegangen, wo die Antiquariate ihr wunderliches dürftiges Dasein fristen; wie oft haben wir miteinander in alten Bücherstößen gewühlt, und uns mit heißen Gesichtern und blanken Augen die alten Stiche und lieblichen bräunlichen Lettern gezeigt …

Als ich das las, wurde mir schmerzlich bewußt, daß Andrea und ich noch nie miteinander in alten Bücherstößen gewühlt hatten. Wir lebten in verschiedenen Welten: Wenn wir gemeinsam durch die Stadt spazierten, blieb Andrea immer nur vor Klamottenläden stehen.

Bei Rhenus glitt mir eine der Scheißschneckenwellen aus den Händen und fiel mir auf den Fuß. Den linken.

»Hätteste halt Schuhe mit Stahlkappen angezogen«, sagte Ebbo, als er mich jöseln hörte.

In Roman Polanskis »Frantic« spielte Harrison Ford einen Amerikaner, dessen Frau in Paris entführt wird. Er hat keine Ahnung, von wem und warum. Und dann beginnt eine scheinbar aussichtslose und mit der Zeit immer beängstigendere Schnitzeljagd. In einer Szene, bei der ich mich fragte, wie sie die gedreht hatten, fällt er um ein Haar von einem hohen Dachgiebel und klammert sich an eine Antenne, die aber umknickt …

Harrison Ford sah ich immer wieder gern für das Gute kämpfen und den Schurken die Suppe versalzen.

Der Nagel meines großen Onkels verfärbte sich erst grün, dann blau und dann tiefschwarz, und dann begab er sich aufs Altenteil und machte einem jüngeren Modell die Bahn frei.

Von einem Pressefritzen war dem Pressekritiker Karl Kraus 1922 vorgehalten worden, daß er ein »Läusesucher« sei. In der Fackel hatte Kraus diesen Hieb gekonnt pariert:

Denn die Zeitungsschmierer verstehen es, gegenüber jedem, der dem Anspruch ihrer Unfehlbarkeit entgegentritt, den Einwand ihrer Geringfügigkeit geltend zu machen. Die Presse ist das Gewissen der Welt; aber wenn ich mich bemühe zu zeigen, ein wie schlechtes Gewissen die Welt hat, so wird mir von dort aus der Vorwurf, daß ich mich mit Kleinigkeiten abgebe.

Was hätte er wohl erst zu dem Geschmeiß gesagt, das in Köln den Wagen der Geiselnehmer umringt hatte?

»Jetzt sind’s noch drei Tage bis zu meiner ersten Schicht in Petersfehn«, sagte Andrea, als wir teetrinkenderweise in der Laube saßen. »Etwas Bammel hab ich ja schon …«

»Und wovor?«

»Na, vor den Jugendlichen! Daß die mich nicht respektieren!«

»Das solltest du dir besser nicht anmerken lassen.«

»Ja, ich weiß. Ich muß mich cooler geben, als ich bin!«

Coolness konnte man Andrea ja nun überhaupt nicht attestieren. Sie war lieb und gutherzig und geil und humorvoll und manchmal ein bißchen versponnen, aber nicht cool.

Ich drückte ihr die Daumen.

Bei einem »Flugtag« auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein waren drei Maschinen einer italienischen Kunstflugstaffel in der Luft zusammengestoßen, und eine war in die Zuschauermenge gestürzt. Mindestens dreißig Todesopfer und mehrere Hundert Verletzte.

In der Tagesschau sah man den Aufprall eines der drei Jets und einen riesigen Feuerball, und man hörte Entsetzensschreie.

Wer war denn aber auch so blöd, das Herumgesause von Kriegsflugzeugen als Volksbelustigung aufzufassen und da hinzufahren, als wär’s ein Rummelplatz?

Im Spiegel stand, daß manche Journalisten mit den Gangstern Rösner und Degowski sogar gemeinsame Sache gemacht hätten:

  Ein »Express«-Photograph forderte Degowski mehrfach auf, Silke Bischoff demonstrativ mit der Waffe zu bedrohen, er habe »noch nicht die richtigen Bilder im Kasten«.

  Ein »Bild«-Reporter drängte sich als Geisel auf und bot an, den Kidnappern auf seinem Funkgerät alle erdenklichen Polizeifrequenzen einzustellen. Rösner: »Kein Platz. Oder willste auf meinem Schoß sitzen?«

  Ein freier Journalist wollte Handschellen für die Geiseln besorgen.

  Der Pressesprecher der Kölner Polizei, Hauptkommissar Werner Schmidt, arbeitete sich bis zum Täterfahrzeug vor und verwickelte Rösner in ein Gespräch, um die Lage zu sondieren. Telephonisch meldete er seine Eindrücke der Einsatzleitung. Als er zurückkehrte, warnte ihn ein Journalist, nicht wieder hinzugehen. »Einer vom Fernsehen« habe den Tätern erklärt, »Sie seien von der Polizei«.

  Schließlich offerierte Udo Röbel, stellvertretender Chefredakteur des »Express«, einen Priester als Vermittler, stieg aber dann selbst in den BMW und lotste ihn aus der Innenstadt.

Das Gewissen der Welt. Mit voller Kraft voraus!

Zum 35. Geburtstag schenkte ich Gustav eine Flasche Friesengeist. Das war ein Schnaps zum Anzünden.

»Zuviel davon, und man sieht w-w-weiße Mäuse«, sagte Gustav. »Aber einen können wir doch wohl noch – oder willst du schon aufgeben?«

Beruflich sah es mau für ihn aus: Er bekam immer nur Absagen, egal, wo er sich bewarb.

»Vielleicht hättest du besser Fußballreporter werden sollen statt Jurist …«

»Nein. Das w-w-wäre unzweckmäßig gewesen für jemanden m-m-mit Sprachfehler.«

Ein treffendes Argument. Und trotzdem war es die reine Verschwendung, daß Gustavs eminente Fußballkenntnisse brachlagen, in einem Gehirn, dem selbst 10 cl Friesengeist nichts anhaben konnten.

»Wie ging 1928 das Endspiel um die deutsche Meisterschaft aus, und wer spielte gegen wen?«

»HSV gegen Hertha«, sagte Gustav. »In Hamburg-Altona. Drei zu eins zur Pause, Endergebnis f-f-f-fünf zu zwei.«

In seinem Buch »Die deutsche Fußballmeisterschaft 1903–1963« konnte ich mich davon überzeugen, daß er die Wahrheit gesprochen hatte.

»Einen Kleinen können wir wohl noch v-v-v-vertragen, was?«

In der Nacht zog ein Gewitter auf. Da fehlte es an nichts! Kanonensalvenartig krachende Blitze, Donnergrollen, prasselnder Regen – alles dabei.

Ob Beten half?

Der Untergang des Hauses Morgenstern …

Andrea preßte sich an mich.

Über alle Maßen wunderbar gefiel mir im neuen Raben Eugen Egners kurze Bildergeschichte »Junggesellen-Jahre«, die von zwei zotteligen Nichtsnutzen und ihren sinnlosen Verrichtungen handelte. Von erlesener Schönheit waren auch die Bildlegenden:

Wir trieben uns herum.

Einer von uns warf eine leere Markenlikör-Flasche nach dem Mond, traf aber nicht.

Der andere pinkelte die Eingangstür der häßlichen neuen Sparkasse an.

Auch besuchten wir einander häufig.

Wir saßen bis nach Mitternacht beisammen. Dabei kam nie etwas heraus. Wir standen einfach vor dem Nichts.

Mich erinnerte das stark an die Treffen mit Hermann.

In der Autorenvita stand, daß Egner 1951 geboren worden sei und in Wuppertal lebe.

Als Maler und Zeichner ist Egner Autodidakt, der Tag und Nacht um Stil und Technik gerungen hat. Fast so zäh wie van Gogh, wenn auch mit gänzlich anderen Resultaten und gottlob noch immer mit beiden Ohren.

Mit Eugen Egner hätte ich mich einmal austauschen wollen.

Ihr erster Arbeitstag sei unheimlich schlauchig gewesen, sagte Andrea. »Da sind zwei Jugendliche bei, ich weiß nicht, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, die sind voll auf dem Heavy-Metal-Trip und spielen ihre Musik da fast den ganzen Tag über ab …«

Ach du dicker Vater. Andrea als Lotusblume in einem Soziotop pubertierender Heavy-Metal-Fans!

»Die sind zum Glück nicht alle so drauf. Aber das wird noch ’n ziemlicher Ritt. Und was hast du uns hier Delikates gekocht?«

Gekocht war übertrieben. Ich hatte einen Doseneintopf mit Bockwurstscheibchen angereichert.

Auf dem SPD-Parteitag in Münster wurde die neue Parteihymne abgesungen, die der Liedermacher Diether Dehm verzapft hatte.

Wir wollen wie das Wasser sein,

das weiche Wasser bricht den Stein …

Selbst Willy Brandt mußte diesen Dreck, wie man im Fernsehen sehen konnte, mitsingen. Und sie hielten sich dabei an den Händen, die Sozis! Wie im Kindergarten!

In der Titanic hatten noch andere Abscheulichkeiten aus dieser Hymne gestanden:

Was Du willst, geht nicht ›ohne Dich‹

drum sag bloß keiner, ›nicht mit mir‹

Mensch komm und schaff dein ›großes Ich‹

mit ran, mit rein bei unserm ›Wir‹.

Das war vom Parteivorstand abgesegnet worden. Woraus man nur schließen konnte, daß er in den letzten Zügen lag.

Während ich in der Hochliteratur schwelgte, las Andrea unverdrossen ihren »Medicus«, fünf bis zehn Seiten pro Abend, und wenn sie den Schinken dann weglegte, ihre Nachttischlampe ausknipste und sich mir zuwandte, war ich nicht kleinlich, auch wenn ich gern weitergelesen hätte.

It’s only love, and that is all …

Wie Andrea die sicheren Tage errechnete, hatte ich nie kapiert. Da vertraute ich ihr, und ich begrüßte es natürlich, wenn der Handlungsfluß nicht durch das Einsetzen des Diaphragmas unterbrochen werden mußte.

Bei Rhenus nahm ich mir eine Woche frei, um mit Papa anläßlich von Tante Hannas 87. Geburtstag nach Scheidegg fahren zu können.

Aber erstmal ließ ich mich in Meppen in das heiße Badewasser gleiten und studierte ein paar im Wohnzimmer aufgesammelte Käseblätter.

Ich bin sechsunddreißig, da finde ich zwei Abtreibungen auf ein lustvolles, knapp zwanzigjähriges Geschlechtsleben relativ wenig.

Das hatte die rabiate Grüne Jutta Ditfurth in einem Interview mit Cosmopolitan verkündet, und es machte sie mir nicht sympathischer. Was sollte diese Rotzigkeit?

Die juristische Begründung des von Papa angestrebten Widerspruchs gegen die Festsetzung seiner ruhegehaltsfähigen Dienstzeit hatte Rudi inzwischen ausgearbeitet und schriftlich hinzugefügt, daß er dem ganzen Unterfangen keine großen Erfolgsaussichten beimesse. Tja.

Mama wollte wissen, ob ich am Samstag »Wetten, daß …?« gesehen hätte. Da habe sich ein gewisser Bernd Fritz von der Titanic eingeschlichen und an Buntstiften gelutscht. »Mit verbundenen Augen. Der hat angeblich am Geschmack die Farben erkannt, aber nachher hat er sich selbst der Mogelei bezichtigt …«

Diesen Coup hatte ich verpaßt.

Sie sei übrigens neulich mit Olafs Mutter in Vallendar gewesen, sagte Mama. Von der Straße aus könne man unser altes Haus kaum noch erkennen hinter all den Büschen und Bäumen.

»Und wie geht’s dir gesundheitlich?«

»Man mäßig. Ich hab jetzt ein Schlafmittel verschrieben bekommen und ein Mittel gegen Wadenkrämpfe und Dragees gegen Osteoporose. Und von meinem Chiropraktiker in Wittmund hab ich mir letzte Woche einen Rückenwirbel wieder einrenken lassen müssen. Das war auch nicht gerade feierlich. Aber den Krebs scheinen die Ärzte im Griff zu haben, und das ist ja das Wichtigste!«

Beim Fahren lösten Papa und ich uns rund alle zwei Stunden ab. Wenn ich am Steuer saß, hatte er den Spiegel aufgeklappt auf den Knien liegen, aber er las nicht darin, sondern kuckte immer auf die Straße, obwohl es da nur das Langweiligste vom Langweiligen zu sehen gab: Autoverkehr.

Seitlich der A 7 standen heruntergekommene Nadelbäume, so struppig wie alte Heizungsbürsten.

Da wir erst mittags losgefahren waren, konnten wir die Mammutstrecke nicht an einem Tag bewältigen. Wir übernachteten in Hammelburg im sogenannten Gasthaus zur Sonne.

In meinem Zimmer gab es keinen Fernseher. Dafür hing ein Foto von Liselotte Pulver an der Wand. Eine kleine Gefälligkeit der Hoteldirektion. Da hatte man eben doch was zum Kucken.

Am frühen Nachmittag erreichten wir das Ziel und wurden mit Leberknödelsuppe, Rinderschmorbraten, Kartoffelkroketten und Möhrchen beköstigt. Und mit Johannisbeerquark.

Danach beim Kaffee eine rauchen, aber lieber keine der leichten Filterzigaretten, die Tante Hanna mir anbot, sondern eine Selbstgedrehte.

Papa rauchte HB. Vom Gebrauch seiner Zigarettenstopfmaschine war er wieder abgekommen.

Doro und Jürgen seien im August nach Augsburg umgezogen, sagte Tante Hanna, nachdem wir ihre Fragen nach dem Ergehen von Mama, Renate, Olaf, Lisa, Julius, Nantje, Volker und Wiebke beantwortet hatten. »Doch das wißt ihr wohl bereits …«

In der Küche rührte Fräulein Kunze währenddessen Teig für einen Pflaumenkuchen zusammen.

Die Gespräche drehten sich dann vorwiegend um Ostpreußen: Schirwindt, Eydtkuhnen, Lötzen, Insterburg, Gumbinnen, Pillau, Tilsit, Lyck, Pillkallen und Marienwerder. Die Masurische Seenplatte, die Rominter Heide, das Samland, das Kurische Haff und die Kurische Nehrung.

»Für mich ist es bei meinem Großvater in Lötzen immer am schönsten gewesen«, sagte Papa. »Der hat meistens in seinem Sessel gesessen, sich die Glatze gekrault und zufrieden vor sich hingesummt. Der personifizierte Inbegriff des Wohlbehagens.«

»Und das alles ohne Fernseher!« sagte Fräulein Kunze.

Im Bett las ich noch lange in der Fackel.

Eine vierzigjährige Frau, die 1923 im Land Salzburg einen Gendarmen beschuldigt hatte, daß er von ihr für die rasche Bearbeitung ihres Antrags auf Arbeitslosenunterstützung »die geschlechtliche Hingabe« verlangt habe, war von einem Gericht wegen Ehrenbeleidigung verurteilt worden, da ihr schon deshalb kein Glauben zu schenken gewesen sei, weil der Gendarm, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, »abnormal« gewesen sein müsse, wenn er an eine vierzigjährige Frau ein derartiges Verlangen gestellt haben sollte. Wäre er aber abnormal gewesen, hätte diese Tatsache seiner Dienststelle und der Öffentlichkeit bekannt gewesen sein müssen. Der Dienststelle sei davon jedoch nichts bekannt gewesen. Der Gendarm sei »daher« auch nicht abnormal und könne »daher« auch ein derartiges Begehren an eine vierzigjährige Frau gar nicht gestellt haben.

Karl Kraus hatte dieses Urteil nur mit der Überschrift »Aus dem Neandertal« kommentiert.

Zum Essen fuhren wir tags darauf nach Österreich. Tante Hanna wollte uns in dem Dorf Sulzberg in ein Restaurant mit Alpenblick einladen.

Auf der Sonnenterrasse bot sich uns ein beeindruckendes Panorama aus dem Vorarlberger Land, dem Bregenzerwald und sehr effektvoll arrangierten Bergen dar, die sich bis in die Schweiz erstreckten, doch als zusätzlichen Service gab es leider Radiogedudel, Nachrichten, Börsenkurse, Verkehrsfunk und Schlager. Die Knallköpfe hatten extra einen Lautsprecher nach draußen gestellt.

Fräulein Kunze wählte eine Vorspeise mit dem unappetitlichen Namen Tafelspitzsülze.

Ich fing lieber gleich mit dem Hauptgericht an: einer ofenfrischen Schweinehaxe in der Bierkruste mit Semmelknödeln und Blaukraut. Da wußte man, was man hatte.

»L’appétit vient en mangeant«, sagte Tante Hanna.

Und zum Nachtisch Topfenschaumnockerl mit Waldbeerragout.

Während die anderen sich zum Mittagsschlaf hinlegten, brach ich zu einem Verdauungsspaziergang auf.

Das grenzte im Allgäu an Bergsteigerei. Und sobald man irgendwo oben war, folgten schroff abfallende Hochgebirgswege, die man später wieder hinaufkeuchen mußte.

Nach einer Stunde hatte ich die Faxen dicke. Was nützte einem das malerischste Alpenglühen, wenn man mit einer geplatzten Hirnschlagader zusammensank? Als grausiger Fund für andere Alpinisten?

Bei meiner Wanderung war mir, wie sich zeigte, mein Portemonnaie verlorengegangen.

»Wie viel Geld hattest du da denn drin?« fragte Papa.

»Rund fünfzig Mark. Und meinen Personalausweis. Und meinen Führerschein.«

»Und du bist sicher, daß du das Portemonnaie dabeigehabt hast?«

»Ja. In der Innentasche von meinem Parka. Den hab ich irgendwann ausgezogen, weil ich geschwitzt hab. Und dann hab ich ihn mir über die Schulter gehängt.«

»Du bist aber auch wirklich ’n Weihnachtsmann! Dann mußt du jetzt den ganzen Weg nochmal abschreiten …«

Trutz! Potz! Schwer Feuersglut!

Fahr hin, Treu! Treu und Gut!

Doch Papa hatte recht: Ich mußte wieder loszockeln. Auch wenn es mir sauer aufstieß.

Als ich zweieinhalb Stunden später mit überstrapazierter Beinmuskulatur und leeren Händen zurückkam, überbrachte Tante Hanna mir eine gute Nachricht: Fräulein Kunze sei zum Rathaus gefahren, um zu fragen, ob vielleicht jemand mein Portemonnaie dort abgegeben habe, und das sei der Fall gewesen!

»Die haben mich nicht mal nach einer Vollmacht gefragt«, sagte Fräulein Kunze. »Hier kennt man sich eben. Bitte sehr!«

Das gesamte Geld war noch drin. Und auch sonst alles.

Papa sagte, ich solle in Zukunft nicht mehr wie so ’n Hans-Guck-in-die-Luft durch die Landschaft marschieren.

Als ob er selbst noch nie irgendwas verschustert hätte!

An Tante Hannas Geburtstag schenkte Papa ihr eine mächtige Kerze. »Du hast mich ja wissen lassen, daß du in einem Alter bist, in dem man sich keinen neuen Krimskrams mehr aufhalsen will«, sagte er. »Diese Kerze beseitigt sich von selbst, wenn du sie brennen läßt, und dann hast du keine Last mehr damit.«

Ein beständig wiederkehrendes Gesprächsthema war die Dummheit der Russen. In der Sowjetischen Besatzungszone hätten sie Wasserhähne requiriert und geglaubt, wenn sie die bei sich im Ural an die Wand schraubten und aufdrehten, fließe da Wasser raus.

»Aus einer Villa haben sie lauter Jugendstilmöbel rausgeholt und sie im hohen Bogen hinten auf ’n Lastwagen geschmissen«, sagte Tante Hanna. »Die gingen dabei natürlich alle kaputt!«

Richtig übel, sagte Papa, sei es den befreiten russischen Kriegsgefangenen ergangen. Die seien von Stalin als Verräter betrachtet und nach Sibirien deportiert worden, zur Zwangsarbeit, und das hätten nur die wenigsten von ihnen überlebt.

Tante Hanna gab uns Käse- und Salamibrote, Apfelsinen, Äpfel, sieben hartgekochte Eier und acht kalte Klopse für die Rückfahrt mit.

Bis Meppen brauchten wir zehn Stunden.

Auf Mamas Frage, wie es gewesen sei, erwiderte Papa: »Martin hat sein Portemonnaie im Wald verbaselt.«

»Was?«

Dafür hätte ich ihm eine scheuern mögen. Ließ sich von mir durch halb Deutschland chauffieren und stellte mich dann als Volltrottel hin! Für Papa schien sich aus jedem kleinen Versagen anderer Menschen eine Bestätigung seiner Überlegenheit zu ergeben. Und dann mußte er darauf herumreiten wie Alwin Schockemöhle auf einem seiner Springturniergäule.

In Oldenburg war ein Brief vom Greno-Verlag eingetroffen.

Wir haben Ihre Arbeit mit Aufmerksamkeit geprüft und gelesen, sehen jedoch keine Möglichkeit der Veröffentlichung.

»Und was schreiben sie dir?« fragte Andrea.

»Das Übliche.«

Laut NWZ bot der Oldenburger Verein »Frauen lernen gemeinsam« den Sprachkurs »Frauengerechtes Spanisch« an. Ein »Mysteriosissimum« (Eckhard Henscheid). Was lernten die da nur? Das überstieg mein Vorstellungsvermögen. Oder lernten sie ausschließlich Wörter wie Wimperntusche, Lidschatten, Lippenstift und Gebärmutterschleimhaut?

Bei der Einweihung der neuen Lagerhalle hielt der Geschäftsführer, Herr Oswald, den man sonst selten sah, eine Rede. Neulich, sagte er, habe ihn jemand vom Vorstand angerufen, mitten in der Nacht, um ihm mitzuteilen, bis wann das in die neue Halle investierte Geld wieder eingespielt sein müsse. »Und wenn ich diese Zielvorgabe nicht einhalten sollte, würde ich entlassen. Daran können Sie ermessen, unter welchem Druck ich stehe!«

Er durfte die neue Halle dann, wie Ebbo es ausdrückte, »entjungfern«, indem er mit dem Gabelstapler die erste Palette hineinfuhr.

Es war ein ganz anderes Arbeiten. Fünfzehn Tore! Makellos markierte Abstellflächen! Platz wie Heu! Und alles sauber!

Die alte Halle sollte künftig als Stauraum dienen.

Papa rief mich an und fragte, ob ich nochmal für zwei Tage nach Meppen kommen und ihm bei der Renovierung des kleinen Balkons helfen könne. »Von Sonntag bis Dienstag. Ich zahl dir auch die Zugfahrt und ersetz dir den Verdienstausfall in deinem Laden da …«

Zum erstenmal im Leben ging ich im Intercity, weil in der zweiten Klasse alles besetzt war, aufs Erste-Klasse-WC. Vier Spiegel? Warmes Wasser? Und doppelt so viel Beinfreiheit?

Nach Pisse stank es trotzdem.

Auf die Klobrille mochte ich mich nicht setzen. Ich erledigte mein Geschäft in einer olympiareifen Steilhocke und achtete darauf, daß mein hinabhängender Hosengürtel nicht in Berührung mit dem fleckigen Boden kam, und nach dem Händewaschen faßte ich den Türriegel und die Klinke nur mit den Mittelknöcheln des Zeigefingers und des Mittelfingers der rechten Hand an.

Mama hatte im Wangerland bei ihrer Freundin Grete deren Sechzigsten gefeiert, und sie pries das Essen, das dort aufgetragen worden war: »Seezunge satt!«

»Und eure Haussuche?«

»Ich bin Ende September erst einmal wieder in Bonn, um Renate unter die Arme zu greifen, und dann werden wir weitersehen …«

Die Balkonbretter wurden, wie gehabt, in Papas Schlafzimmer zugesägt. Wo gab es das sonst auf der Welt, daß ein Bett und eine Kreissäge im selben Zimmer standen? Darauf konnte wirklich nur Papa verfallen.

»Feg mal die Späne zusammen«, sagte er und pustete über die Schnittkante.

Nach dem Abendbrot und der Tagesschau mußten noch bis in die Puppen Bretter ausgemessen und präpariert werden. Als Papa die Kreissäge dann um halb zwölf abermals aufheulen ließ, kam Mama hoch und schimpfte, und da stellte er die Kreissäge wieder aus und ging in den Keller, aber nicht zum Lachen.

In einem Meppener Kiosk, wo ich mir den Spiegel kaufte, hing die Werbung für eine andere Zeitschrift aus:

»Jede zweite Ehefrau will oder muß fremdgehen« – Rolf Hochhuth schaut in Deutschlands Ehebetten und berichtet in Penthouse

Wie er dafür wohl recherchiert hatte, der alte Kuckspecht?

»Guten Tag, Hochhuth mein Name! Ich erkunde für ein Herrenmagazin die Sexualmoral der deutschen Ehefrauen – dürfte ich einmal kurz in Ihr Ehebett schauen?«

»Aber gern … wenn’s weiter nichts ist … hier entlang, bitte … wir haben nichts zu verbergen …«

»Würden Sie mir auch sagen, ob Sie – ich meine die gnädige Frau des Hauses – fremdgehen?«

»Oh, ich nicht, aber die Frau Schneider, unsere Nachbarin zur Linken, die schon! Und die will das nicht nur, die muß es sogar! Schauen Sie mal in deren Ehebett!«

Abends schrillten mir die Ohren von der bestialischen Kreissägerei, und vom Anziehen der Schrauben schmerzten mir die Handgelenke. Und wofür das alles? Für einen Balkon von kropfartiger Überflüssigkeit. Der nie benutzt wurde. Den man ebensogut hätte abreißen können.

Während meines fahrplanbedingten Zwischenaufenthalts in Leer spazierte ich zu der wunderbaren Buchhandlung Taraxacum und legte mir dort ein Buch von Arthur Schopenhauer zu.

Es fiel mir auf, daß die AOK in Leer ein »Mundhygiene-Zentrum« betrieb, und ich rechnete es ihr hoch an, daß sie es nicht »Mundhygiene-Center« genannt hatte.

Andrea löffelte in der Küche eine faulig riechende Sache aus einer Schale.

»Was ißt du da?«

»Maracujajoghurt.«

Etwas fieser Vergorenes hatte mir noch nicht oft in die Nase gestochen. Ich öffnete das Fenster.

Die JZ-Rabauken seien inzwischen gebändigt, sagte Andrea. »Aber man muß immer darauf achten, daß die nicht wieder die Oberhand gewinnen …«

Und was schrieb die Journaille?

Er fühlt sich wohl unter einfachen Leuten, verteilt Küsse und Umarmungen …

Der Kicker über Uwe Seeler? Frau aktuell über Peter Alexander?

Nein – Die Welt über Augusto Pinochet.

Bereits nach einer Woche war von der Herrlichkeit der neuen Halle nicht mehr viel übrig. In der Mitte quoll schon wieder alles über, an den Seitenwänden türmten sich dieselben eisengrauen Gitterboxen wie ehedem, der Putz hatte die ersten Schrammen abgekriegt, auf dem Boden pappten breitgetretene Kaugummis, und vor einem der Tore schien ein Harzfaß oder sowas ausgelaufen zu sein.

Schlechter als ich war allerdings der Dichter Werner Riegel dran gewesen: In der Nachkriegszeit hatte er sich u.a. als Waldarbeiter, als Nächtwächter, als Bauarbeiter und als Kontorbote durchgeschlagen, und dann war er mit 31 Jahren an Krebs gestorben. So stand es in einem von Peter Rühmkorf herausgegebenen Buch mit Aufsätzen und Gedichten von Riegel.

Faß der Welt unter den Rock, Dichter,

klopf die Welt mit dem Stock, Dichter,

doch hab sie lieb …

Kannte keiner mehr, den Mann.

Matthias teilte mir mit, daß man als Mensch in jeder Minute von rund sechs Billiarden Neutrinos solarer Herkunft durchquert werde, ohne es zu merken. Das hatte er aus der Zeitschrift Sterne und Weltraum.

»Wenn sie sich da mal nicht verzählt haben, die Physiker …«

Er sagte, das sei nur ein Näherungswert. Aber fünf Billiarden wären auch schon ziemlich stattlich, wie ich zugeben müsse.

In Walter Kempowskis neuem Roman »Hundstage« machte der ältliche, einzelgängerische und sich dennoch nach Gesellschaft sehnende Schriftsteller Alexander Sowtschick seinen Mitmenschen das Leben schwer und zugleich wieder leicht. Mich erfreute am meisten die Stelle, die sich auf ein Geschenk von mir an Kempowski bezog, wie Lydia mir erzählt hatte:

Alexanders Laune verbesserte sich noch, als der Briefträger ein Paket brachte, mit alten Büchern, es handelte sich um sechzehn Bände der kleinformatigen Reihe »Die Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens«, rot eingebunden im reichen Goldschmuck der Jahrhundertwende, offensichtlich nie gelesen. Einer der Senioren hatte ihm das Werk geschickt: »Sie können mehr damit anfangen als ich.« Er hatte es vermutlich auf dem Dachboden gefunden und sich’s vom Herzen gerissen.

Dichterische Freiheit! Es waren nur zwei dieser Bände gewesen, und die hatte ich nicht auf dem Dachboden gefunden, sondern auf dem Flohmarkt gekauft, und ich kam wohl kaum als »einer der Senioren« in Betracht. But what the hell: Ohne mein Zutun wäre dieser Absatz nicht geschrieben worden, und das hatte was Erhebendes.

Am Sonntag knatterten wir mit dem Ford nach Jever und brachten Oma einen von Andrea auf Dinkelmehlbasis hergestellten Kürbis-Dattel-Kuchen mit, der nach Reformhaus schmeckte, aber Oma haute rein, als wär’s das pure Manna.

Sie erzählte, daß sie am Freitag auf der Hausflurtreppe hingefallen sei. »Frau Renken hat mir wieder hochgeholfen, aber dann ist mir ja vielleicht was passiert! Ich wollte eine Karte an Therese schreiben, und den Anfang hab ich noch geschafft, bevor mir schwummrig geworden ist. Ich hab gedacht, nun setz ich mich mal lieber für ’nen Augenblick hier in den Sessel, und dann sind mir die Augen zugefallen, und als ich wieder zu mir kam, waren bald anderthalb Stunden rum! Als ob ich ohnmächtig gewesen wäre! Aber das Verrückteste kommt noch – wie ich dann die Karte wieder vorkriege, da stell ich fest, daß ich lauter Unsinn geschrieben hab!«

Sie gab uns die Karte zu lesen:

Liebe Therese, gerade eben hatte ich Glück im Unglück, denn Frau Renken kam gerade, als ich auf der Treppe umgestürzt und am Geländer mit dem Koffen und Potunken angestoßen vor die hinterfirdi bangel ropf

Andrea hielt sich vor Lachen den Bauch und sagte immer wieder japsend: »Potunken!«

»Das ist doch fürchterlich!« rief Oma. »Ich muß ja regelrecht geistesgestört gewesen sein!«

Auf dem Nachhauseweg hätte Andrea den Wagen fast in den Graben gefahren, als ich das Wort »Potunken« wiederholte. Das löste bei ihr sofort einen Lachkrampf aus.

Es war mir selbst unverständlich, daß ich Tee trinken und ein Tüt-Ei und zwei Brombeermarmeladenbrötchen frühstücken konnte, während ich einen Spiegel-Artikel über einen Doppelmord in Hamburg las.

In ihrem Appartement im gutbürgerlichen Stadtteil Groß Borstel waren die beiden Männer aus Schanghai zu Tode gefoltert worden. Die Täter hatten den gefesselten und auf dem Bauch liegenden Chinesen einen dünnen Draht um den Hals gelegt und die Schlinge so mit den angewinkelten Beinen verknüpft, daß sich die Opfer bei schwindenden Kräften selber die Luft abschnürten.

Dahinter steckten die sogenannten Triaden: chinesische Drogenschmuggler-, Räuber- und Erpresserbanden. Eine Satansbrut.

Nach einer langen Schicht verfolgten mich die zischenden und schnaufenden Hydraulikbremsen der anfahrenden LKWs mitunter bis in meine Träume. Aber Fließbandarbeit wäre noch viel schrecklicher gewesen. Bei Rhenus blieb man wenigstens in Bewegung.

In seinem Essay »Kohl und du« brachte Michael Rutschky es auf den Punkt:

Wenn du den Mann im TV siehst oder auch nur im Radio hörst, wird er sofort vollkommen unerträglich.

Man fragte sich, wie sie das aushielten, die Minister, Helmut Kohl als Chef zu haben. Ob sie darunter litten, einer solchen Matschpflaume gefügig sein zu müssen?

Bei einer Fahrradtour zum Reiherholz sprang mir die Kette ab. Ich durfte die Fahrt dann mit beschmierten Fingern fortsetzen, und das im Stadtplan als Wald ausgewiesene Reiherholz entpuppte sich als Schonung minderer Güteklasse.

»Du hast aber auch echt an allem was herumzukritteln«, sagte Andrea. »Ich find’s hier ganz hübsch!«

Hübscher als das Reiherholz war es, hinter Andrea herzufahren.

Damensattel: Samendattel.

Bernd Fritz enthüllte in der neuen Titanic, daß er beim Buntstiftlutschen unter seiner Augenmaske durchgeschielt und die jeweilige Farbe einfach von den Stiften abgelesen habe. Schon sonderbar, daß die Leute vom ZDF sich so leicht hatten reinlegen lassen.

In Literatur konkret stand ein Zitat von Helmut Schmidt:

»Es ist wahr, die deutsche Geschichte hat große Schatten, aber sie ist keineswegs gleichbedeutend mit Finsternis. Da gibt es auch viel Licht und Glanz. Und die Verehrung, die der deutschen Musikkultur überall in der Welt entgegengebracht wird, darf uns zu ein wenig Stolz bewegen. Stolz darüber, zu dem großen kulturellen Zusammenhang Europas, zu dem Kontinuum, zu dem auch Bach gehörte, dazuzugehören.«

Hermann L Gremliza schrieb dazu:

Der Stolz des Orgelspielers auf den Verfasser der Partitur: man glaubte es nicht, wenn man es nicht schwarz auf weiß besäße.

Andrea war vergrippt und für drei Tage krankgeschrieben, und ich lieh mir ihr Auto, um nach Meppen zu fahren. Dort mußte ich leider gleich weiter zur nächsten Kfz-Werkstatt, weil die Handbremse im Arsch war. Die rastete nicht mehr ein.

Mama befand sich auf großer Deutschlandtournee – Bonn, Scheidegg, Augsburg und Hannover –, und Papa hatte den Haushalt vernachlässigt. Vor allem die Küche. Er hatte vornehmlich Schinken- und Salamibaguettes von Aldi verzehrt, diese tiefgekühlten Apparate, die man in der Mikrowelle aufbacken konnte.

In Papas Schlafzimmer fegte ich gerade wieder Sägespäne zusammen, als im Mittagskurier auf NDR 2 die Nachricht kam, daß Franz-Josef Strauß tot sei, und danach erklang unpassenderweise die Mondscheinsonate – der größtmögliche akustische Gegensatz zu sämtlichen Bierzeltreden, die der stiernackige Demagoge Strauß im Laufe seines politischen Lebens geschwungen hatte.

Bei einem »Jagdausflug« mit dem Fürsten von Thurn und Taxis war er zusammengebrochen und in einem Krankenhaus in Regensburg an Kreislaufversagen gestorben.

Der bayrische Landtagspräsident Franz Heubl sagte abends im Fernsehen: »Er hinterläßt eine unersetzbare Lücke.«

Mit der Montage der Balkonbretter ließ Papa sich Zeit. Am Dienstag hatte er Rindsrouladen mit Pellkartoffeln und Gurkensalat auf den Speiseplan gesetzt, und die Zubereitung zog sich über Stunden hin. Das Fleisch sollte ich immer noch weicher klopfen, die Gurkenscheiben immer noch gründlicher auswringen und den Schnittlauch immer noch feiner und feiner hacken …

Es lief darauf hinaus, daß der Balkon auch am Mittwoch nicht fertig wurde, aber ich mußte zurück, weil Andrea ihr Auto brauchte.

Die Handbremsenreparatur kostete saubere neunzig Mark, und als ich in Cloppenburg tanken wollte, kriegte ich den doofen Tankverschluß nicht auf und mußte den Tankwart um Rat fragen. Erst nachdem ich diesem Kerl dreimal erklärt hatte, was Sache sei, begriff er’s, und dann hielt er mich und nicht sich selbst für den Töffel. »Das kann doch jeder«, sagte er. »Das ist doch keine Kunst!«

Dieser Snobist im Blaumann sah auf mich herab, weil er die mir verwehrt gebliebene Inselbegabung besaß, einen Tankdeckel öffnen zu können.

Ich wußte schon, weshalb ich nie ein eigenes Auto haben wollte!

»Big Time« hieß das neue Album von Tom Waits.

She’s my only true love

she’s all that I think of

look here in my wallet

that’s her …

Bei diesem Lied sah ich Andrea vor mir, wie sie schlief: ein milchsattes Baby mit schmutzigen Träumen.

Ich sah mir »Wetten, daß …?« an, weil ich wissen wollte, ob der Moderator Thomas Gottschalk auf die Buntstiftlutschergeschichte einging. Und er tat’s, indem er sagte: »Das hätte er auch einfacher haben können. Ein Satz hätte genügt! Was macht er stattdessen? Schreibt vierzehn Seiten in einer Zeitschrift, die keiner liest!«

Frau Morgenstern erzählte mir von einem Einbruch im Stiftsweg. Teppiche, Fernseher, Hifi-Anlage, Uhren, Schmuck und Silber hätten sie mitgehen lassen, die Diebe. »Nu! Nu!«

Unsere eigene Wohnung war leider alles andere als einbruchssicher. Vorne und hinten je eine klapprige Holztür mit Kastenschloß. Und dann noch Erdgeschoß. Unter diesen Bedingungen konnten wir uns den Gedanken an eine Einbruchdiebstahlversicherung aus dem Kopf schlagen.

Aber was wäre bei uns schon zu holen gewesen? Außer einem asthmatischen Staubsauger, einer antiken Glotzkommode und ein paar Autographen von Walter Kempowski?

In meinen Zigarettenpausen las ich »Eine kurze Geschichte der Zeit« von Stephen Hawking. Ich war gefaßt auf Weiße Zwerge, Quarks, Gluonen, die Rotverschiebung, die Stringtheorie, die Lichtkrümmung, den Neutronenzerfall, die Gamma-Hintergrundstrahlung, den Welle-Teilchen-Dualismus und die Hubble-Konstante, doch dann gab es auch mal was zu lachen:

Wie im ersten Kapitel dargelegt, wäre es sehr schwer gewesen, auf Anhieb eine vollständige einheitliche Theorie von allem zu entwickeln, was im Universum geschieht.

Nein, diese Kosmologen! Selbst dem genialsten von ihnen wäre es schwergefallen, auf Anhieb auch nur eine vollständige einheitliche Theorie von allem zu entwickeln, was am 13. Oktober 1988 in der Nadorster Straße 157 geschehen war …

Als ich zu C&A fuhr, Unterhosen kaufen, lief mir in der Heiligengeiststraße Heike über den Weg, und weil ich mit dem Rad erst links und dann rechts und dann wieder links an ihr vorbeizufahren versuchte, rief sie: »Du bist so paddelig wie eh und je!«

Und in diese Frau hatte ich mich mal verliebt. Warum nur?

Alarmierendes wurde von der Frankfurter Rundschau gemeldet:

Einschnitte in den Arbeitsämtern zementieren Sockel der Hoffnungslosigkeit

Man sah sie förmlich vor sich, die Einschnitte, wie sie mit Maurerkellen Mörtel auf den Sockel der Hoffnungslosigkeit auftrugen.

Bei bildschönem Herbstsonnenschein setzten wir einen Plan, den ich schon lange gehegt hatte, in die Tat um und fuhren nach Bargfeld. Einmal im Leben, fand ich, mußte man das Haus von Arno und Alice Schmidt gesehen haben. Und sei’s auch nur von außen.

Über das Walsroder Dreieck, vorbei an einer Stadt mit dem unfeinen Namen Hodenhagen und anschließend an der Aller entlang über Celle nach Eldingen und dort links ab.

Wir parkten den Wagen im eichenreichen Dorfkern und gingen die letzten Meter zu Fuß.

Wegen der dichten Vegetation war das verwunschene Häuschen kaum zu erkennen. Ideal für einen Einsiedler.

»Und wie hat’s dessen Frau hier gefallen?« fragte Andrea.

»Nicht ganz so toll. Ich glaube, die hätte gern mehr Besuch gehabt und wäre auch gern öfter ausgegangen, aber ihr Mann hat ihr nicht mal erlaubt, mit Bekannten ins Schwimmbad zu gehen.«

»Echt? Das hat die mit sich machen lassen?«

»Ich kann doch auch nichts dafür …«

Ein Stündchen spazierten wir noch durch die halb waldige, halb moorige Landschaft. Andrea stellte einen Gräserstrauß zusammen, und ich fotografierte das funkelnde Birkenlaub und den Himmel, der sich in den Teichen und den Wassergräben spiegelte. Laut Schmidt konnte man auf diesem Terrain fünfzig Kilometer weit wandern, ohne auf eine menschliche Ansiedlung zu stoßen.

Zum Neidischwerden. Kein Durchgangsverkehr und stattdessen nur Weiden, Wiesen, Bäume, Füchse, Pilze, Frösche und Gewölk. Und Bussarde und Fischreiher.

In der Ossietzky-Buchhandlung lag der neue Alltag aus. Mit meiner Kurzgeschichte!

»Ruhe bitte!« Der Toaster eröffnet die Sondergerichtssitzung und erteilt dem Kühlschrank das Wort. Auch der Toaster beschwert sich … Aufstand der Küchengeräte.

Von Martin Schlosser.

Und ich hatte weder ein Belegexemplar noch ein Honorar erhalten!

Im Editorial äußerte Michael Rutschky sich abschätzig über den berühmten »kritischen Biß«:

Denn eigentlich soll in dieser Zeitschrift – so pflege ich es Lesern, auch Autoren zu erklären – die Kunst der soziologischen Feinmalerei entwickelt und gepflegt werden. Dies ist das Projekt.

Schön und gut. Für meine Feinmalerei wollte ich aber auch Geld sehen. Das fällige Mahnschreiben richtete ich an die im Impressum aufgeführte Redaktionsassistentin in Frankfurt.

Als Mama abends anrief, um über Papas Geburtstag zu sprechen, konnte ich ihr die freudige Mitteilung machen, daß meine erste Kurzgeschichte publiziert worden sei.

Es war immer gut, einen kleinen Vorrat an Fischkonserven auf Lager zu haben, für den Fall, daß einen am späteren Abend unversehens die Freßgier packte. Und zur Verflüssigung des gruseligen Nachgeschmacks ein kaltes Bier.

Nachdem sich das Turiner Grabtuch als Fälschung erwiesen hatte, dachte ich mir drei neue Reliquien aus – das Düsseldorfer Taschentuch, den Bielefelder Fußabtreter und den Flensburger Bettbezug – und bot der Titanic einen Artikel darüber an. Die mußten da doch mal merken, daß sie mich brauchten!

In der vorne offenen Laube störte mich der Wind beim Zeitungslesen, wenn er zwischen die Seiten fuhr und sich wichtigmachte. Oder wenn er abgelegte Teile der Zeitung vom Tisch blies. Und womöglich in ’ne Pfütze.

Idiot wind, blowing like a circle around my skull …

Die FR berichtete, daß die Kultusminister der Länder eine Rechtschreibreform planten. Man sollte dann »Keiser« schreiben statt »Kaiser«, »Wage« statt »Waage«, »Bot« statt »Boot«, und »Ber« statt »Bär«.

Waren die von allen guten Geistern verlassen? Was gab es denn so dringend an der Rechtschreibung herumzureformieren? Nichts!

Es sei denn, diese Barbaren wollten alles versimpeln, damit man künftig auch Computern was diktieren konnte. Was hätte Schopenhauer wohl dazu gesagt?

Zum ewigen Andenken wollt ihr euere Tatzen in unsere alte Sprache drücken, damit der Abdruck, als Ichnolith, die Spur eueres schaalen und dumpfen Daseyns auf immer bewahre. Aber Dî meliora! Fort, Pachydermata, fort! DIES IST DIE DEUTSCHE SPRACHE! in der MENSCHEN sich ausgedrückt, ja, in der große Dichter gesungen und große Denker geschrieben haben. Zurück mit den Tatzen! – oder ihr sollt – HUNGERN. (Dies allein schreckt sie.) –

Besser noch: Berufsverbot, Beugehaft und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit.

Matthias sagte, er wolle vielleicht richtig bei Rhenus einsteigen. Als Vollzeitkraft. Mit seinem Studium werde es ja doch nichts mehr, und er sei nicht gerissen genug, um sich als Zeichner auf dem Kunstmarkt zu etablieren. »Dann bleib ich eben Arbeiter. Nur mit höherem Lohn als bis jetzt. Das mach ich aber frühestens nächsten Sommer. Bis dahin will ich noch ’ne ruhige Kugel schieben …«

Allen Träumen abschwören? Und vierzig Stunden die Woche bei Rhenus ackern? Bis zur Rente? Für mich wäre das der Tod gewesen.

Die Frankfurter Redaktionsassistentin entschuldigte sich brieflich.

Scheck folgt aus Zürich. Was die Belegexemplare anbelangt, sollten diese Ihnen längst geliefert worden sein. Es tut mir leid, daß da anscheinend etwas nicht geklappt hat, sende daher gleich zwei mit diesem Brief an Sie los.

PS:

Die Themen der nächsten Ausgaben lauten ›Aufsteiger‹ (schon abgeschlossen), ›Sexualität/Liebe‹ und ›Familie(nkult)‹. Vielleicht fällt Ihnen dazu etwas ein …

»Dir fällt doch immer was ein«, sagte Andrea.

Das ging aber nicht auf Knopfdruck.

Eckhard Henscheids Novelle »Maria Schnee« spielte irgendwo in Bayern in einem entrückten, hinterwäldlerischen, aus der Zeit gefallenen Dorf, in dem selbst die Tiere – Enten, ein Kaninchen, eine Fleischfliege, ein Gockelhahn, ein Hund, ein Kätzchen – etwas Märchenfigurenhaftes zu eigen war. Als ob sie sprechen könnten.

Eine Glanzleistung: Andrea war der Zündschlüssel im Zündschloß abgebrochen.

»Und jetzt?«

»Jetzt muß ich jemanden kommen lassen, der den Schaden behebt!«

Wenn es nur Leute wie mich gegeben hätte, wäre es schwierig geworden, die Nachfrage nach Autoklempnern zu decken, die den abgebrochenen Bart eines Zündschlüssels aus einem Zündschloß herausfrickeln konnten. Dann hätte die Post überhaupt keine Gelben Seiten in Druck zu geben brauchen. Kfz-Mechaniker, Kammerjäger, Innenarchitekten, Ärzte, Physiotherapeuten, Rechtsanwälte: alles Essig. Menschen meines Schlages konnten bloß als Dichterlinge dienen. Oder als Hilfsarbeiter.

In der Bahnhofsallee legte Gustav eine Platte von Freddy Quinn auf. »Von 1966. Da hat er mal w-w-was Politisches gesungen …«

Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir!

Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? Wir!

Ihr lungert herum in Parks und in Gassen,

wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? Wir! Wir! Wir!

Der gute Freddy. Unser Saubermann mit dem kantigen Kinn.

Wer will nochmal mit euch offen sprechen? Wir!

Wer hat natürlich auch seine Schwächen? Wir!

Wer hat sogar sehr ähnliche Maschen,

auch lange Haare, nur sind sie gewaschen? Wir! Wir! Wir!

»Köstlich«, sagte Gustav.

Auch wir sind für Härte,

auch wir tragen Bärte,

auch wir gehn oft viel zu weit.

Doch manchmal, im Guten,

in stillen Minuten,

da tut uns Verschiedenes leid …

Was meinte er da wohl? Die Ardennenoffensive?

Doch wer will weiter nur protestieren,

bis nichts mehr da ist zum Protestieren? Ihr! Ihr! Ihr!

Die alte Platte war ziemlich am Knistern.

Bei den modernen Compact Discs falle dieses Problem weg, sagte Gustav. »Da kannst du draufbeißen oder d-d-drauf rumtrampeln, ohne daß die Tonqualität leidet. Aber es gibt auch Hifi-Freaks, die den Klang einer Schallplatte dem eines digitalen CD-Datenspeichers v-v-vorziehen …«

Der vorsintflutliche Plattenspieler hatte schon in Gustavs Jugendzimmer in der Mühlenstraße gestanden. Ein Pioneer PL-15 Turntable. Der letzte Schrei von vorgestern.

»Deine Mutter hat angerufen«, sagte Andrea. »Die ist ab Dienstag in ’ner Reha-Klinik in Damp an der Ostsee für einen Monat zur Kur.«

Gütiger Himmel. Vier Wochen in einer Reha-Klinik an der Ostsee hätten meine eigene Physis stärker angegriffen als zwölf Runden gegen Mike Tyson. Draußen die graue See und drinnen Krankenhausfraß und endlose Gespräche mit anderen Patienten über Lymphdrüsenkrebs, Brustkrebs, Blutkrebs, Hautkrebs, Darmkrebs, Blasenkrebs, Magenkrebs, Prostatakrebs, Gebärmutterhalskrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Botulismus, Mukoviszidose, Morbus Bechterew und Morbus Crohn. Wie sollte man dabei genesen?

In einem Essay zum »Historikerstreit« führte der Historiker Hans-Ulrich Wehler ein Zitat des Historikers Ernst Nolte an, der geschrieben hatte, daß das NS-Regime bis 1939 im Vergleich mit dem Sowjetkommunismus in der Stalin-Ära »geradezu ein rechtsstaatliches und liberales Idyll genannt werden« müsse.

Ein Idyll! Und was war mit den ausgeraubten und totgeschlagenen Juden? Und den Rassenschandeprozessen?

Auf dem Flohmarkt hätte ich für drei Mark ein Autogramm von Wim Thoelke erstehen können, doch ich entschied mich für einen Shell-Atlas von 1973/74 (fünfzig Pfennig) und einen Band mit Gemälden von Caspar David Friedrich (vier Mark achtzig).

An diesen Bildern hatte ich dann aber keine Freude. »Das Kreuz im Gebirge«, »Gedächtnisbild für Johann Emanuel Bremer«, »Frau in der Morgensonne«, »Morgen im Riesengebirge«, »Vision der Kirche« …

Höchste Zeit für einen Besinnungsaufsatz: Caspar David Friedrich oder Die Geburt der Ansichtspostkarte aus dem Geist des Aberglaubens.

Andrea mampfte einen Brei aus Weizenkleie und kuckte einen ZDF-Film über Atlantis. Von den 45 Minuten, die er dauerte, waren mindestens 25 ausgefüllt mit törichtem Synthesizergepurre, psychedelischem Knabenchorgesang und Stimmungsbildern von Möwen, Ruinen, Watt, Meer, Sonne, Sandstaub und ägyptischen Passanten. Informationswert gleich Null.

Schulfunk wohin?

Das Grundrecht auf Asyl »muß endlich fallen«, hatte Lothar Späth gesagt.

Im Hinblick auf das Asylrecht bestanden die Unionsparteien ausnahmslos aus Verfassungsfeinden.

In einem Hörsaal der Uni las Eckhard Henscheid aus »Maria Schnee« und auch aus älteren Büchern – Klassisches wie »Happige Grammatik« oder die Pfarrer-Sommerauer-Episoden aus »Die Mätresse des Bischofs« –, und er machte das in aller Ruhe und ganz unprätentiös. Von dem »Killer«, als den ihn die Opfer seiner Polemik gern schmähten, war jedenfalls nichts zu sehen oder zu hören.

Beim Applaudieren fragte mich Andrea: »Soll ich mal zu ihm hingehen und ihm raten, sich dein Gesicht gut zu merken?«

»Hüte dich!«

Ich hatte »Maria Schnee« und »Wir standen an offenen Gräbern« zum Signieren dabei. Zuvor war allerdings ein Rollstuhlfahrer dran, der lange rangieren mußte, bis er damit beginnen konnte, seinen Bücherberg vom Schoß auf den Tisch umzuschichten. Henscheid stand auf, um dem Mann zu helfen, aber es ging auch so.

Jeden Tag zehnmal derselbe Gedankengang: Sollte ich sie noch auf Winterzeit umstellen, die gottverlassene Quarzuhr? Obwohl ich die bei der Zeitumstellung gewonnene Stunde, die ich für das Umstellen brauchte, schon anderweitig vertändelt hatte?

Kalt war es geworden. Frostblumen an den Fenstern, Eiszapfen an der Regenrinne. Rauhreif, Streusalz, Schnött und harsche Zugluft. Aber wenn man beim LKW-Entladen einen Schal umhatte, schwitzte man darunter wie eine Laus.

Als ich genug Zitate eingeheimst hatte, fing ich mit der Niederschrift meines New-Age-Romans an.

In meiner allumfassenden seelischen Orientierungslosigkeit beschloß ich eines Vormittags, so lange weiterzuschlafen, bis ich einen zündenden Gedanken hätte, wie ich zu meinem wahren Selber vorstoßen könne. Stunden vergingen, ohne daß in dieser Hinsicht irgendetwas abgelaufen wäre. Plötzlich aber fühlte ich mich – auch körperlich! – in einen unermeßlich weiten Space emporgehoben. »Heute noch erscheint dir deine Meisterin!« rief gellend eine Frauenstimme, die von überall und nirgends herzukommen schien …

Mein Plan sah vor, daß der Erzähler in den Ashram jener Meisterin eintreten und von ihr in einer Tour geviehkatzt werden sollte, bis er den Gnadenstand der Erleuchtung erlangte.

Jeden Morgen ein paar Seiten, dachte ich, und im Dezember bin ich damit durch.

Aus Zürich kam der versprochene Scheck. 120 DM abzüglich sechs Mark Provision.

Immerhinque. Eine dreistellige Summe. Revenuen meiner Schreibmaschine! Die ersten richtigen nach zwei Jahren größtenteils fruchtloser Schriftstellerei.

Ich lud Andrea ins Dubrovnik ein und mästete sie und mich mit Garnelenspießen, Thunfischsalat, Cevapcici, Hackmedaillons, Rumpsteaks, Rinderschnitzeln, Butterreis und Bier. Und Ouzo.

»Wie lange hast du für diese Geschichte eigentlich gebraucht?« fragte Andrea.

»Einen Tag.«

»Mehr nicht? Also, wenn du täglich hundertzwanzig Mark verdienen könntest, kämst du im Monat auf … laß mich mal rechnen … das wären … dreitausendsechshundert Mark!«

Der Alltag erschien aber nur viermal im Jahr. Ich mußte noch andere Abnehmer finden. Bloß wo?

Mit jedem ihrer Besuche stachelte Lydia meine Eroberungslust an. Aber ich hätte ja schlecht in Andreas Anwesenheit zu dieser liebenswürdigen Sexbombe sagen können: »Weißt du was? Es wäre pfundig, wenn ich mit dir mal ins Kino gehen könnte. Oder in die Kneipe. Oder spazieren. Ohne Andrea. Nur du und ich. Wir würden uns bestimmt sehr gut verstehen, ma chère …«

In Kowalski war in einer Witzzeichnung von Rattelschneck ein Paar vorm Fernseher zu sehen. Er zu ihr: »Wußtest du, daß in der Sekunde deines Todes noch einmal deine Lieblingsserie in Windeseile vor dir abläuft?«

Um mal was Besonderes zu unternehmen, fuhren Andrea und ich nach Worpswede, doch da sah es noch worpswediger aus als beim letzten Mal. Zu zuckrig und altbacken, das Ganze.

Um zu prüfen, ob wir dort wohnen wollten, sahen wir uns auch in Lilienthal und Fischerhude um. Mir lagen diese Orte aber zu dicht an der Autobahn, und die Gegend war viel zu zersiedelt.

Für zwei Mark ergatterte ich auf dem Flohmarkt das von Walter Kempowski herausgegebene Umfragebuch »Haben Sie Hitler gesehen?« aus der Reihe Hanser, das den Augenzeugenbericht einer Hausfrau des Jahrgangs 1907 enthielt:

Unter den Linden, in Berlin, da war so ein Café, wo da so ein Lampengeschäft in der Nähe ist. Und wir saßen da in dem Café, und ich mußte aufs Klo. Und im Klo hab’ ich das Fenster so ein bißchen aufgemacht, daß ich da beim Sitzen rausgucken konnte. Und auf einmal fährt der Hitler da draußen vorbei, steht auf dem Auto, und er guckt direkt in das Klo rein und sieht mich da sitzen, wie ich da mit dem nackten Po sitze. Mensch, ich hab’ vielleicht das Fenster zugemacht!

Als Gustav uns am Nachmittag besuchte, las ich das vor, und er konterte mit einem Flüsterwitz aus der Nazizeit: »Was ist der Unterschied zwischen einem Leberkranken und Adolf Hitler? Der eine ist leberleidend, der andere leider lebend.«

Eine neue Arbeitsstelle hatte er noch nicht gefunden, und ich fragte mich, was er den lieben langen Tag eigentlich machte. Außer Fernsehkucken und den Spiegel und den Kicker lesen. Hätte er nicht eine Doktorarbeit schreiben können? Um seine Chancen zu erhöhen? Zeit genug hätte er ja gehabt.

Vorm Zubettgehen übte ich was von George Gershwin.

When the mellow moon begins to beam,

Ev’ry night I dream a little dream …

Beim Klavierspielen war mein rechter Ringfinger Problemkind Nummer eins. Kriegte keinen Triller hin, der Hurensohn, der damische.

In der taz gab’s einen heftigen Streit, weil ihr Autor Thomas Kapielski geschrieben hatte, daß es in der Berliner Discothek Dschungel »bereits um acht Uhr abends gaskammervoll« gewesen sei, und die Süddeutsche referierte Aussagen des CSU-Zampanos Edmund Stoiber, die tief blicken ließen:

Stoiber bekräftigte, daß die CSU den Asylartikel des Grundgesetzes ändern wolle, und warf dem SPD-Politiker Lafontaine vor, eine »multinationale Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchrasst«, anzustreben.

Durchrasst. Mein lieber Schwan. Und das von jemandem, dessen Genpool ein paar cisalpine Einspritzer gewißlich nicht geschadet hätten.

Ich zeichnete einen vier Generationen umfassenden Stammbaum – oben die Urgroßelternpaare Willi Bumm und Helga Bumm geb. Bummski, Tenno Kiki und Xia Kiki geb. Xrxsn, Ali Aldi und Günül Aldi geb. Üpüpü sowie Ubbl Ubbl und Acka Ubbl geb. Acka und ganz unten das zu drei Vierteln durchrasste, Franz-Josef Strauß wie aus dem Gesicht geschnittene Urenkelkind Willi-Tenno-Ali-Ubbl Aldi-Ubbl-Kiki Bumm – und schickte das Blatt der Titanic zu.

Rückporto liegt bei.

Wie Zundelheiner zu Zundelfrieder gesagt hatte: »Ich geb’s noch nicht auf.«

Voss war in die Verwaltung aufgestiegen. Der neue Schichtleiter Ebbo ließ es ein bißchen geruhsamer angehen, und es wurde trotzdem alles fertig.

Mit meinem Roman kam ich gut voran. Das Schöne war ja, daß mir nicht viel mehr zu tun blieb, als die Originalphrasen zu kombinieren:

Die Taten der erbarmungslos durchgreifenden Meisterin, die es unternommen hatte, das rohe Erz der vom Ego verblendeten Menschheit umzugebären, wirkten oft entsetzlich rücksichtslos. Bei oberflächlichen Schülern war sie daher nicht beliebt. Doch die einsichtsvollen, von denen es immer nur wenige geben kann, verehrten sie zutiefst.

Ich schrieb erst einmal alles mit der Hand, am frühen Morgen, wenn Andrea noch schlief.

Links das Stövchen mit der Teekanne und rechts der Zettelkasten.

Im Casablanca lief ein Film des russischen Regisseurs Elem Klimow: »Komm und siehe!« Weißrußland 1943: Fljora, ein Junge vom Dorf, gräbt das Gewehr eines toten Wehrmachtssoldaten aus. Dann schließt er sich gegen den Willen seiner Mutter den Partisanen an und lernt Glascha kennen, ein Mädchen, das den Verstand verloren zu haben scheint. Die beiden überleben einen Luftangriff der Deutschen und suchen Zuflucht in Fljoras Dorf. Im Haus seiner Eltern steht noch warmes Essen auf dem Tisch, doch es ist niemand mehr da. Es schwirren bloß überall Fliegen herum. Fljora rennt los, um seine Familie und die anderen Dorfbewohner auf einer Insel im Moor zu suchen, und nur Glascha sieht, was passiert ist: Vor einer Hauswand liegen Leichen über Leichen.

Unter den Einheimischen, die auf die Insel geflohen sind, befindet sich ein alter Mann, der im Sterben liegt. Die Deutschen haben ihn mit Benzin übergossen und angezündet, und er macht Fljora Vorwürfe: »Ich sagte dir: Grabt nicht!«

Fljora weicht schaudernd zurück und rammt seinen Kopf in den Schlamm.

Später treiben die Deutschen die Bewohner eines anderen Dorfs in eine Holzkirche, sperren sie ab, werfen Granaten hinein, stecken die Kirche in Brand, nehmen sie unter Maschinengewehrfeuer und lachen und saufen und johlen, während die Menschen in der Kirche bei lebendigem Leibe verbrennen …

Mit voller Wucht erwischte mich das erst, als ich Andrea davon erzählen wollte, und sie nahm mich in die Arme.

Und was mußte man im Spiegel lesen?

Rund zehn Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 26 Jahren in der DDR sympathisieren mit faschistischen Ideen. Sie organisieren sich als Skinheads oder »Faschos«. Die Gruppen sind straff nach dem Führerprinzip aufgebaut und führen sowohl Schulungen als auch Wehrübungen durch.

Nach fast vierzig Jahren sozialistischer Erziehung. Die offenkundig für die Katz gewesen war. Aber Paraden abhalten, die deutsch-sowjetische Freundschaft beschwören und Transitreisende das Ohr freimachen lassen, das konnten sie, die Nulpen von drüben.

Bei Rhenus riß ich mir den rechten Jackenärmel an einem Nagel auf, den irgendein Idiot in die Wand gekloppt hatte. Super!

Dann gingen die Deckenbirnen im Schlafzimmer und in der Küche kaputt, und im Briefkasten lag ein Schrieb von Frau Morgenstern:

Aufgrund höheren Wasserverbrauchs und gestiegener Preise ergibt sich nach der EWE-Abrechnung 87/88 für Ihren Haushalt eine Abschlußzahlung für Monat Dez. 88 von 14,68 DM.

Überweisen Sie bitte diesen Betrag mit der Dezember-Miete.

Ab Jan. 89 beträgt der monatliche Abschlag für Wasser und Abwasser 13,– DM.

Den geplanten Erwerb einer neuen Zahnbürste verschob ich auf bessere Zeiten. Die ja auch einmal kommen mußten.

Während man die schauerlich dauergewellte Gemahlin des neugewählten amerikanischen Präsidenten George Bush in einen Hamburger beißen sah, sagte ein Fernsehreporter: »Barbara Bush trifft den Massengeschmack.«

George Bush wirkte nicht ganz so vernagelt wie Ronald Reagan, der mit seinen knapp bemessenen Geistesgaben ja wohl nur eine Art Frühstücksdirektor des Weißen Hauses gewesen sein konnte. Ein Unterschriftenautomat im Dienste des Großkapitals.

Auf Andreas Anraten suchte ich einen Zahnarzt auf. Wenn man das nicht regelmäßig mache, würde einem die Krankenkasse aufs Dach steigen, falls dann wirklich mal ein größerer Eingriff vonnöten sei.

Der im Wartezimmer ausliegenden Illustrierten Quick entnahm ich die Information, daß sich das »Institut für deutsche Sprache« auch für die Verstümmelung der Wörter »Moor« und »Aal« starkmache: »Mor« und »Al« solle es fortan heißen.

Hatten diese Institutler kein Gespür dafür, daß die Doppelung der Vokale ursächlich mit der Weite der Moore und der Länge der Aale zusammenhing? Und solche Rohlinge durften sich jetzt am Duden vergreifen?

Von der im Fernsehen übertragenen Rede, die der Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum Gedenken an die »Reichskristallnacht« hielt, hörte ich mir nur die ersten Sätze an: »Meine Damen und Herren! Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor fünfzig Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns …«

Die Juden. Und wir Deutschen. Als ob es keine deutschen Juden gäbe!

Tante Hanna hatte mir wieder zweihundert Mark geschenkt.

Weil der eine Schein so schön neu ist, geht er mit dem zweiten auf die Reise zu Dir.

Dein Vater erzählte mir, daß ein Zürcher Verlag etwas von Dir annahm. Weiter so!

Ich freue mich auch, daß Du zu Deines Vaters Geburtstag in Meppen bist. Er braucht Deine Zuneigung und viel Liebe von seinen Kindern, wenn er es auch nicht so äußern kann.

Grüße Deine Andrea und sei herzlich gegrüßt von

der uralten Tante Hanna

Für Tante Hanna schien es ein Naturgesetz zu sein, daß Papa sein Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe »nicht so äußern« könne, aber woran lag das eigentlich?

Die Literaturbeilage der Zeit war wie gewohnt von einfallslosen Cartoonisten vollgekrickelt worden. Ein Federhalter als Tausendfüßler, ein aufgeschlagenes Buch auf einem Fernsehbildschirm, eine Zahnpastatube mit herausquellendem Bleistift, ein buchstabenschluckender Trichter mit einer unten herauslugenden Schreibfeder, eine Wolke, aus der es Buchstaben regnete …

Weshalb fragte die Redaktion in solchen Fällen nicht bei F.K. Waechter, F.W. Bernstein, Chlodwig Poth oder Horst Janssen an? Oder bei Loriot?

Der Jenninger sei zurückgetreten, sagte Matthias, als wir zu Rhenus radelten. Ob ich das schon wüßte? »Weil seine Rede so beschissen war. Im Fernsehen hat dann auch dieser Rhetorikprof aus Tübingen seinen Senf dazugegeben …«

»Walter Jens?«

»Ja, der! Den kann ich sowas von nicht ab! Wie der sich immer spreizt! Verglichen mit dem ist selbst Helmut Kohl ein Muster an Bescheidenheit …«

In der vierbändigen Ausgabe der Arbeiten Arno Schmidts »Zur deutschen Literatur«, die ich für den Diabolo besprechen durfte, stand auch der Aufsatz, in dem Schmidt davon phantasiert hatte, daß einmal »ein Mäzen=oder=so auftauchen« und ihm eine monatliche Rente von 500 Mark auswerfen werde. In Gestalt des Millionenerben Jan Philipp Reemtsma war so ein Mäzen 1977 tatsächlich nach Bargfeld gekommen und hatte Schmidt aller finanziellen Sorgen enthoben. Wenn auch erst zwei Jahre vor seinem Tod.

Ich schaltete die Flimmerkiste an und sah die ungeschlachten Delegierten des Landesparteitags der rheinland-pfälzischen CDU in Koblenz. Nirgendwo dicker die Hornbrillen, fleischiger die Gesichter, wulstiger die Lippen und grobschlächtiger die Rümpfe als im Stammland Helmut Kohls.

Der nächste Kriegsfilm, in den ich ging, war »Full Metal Jacket« von Stanley Kubrick. Erst die viehische Rekrutenschinderei im Marine Corps und dann die Metzeleien in Vietnam. Da feuerte ein MG-Schütze aus dem Hubschrauber auf wehrlose Reisbauern …

»I ain’t got no quarrel with them Viet Congs«, hatte Muhammad Ali 1967 erklärt und den Kriegsdienst verweigert. Das hätten besser auch die zigtausend Amerikaner tun sollen, die von Kennedy, Johnson und Nixon auf die Vietnamesen losgelassen worden waren.

In meinem Roman unterzog der Erzähler sich widerstrebend einem »Rebirthing« in heißen Quellen.

Die von der Teilnahme an der Sitzung befreiten Schülerinnen schwenkten große Weihrauchpfannen, während wir Schüler uns entkleideten und, mühsam die massiven Widerstände der sich aufbäumenden Egen niederringend, ins Quellwasser stiegen. Daß es Quellen waren, schien mir übrigens ebenfalls ein bißchen zweifelhaft zu sein. Handelte es sich nicht vielmehr um eine Art Tümpel? Um einen dreckigen, stinkenden Eistümpel? So fragte ich mich – doch es waren Fragen, die mein Ego stellte, und ich hörte extra nicht hin.

Dieses Frühwerk war nun ungefähr zur Hälfte fertig. Bergfest!

Immer, wenn man beim Kaffeekochen Wasser in den Filter goß, blieb das hochgeschwemmte Kaffeepulver oben am Rand der Filtertüte kleben, und wenn man es per Wasserstrahl wieder nach unten beförderte, verdickte es sich dort so, daß das Wasser nur tröpfchenweise hindurchrieseln konnte, und dann war der Kaffee nachher kalt. Und wärmte man ihn nochmal auf, nahm er das Aroma einer weitgereisten Herrensocke an.

Im Streit um das Wort »gaskammervoll« nahm in der taz auch Wiglaf Droste Stellung:

Niemand von uns hat das Recht, in Ruhe gelassen zu werden mit Bildern von in Gaskammern qualvoll verreckenden Menschen; ein Kapielski, der diese Bilder mit einem dumpfen Vergleich wachruft, verharmlost und verniedlicht aber weniger als all die, die sich jetzt die Orden des Guten, Wahren und Schönen an die Brust heften …

Nur gut, daß ich mich nicht in einem taz-Plenum an dieser Debatte beteiligen mußte.

Ich hatte Angenehmeres zu tun: Ich ging mit Lydia zu einer Lesung von Walter Kempowski. Im Studentenwohnheim.

Er las aus »Hundstage«, recht elegisch und ohne mitzulachen, wenn gelacht wurde. Am lautesten lachte meistens Lydia. Sie gnickerte auch oft in sich hinein und hielt sich dabei die Nase zu, um nicht wieder laut herauszuplatzen, und ihr rannen Lachtränen über die Wangen.

Einmal tuschelte sie mir zu, daß Kempowski ihr die Stelle, die gerade dran sei, schon einmal vorgelesen habe, und dabei berührten Lydias Lippen mein linkes Ohr.

I feel good in a special way …

»Sie sollten mich mal wieder besuchen kommen«, sagte Kempowski, als er mir nach der Lesung zwei seiner Romane signierte. »Dann trinken wir Kaffee zusammen. Vielleicht im Sommer?«

Auf dem Weg zur Arbeit brachte ich etwas Neues für Michael Rutschky zur Post: eine Brunogeschichte und einen Artikel über die IPW-Heiratsanzeigen.

Bei Rhenus waren zehn fabrikneue Handhubwagen im Einsatz. Keine Schlagseite, keine Unwucht und nicht einmal Lackschäden. Mit solchen Dingern machte die Arbeit beinahe Spaß.

Ebbo sagte nie »Hubwagen«, sondern immer nur »Ameise«.

Die JZ-Rowdys machten Andrea wieder schwer zu schaffen. »Die sind aufsässig, mackerhaft und total egozentrisch«, sagte sie. »Da schnallst du echt ab, was die für ’ne Scheiße im Kopp haben!«

»Und hältst du da trotzdem durch?«

»Muß ich ja. Auch wenn ich gern die Brocken hinschmeißen würde …«

Man mußte wirklich sehr dumm sein, wenn man Andrea erzürnte, statt mit ihr zu flirten.

In seinem »Buch der Könige« berichtete Klaus Theweleit, daß er in seinen Seminaren ein paarmal die Frage gestellt habe: »Was gehört zu Ihrem Körper?« Die Teilnehmer hätten dann aufschreiben sollen, was ihnen in den Sinn gekommen sei. Ein Test zur geschlechtsspezifischen Körperwahrnehmung.

Der erste »signifikante« Unterschied: bei den Frauen folgt auf »Kopf« klar »Bauch«, dann Busen / Augen / Nase, Haut, Gefühl. Eine Frau fängt tatsächlich für sich damit an, worauf sie steht: Füße.

Aber Arme / Beine / Glieder steht bei keiner einzigen Frau am Anfang (wie bei jedem zweiten Mann).

Vorsichtige Folgerung: das wird etwas mit diesem Aktivitäts-/Passivitätsschema zu tun haben oder mit Innen- / Außenunterscheidungen, daß bei Männern diese Geräte zum Fuchteln so weit oben stehen und bei Frauen nicht.

Ich selbst konnte mich diesem Test leider nicht mehr unbefangen unterziehen, nachdem ich die gesamte Auswertung gelesen hatte.

Um halb zwölf Uhr vormittags klingelte es. Vor der Tür stand ein schätzungsweise achtzehnjähriger Hänfling mit einem Illustriertenpäckchen. »Schülerbotendienst«, sagte er, »ich komm vom Schülerbotendienst und bring ab sofort jede Woche wieder alles vorbei und steck die Zeitschriften dann wie immer in den Kasten und komm später abkassieren. Einmal die Woche alles in den Kasten!« Dabei schaute er mal zu Boden, mal zur Decke, mal zur Seite, und er wechselte unablässig Stand- und Spielbein, so wie jemand, der sehr nötig mußte.

»Ich brauche keine Zeitschriften«, sagte ich.

Der Jüngling erstarrte und sah mir direkt in die Augen. »Jeder liest doch irgendwas!«

»Ich aber nicht.«

Da verzog er angewidert das Gesicht, wich zwei Schritte zurück und winkte ab. »Na ja«, rief er, sich zur Haustür wendend, ins Treppenhaus hoch, »eigentlich beliefere ich ja auch nur zahlungsfähige Kunden …«

Und weg war er.

Als Andrea und ich zur Nachfeier von Papas 61. Geburtstag in Meppen ankamen, wurde ich vom Jubilar persönlich begrüßt: »Du siehst ja wie ’ne Vogelscheuche aus! Hast du keine anständigen Sachen mehr zum Anziehen?«

Angereist waren auch Wiebke, Volker, seine Freundin Vera und die Blums mit allen Ablegern, und weil Mama noch in ihrer Kurklinik weilte, schmiß Renate den Haushalt. Sie war jetzt an eine Grundschule in Ippendorf versetzt worden.

Ich tauchte erstmal in der Badewanne ab.

Auf Mamas Schreibtisch lag der Durchschlag eines Briefs von Papa an das Finanzamt Lingen:

Gegen den Einkommensteuerbescheid 1986 lege ich Widerspruch ein. Der ganze Bescheid ist wegen seiner undetaillierten und pauschalen Angaben für mich zur Zeit nicht nachvollziehbar.

Da ich seit längerer Zeit ernstlich erkrankt bin und deswegen auch meinen Beruf an den Nagel gehängt habe, kann ich eine eingehende Widerspruchsbegründung erst vorlegen, sobald ich mich gesundheitlich dazu in der Lage sehe und ich sowohl bei Ihnen als auch bei Steuerberatern nähere Auskünfte zum Zustandekommen dieses Steuerbescheides einholen kann.

Meine Frau kann mir diese Erhebungen auch nicht abnehmen, da sie sich seit 1983 wegen einer Krebserkrankung in ständiger ärztlicher Behandlung befindet und sich zur Zeit in einer Klinik aufhält.

Und wieso überließ Papa diesen nervenzerrenden Papierkram nicht in toto einem Steuerbürohengst? Die Do-it-yourself-Methode mochte zwar billiger sein, aber bestimmt nicht gesünder.

Als Festessen hatte Papa sich Königsberger Klopse mit Kartoffeln, Möhren und Erbsen gewünscht.

Renate formte die Klopse, Vera kümmerte sich um die Soße, Andrea und ich schälten die Kartoffeln, Olaf spielte mit den Kindern Verstecken, Wiebke deckte den Tisch, und Volker hatte irgendwas an seinem Auto zu murkeln.

Eingedenk des Desasters mit dem Buch von Manfred Deix waren wir alle ohne Geschenke erschienen.

Nantje nuckelte abends in ihrem Babyschlafsack auf dem Wohnzimmerteppich am Daumen, bis Renate sie ins Bett brachte, und als auch Lisa und Julius schlafen gegangen waren, holte Papa zu einer Philippika über die Bescheuertheit der Juristen aus, aber mittendrin brachte Olaf ihn durch eine Zwischenbemerkung über den Codex Hammurabi aus dem Konzept, und dann erzählte Renate von ihrer neuen Schule.

Die Gesprächsanteile von Vera, Volker, Wiebke und Andrea lagen deutlich unter fünf Prozent und meine eigenen bei ungefähr zehn.

Am Sonntag spazierten Andrea und ich nach dem Frühstück zur Hase, die lustlos und grau vor sich hinfloß. Pech für die Wassermoleküle, daß sie sich kein nobleres Flußbett ausgesucht hatten. Amazonas! Jangtsekiang! Missouri! Wolga! Euphrat! Ganges! Rio Grande! Hätte alles im Bereich des Möglichen gelegen. Doch nun waren sie in die Hase geraten, mit einem Passierschein für die schnöde Ems und der nicht übermäßig verlockenden Aussicht auf ein Vollbad im Dollart.

Papa wollte einen alten Elektro-Ofen, ein Erbstück von Opa Schlosser, für Andrea und mich reparieren. Hervorragend geeignet zum Beheizen unseres Schlafzimmers. Dann brauchten wir dort nie mehr vor Kälte zu bibbern.

L’après-midi schaufelten Volker und ich auf Papas Geheiß hinterm Haus einen großen Haufen Sand aus einer Kuhle. Zu welchem Zweck, war mir nicht klar. Normale Menschen hatten keine Kuhlen hinterm Haus, aus denen Sand herausgeschaufelt werden mußte.

Alle machten sich reisefertig, und Papa steckte mir zweihundert Mark zu und sagte: »Das ist als Weihnachtsgeld gedacht.«

Sebastian Münster mit dem breiten Hut.

Andrea meinte, daß wir uns von dem Geld ja mal ein richtiges Doppelbett kaufen könnten.

Hinter Haselünne mußten wir wegen einer Baustelle auf der linken Spur fahren, und da schoß uns ein LKW entgegen, der uns todsicher überrollt hätte, wenn die rechte Spur noch drei oder vier Meter länger gesperrt gewesen wäre.

In den letzten Sekunden vor dem scheinbar unvermeidbaren Crash war ich auf dem Beifahrersitz tausend Tode gestorben.

Autofahren! Eine Sache für Vollgasidioten. Man riskierte jedesmal sein Leben. Und dazu kamen noch das entwürdigende Gewarte vor roten Ampeln, das Getanke und die Scheißparkplatzsucherei.

In Robert Schumanns »Album für die Jugend« stellte mich bereits die Nr. 1 der ersten Abteilung (»Für Kleinere«) vor größere Probleme. Am besten kam ich noch mit Nr. 6 zurecht (»Armes Waisenkind«). Stand ja auch in a-Moll, der zweitleichtesten Tonart nach C-Dur. Bei Stücken mit drei oder mehr Vorzeichen fühlte ich mich so, als sollte ich mit einem Einrad aufs Hochseil hinaus, dabei ein Tablett mit gefüllten Sektkelchen auf der Stirn balancieren und gleichzeitig das Volumen eines Rotationskörpers berechnen.

Bei Rhenus wehten Ostwinde mit Geschwindigkeiten bis zu 120 Stundenkilometern durch die Lagerhalle, und dann fiel der erste Schnee. In rauhen Mengen.

Ich mußte dreimal aus der Wohnung raus und schippen. Dafür hätte ich mir besser Wärmflaschen unter die Füße binden sollen, so wie Donald Duck bei seinem winterlichen Gang zum Briefkasten.

Andrea erzählte, daß sie in Aachen mal einen Fragebogen über die »Akzeptanz« von Kinderspielplätzen ausgefüllt und unterschrieben und infolgedessen das Zwei-Jahres-Abonnement einer Zeitschrift namens Christliches Leben an der Backe gehabt habe. »Weil ich das Kleingedruckte nicht gelesen hatte …«

Je tiefer die Temperaturen sanken, desto aufwendiger gestalteten sich das Vorspiel des Vorspiels und das Nachspiel des Nachspiels (immer längeres Vorheizen, Transportieren der Gästezimmermatratze und von immer mehr Decken in Andreas Zimmer und retour).

Wie machten das bloß die Sibirjaken? Oder die Eskimos?

Die Titanic lehnte meinen Beitrag ab.

Reliquien sind eine verehrungswürdige Sache. Ihre sind auch nicht schlecht; aber wir hatten uns bereits für eine ausgelassenere Variation entschieden (siehe 12/88).

Post auch von Herrn Rutschky:

Leider ist es so, daß ich nicht die Nachrichten für Sie habe, die der Autor so gerne erhält: Ihre beiden Arbeiten sind nicht ganz das richtige für den Alltag: die Erzählung nicht, weil wir im Prinzip ja sehr zurückhaltend sind mit literarischen Texten im engeren Sinne (was Sie vielleicht noch gar nicht wußten); die Anzeigen-Analyse, weil das Thema des nächsten Heftes nun doch nicht »Liebe/Sex« sein soll, sondern bloß »Sex«, und da ist Ihre Analyse halt am falschen Material durchgeführt –

wozu ich aber doch gleich auch noch sagen will, daß eine solche Analyse mit mehr Zärtlichkeit gegenüber den klischeebefangenen und wenig sprachbegabten Inserenten durchgeführt werden sollte, während Sie es mehr auf Satire abgesehen hatten –

aber vielleicht fällt Ihnen noch etwas zum Thema »Sex« ein? Haben Sie Telefon? Dann könnte man mal darüber telefonieren. Dann könnte ich Ihnen auch genauer erklären, worin die Grundideen des Alltag eigentlich bestehen.

Auf die Frage, wie es mit meiner schriftstellerischen Karriere vorangehe, hätte ich also antworten können: »Oh, es ist jetzt immerhin so weit, daß Michael Rutschky mit mir am Telefon über Sex reden will.«

Das Haarewaschen schob ich jedesmal so lange wie möglich auf. Frierend im Zuber vor dem Waschbecken stehen und sich beim Ausspülen den Hinterkopf am Wasserhahn stoßen?

Mein Roman machte Fortschritte.

Karma-Sharing, Karma-Pairing, Karma-Rotation – das sind alles Instrumente, die nicht nur der Bekämpfung von Krankheiten dienen, sondern auch als Mittel zur Erhöhung der Vertiefung der Verwirklichung der Erlösung des Menschengeschlechts …

Im Dezember wollte ich den fertigen Roman in Bonn in Olafs Computer eingeben.

Andrea hatte sich schon wieder grippal infiziert. Sie sah aus wie Kermit, der Frosch.

Ich brachte ihr einen Teller Haferflockenbrei ans Bett und heißes Wasser mit Zitronensaft und Tempotaschentücher.

Each one believing that love never dies …

Um mich nicht anzustecken, schlief ich im Gästezimmer in Renates altem Klappbett, das bereits auf der Horchheimer Höhe in Betrieb gewesen war. Holzrahmen, Metallgestell und gelb-orange-karierter Vorhangstoff. Und zwei Gurte zum Befestigen der Bettdecke. Ein Möbelstück von behelfsheimartiger Schlichtheit.

Ich schickte Herrn Rutschky meine Nummer und wies ihn aber auch gleich darauf hin, daß ich ein Telefonmuffel sei. Ungeübt im Parlieren mit zwanzig Jahre älteren Erfolgsautoren.

Am Freitagabend standen Hermann und Marita unangemeldet bei uns auf der Matte. Eine nette Überraschung!

Wir holten Junk Food und Bier aus einem Imbiß und versammelten uns zu einem Gelage am Küchentisch.

Er habe jetzt ’ne Stelle, sagte Hermann und schlug seine Zähne in ein Fischfrikadellenbrötchen. »Ba ama Mirrpapüpungemömmpapp im Mammpupp.«

»Wie bitte?«

Er würgte den abgebissenen Batzen hinunter, wischte sich das Fett von den Lefzen, atmete ein und setzte noch einmal an: »Bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Frankfurt. Wohnen muß ich dann erstmal provisorisch, aber ich hoffe natürlich, bald was Standesgemäßes für Marita und mich zu finden …«

»Und wie war’s in Asien?« fragte Andrea.

»Erzähl du, sonst wird mein Essen kalt«, sagte Marita zu Hermann, und der ließ sich nicht lange bitten: »Oh, oh, oh! Als wir in Bangkok nachts um halb zwei bei unserem Hotel angekommen waren, einer wirklich schäbigen Butze, mußten wir über lauter schlafende Leute hinwegstelzen, um zu unserm Zimmer zu gelangen. Und tagsüber eine schwüle Hitze und die Abgase des tosenden Verkehrs! Bangkok quillt einfach über von Autos, Bussen und Motorrädern, aber es macht einen Hei-den-spaß, in einer Motorradrikscha zu sitzen. Das Leben scheint da vierundzwanzig Stunden am Tag zu brodeln …«

Tempel, Berge und Wasserfälle hätten sie gesehen. »Und ab und zu haben wir uns ein kleines Motorrad gemietet und uns den Wind um die Nase wehen lassen. Ich weiß schon, das ist die Ideologie des Individualverkehrs, aber da fühlt man sich tatsächlich wie ein König!« Ein andermal hätten sie sich mit zwei Deutschen zusammengetan und ein Bambusfloß für eine dreitägige Flußfahrt gemietet. »Das Ganze roch schon sehr nach Camel-Mann-Abenteuer, und es waren der andere Mann und ich, die die Aktion forcierten. Aber als wir den riesigen Fluß sahen, hatten wir doch großen, großen Respekt und mieteten nicht nur das Floß, sondern dazu noch zwei Bootsführer. Damit ging allerdings ein Großteil des Thrills, wenn ich mal so sagen darf, verloren, und temporär schien auch unser Ansehen bei den Damen gesunken zu sein. War’s nicht so, Marita?«

Sie schmunzelte nur.

»Zumindest traf uns ihr Spott! Die Fahrt selber war aber wunderschön, und die nächste Tour hat uns auf die Insel Ko Samui geführt, wo wir uns eine Schnorchelausrüstung geliehen haben. Das war einfach phantastisch, die in vielen Farben leuchtenden Korallen und die tropischen Fische … und später, auf Bali, hab ich beim Schnorcheln sogar einen echten Hai erspäht!«

Der aber offenbar keinen Hunger gehabt hatte.

Als ich Hermann später zwei Handtücher gab, fiel sein Blick auf unser Bett, und er sagte: »Wie? Ihr schlaft unter einer Decke?«

»Wundert dich das?«

»Allerdings! Ich könnte das nicht. Meine Decke teilen! So ’ne Bettdecke, die will man doch alleine haben! Ohne daß da jemand anderes dran rumzuppelt! Oder sie einem womöglich wegzieht!«

Andrea und mir waren solche Sorgen fremd.

In Schloßpark Rastede sahen wir Blutbuchen und eine Drillingseiche, und weiter draußen trafen wir Schafe, Gänse und Hühner an. So ländlich das alles aber auch aussehen mochte – der Autobahnlärm war allgegenwärtig.

»Immer hast du was zu nöckern«, sagte Andrea, obwohl ich kurz zuvor die Prächtigkeit der aufgezogenen Schlechtwetterwolken gerühmt hatte.

Wir brieten eine Ente mit Apfelfüllung, kochten Reis und striepelten Maiskolben ab.

Für den Körperwahrnehmungstest konnten Andrea und Marita sich nicht erwärmen, und Hermann beantwortete die Frage, was zu seinem Körper gehöre, auch nur im Telegrammstil: »Kopf, Bauch, Arme, Beine.«

»Sonst nichts?«

»Jedenfalls nichts, was man bei Tisch erwähnen möchte, wenn man eine gute Kinderstube genossen und seine Pappritz gelesen hat!«

»Pappritz?« fragten wir unisono.

»Kennt ihr die alle nicht? Erica Pappritz? Das Buch der Etikette? Die war unter Adenauer stellvertretende Protokollchefin im Auswärtigen Amt und hat sich auch als Anstandslehrerin hervorgetan. Wenn die jemand gefragt hätte, was zu ihrem Körper gehöre, dann hätte sie bestimmt die Eierstöcke ausgespart. Und gewisse andere Organe ebenfalls …«

Wir quaterten noch bis halb eins, und Marita strickte in der Zeit circa zwei Dutzend Skipullover zusammen.

Um sieben Uhr morgens setzte ich mich an den Schreibtisch und arbeitete Sätze wie »Mit deinem Exit hast du uns wertvolle Gruppenenergie entzogen« in meinen Roman ein.

Es fisselte. Der Himmel grau schraffiert. Wir machten mittags trotzdem einen Ausflug und umrundeten den Woltsee. Hermann und ich vorneweg und Marita und Andrea hinterdrein. Männergespräch – Frauengespräch.

Sein Vater habe in seinem Arbeitsleben kein einziges Mal krankgefeiert, sagte Hermann. »Der hat jeden einzelnen Tag auf dem Bau seinen Mann gestanden! Und diesen Rekord gedenke ich als Arbeitnehmer einzustellen …«

»Soso! Als Zivi hast du immer damit geprahlt, wie geschickt du im Krankfeiern bist.«

»Das ist was anderes. Das zählt nicht.«

»Magendrücken hast du simuliert! Und blaugemacht, wo du nur konntest!«

»Ich sagte doch: Das zählt nicht! Zivildienst und Beruf sind zwei verschiedene Paar Schuhe!«

Nach Maritas Anweisungen fabrizierten wir ein arbeitsintensives, aus Schweineschulterfleisch, Kartoffeln und Birnen zusammengesetztes Gericht namens Schusterpfanne, und dann zeigte Hermann uns seine Dias aus Südostasien.

Die Tempelanlage Borobodur auf Java fand ich ganz eindrucksvoll, aber wenn sie nie gebaut worden wäre, hätte sie mir nicht gefehlt. Mir hätte überhaupt ganz Asien nicht gefehlt. Was hatte dieser Kontinent denn schon zu bieten? Außer Schwarzpulver, Pfeffer, Seide, Porzellan, Religionen, Reis und Maoismus?

Aus Zeitgründen ließen Hermann und Marita uns mit einem Riesenabwaschberg allein. Solche Gäste hatte man gerne!

Am längsten schabte ich am Römertopf herum, und den Küchenschwamm konnte ich hinterher wegschmeißen.

Abends kam Lydia auf ein Glas Wein vorbei und erzählte, daß sie am Montag Walter Kempowski zu Gast habe und ihm Bratäpfel vorsetzen wolle. »Meinst du, daß der sowas ißt?«

Da war ich überfragt. Ich wußte nur, daß er die Strünke von Stachelbeeren verabscheute.

Im »Buch der Könige« sezierte Klaus Theweleit kulturelle Moden, Konjunkturen und Rhythmen.

Rhythmiker wie Lothar Baier & die Gang von Rowohlts Literaturmagazin entdecken jetzt, Ende der 80er, daß es eine Art Braves-Kind-Literatur ist, die Böllwalsergraß & Lenz schreiben und immer geschrieben haben. Vor 20 Jahren wäre das ein Wort gewesen. Da haben sie jedoch Rolf Dieter Brinkmann, der eben das behauptete, einen Faschisten genannt dafür.

Auf Brinkmann kam Theweleit immer wieder zurück. Und ich war schon gespannt auf den neuen Band aus Brinkmanns Nachlaß (»Schnitte«). Die 48 Mark dafür mußte ich jedoch noch erwirtschaften.

Bei Rhenus pfiff mir der Wind so genial ums Genick, daß ich den Kopf irgendwann nicht mehr ordentlich wenden konnte. Halsmuskelverspannung. Schiete!

»Nimm ’n heißes Bad«, sagte Matthias, aber ohne Badewanne war das schwierig.

Klingeling …

Vor der Tür stand ein pickliger junger Mann, der mir lächelnd mitteilte, daß er sich freue, gerade als Arbeitsloser, die Möglichkeit eines kleinen Nebenerwerbs gefunden zu haben, wobei – »aber Sie brauchen mich gar nicht so böse anzukucken, ich führe nichts Arges im Schilde« – wobei ihm schon viele meiner freundlichen Nachbarn geholfen hätten, alles wirklich äußerst freundliche und hilfsbereite Menschen, und wenn ich wolle – »aber Sie brauchen mich echt nicht so böse anzukucken!« –, also, wenn ich wolle, könne auch ich dazu beitragen, ihn ein bißchen zu unterstützen, indem ich, wie es schon viele meiner freundlichen Nachbarn getan hätten, eine Fernsehzeitung abonnierte, die er mir jede Woche bringen könne.

Und schon hatte ich ein Probeheft in der Hand.

Arbeiterroman

Подняться наверх