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Einer von innen
ОглавлениеDer unbeugsame Bischof an der Seite der Indios
„Ich bin glücklich! Trotz allem! Ich habe nie daran gezweifelt, dass das mein Weg ist. Keinen einzigen Augenblick in meinem Leben!“
Seit rund 50 Jahren ist Erwin Kräutler mit den Ureinwohnern, der indigenen Bevölkerung, am Xingu in Amazonien/Altamira unterwegs. Erst als ihr Priester – seit 1982 als ihr Bischof. Dass sich der gebürtige Vorarlberger für die Rechte der Ureinwohner und gegen die Zerstörung des Amazonasgebiets einsetzt, ist manchen ein Dorn im Auge. Viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Bischofs haben ihr Engagement bereits mit dem Tod bezahlt. Erwin Kräutler selbst hat schon viel in Kauf genommen: 1983 wird er wegen der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit Landlosen von der Militärpolizei verhaftet und misshandelt. Vier Jahre später überlebt der Kirchenmann einen Mordanschlag schwer verletzt. Kein Grund jedoch für Erwin Kräutler, nicht weiterhin Missstände, Ausbeutung, Plünderung und Raubbau öffentlich anzuprangern, kompromisslos ein Leben in Würde für alle Menschen zu fordern. Immer wieder ruft er zum verantwortungsvollen Umgang mit „unserer Mit-Welt“ auf.
Mit Vehemenz protestiert der Vorarlberger auch gegen das Wasserkraftprojekt „Belo Monte“, das am Xingu, einem Seitenfluss des Amazonas, errichtet wird. Der Fluss, der Lebensraum für die indigene Bevölkerung ist, wird zu zwei Stauseen in der Größe des Bodensees aufgestaut. Rund 30.000 Menschen sollen aus dem Gebiet verdrängt und ihrer Lebensgrundlage beraubt werden. Ureinwohner von 18 verschiedenen ethnischen Gruppen sind vom Eingriff bedroht. „Die Menschen wissen nicht, wo sie hinkommen. Das hat man bis heute nicht besprochen. Altamira wird dadurch zu einer Halbinsel in einem toten See, in einem faulen See, mitten im tropischen Gebiet. Das ist eine Brutstätte für Plagen, Mücken und Krankheiten. Man sagt, es werden nur 30.000 Menschen direkt davon in Mitleidenschaft gezogen. Was sind 30.000 Menschen zu 200 Millionen Brasilianern? Aber ich kenne diese Menschen! Das sind Kinder, das sind Frauen, das sind Männer, das sind alte Leute, die dort wohnen. Ich kenne sie!“, klagt Erwin Kräutler an.
Bis heute erhält der 74-Jährige Morddrohungen. Nur mit zwei Bodyguards, die ihm von der brasilianischen Regierung zur Seite gestellt sind, kann sich Erwin Kräutler in seiner Diözese bewegen. Das hindert ihn jedoch nicht für seine Überzeugung einzustehen: „Ich bin beauftragt, meinen Glauben dort zu leben, wo ich bin, und auch Stellung zu nehmen, wenn es darum geht, die Menschen, ein Volk zu verteidigen und für Gerechtigkeit einzutreten. Die ‚Mächtigen vom Thron stürzen und die Niedrigen erheben‘ bedeutet, dass alle Menschen das Recht haben zu leben und nicht nur Auserwählte. Nein! Alle haben ein Recht auf Leben!“
Spiritualität und Politik – Mystik und Widerstand: Für Erwin Kräutler sind diese Komponenten untrennbar miteinander verbunden. Am 6. Dezember 2010 wurde der austro-brasilianische Bischof, der von der Theologie der Befreiung2 geprägt ist, für sein Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Die Filmemacherin Bettina Schimak hat ein Porträt über Bischof Erwin Kräutler3 gestaltet4. Anlässlich eines seiner Österreich-Besuche hat sie den engagierten Kirchenmann im Oktober 2010 in Eisenstadt interviewt.
BETTINA SCHIMAK IM GESPRÄCH MIT BISCHOF ERWIN KRÄUTLER
BETTINA SCHIMAK:
Woher nehmen Sie die Kraft, für andere Menschen alles zu geben?
ERWIN KRÄUTLER:
Gute Frage. Ich würde sagen, es ist Gnade. Ich kann nicht sagen: „Ich habe das von mir aus so programmiert.“ Ich denke, dass ich berufen worden bin. Ich gehe diesen Weg, weil ich die Kraft dazu bekomme. Nicht dass ich ganz besondere Sachen mache, sondern dass ich einfach den Weg gehe, der mir vorgezeichnet worden ist. Ich glaube nicht an Zufälle. Die Hand Gottes ist über mir. Das klingt vielleicht sehr theologisch, aber ich glaube daran.
BETTINA SCHIMAK:
Es schaffen nicht viele, diesen Weg so zu gehen …
ERWIN KRÄUTLER:
Ich muss meinen Weg gehen. Du gehst deinen. Jeder muss seinen Weg gehen. Ich würde nie sagen: „Ich möchte den Weg einer anderen Person gehen.“ Ich muss versuchen, das zu tun, wovon ich überzeugt bin.
BETTINA SCHIMAK:
Was macht Ihnen dabei so viel Mut?
ERWIN KRÄUTLER:
Als ich von der Militärpolizei niedergeschlagen wurde, haben die Leute nicht geschrien: „Das ist ein Bischof!“ Nein, sie haben geschrien: „Das ist unser Bischof!“ Ich bin für dieses Volk da und dieses Volk ist umgekehrt für mich da. Als ich das erste Mal bedroht und unter Polizeischutz gestellt wurde, habe ich von meinem Volk so viele Liebeserklärungen bekommen wie nie zuvor in meinem Leben. In vielen Kirchen gab es an den Wänden Transparente, auf denen stand: „Wir lieben dich! Dein Leid ist unser Leid! Wir stehen auf deiner Seite!“ Ein anderes Beispiel: Eine Frau nahm mir am Ende eines Gottesdienstes das Mikrofon aus der Hand und verkündete, ich dürfte mit ihrer Liebe rechnen. Das ist das Wunderbare bei der Liebe: Man schenkt und wird beschenkt. Die Leute haben mir gezeigt, dass ich einer von ihnen bin. Das rührt mich beinahe zu Tränen. Da habe ich mir gedacht: Wenn es diese „Mafia“ gibt, die mich umbringen will – ich könnte es nie im Leben übers Herz bringen, diesen Menschen den Rücken zuzukehren. Es hält und stärkt mich, dass Kinder, Frauen und Männer mir immer wieder die Hand reichen und sagen: „Mach so weiter! Bitte! Wir sind bei dir, wir machen das miteinander!“ Ich opfere mich nicht für irgendjemanden auf. Es geht mir darum, mit den Menschen unterwegs zu sein, sie zu umarmen, zu halten und von ihnen gehalten zu werden.
BETTINA SCHIMAK:
Als Sie als junger Priester nach Brasilien gekommen sind, sind Sie als Missionar gekommen, haben vermutlich auf eine Art und Weise als Missionar gearbeitet – so, wie man das heute nicht mehr macht …
ERWIN KRÄUTLER:
Ja, natürlich. Ich bin 1965 nach Brasilien gekommen. Die Zeiten waren andere. Das Zweite Vatikanische Konzil5 war zwar schon vorbei, aber bis das Konzil zum Tragen gekommen ist, hat es einige Zeit gedauert. Dennoch war schon klar: Mission heißt Sendung. Die Kirche hat den Auftrag – so heißt es im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche –, die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen. Verkünden und mitteilen sind die zentralen Worte. Aber was verkünden wir den Menschen? Geben wir ihnen ein fest verschnürtes Glaubenspaket oder teilen wir den Menschen und Völkern die Liebe Gottes mit? Es geht nicht darum, den Leuten zu sagen, was sie zu tun haben. Sie sollen spüren, dass wir sie gernhaben, dass wir sie lieben. Liebe – gerade im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung, den Ureinwohnern – bedeutet, dass wir uns einsetzen für ihr Leben und ihr Überleben. Die Indigenen wurden seit Jahrhunderten immer wieder bedroht. Ich denke, dass sich die Liebe Gottes diesen Völkern gegenüber so erweist, dass wir sie unterstützen, ihnen helfen, mit ihnen sind. Nicht nur für sie da sind, sondern mit ihnen sind, damit sie leben können. Das ist biblisch!
BETTINA SCHIMAK:
Sie sprechen so einfach von der Liebe Gottes. Das ist in unseren Breitengraden nicht mehr selbstverständlich. Wie haben Sie Gott lieben gelernt?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der das religiöse Leben einfach dazugehört hat. Wir haben immer vom „lieben Gott“ gesprochen, der gleichzeitig Vater und Mutter für uns alle ist. Ich habe diese Beziehung heute noch. Ich habe in meinem Leben viel erlebt. Gutes und weniger Gutes. Aber im Grunde genommen habe ich auch das Kreuz akzeptieren können, weil ich daran geglaubt habe, dass jemand mit mir ist und ich nicht allein bin. Da möchte ich einhaken mit der Befreiungstheologie. Wenn man heute von Befreiungstheologen spricht, ist man der Meinung, das wären einige marxistisch angehauchte Theologen, Priester, vielleicht sogar Bischöfe. Befreiungstheologie hat für mich aber wenig mit Marxismus zu tun. Befreiungstheologie ist grundbiblisch. Im Exodus-Bericht sagt Gott seinem Volk: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen, ich habe seinen Schrei gehört, ich kenne sein Leid. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der Sklavenhütte zu befreien.“ Als Moses dann fragte: „Wie ist dein Name?“, antwortete Gott: „Ich bin der ich bin da.“ Das ist die tiefe Gotteserfahrung. Gott ist nicht ein Gott in weiter Ferne, sondern er ist da, mit uns. Gott ist ein befreiender Gott. Wenn jemand sagt, er sei gegen die Befreiungstheologie, ist er gegen die Bibel, gegen die Offenbarung Gottes.
Wenn ich gefragt werde, was mir Kraft und Mut gibt, ist es diese Überzeugung: Ich bin nicht allein auf dieser Welt und ich erfülle meinen Auftrag, weil Gott das von mir so will und mir auch die Kraft und den Mut dazu schenkt.
BETTINA SCHIMAK:
Wieso schenkt Gott auf der einen Seite so viel Mut und Kraft und lässt auf der anderen Seite so viel zu?
ERWIN KRÄUTLER:
Auf bestimmte Fragen gibt es keine Antwort. Kürzlich ist eine liebe Verwandte von mir mit 43 Jahren an Krebs gestorben. Meine erste Frage war auch: Warum? Gerade wenn eine junge Person stirbt, habe ich keine Antwort. Ich weine und bin traurig. Vielleicht hadere ich sogar mit dem Schicksal. Aber auch das ist keine Antwort. Wir leben in einer Welt, in der es nicht für alles prompt eine Antwort gibt. Ich glaube aber, es gibt Situationen im Leben, in denen ich trotzdem Ja sagen muss – auch wenn ich nicht weiß warum. Im Johannes-Evangelium heißt es im Kapitel 13: „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zum Äußersten.“ Das ist das Wichtige: Bis zum Ende lieben heißt, bis zum Äußersten sich hingeben, bis zur letzten Konsequenz. Bei Johannes heißt es weiter: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns eingesetzt hat.“ Auch wir sind es schuldig, unser Leben für die Schwestern und Brüder einzusetzen.
BETTINA SCHIMAK:
Das wird sehr oft so leicht dahingesagt. Sie sagen das nicht so leicht dahin …
ERWIN KRÄUTLER:
Nein, wirklich nicht. Es ist nicht immer leicht. Aber es ist der Weg, den wir gehen sollen. Und ich bin trotz allem glücklich! Ich habe nie daran gezweifelt, dass das der Weg ist. Keinen einzigen Augenblick in meinem Leben. Ich habe zwar auch gefragt: „Warum musste das jetzt so kommen?“ Aber am Grundsätzlichen habe ich nie gezweifelt. Das Glück eines Menschen besteht auch darin, einen Weg gehen zu dürfen und nicht aufzugeben. Ich möchte für andere da sein. Für mich da zu sein, macht nicht Sinn. Für andere da zu sein, macht Sinn. Und wir suchen nach Sinn. Wenn unser Leben keinen Sinn mehr hat, ist es gefährlich.
BETTINA SCHIMAK:
Gibt es auch dunkle Momente?
ERWIN KRÄUTLER:
Es gibt dunkle Momente. Dann hinterfrage ich: „Warum ist das so gekommen?“ Das gehört zum menschlichen Leben dazu. Auch wenn ich spüre, dass ich an meine Grenzen gekommen bin, sind das dunkle Momente. Als der Polizeikommandant zu mir gekommen ist und gesagt hat: „Sie stehen jetzt unter Polizeischutz“, habe ich mich gewehrt. Ich habe genau gewusst, das geht jetzt an meine Substanz. Ich werde in meiner Freiheit eingeengt. Ich darf nicht mehr gehen, wohin ich will, wann ich will, mit wem ich will. Immer sind zumindest zwei Polizisten dabei. In dem Moment wollte ich das Handtuch werfen. Aber auf einmal konnte ich sagen: „So, das gehört jetzt einfach dazu.“ Ich hatte Angst, in Depression zu verfallen. Ich war gewohnt, jeden Morgen um Viertel vor fünf meine fünf Kilometer zu laufen. Das durfte ich jetzt nicht mehr, weil die Gefahr zu groß war, dass ich beschossen werde. Jetzt bleibt mir nur die Alternative, in dem Haus, in dem ich lebe, 65 Schritte nach vor und 65 Schritte zurück zu machen. Ja, es gibt diese Momente, in denen man richtig am Boden ist. Aber es ist nicht so, dass ich aufgeben würde und sagen würde: „So, mein Auftrag ist jetzt vorbei.“
BETTINA SCHIMAK:
Sie setzen sich vehement gegen das Wasserkraftprojekt „Belo Monte“ ein, das am Xingu, einem Seitenfluss des Amazonas, errichtet wird. Ihnen wird von Kritikern vorgeworfen, dass Sie damit die Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft verhindern wollten, weil dieses Staudammprojekt so wichtig wäre.
ERWIN KRÄUTLER:
Was heißt Entwicklung für Amazonien? Entwicklung für Amazonien ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Entwicklung für Europa oder Süd- und Mittelbrasilien. Amazonien hat eine ganz besondere Berufung. Amazonien ist der tropische Regenwald, der auch klimaregelnd ist, der massive Auswirkungen auf das Weltklima hat. Welche Entwicklung können wir in Amazonien tatsächlich fördern? Das ist die Frage. Wenn wir alles abholzen, wenn wir mit der Brandrodung weitermachen, wenn wir alle Flüsse mit Staudämmen und Elektrizitätswerken bestücken: Soll das Entwicklung für Amazonien sein? Amazonien geht zugrunde. Das ist keine Entwicklung!
Die zweite Frage ist: Wofür und für wen ist diese Energie? Man sagt, dass den Armen Strom gegeben werden soll. Das ist eine Lüge! Die Staudämme dienen einzig den Aluminiumwerken. Angesichts dessen frage ich mich: Wie können wir von Entwicklung sprechen, wenn wir damit die ganze Welt kaputt schlagen? Ich sag nochmals ganz klar: Amazonien hat auf unserem Planeten eine klimaregelnde Funktion. Wir können die Flüsse mit Staudämmen besetzen, aber die Welt geht zugrunde. Das sage ich nicht, weil ich ein Unglücksprophet bin und Hiobsbotschaften verteilen will, sondern dahinter stehen wissenschaftliche Studien. Was bringt uns Entwicklung, wenn die Handelsbilanz stimmt, aber unsere Leute sterben? Dieser Staudamm wird weitere drei oder vier Staudämme mit sich bringen. Dann kommt’s zum Domino-Effekt. Auch die anderen Flüsse kommen dran. Darum sage ich: Der Staudamm ist der Todesstoß für Amazonien.
BETTINA SCHIMAK:
In unseren Breiten verbindet man – im Gegensatz zu Atomstrom oder Strom, der aus Kohlekraftwerken gewonnen wird – mit Wasserkraftwerken immer noch „saubere“ Energie …
ERWIN KRÄUTLER:
Ich glaube auch, dass Strom, aus Flüssen gewonnen, bis zu einem bestimmten Punkt saubere Energie ist. Aber im Zusammenhang mit Amazonien: Nein! Saubere Energie bedeutet auch, dass die Menschen überleben können. Aber die indigenen Völker können nicht überleben. Man sagt zwar, es wird im Moment kein indigenes Gebiet überschwemmt. Stimmt. Aber: Die Menschen leben dort vom Fischfang und ihnen wird das Wasser abgeschnitten! Außerdem: Ist das saubere Energie, wenn eine Stadt zu einem Drittel unter Wasser gesetzt wird und dieser faule tote See die Menschen, die noch überleben, in gesundheitliche Schwierigkeiten bringt? Ist das saubere Energie? Ist es saubere Energie, wenn man einen See macht, von dem man nicht einmal weiß, welche Wasserqualität der haben wird?
BETTINA SCHIMAK:
Wenn man den Namen Bischof Kräutler hört, denkt man zuerst: ein Mann, ständig unterwegs – im Einsatz für seine Gläubigen – in einem Boot auf dem Amazonas, unterwegs im Auto auf den staubigen Straßen. Sie interessieren sich aber auch für Literatur, Musik, klassische Musik …
ERWIN KRÄUTLER:
Es gehört beides zu mir. Ich bin mit dem Boot unterwegs, ich bin – ich weiß nicht wie viele Kilometer – auf der „Transamazônica6“ unterwegs. In unserer Diözese, die die größte Brasiliens ist, gibt es 25.000 Kilometer Straße – rund 100 Kilometer sind davon asphaltiert! Das ist mein Leben. Die Leute haben mir damals, als ich vor über 30 Jahren Bischof wurde, gesagt, sie möchten keinen Bischof, der am Schreibtisch sitzt. Sie wollen einen Bischof, der hinausgeht und am eigenen Leib erfährt, was sie erfahren, wie es ihnen geht. Deshalb bin ich so viel unterwegs.
Die andere Seite von mir ist die Liebe zur klassischen Musik. Ich kann sie nicht missen. Wenn ich auch nicht in die Oper oder ins Konzert gehen kann: Ich kann zumindest eine CD anhören. Ich habe vieles noch im Kopf. Ich kann die ganze Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach auswendig. Wenn Sie mir zwei Takte geben, mach ich weiter! (lacht) Auch Haydn, Mozart, Beethoven – ich hab das alles so oft gehört. Ich lebe damit und ich lebe davon. Hätte ich die Musik nicht mehr, ich glaube, ich wäre tot.
BETTINA SCHIMAK:
Sie sind als junger Priester nach Brasilien gegangen. Sie fühlen sich dort zu Hause. Kann man als Vorarlberger dort überhaupt tatsächlich ganz zu Hause sein?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich habe meine Wurzeln nie abgeschnitten. Ich glaube, das wäre gar nicht möglich. Ich bin andererseits überzeugt davon, dass dieser Weg der richtige war, dass ich auch von meinem Volk angenommen worden bin. Ich bin nicht nach Brasilien gekommen, um den Leuten zu sagen, was falsch oder richtig ist. Ich möchte einer von ihnen sein. Ich habe mich bemüht, sofort die Sprache zu lernen, und darf mit gewissem Stolz sagen: Ich kann heute so gut Portugiesisch, dass die Leute nicht erkennen würden, dass ich nicht von dort bin. Ich habe versucht, die Sprache der Indigenen zu lernen. Als ich das erste Mal in ein Indianergebiet gekommen bin, konnte ich kein Wort. Es gab einen Dolmetscher. Doch ich merkte, dass die Indios nur mit dem Dolmetscher verhandelten. Ich stand außen vor. Da habe ich gesagt: „Ich komme nie mehr in die Gemeinde, ohne nicht zumindest das Grundsätzlichste zu können.“ Dann habe ich gelernt. Als ich das zweite Mal in die Gemeinde kam, habe ich einige Worte gesprochen. Die Leute haben mich angeschaut und das schönste Lächeln im Gesicht gehabt und gesagt: „Er kann unsere Sprache!“ Das Problem war dann nur, dass sie kein Wort Portugiesisch mehr mit mir gesprochen haben, weil sie dachten, ich könnte sie ganz und gar verstehen. Das war natürlich nicht so. Aber es hat eine Kommunikation gegeben und die Wellenlänge hat gestimmt. Ich war plötzlich einer von ihnen. Ich wurde von ihnen als Sohn adoptiert. Das war eines der schönsten Erlebnisse in meinem Leben – darüber bin ich heute noch glücklich und stolz darauf.
BETTINA SCHIMAK:
Wenn man als katholischer Bischof diesem Volk begegnet, könnte man vermuten, dass es darum geht, diesen Menschen das Christentum zu bringen. Wie begegnen Sie diesen Menschen mit ihrer eigenen Spiritualität, mit ihrer eigenen Wahrnehmung der Welt und des Göttlichen?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich bin kein religiöser Kolonialist. Ich bin davon überzeugt, dass jedes Volk seine spezifischen religiösen Ausdrucksformen hat. Ich glaube nicht, dass es irgendein Volk auf der Welt gibt, das nicht irgendeinen Gottesbezug hat. Den gilt es zu entdecken. Wie denken die Leute? Wie fühlen sie? Wie erfahren sie Transzendenz? Wie erfahren sie das Göttliche? Es geht nicht, dass ich hinkomme und ihnen sage: „So hat das zu sein!“ Ich muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Nicht um ihnen etwas zu zeigen, sondern um mich in ihre Situation, in ihren Glauben hineinzuleben. Jeder Glaube ist offen für neue Impulse. Es geht nicht, dass wir meinen, wir haben alles und können den Leuten ein Christentum im abendländischen Gewand überstülpen. Es geht darum, Gott zu finden.
BETTINA SCHIMAK:
Diese Völker sind großer struktureller Gewalt ausgesetzt. Sie sind als Vorsitzender des Indianerrates der Bischofskonferenz für diese Völker verantwortlich. Wie steht es um diese Völker?
ERWIN KRÄUTLER:
Als ich 1965 nach Brasilien gekommen bin, sagte mir jemand: „Bitte verwenden Sie kaum Zeit für die Indios. Die gibt es in 20 Jahren nicht mehr.“ Für mich war das eine kalte Dusche. Ich habe mir gedacht: „Nein, das darf nicht wahr sein, auf keinen Fall!“ Ich habe mich seither eingesetzt. Wir haben die Indianergesetzgebung in die Verfassung gebracht. Wir haben uns so dafür eingesetzt, dass ich das beinahe mit meinem Leben bezahlen musste. Heute sage ich freudig, dass sich die Indianer verfünffacht haben. Früher haben sich die Indios beinahe geschämt, diesem Volk anzugehören. Heute sind sie stolz, diesem oder jenem Volk anzugehören. Die Indios haben ein Recht auf ihre Kultur, auf ihre Sprache. Das war nicht selbstverständlich. Man hat ihnen verboten, in der Schule ihre Sprache zu sprechen. Heute ist das Gott sei Dank anders.
BETTINA SCHIMAK:
Im biblischen Magnificat7 preist Maria Gott als den, der sich allen Machtlosen und Hungernden zuwendet, um sie aufzurichten, die Mächtigen und Reichen jedoch vom Thron stürzt …
ERWIN KRÄUTLER:
Die Mächtigen vom Thron stürzen und die Niedrigen erheben bedeutet, dass alle ein Recht auf Leben haben. Es darf in einer Gesellschaft keine Armen geben. Wenn es Arme gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass es Ungerechtigkeit gibt. Armut ist kein Schicksal – Armut wird gemacht. Jemand trägt dafür Verantwortung. Wir müssen immer fragen: „Warum ist diese Frau, warum ist dieses Kind, warum ist dieser Mann, warum ist diese Familie arm?“ In Amazonien sind die Menschen arm, weil sie verfolgt wurden, weil sie von Grund und Boden vertrieben wurden. Weil man ihnen das Notwendigste zum Leben genommen – gestohlen – hat. Weil man anstelle von kleinen Familienbetrieben riesige Plantagen gebaut hat und die Menschen auf die Straße gejagt hat. Ich frage mich immer, wenn ich diese riesigen Plantagen sehe: „Wo sind die Leute, die da gewohnt haben? Wo sind sie?“ Die haben sich an Außenbezirken von Städten angesiedelt – haben dort zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Das ist kein Leben mehr! Das ist Ungerechtigkeit!
BETTINA SCHIMAK:
Gibt es etwas, das man dem entgegensetzen kann?
ERWIN KRÄUTLER:
Ja! Gerechtigkeit! Frieden! Das heißt gerechte Verteilung der Güter. Ich bin absolut überzeugt: Eine andere als diese kapitalistische Welt, die nur hortet und andere ausgrenzt, ist möglich. Das Verdammte in unserer Welt ist, dass Leute ausgegrenzt werden. Personen, die überflüssig sind, haben kein Recht. Das ist die Katastrophe! Wir haben als Christen und Christinnen den Auftrag, uns einzusetzen, damit es anders wird!
BETTINA SCHIMAK:
Was heißt dann Gerechtigkeit?
ERWIN KRÄUTLER:
Die Grundaussage von Gerechtigkeit lautet: Jeder Mensch darf leben und muss das Notwendige dazu haben. Gerechtigkeit heißt nicht nur, dass jeder das bekommt, wofür er gearbeitet hat. Also es geht nicht nur um die verteilende Gerechtigkeit, sondern es geht um das Recht auf Leben – von Anbeginn bis zum natürlichen Ende. Damit verbunden ist der Einsatz, damit andere leben können. Gerechtigkeit meint, dass ich dem anderen die Hand gebe, mein Herz öffne, dass wir miteinander gehen. Gerechtigkeit ist immer grenzüberschreitend. Es gibt keinen Frieden in Österreich ohne den Frieden auf der Welt. Ich kann nicht sagen: „Gott sei Dank lebe ich in Frieden“, wenn irgendwo auf der Welt Menschen getötet oder ausgegrenzt werden. Wenn den Menschen die Überlebenschancen oder das Leben genommen werden, gibt es keinen Frieden. Friede hat mit Gerechtigkeit weltweit zu tun. Wenn wir Nutznießer sind und uns auf Kosten anderer so bereichern, dass andere nicht leben können, sind wir mit schuld. Wir müssen uns das zu Herzen nehmen.
BETTINA SCHIMAK:
Wie können wir zu diesem Frieden beitragen? Es gibt so vieles, worüber wir nichts erfahren.
ERWIN KRÄUTLER:
Das Erste ist, dass wir Informationen weitergeben. Da sind die Medien gefragt. Das Zweite ist, dass wir Menschen, die unsere Hilfe benötigen, auch tatsächlich unterstützen. Ich spreche nicht von Almosen. Aber ich weiß ganz genau, unser Einsatz ist nur möglich, wenn uns Leute auch finanziell unterstützen. Es geht um geschwisterliches Teilen. Eine andere Möglichkeit ist, Fair-Trade-Produkte zu kaufen. Wenn ich solche Produkte kaufe, heißt das nicht nur, dass die Menschen einen gerechten Lohn bekommen, sondern man sagt damit auch: „Ich bin nicht einverstanden! Ich möchte gerechte Verhältnisse! Ich möchte zum Frieden beitragen!“
BETTINA SCHIMAK:
Könnten Sie als Bischof ohne internationale Unterstützung weiterarbeiten?
ERWIN KRÄUTLER:
Es ist heute absolut unmöglich, ohne die Unterstützung der Heimat unsere Projekte und Initiativen durchzuführen. Wir sind abhängig davon. Aber ich habe keine Hemmungen, muss ich ehrlich sagen. Wenn es Leuten besser geht, sind sie aufgefordert, mit denen zu teilen, denen es weniger gut geht – wie auch immer das aussehen mag.
BETTINA SCHIMAK:
Können Sie sich vorstellen, mit 75 Jahren zu sagen „Jetzt gehe ich und lege die Füße hoch“?
ERWIN KRÄUTLER:
Nein, ich will nicht so denken. Ich möchte den Weg weitergehen, solange mir der liebe Gott die Gesundheit dazu schenkt. Ich will nicht sagen: „Ich habe mein Pflicht getan!“ Einsatz ist viel mehr: Es geht darum, sich mit diesen Menschen zu identifizieren. Zu sagen: Ich bin mit euch da. Das ist die wunderbarste Botschaft der Menschwerdung Gottes: „Ich bin mit euch – alle Tage bis ans Ende der Welt!“ Wir müssen davon wegkommen, dass wir Menschen als Objekte unserer karitativen Tätigkeit ansehen. Sie sind Subjekte. Sie schreiben ihre eigene Geschichte. Wir können dabei sein, ihnen die Hand reichen, sie umarmen und küssen. Wir stehen nicht drunter und nicht drüber. Die Menschen sollen spüren, dass ich sie gern mag, dass sie mit mir rechnen können, dass ich sie als Subjekte respektiere – als Menschen, die ihre eigene Geschichte haben, ihre eigene Geschichte schreiben – und vielleicht gehöre ich ja auch zu dieser Geschichte dazu.