Читать книгу Ein Fall für die Akten - Gerhard Koll - Страница 3

1. Kapitel

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Frau Bielinski war mit ihren Mischlingshunden Cindy und Hexe trotz des vorweihnachtlichen Schmuddelwetters eine große Runde gegangen, so wie sie es nannte; einmal die Herderstraße entlang, über die Rückertstraße zur Schützenstraße, an der Unfallklinik vorbei in den Fredenbaum und wieder zurück. Dort im Park hatten die Hunde freien Auslauf, konnten auf der Wiese rumtollen, Kaninchen jagen oder nach den Stöckchen suchen, die Frau Bielinski schwerfällig ein paar Meter weit warf. Aber meistens landeten sie hinter den schon weit vorgepreschten Hunden, so dass diese schnell die Lust an dem Spiel verloren.

Manchmal traf Frau Bielinski einige ihrer Hundefreunde, Nachbarn aus dem Viertel, die ebenfalls mit ihren Lieblingen unterwegs waren, dann unterhielten sie sich fachgerecht über die Vierbeiner, sagten, was für tolle Burschen das seien, lobten ihre wahre Freundschaft und erwähnten, dass man ihnen mehr vertrauen könne als so manchen Menschen. Ja, sogar richtig zuhören täten sie und sie waren sich einig, dass die Hunde jedes Wort, das man mit ihnen sprach, verstehen würden. Währenddessen beschnupperten die nassen Vierbeiner gegenseitig ihre Hinterteile und die Rüden versuchten mit ausgefahrenem Glied die Weibchen zu besteigen, was aber auf keinen Fall geduldet wurde. Geradezu ekelhaft war das, was man dort zu sehen bekam: dieses rote, tropfende Ding. Es schien reinste Pornografie zu sein, was man eher mit den Kerlen, die man zu Hause hatte, in Verbindung brachte, als mit diesen treuen Lebewesen. So fuhren die Herrchen mit einem scharfen »Aus!« dazwischen und wunderten sich nicht, dass die Hunde nun doch nicht alles verstanden. Vielleicht dachte man auch nicht weiter darüber nach.

Diese große Runde von fast zwei Stunden machte Frau Bielinski jeden Tag, sofern es nicht in Strömen goss – dann ging sie nur einmal kurz um den Häuserblock – das war für sie der Höhepunkt des Tages, an dem sie aus der Wohnung verschwinden konnte, in der in letzter Zeit immer öfter Opa Heinrich hockte. Ihre neue Trinkhallenbekanntschaft, nur mit Schlafanzughose und Unterhemd bekleidet, ließ sich von vorne bis hinten bedienen und kratzte sich dabei auch noch ungeniert zwischen den Beinen.

Leider war sie jetzt fast wieder zu Hause, aber doch einigermaßen zufrieden, dass ihr heute keine zwielichtigen Gestalten mit Kampfhunden begegnet waren, vor denen sie immer Angst hatte.

Sie wollte noch schnell im nahegelegenen Getränkemarkt eine Flasche Korn kaufen. Dabei hoffte sie, dass Opa Heinrich schon aufgestanden war und irgendetwas zum Frühstück vorbereitet hatte. Schlimm war es, wenn er noch im Bett lag und eine Erektion hatte. Dann verlangte er, dass sie sich wieder auszog und sich zu ihm legte, damit er sie haben konnte. Sein fauler Atem drang ihr dabei unangenehm in die Nase. Ertragen konnte sie das nur, wenn sie vorher einige Schnäpse getrunken hatte, dann hatte sie gelegentlich sogar Spaß dabei. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie die anderen Male über sich ergehen ließ und ihm nicht öfter sagte, dass er in seine eigene Wohnung verschwinden solle, die ja nur einige Treppenstufen tiefer im Parterre lag. Vielleicht wollte sie auch nur nicht alleine sein.

Vorsichtshalber wollte sie heute früh eine neue Flasche Frühstückskorn besorgen, da sie nicht wusste, ob noch etwas von gestern Abend übrig geblieben war. Wenn er dann nach ihr rief, konnte sie schnell einen kräftigen Zug nehmen.

Herr Reitmeier, der den Getränkemarkt betrieb und gleichzeitig Eigentümer des Hauses war, in dem sie wohnte, schrieb den Einkauf an.

Eine dicke Kladde lag unter der Kasse. Je weiter der Monat ins Land zog, desto öfter holte er sie hervor, um säuberlich das Produkt sowie den Preis in eine Tabelle einzutragen. Jeder Kunde hatte seine eigene Spalte, versehen mit Namen und Anschrift. Meistens wurde die Rechnung am Anfang des Monats bezahlt. Wenn ein Kunde dann doch nicht zahlen konnte, nahm Herr Reitmeier auch mal den Videorekorder in Zahlung, ließ den Hof fegen oder kleinere Reparaturarbeiten am Haus erledigen, wobei er die Preise festsetzte. Wie säumige Kundinnen ihre Rechnungen beglichen, konnte Frau Bielinski nur erahnen, man sah sie weder den Hof fegen noch andere Arbeiten erledigen. Sie bekamen aber trotzdem immer wieder die Gelegenheit anzuschreiben.

Frau Bielinski nahm die Flasche entgegen, bezahlte dieses Mal und steckte sie in eine abgenutzte Plastiktüte von Lidl, deren Farbe an den Knickstellen durch das ständige Falten völlig verschwunden war, so dass sich ein Gitternetz über die Tüte zog, hinter dem das verblassende Logo der Handelskette nur noch schwach hindurchschien. Es war nicht weit bis zu ihrem Haus, vielleicht zwanzig Meter, jedoch schämte sie sich, die Flasche offen über die Straße zu tragen. So nahm sie die Tüte, wünschte Herrn Reitmeier einen schönen Tag und gab den Hunden, die vor der Tür mit hechelnder Zunge auf sie warteten, den Befehl, nach Hause zu marschieren. Alles schien auf einen rundum perfekten Tag hinzudeuten. Auch hatte sie mit Herrn Reitmeier bereits über die Versorgung an den bevorstehenden Feiertagen gesprochen. Beide waren sich über die Lieferung und den Bezahlungsaufschub einig geworden. Nun freute sie sich auf ein schönes Tässchen Kaffee mit einer Kleinigkeit zum Aufwärmen darin und ein ausgedehntes spätes Frühstück vor dem Fernseher.

Sie hatte kaum die Eingangstür zum Haus geöffnet, als sich auch schon die Hunde durch den schmalen Spalt, der sich aufgetan hatte, zwängten. So rasten sie durch den kalten Flur und liefen die abgetretenen Stufen der Holztreppe hinauf, noch bevor sie den Schlüssel wieder aus dem Schloss ziehen konnte. Mein Gott, haben die es heute eilig, schoss es ihr durch den Kopf, während sie in das dunkle, nach Ruß riechende Treppenhaus trat.

Die Post muss schon da gewesen sein, stellte sie mit klopfendem Herzen fest. Meistens waren es unangenehme Briefe, die sie erhielt; schreckliche graue Umschläge aus Recyclingpapier, die das Sozialamt und das Arbeitsamt benutzten, und die in der Regel nichts Gutes verhießen. Schlimmer jedoch waren die Mitteilungen der Post, die besagten, dass ein Brief für sie beim Postamt hinterlegt sei und dieser somit als zugestellt anzusehen wäre. Abzuholen gegen Vorlage eines gültigen Personalausweises. Da wusste sie, dass die fruchtlosen Mahnungen einiger Versandhäuser zum Vollstreckungsbescheid herangereift waren und folglich mit einem Gerichtsvollzieher zu rechnen war. Eigentlich hätte ihr so etwas egal sein können, da es in ihrer Wohnung nichts zu pfänden gab, aber peinlich war es dennoch. Etwas zittrig steckte sie den kleinen Briefkastenschlüssel ins Schloss der demolierten Box. Diesmal fiel ihr nur ein Reklamebrief entgegen. Erleichtert atmete sie auf. Sie nahm ihn heraus, schloss den Kasten wieder und las im Gehen die goldenen Schriftzüge auf dem schneeweißen Umschlag: Sie sind der nächste Millionär!

Träumend betrat sie die Treppe, sah sich in einem wunderschönen Haus mit Meeresblick, vor dessen Portal ein gutaussehender Butler im schwarzen Anzug stand und ihr mit einer tiefen Verbeugung die Tür öffnete. Klara Bielinski, eine reiche Dame auf dem Weg durch die teuersten Geschäfte der Welt.

Noch halb in ihren Fantasien versunken nahm sie wahr, wie die Hunde plötzlich durch die offene Wohnungstür von Sonja Hedewig verschwanden, die in der ersten Etage links wohnte, gleich unter ihrer eigenen Wohnung. Deshalb war sie ständig der lauten, hämmernden Musik der Hedewig ausgesetzt. Ein junges, aufgedonnertes Flittchen war diese Person, die im Treppenhaus grußlos an ihr vorbeiging, aber ihrem Heinrich unverschämter Weise zuzwinkerte, der natürlich nichts Besseres zu tun hatte, als ihr ungeniert auf den Hintern zu starren. So wie die zurechtgemacht war, konnte es sich nur um eine handeln, die auf den Strich ging. Allein schon diese Typen, die öfter vor Hedewigs Tür standen, ebenso respektlos wie die Frau selbst, besagten schon alles. Nachts um drei drehte sie einfach die Musik so laut, als wäre sie alleine im Haus. Wahrscheinlich kam sie dann zurück aus dem Puff, vollgepumpt mit Drogen und scherte sich einen Dreck um die Nachbarn. Anfangs war Klara noch runter gegangen, hatte sich beschwert, wenn die Musik zu laut war, und hatte höflich gebeten, diese etwas leiser zu drehen, aber genutzt hatte es nichts.

Heinrich schlief jedes Mal besoffen neben ihr, der hörte nichts. Wenn sie ihm am nächsten Tag sagte, er solle auch mal runter gehen, um sich zu beschweren, stellte er sich auf die Seite der Hedewig, meinte, dass junge Leute sich ruhig mal etwas austoben dürften und fing langatmig an, von seiner Jugendzeit zu berichten. Was für ein schlimmer Finger er gewesen sei, erzählte er dann, und dass ein bisschen laute Musik doch harmlos sei. Die hatte den alten Bock völlig um den kleinen Finger gewickelt. Sobald Klara mit der Polizei drohte, lachte die Hedewig bloß. »Geh schön nach oben zum Opa und lass dir von dem ordentlich einen verplätten, dann schläfst du auch wieder besser«, hatte sie einmal gesagt, während ein widerlicher Typ hinter ihr im Türrahmen erschienen war und gefragt hatte, ob noch was sei, als Klara nicht gleich verschwand. Danach traute sie sich nicht einmal mehr, die Polizei zu rufen. Den Typen der Hedewig war alles zuzutrauen. Die hätten sich womöglich noch an ihren Hunden vergriffen.

Die beiden Russen, die mit der Hedewig auf einer Etage wohnten, sagten ebenfalls nichts. Die waren wahrscheinlich illegal hier und wollten mit der Polizei nichts zu tun haben. Auch sah man die Männer kaum. Ständig war da alles verschlossen und dunkel. Wer weiß, was mit ihnen los war? Von denen konnte sie keine Unterstützung erwarten und dem Hausbesitzer schien alles egal zu sein, solange er sein Geld bekam. So musste Klara sich mit der Hedewig abfinden und ihren Zorn mit kleinen Schlückchen Frühstückskorn hinunterspülen.

Dass die Hunde nun ausgerechnet in diese Wohnung gingen, konnte nur zusätzlichen Ärger bedeuten.

Hatte die Hedewig die Hunde vielleicht hereingelockt, um ihnen etwas anzutun? Klara durfte gar nicht darüber nachdenken. Die Hunde waren das Einzige, was ihr in diesem Leben etwas bedeutete. Sie musste handeln. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, nein, es raste bereits.

Vorsichtig drückte sie die Tür auf. Mit gedämpfter Stimme rief sie in die düstere Wohnung.

»Cindy, Hexe, hierher! Kommt sofort da raus, ihr dürft da nicht rein!«

Die Hunde reagierten nicht. Nur ein leises Winseln drang aus einem der hinteren Zimmer zu ihr durch.

Noch stand sie im Türrahmen, darauf gefasst, dass sie jemand beschimpfen könnte. Doch auf ihre Angst konnte sie keine Rücksicht nehmen. Es ging um ihre Lieblinge.

Sie klopfte zaghaft an den Türrahmen.

»Frau Hedewig, sind Sie zu Hause? Hallo, ist jemand da?«

Es war nichts zu hören. Sollte sie die Klingel betätigen?

Warum hörten die Hunde bloß nicht?

Sie drückte die Tür weiter auf, damit mehr Licht vom Treppenhaus in den Wohnungsflur gelangen konnte. Undefinierbare Schemen zeichneten sich vor ihr ab. Eine Garderobe, überfüllt mit Jacken und Mänteln, darunter auf dem Fußboden unzählige Schuhe in einem unordentlichen Haufen. Dazwischen, quer durch den Flur, ein Telefonkabel. Die Türen zu den Zimmern waren einen Spalt breit geöffnet, aber auch dort war es völlig dunkel.

Dann fasste sie sich ein Herz und drückte auf die Klingel. Ein schriller Ton über dem Türrahmen durchschnitt die Dunkelheit wie eine scharfe Klinge. Sie erschrak, obwohl sie es war, die das Geräusch ausgelöst hatte. So heftig und laut hatte sie das Läuten nun doch nicht erwartet. Gespannt wartete sie auf eine Reaktion, hoffte, dass die Hedewig oder die Hunde aus einem der Zimmer kamen. Aber nichts geschah. Keine Reaktion. Sie klingelte noch einmal. Wieder dieser schrille Ton. Doch auch diesmal blieb eine Erwiderung aus. War die Hedewig etwa nicht zu Hause? Hatte sie nur vergessen, die Tür zu schließen?

Ihre Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, so dass Klara sich etwas tiefer in den Flur vorwagte. Sie stieg über einen Berg von Schuhen und tastete sich in Richtung des Zimmers vor, aus dem sie wieder ein leises Jaulen vernehmen konnte. Das Licht anzuschalten traute sie sich aber nicht. Stattdessen rief sie ein weiteres Mal nach den Hunden.

»Cindy, Hexe, kommt da raus. Da habt ihr nichts zu suchen!«

Zu ihrer Überraschung kam Cindy schwanzwedelnd aus dem Zimmer, als wolle die Hündin sie als Besucherin in ihrer Wohnung willkommen heißen.

»Jetzt aber weg hier«, warf sie ihr scharf entgegen und zog das Tier am Halsband Richtung Treppenhaus.

Erleichtert, einen der Hunde wieder bei sich zu haben, schlich sie erneut in die Dunkelheit. Nach diesem Schreck hatte sie sich wirklich ein kleines Schnäpschen verdient, stellte sie für sich fest und schob ihren Oberkörper in das Zimmer, aus dem ihre Cindy soeben gekommen war. Schwarz zeichneten sich die Umrisse des Wohnzimmers ab, mit einer Schrankwand, eine Couchgarnitur und da war auch Hexe. Mit wedelndem Schwanz war sie dabei, an etwas zu lecken. Sie schärfte ihren Blick, versuchte zu erkennen, was es war und erschrak fürchterlich.

Die Finger ihrer linken Hand bohrten sich tiefer in das Plastik der Tüte, mit der rechten Hand fuhr sie sich an den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Zwischen Sofa und Couchtisch war deutlich die Silhouette eines menschlichen Körpers zu erkennen, an dessen Haupt sich die Hündin zu schaffen machte. Wie erstarrt blickte sie auf das grausige Szenario. Dass die Person dort am Boden nicht ihren Rausch ausschlief, war ihr klar. Mit dieser Person stimmte etwas nicht und Klara ahnte, was es war.

Sie tastete nach einem Lichtschalter, fand den Drehknopf eines Dimmers, den sie bis zum Anschlag aufdrehte, dann wanderte ihr Blick widerwillig zurück zu dem Körper. Was sie sah, ließ sie erneut gefrieren.

Dieses Mal konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken. Er erklang so laut und beängstigend, dass die Hündin zusammenzuckte und augenblicklich von dem Körper abließ. Klara wollte sich umdrehen, aus dieser irrealen Szenerie entfliehen, merkte aber im selben Augenblick, dass ihre Beine nicht gehorchten. So trat sie von einem Fuß auf den anderen, während sie unablässig an der Tüte nestelte, die sie mit beiden Händen vor ihr Gesicht hielt, wie um sich dahinter zu verstecken. Dennoch musste sie hinschauen, zu dem eingeschlagenen Kopf von Sonja Hedewig.

Sie musste würgen, unterdrückte aber ihren Brechreiz, weil sie sich weiterhin nicht von der Stelle bewegen konnte. Erst die Stimme Opa Heinrichs, die wie aus weiter Ferne zu ihr drang, riss sie aus dem tranceartigen Zustand.

»Was’n los?«

»Hierher!«, schrie sie. »Schnell, Hilfe!« Ihr Rufen klang so entsetzlich wie ihr erster Schrei.

Opa Heinrich kam die Treppe heruntergeeilt. »Bist du hier?«, rief er mit gedämpfter Stimme in den Flur der Hedewig. Die Hunde saßen vor der Eingangstür und beobachteten seinen Auftritt.

»Komm hierher«, hörte er den Befehl seiner Lebensgefährtin. Ratlos sah er zu seiner Klara, die im Türrahmen des hell erleuchteten Wohnzimmers stand. Er trat durch den dunklen Flur näher an sie heran und schaute über ihre Schulter.

In der Stille war zu hören, wie Opa Heinrich seine Lippen öffnete, aber es entrang ihnen kein Ton. Er war schlichtweg nicht in der Lage, beim Anblick der Toten irgendetwas zu sagen. Er rang nach Luft, während er sich am Türrahmen festhielt. Dann stolperte er zurück ins Treppenhaus, um dort tief durchzuatmen. In der kalten Luft fand er dann endlich seine Sprache wieder.

»Die Polizei muss her, schnell«, rief er hysterisch, ohne irgendjemanden im Blick zu haben, dem dieser Ruf gelten konnte. Die Tür der Russen war verschlossen. Entweder hatten sie nichts mitbekommen oder ignorierten jegliche Geräusche von außen, um nicht in unangenehme Dinge hineingezogen zu werden. Vielleicht waren sie auch nicht zu Hause.

Opa Heinrich stolperte so schnell es ihm möglich war die Treppe nach oben. »Nichts anfassen«, raunzte er schon halb auf dem Zwischenpodest der Treppen. So langsam begann er, Gefallen an der Situation zu finden. Der erste Schreck war überwunden und nun war es an ihm, die Sache in den Griff zu bekommen. Er behielt die Nerven, war ganz Herr der Lage. Wer sonst hätte das Kommando übernehmen sollen? Doch nicht etwa seine Klara? Die bibberte wie ein Zitteraal und war nicht ansprechbar. Da zeigte sich doch mal wieder, was den Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau ausmachte! Noch bevor er die zweite Treppe in Angriff genommen hatte, sah er sich vor versammelter Trinkhallenmannschaft erzählen, wie er die Leiche entdeckt und geistesgegenwärtig alle erforderlichen Schritte in die Wege geleitet hatte. Tatort abgesperrt, Spuren und Beweismaterial gesichert. Nicht zuletzt dank seines schnellen und energischen Eingreifens würde es der Polizei bald gelingen, den oder die Täter zu ergreifen! Vielleicht würde sogar ein Bild von ihm in der Zeitung erscheinen. Er im Vordergrund des Tatortes. Da müsste er gleich mehrere Zeitungen kaufen, um sie in der Trinkhalle zu verteilen. Und das Fernsehen. Wahrscheinlich würde sogar ein Bericht im Fernsehen kommen! Er, wieder am Ort des grausamen Geschehens, von einer hübschen Journalistin um eine Stellungnahme gebeten. Da würde er dann auspacken! Sagen, was Sache ist! Dass er den Mord nämlich schon lange vorher hatte kommen sehen. Ein einsamer Rufer in der Nacht wäre er gewesen, aber all seine Warnungen waren ungehört geblieben. Heinrich Hoppe, Frührentner aus Dortmund, allein im Kampf gegen die internationale Drogenmafia. Das würde Wellen schlagen.

Er hastete zum Telefon und wählte den Notruf 110. Sein Pulsschlag war erhöht, die Aufregung sowie das schnelle Treppensteigen machten sich bemerkbar. Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Jetzt galt es, dem Verbrechen die Stirn zu bieten.

»Ja, Hoppe hier. Mozartstraße. Ich will eine Tote melden. Die hat man umgebracht, hier im Haus, unter uns. Dat sieht aus! Ganz schlimm, überall Blut und Gehirn …!«

Seine Stimme überschlug sich, weshalb er verdutzt war, als der Beamte am anderen Ende der Leitung ihn mit ruhigem Ton unterbrach und nach Dingen fragte, von denen Heinrich glaubte, sie schon längst erzählt zu haben. Auch fand er die Aufforderung, sich zunächst einmal zu beruhigen, überheblich. Stellten die etwa seine Professionalität infrage?

Also, sie würden einen Streifenwagen schicken! Das war typisch. Wahrscheinlich mit so einer kleinen blonden Beamtin, die einen geflochtenen Zopf trug und einen dicken Arsch in der Uniformhose hatte – noch keine dreißig, aber hier dann den Ton angeben. Nee, da hätte er sich lieber gleich mit der Kripo verbinden lassen sollen, ärgerte sich Opa Heinrich.

Auf dem Weg zurück in die Wohnung der Toten fand er seine Klara vor der Eingangstür auf der Treppe sitzend. Sie hatte die Flasche Frühstückskorn aus der Tüte geholt und schon einige kräftige Züge daraus genommen. Unablässig schüttelte sie den Kopf.

»Nein, so was. Ich bin völlig fertig. Wenn ich nur daran denke …«

Wieder setzte sie die Flasche an und reichte sie anschließend an Opa Heinrich weiter, der ein paar Stufen über ihr stehen geblieben war.

»Jetzt nicht!«, raunte er sie an. »Eina muss doch ’en klaren Kopp behalten.« Er griff aber trotzdem nach der Flasche.

»Na ja, einen kleinen Schluck. Danach muss ich nach unten in meine Wohnung, mich umziehn. Watt glaubsse, watt hier gleich los iss.«

»Nee, dat hab ich ihr nicht gewünscht. Dat arme Kind«, sagte Klara abwesend. Sie fragte sich, ob sie sich in irgendeiner Art und Weise am Tod von Sonja Hedewig schuldig gemacht hatte. Immerhin hatte sie ihr zu mancher Zeit alles nur denkbar Schlechte gewünscht, sogar bis hin zum Tod. Und nun das.

Opa Heinrich machte eine abfällige Handbewegung, ging an Klara vorbei die Treppe hinunter. Die Zeit drängte, dabei wusste er immer noch nicht, was er bei solch einem Ereignis tragen sollte. Er überlegte, ob sein Anzug überhaupt noch tragbar sei. Womöglich hatten die Motten unzählige Löcher hineingefressen, so dass er nur noch aus Fetzen bestand und einer Vogelscheuche gleich im Schrank hing. Wann hatte er ihn überhaupt zuletzt getragen?

Kaum hatte er seine Wohnung im Parterre erreicht und war im Begriff, die Tür aufzuschließen, da bemerkte er, dass zwei Polizeibeamte vor dem Hauseingang standen und offensichtlich nach einem Namen auf dem Klingelbrett suchten. Durch die gesprungene Milchglasscheibe in der Mitte der Haustür konnte man ihre Lederjacken mit den Funkgeräten erkennen, die ein kosmisches Rauschen hören ließen. Die Frage nach der Kleiderordnung hatte sich somit fürs Erste erledigt. Opa Heinrich öffnete die Haustür in Schlafanzughose und Unterhemd.

Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Ein junger Beamter und eine noch jüngere Beamtin standen vor der Tür und fragten, ob er sie gerufen hätte. Beide hätten seine Kinder sein können. Zwangsläufig musste er sich fragen, ob diese Küken die Dimension dieses grauenvollen Verbrechens überhaupt erfassen konnten.

»Da muss die Kripo her. Und die Spurensicherung«, belehrte er die Beamten in einem Tonfall, den er für gelassen hielt und mit dem er hoffte, Eindruck zu schinden.

Die überhörten den anmaßenden Ton kommentarlos und ließen sich von ihm die Wohnung zeigen. Klara saß immer noch kopfschüttelnd auf den Stufen. Der Korn in der Flasche hatte bereits beträchtlich abgenommen. Die Beamten warfen ihr einen Blick zu, der offensichtlich besagen sollte, dass sie die Treppe nicht verlassen solle, damit man ihr hinterher Fragen stellen konnte. Zunächst wollten die Beamten die Leiche sehen, um die Lage einzuschätzen.

Opa Heinrich machte Anstalten, in die Wohnung zu stürmen, als er von der Beamtin zurückgehalten wurde. Er solle ebenfalls hier warten, ihr Kollege und sie wollten sich alleine einen Eindruck vom Geschehenen verschaffen, sagte sie. Opa Heinrich warf ihr einen beleidigten Blick zu. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Die Puppi spielte hier den Chef. Noch keine dreißig und dann das. Ihn so abzukanzeln, das auch noch vor den Augen seiner Klara. Also, der würde er keine Fragen beantworten, da würde sie bei ihm auf Granit beißen! So etwas Überhebliches!

Er wollte gerade noch einen Blick in den Flur riskieren, um etwas von der Polizeiarbeit vor Ort mitzubekommen, was für die Berichterstattung in der Trinkhalle von großer Bedeutung gewesen wäre, als die zwei auch schon aus der Wohnung herauskamen. Puppi war leichenblass und ihr Kollege eifrig dabei, per Funkgerät die Zentrale zu unterrichten. Dabei forderte er Kripo, Arzt und Spurensicherung an. Die komplette Mannschaft.

Dass der kleinen Polizistin übel war, tat Opa Heinrich gut. Es versöhnte ihn ein wenig für die barsche Anweisung von vorhin. Es war geradezu eine innere Genugtuung, und das Gespräch mit der Leitstelle quittierte er nur mit einem hochnäsigen: »Habe ich doch gleich gesagt!« Endlich würden die kompetenten Leute kommen und mit denen würde er dann auch reden. Von Fachmann zu Fachmann, sozusagen.

Die Polizistin hatte sich wieder gefangen. Sie begann, die Personalien aufzunehmen und sich über die Gegebenheiten im Hause zu erkundigen. Alles schrieb sie fein säuberlich mit ihrer Mädchenhandschrift auf einen DIN-A6-Spiralblock mit kariertem Papier. Anschließend wies sie an, dass Klara und Opa Heinrich bis zum Eintreffen der Kripo ruhig in ihre Wohnungen gehen könnten.

Opa Heinrich beeilte sich, um diesmal vor dem Eintreffen der Kripobeamten etwas Ordentliches am Leibe zu tragen. Er hastete erneut die Treppe herunter, während sich Klara schwerfällig erhob und gleich wieder auf die Treppe zurückfiel. »Dat tut mich so leid. Dat arme Kind«, lallte sie die Polizistin an, die sie nun stützte und offensichtlich auch bereit war, Klara in ihre Wohnung zu begleiten. Zwei Treppen ausgetretenen Holzes.

»Man soll ja Toten nichts Böses nachsagen, abba die hat auch selba schuld, vastehn se. Mit wem die allet verkehrt hat. Da war bestimmt au en Perversa drunta und der hat se dann …« Klara schwieg, verdrehte die Augen und führte mit ihrem rechten Daumen einen imaginären Schnitt an ihrer Kehle durch. »Also, wenn se mich fragen, dann wa dat so. Wenn ich bloß an den Kopp denke und dat ganze Blut … Bestimmt träum ich davon heut Nacht. Und die Russen von gegenüber sind au Fabrecha, dat riech ich! Wenn die ma nichts damit zu tun ham«, fuhr sie mit schwer beweglicher Zunge fort. Die Polizistin hatte Mühe, nicht gemeinsam mit ihr zu stürzen.

»Gleich kommen die Kollegen von der Kripo! Verstehen sie mich? K-r-i-m-i-n-a-l-p-o-l-i-z-e-i! Denen können sie dann alles genauestens erzählen«, artikulierte die Beamtin überdeutlich, wohl auch froh darüber, sich nicht weiter mit der betrunkenen Frau auseinandersetzen zu müssen.

Klara starrte sie blöde an, als hätte sie nichts begriffen und deutete mit ihrem Kopf nach hinten auf die Lidl-Tüte.

»Bringen se mal die Flasche mit!« Ein, zwei kräftige Schlucke würde sie noch brauchen. Was für ein Tag! Das war ja alles noch schlimmer, als den alten Heinrich zu ertragen, dabei hatte der Tag so gut angefangen.

Ein Fall für die Akten

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