Читать книгу Die Legende der irischen Wolfskönigin - Gerhard Kunit - Страница 4

Der Weg der Kriegerin

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Das Dunkel der Nacht wich der Dämmerung, und die aufsteigenden Nebel umspielten die Gestalten, die kampfbereit durch das hohe Gras schlichen. Ruhe lag über Bal Dochlan, während die Angreifer ausschwärmten und das Dorf einkreisten. Die Dornenhecke bot keinen Schutz vor den erfahrenen Söldnern, wandte sich gegen die Bewohner und nahm ihnen jede Möglichkeit zur Flucht vor den Jägern, die auf Menschen aus waren.

Medbh hatte genug gesehen. Sie lief zu den Baumgruppen auf den Hängen westlich des Dorfes. „Danke, mein Schöner“, flüsterte sie und liebkoste Skryr, ihren Raben, der sich auf ihrer Schulter niederließ. Hätte er sie nicht vor den Schiffen der Eindringlinge gewarnt, wären die Einwohner Bal Dochlans im Schlaf überrascht, ohne eine Chance auf Gegenwehr erschlagen oder in die Fremde verschleppt worden.

„Gut, dass Du kommst“, sagte Ulgacha, ihre Ziehmutter, Schildschwester und Wagenlenkerin. Nur eine Strähne ihrer dunklen Locken stahl sich unter dem Helm aus gehärtetem Leder hervor und milderte ihren entschlossenen Ausdruck.

„Wir können sie nicht mehr lange halten“, pflichtete Eillean bei, die mit ihrem ganzen Gewicht im Geschirr des Leitwolfs hing. Im Gegensatz zu Medbh und Ulgacha war sie nackt. Ihr flachsblondes Haar trug sie offen, und die Runen in der blauen Farbe des Krieges zierten ihren gestählten Körper.

„Calm, Fangrir, calm“, wisperte Medbh, und der Graue gab Ruhe, doch seine Augen versprühten ein waches Feuer. Die sechs übrigen Wölfe ihres Gespanns entspannten sich augenblicklich, sobald sich der Leitwolf legte. Ich wollte, ich könnte mich ebenso leicht beruhigen, dachte sie. Uighar Kriegskrähe, der Häuptling der Coughnacht war die Leitfigur eines jeden Kriegers, eine Naturgewalt in Menschengestalt. Mit eiserner Hand und unbeugsamem Willen hatte er die Coughnacht zu ihrer jetzigen Stärke geführt und diese Fremden würde er vom Feld fegen, so wie er alles beiseite fegte, was ihm in die Quere kam – aber er war mit seinen Kriegern im Osten des Stammesgebietes gebunden.

Also hing es an ihr, seiner achtzehnjährigen Tochter und an Dommagh, ihrem kaum älteren Halbbruder. Ihre Unrast entsprang nicht dem bevorstehenden Kampf oder der Gefahr. Sie wusste mit ihren Waffen umzugehen und fürchtete den Tod nicht. Aber diesmal führte sie ihre Krieger in die Schlacht und die Verantwortung für hundert Leben wog schwerer, als sie jemals erwartet hätte.

Sie öffnete die Brustschale ihres Lederpanzers und zog die Klinge ihres Messers über ihre rechte Brust. Eibrin, die junge Priesterin beugte sich zu ihr, sog das helle Blut auf, das aus dem Schnitt quoll und spie es Eillean, Ulgacha und Medbh ins Gesicht. Anschließend verschmierten die Frauen das Opfer ihrer Prinzessin über Stirn, Wangen und Hals, betend, es möge das letzte Blut sein, das sie heute vergössen. Der metallische Geschmack erinnerte Medbh an die Vergänglichkeit des Lebens, an seinen unersetzbaren Wert, und der Schmerz an ihrer Brust weckte ihre Sinne, verhalf ihr zu jener klaren Sicht, die sie im Kampf auf Leben und Tod nicht missen wollte. Ulgacha zog den Riemen von Medbhs Panzer fest, und der Druck stillte die Blutung fast augenblicklich. Dann warteten sie, warteten auf den Beginn des Sterbens.

Zuerst waren es einzelne Schmerzensschreie, die von Bal Dochlan herauf wehten, als die Geschosse der Schleuderer die Angreifer überraschten, doch bald hallte der dumpfe Ton eines Kriegshorn durch den Morgen. „Es geht los“, sagte Medbh.

Eibrin bestieg ihren mit Ponys bespannten Kampfwagen und setzte sich an die Spitze der Berserker, nackte Krieger, deren Äxte Furcht und Schrecken über ihre Feinde brachten. War ihr Blutdurst erst einmal entfesselt, ließen sie nichts und niemandem am Leben, und nur Eibrins Gesang mochte ihre Wut dann noch besänftigen, so die Göttin das zuließ. Sie sollten das Dorf nördlich umgehen und die östliche Kolonne der Angreifer aufrollen.

Eillean lief zu ihren Furien, achtzehn ausgewählten Frauen, die nach Rache für die feigen Überfälle der letzten Monde dürsteten. Sie kämpften mit kurzen, scharfen Klingenpaaren und schlugen ihre Gegner mit Angriffen auf die Sehnen und Gelenke kampfunfähig, damit sie später der Kriegswölfin geopfert werden konnten.

Medbh ging zu Fangrir und liebkoste ihn, während er das Blut von ihrem Gesicht und von ihren Händen leckte. Sie stieg auf ihren Wagen, sah, wie Dommagh seinen Streitwagen nach Südosten lenkte und seine Axtkämpfer zwischen die Angreifer und ihre Schiffe führte. Falls der Gegner entschlossenen Widerstand leistete, könnte ihr seine Schar beim Kampf um das Dorf fehlen, doch sie wollte den Feind nicht nur abschlagen. Wenn sie die Coughnacht vor den wiederholten Angriffen der Fremden schützen wollte, musste sie einen vollständigen Sieg erringen.

Ulgacha schwang sich vor Medbh auf die Plattform und nahm die Zügel. Ihr schriller Ruf trieb Fangrir an, und sechs Wölfe folgten seinem Beispiel. Die schweren Räder lösten sich nur widerwillig aus der schwarzen, feuchten Erde, doch dann setzte sich der Kriegswagen in Bewegung. Als sie die Ausläufer des Buschwerks passierten, konnten sie das ganze Schlachtfeld überblicken.

Jenseits Bal Dochlans formierten sich die Feinde und verfolgten die kecken Schleuderer, die ihnen in den Rücken gefallen waren, in Richtung Wald. Sie ahnten nichts von Brynswick und seinen Speerkämpfern, die dort auf sie lauerten, und Eibrins Berserker würden ihr Schicksal besiegeln.

Die Kolonne diesseits des Dorfes formierte sich zum Angriff auf die Siedlung. Sechs junge Coughnacht mit Großschilden hielten den Durchlass durch die mannshohe Dornenhecke, Freiwillige, die ihr Leben riskierten, um die Habe der Dorfbewohner zu verteidigen. Brüllend drangen drei Dutzend Angreifer auf sie ein. Schlagend, stechend und drängend wollten sie die Verteidiger aus der Engstelle vertreiben, damit sie ihre Übermacht entfalten konnten. Hier tat Eile not, ehe sich der Feind zwischen den Häusern festsetzte.

Medbh schlug Ulgacha auf die Schulter und ihr Speer wies der Wagenlenkerin den Weg. Eilleans Streiterinnen folgten ihr in ungewohnter Schweigsamkeit, und so näherten sie sich unbemerkt.

Da taumelte einer aus dem Getümmel, die Hand an die blutende Stirn haltend. Seine Augen weiteten sich, als er Medbh und die anstürmenden Furien erkannte. Der Anblick der nackten Kriegerinnen mit den blauen Kriegsrunen erschreckte ihn ebenso, wie der von Wölfen gezogene Streitwagen. Er schrie und schlug seinen Gefährten auf den Rücken um sie zu warnen, doch letztlich stellten sich nur acht Kämpfer dem Ansturm entgegen.

Erstmals sah Medbh ihren Feind aus der Nähe. Einige kämpften mit Speeren, doch die meisten verließen sich auf kurzstielige Kriegsäxte. Die großen Rundschilde zeigten rote Strahlen auf einem dunkelgrünen Grund, und die Männer trugen hohe, seltsam gerundete Helme, die ihren bärtigen Gesichtern eine ungewohnte Form verlieh. Anders als die braunen, roten und blonden Coughnacht war das Haar der Fremden schwarz wie das Gefieder der Raben, schwarz wie Medbhs Haar, doch die braune Haut unterschied sich von ihrem bleichen Teint, war dunkler als bei allen Menschen, die sie bislang gesehen hatte.

Medbhs erster Wurfspeer traf auf den Schild eines breitschultrigen Hünen, und ihr zweiter Wurf durchbohrte seinen Hals. Während sie nach Fangzahn, ihrem Kriegsspeer griff, trafen die Furien auf die wankenden Verteidiger, doch deren Lederrüstungen waren mit Metallringen verstärkt und hielten den Stichen und Schnitten der leichten Klingen stand. Ulgacha lenkte Fangrir um die kurze Front herum, und Medbh griff aus der Flanke an. Ihr Stoß fuhr dem nächstbesten Gegner in die Seite. Er brach in die Knie und schrie, bis eine Klinge seine Kehle aufschlitzte.

Zwei Frauen sprangen über die hartnäckigen Söldner hinweg und fielen jenen in den Rücken, die den Dorfeingang berannten, doch eine dritte bezahlte den Versuch mit ihrem Leben. Medbh rächte die Tapfere auf der Stelle, konnte Fangzahn aber nicht mehr von dem zusammenbrechenden Kämpfer befreien. Der Anführer der Fremden wurde der Bedrohung gewahr und führte seine Männer gegen den Feind in seinem Rücken, wodurch der Druck auf die Verteidiger des Dorfes nachließ. Eine der Frauen fiel unter der Klinge seines Schwerts, und Medbh brüllte ihm ihre Herausforderung entgegen.

Zwei seiner Männer gingen dazwischen. Einen fällte sie mit einem wuchtigen Hieb ihrer Streitaxt und den anderen stieß sie mit ihrem Schild beiseite. Seine gellenden Schreie verrieten ihr, dass ihr die Wölfe das Weitere abnahmen, und sie fokussierte sich wieder auf den Recken, der seine blutige Klinge gerade aus einem leblosen, nackten Körper zog. Medbh stürmte auf ihn ein, und die Schilde prallten aneinander, während seine Klinge ihren Hieb parierte. Ihr Rückhandschlag kam ansatzlos – und wurde dennoch von seinem Schild abgefangen. Mit knapper Not tauchte sie unter seinem Gegenschlag weg, und sein Vorstoß brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte und hielt seinem Ansturm nur mit Mühe stand.

Furien eilten ihr zu Hilfe, doch seine Männer verstanden ihr Handwerk und deckten seine Flanken. Medbh sammelte sich und griff erneut an, doch seine ebenso ungewohnten wie wirksamen Kombinationen brachten sie in Bedrängnis. Ihr Schildarm schmerzte, und an ihrer rechten Schulter klaffte ein Schnitt, der ihren Hieben die nötige Präzision raubte. Da huschte ein Schatten hinter ihrem Gegner vorüber, und gleich darauf tauchte Eilleans Gesicht zwischen seinen Beinen auf. Sie lachte, während sie ihre Klingen nach oben stieß und die Innenseiten seiner Oberschenkel vom Knie bis zur Leiste aufschlitzte, und sie lachte, während sein Blut auf ihr Gesicht und über ihren Körper spritzte.

In stillem Einvernehmen stieß Medbh den Sterbenden zur Seite und sprang vor, um die am Rücken liegende Gefährtin zu schützen, doch mit dem Tod des Anführers brach auch der Kampfeswillen seiner Männer. Einige fielen noch unter den Streichen der wütenden Weiber, ehe die Übrigen die Waffen streckten und sich in ihr Schicksal ergaben. Noch heute würden sie als Opfer für die ewige Wölfin ihr Leben lassen, und das Leid der erschlagenen Coughnacht sühnen.

Ulgacha wollte Medbhs Schulter verbinden, doch sie winkte ab, streichelte Fangrir über den Nacken und stieg wieder auf den Wagen. In diesem Moment hörte sie vom Wald her den Jubel ihrer Männer, die ihre Gegner zwischen dem unerbittlichen Schildwall und den entfesselten Berserkern aufgerieben hatten. Einem Wolfsrudel gleich verfolgten die Schleuderer die wenigen Versprengten, die der tödlichen Umklammerung entkamen, und sie würden nicht ruhen, ehe der Letzte gefallen war. Dort gab es nichts mehr zu tun, und Medbh hoffte, dass ihre Berserker nicht allzu viele von Brynswicks Männern erschlugen, ehe Eibrins Lied sie besänftigte.

Sie sah sich um. Vier von Eilleans Kämpferinnen lagen tot auf der Kampfstatt und zwei der Männer aus dem Dorf. Zwei oder drei der Furien waren so schwer verletzt, dass wenig Hoffnung für sie bestand, doch angesichts der zwei Dutzend gefallenen Gegner und einem weiteren Dutzend Gefangener konnte sie mit dem Ausgang zufrieden sein. In diesem Moment hörte sie von der Küste her den durchdringenden Ton der Kriegspfeifen. Die Schlacht war noch nicht vorüber. Medbh suchte Fangzahn und ihre Wurfspeere zusammen, nahm das Feldzeichen mit der schwarzen Wölfin vom Wagen und schwenkte es Richtung Meer. Eibrin erwiderte das Signal vom Waldrand herab, ehe sie ihre Berserker in Marsch setzte.

* * *

„Maeve! Komm zu Dir! Maeve!“

„Mama?“ Die wasserhellen Augen des Kindes richteten sich auf Ari und die Krämpfe, die den kleinen Körper schüttelten verebbten.

„Ja mein Kind, ich bin deine Mama. Du hast geträumt.“ Sie schlang ihre Arme um das Mädchen und streichelte über ihren Kopf. „Es ist gut“, murmelte sie. „Es war nur ein böser Traum.“

„Nein“, sagte das Mädchen.

„Wieso nein?“, erkundigte sich Ari.

„Das war kein Traum“, sagte die Sechsjährige. „Ich war dort.“

„Wo warst Du?“, forschte Ari behutsam nach. „Willst du es mir erzählen?“ Maeve nickte heftig. „Du bist ja komplett durchgeschwitzt“, fuhr Ari fort, nahm ein Leinentuch und fischte ein frisches Nachthemd aus der Truhe. „Und du erzählst mir alles der Reihe nach.“ Sie half der Kleinen aus dem nassen Hemd und frottierte ihre langen schwarzen Haare.

„Ich war eine Prinzessin“, begann das Mädchen. „Ich trug einen reich verzierten Lederpanzer und einen langen Speer, und ich fuhr auf einem Wagen in den Kampf, der von Wölfen gezogen wurden. Wir mussten Bal Dochlan verteidigen, das von bösen Männern angegriffen wurde.“

„Bal Dochlan?“, unterbrach Ari mit seltsamer Unrast. „Wo hast Du das gehört?“

„Das Dorf heißt so“, sagte Maeve und sah ihre Mutter forschend an. „Kennst Du es?“

Die Ältere nickte. Ihr Blick richtete sich in eine dunkle Ecke des Raumes, als gäbe es dort etwas zu sehen.

„Sag schon“, drängte das Kind. „Was ist mit Bal Dochlan?“

„Ballydolan wurde so genannt“, sagte Ari. „Früher, als die alte Sprache noch gesprochen wurde, und wir an die alten Götter geglaubt haben, aber der Name wurde vergessen. Selbst ich habe mich kaum noch daran erinnert.“

Sie schwieg, und das Mädchen hielt mit der Erzählung inne, bis ihre Haare trocken waren, und sie in das frische Hemd schlüpfte.

„Wie haben sie dich genannt, als Prinzessin?“, fragte sie mit einem seltsamen Zittern in der Stimme.

„Meb“, sagte das Mädchen. „Aber sie haben es recht seltsam ausgesprochen.“

„Medbh“, flüsterte Ari ehrfürchtig. „War es Medbh?“

Das Mädchen nickte begeistert. „Ja, das war es. Woher weißt du das? Wer ist das?“

„Es heißt Maeve“, sagte die Ältere. „Sie war die größte Königin, die Irland jemals gesehen hat, eine Kriegerin, Mutter, Wölfin und Göttin.“

Sie schob den Riegel zurück, öffnete die Brettertüre und trat ins Freie. Ein Schimmer im Osten kündete vom nahenden Morgen. Der Wind war kühl, unter den ziehenden Wolken hingen Nebel, doch es regnete nicht. „Zieh dich an, mein Kind“, sagte sie und ging noch einmal in die Kate zurück. „Nimm die Schuhe. Wir gehen weit, und es wird steinig.“

„Wollten wir nicht Kräuter sammeln?“, wandte das Mädchen ein.

„Wollten wir“, bestätigte Ari. „Aber das hier ist wichtiger.“ Sie nahm einen Kanten Brot und ein Stück Käse aus der Vorratstruhe, verstaute es in ihrem Bündel und dann waren sie marschbereit. „Auf dem Weg erzählst du mir jede Einzelheit deines Traums.“

„Das war kein Traum“, beharrte Maeve trotzig.

„Ich weiß“, sagte ihre Mutter.

* * *

Der Weg von Aris Hütte ins Innere der Cuil-Irra-Halbinsel führte über offenes Weideland und stieg sanft an. Nach einer Viertelstunde erreichten sie die erste Anhöhe. Drei Meilen vor ihnen ragte die langgezogene charakteristische Silhouette des Knocknerea an die tausend Fuß hoch empor und das flache Steingrab auf seinem Rücken berührte die grauen Wolken, die der Wind rastlos nach Osten trieb.

Maeve hielt inne und sah zurück. Südlich, fast schon am Ufer des Meeresarms, der tief in das Land einschnitt bis zum Hafen von Ballysadare hinüber, schmiegten sich Ballydolans Bruchsteinhäuser an die Anhöhe, die von der kleinen Kirche gekrönt wurde. Noch gestern dachte Maeve, sie stünde dort seit Anbeginn der Zeit, so wie die ausladenden Eichen, die den ummauerten Friedhof beschatteten. Heute wusste sie es besser.

„Bal Dochlan lag weiter im Landesinneren“, erklärte sie ihrer Mutter. „An der Küste war es zu unsicher.“ Als ihr ausgestreckter Arm nordwärts wanderte, kam sie ins Stocken. „Es liegt … es war … bei unserem Haus. Von hier oben hat Medbh den Angriff geführt, und dort drüben wurden die fremden Soldaten von unseren Berserkern niedergemacht. Aber da war dort noch alles Wald.“

Das Mädchen stockte, und Ari legte ihr die Hand auf die Schulter. „Geht’s dir gut?“, erkundigte sie sich besorgt und Maeve nickte tapfer.

Seite an Seite marschierten sie weiter und ließen das ausgedehnte Cuillean-Moor rechts liegen. Der Richtung nach könnte Sligo das Ziel sein, die Stadt, in der der englische Lord wohnte, doch da gab es einen bequemeren Weg über die Straße. „Wo gehen wir hin?“ erkundigte sich das Mädchen, doch die Mutter beschied ihr abzuwarten und schritt tüchtig aus. Mit Bedauern sah sie ein Büschel Gelbnattern, die gegen allerlei Entzündungen halfen, doch die empfindlichen Blüten würden den Tag nicht überstehen. Sie ließ das Kraut unberührt und merkte sich die Stelle für den Rückweg.

An den nördlichen Ausläufern des Moors schwenkte Ari nach Westen. Hier begann eine weitläufige von zahlreichen Buckeln durchzogene Ebene. Maeve mied diesen Ort, doch an Stelle der Scheu, die sie für gewöhnlich von hier fernhielt, trat eine unerwartete Faszination. Noch einmal fragte sie nach dem Ziel und diesmal deutete ihre Mutter zum Gipfel des Knocknerea, der jetzt vor ihnen lag. Ein sanfter Schauer überlief das Mädchen. Wolfsberg sagten die Dörfler und schlugen Schutzzeichen, sobald die Sprache auf ihn kam, doch sie empfand Ehrfurcht vor der Kraft, die von dem Berg ausging.

Höher und höher stiegen sie, und der Blick über das Land wurde weit. Sie sahen bis Ballysadare im Südosten und bald auch das Städtchen Sligo, das die Halbinsel im Nordosten begrenzte. Dichte Wolken zogen ostwärts, durchbrochen von Fingern, die lichte Flecken auf das dunkelgrüne Land zauberten, und als sie den flachen, weitläufigen Gipfel erreichten, erstrahlte das mächtige Hügelgrab für wenige Augenblicke in gleißendem Licht, ehe die Sonne wieder dem Schatten wich.

Ari lenkte ihre Schritte um das Grab herum und Maeve sah das offene Meer, das die Cuil-Irra von drei Seiten umschloss. Der Wind war hier kühler, packte ungehemmt an, und obwohl Maeve die wilde Stimmung genoss, zogen sie sich bald auf die Leeseite zurück. Ari breitete ihren Umhang aus, und sie setzten sich. Das Mädchen platzte vor Neugier, doch die ungewohnte Schweigsamkeit ihrer Mutter erfüllte sie mit Sorge.

Endlich fasste sich Ari ein Herz und begann zu erzählen: „Es hat einen Grund, warum ich dieses Gespräch hier führen möchte. Es ist jetzt sechs Jahre her, es war Herbst und ich suchte nach Kräutern, im Moor und beim Hügelfeld. Plötzlich heulten Wölfe und ich erschrak, als ich erkannte, wie nahe mir die Tiere sein mussten. Eine Wölfin tauchte so plötzlich vor mir auf, als wäre sie aus dem Nichts erschienen. Ich zog mich vorsichtig zurück, doch nach wenigen Schritten stellte sich mir ein ganzes Rudel in den Weg. Ich wähnte mich verloren und betete zur Alten um ein gnädiges Ende, aber es kam anders. Die Wölfin wandte sich um und lief zum Knocknerea, schlug genau den Weg ein, den wir heute genommen haben. Sie sah sich nach mir um, vergewisserte sich, dass ich ihr folgte, und mir blieb auch gar keine Wahl, da mir das Rudel jeglichen Ausweg verwehrte.“

Ari hielt inne, und Maeve sah sie fragend an. „Schließlich kam ich hierher“, fuhr die Mutter fort. „Eine weitere Wölfin erwartete mich und heulte zum Himmel, als sie mich sah. Dann trat sie beiseite, und ich sah ein lebloses Bündel hier am Grab. Neugierig trat ich heran, immer zu den wachsamen Tieren schielend – und erschrak. Es war ein Kind, fast noch neugeboren, leblos. Ich fürchtete, es wäre tot, doch ich habe mich geirrt. Die Wölfe haben mich zu einem Mädchen geführt mit pechschwarzen Haaren und irritierend hellen Augen. Sie haben mich zu dir geführt, und weil ich dich an Medbhs Grab gefunden habe, nannte ich dich Maeve, nach ihr, nach der Wolfskönigin.“

Das Mädchen sah sie aus großen Augen an. „Du bist …. Du bist nicht …?“

„Ich bin nicht deine Mutter“, bestätigte Ari. „Obwohl ich immer versucht habe es zu sein. Ich habe dich im Sinn der Wölfin erzogen, soweit das in unserer Zeit möglich ist. Du kennst die Orte der Kraft, die Steine, den heiligen Hain, du weißt um die Wirkung der Kräuter, und so wollte es Medbh für ihre Tochter, sonst wäre ihre Wahl nicht auf mich gefallen.“

Maeve legte den Kopf in ihren Schoß und schloss die Augen. „Du bist meine Mama, und das wirst du immer bleiben.“

Ari sah in die Ferne, weit in die grüne Insel hinein und der traurige Zug verschwand von ihrem Gesicht, als die Sonne endgültig durch die dunklen Wolken brach. „Wir werden sehen“, flüsterte sie, und strich über die Haare des Mädchens, bis ihre Atemzüge ruhig und gleichmäßig gingen.

* * *

Das Mädchen begutachtete den Eisenhut, der nicht wachsen wollte, und schon einen guten Fuß hinter seinen Nachbarn hinterher hinkte. „Was ist mit dir?“, flüsterte Maeve und strich über die Blätter der Staude. „Na gut“, sagte sie plötzlich. „Ich seh nach.“

Sie nahm ihren Grabstock, kniete sich hin und grub entlang der Wurzen hinab, bis sie auf etwas Hartes stieß. „Du hast recht“, gestand sie der Pflanze zu und scharrte, bis sie ein ellenlanges Metallstück aus dem Erdreich ziehen konnte. Sorgfältig schloss sie die Erde, streichelte nochmals über die Blätter und goss den Stock.

„Jetzt geht es dir sicher besser“, befand sie und nahm dann ihren Fund in Augenschein. Das Stück war von der Zeit zerfressen, aber die Eleganz der schmalen, spitz zulaufenden Form war noch zu erahnen. Zuerst dachte Maeve an eine Dolchklinge, doch dann wusste sie, was sie da in der Hand hielt. „Das ist meiner“, flüsterte sie andächtig, während das verwitterte Metallstück an Kontur gewann, bis es im Schein der Feuer mattgolden schimmerte. „Das ist Fangzahn.“ Ihr Blick folgte dem drei Schritt langen Schaft aus polierter Esche bis zu seiner Spitze, und sie dankte der Waffe für ihre treuen Dienste.

„Los jetzt“, befahl sie nach einem letzten Blick auf die Kampfstatt. „Wir müssen meinem Bruder beistehen.“ Ulgacha schnalzte mit der Zunge, doch ehe das Rudel anzog, sprang Eillean herbei, hing sich außen an den Wagen, und eine rothaarige Furie folgte ihrem Beispiel.

„Du willst den Spaß doch nicht ohne uns genießen?“, rief die Blonde. Ihr Körper war ebenso mit Erde und Blut besudelt wie ihr Haar, doch ihre Augen funkelten angriffslustig, und die Zähne blitzten, als sie hysterisch lachte.

Den ganzen Weg bis zur Küste war von Dommaghs Männern nichts zu sehen, doch der anschwellende Lärm der krachenden Waffen und Schilde ließ keinen Zweifel an einem erbitterten Gefecht. Erst von der Anhöhe über dem Meer konnte Medbh die Situation überblicken. Die Axtkämpfer hatten den Gegner bis an die beiden klobigen Schiffe zurückgedrängt, doch dort hatte sich der Widerstand versteift. Gefallene beider Seiten zeugten von der Bitterkeit, mit der dieser ausgeglichene Kampf geführt wurde.

Während Ulgacha den Wagen den steilen Hang hinunter jagte, erhaschte Medbh einen Blick auf ihren Bruder, der seinen Mann stand, aber hoffnungslos zwischen den Kämpfenden eingekeilt war. Die Formation der disziplinierten Speerkämpfer hielt seinen Angriffen stand, und es war eine Frage der Zeit, bis die Coughnacht ermüdeten.

Die Prinzessin stutzte, als sie den hünenhafter Krieger sah, der die feindliche Schar befehligte. Nicht nur seine Rüstung und sein Helm glichen dem Anführer, den sie vor Bal Dochlan mit Eilleans Hilfe zu Fall gebracht hatte, auch sein Gesicht sah dem des besiegten Feindes verblüffend ähnlich. „Egal“, knurrte Medbh. „Ich kann dich auch zweimal erschlagen, wenn das der Wille der Wölfin ist.“

Besonders der Schild des Fremden erregte ihre Aufmerksamkeit. Holz- und Lederschilde krachten dumpf, wenn sie Klingen oder Speerspitzen abfingen, doch dieser gab helle Töne von sich, wenn die Äxte auf ihn trafen. Das verunsicherte Dommaghs Kämpfer, und so hatte der Fremde mehr Spielraum, als gut war. Zu ihrem Bedauern gab es keinen Weg, den Hünen direkt anzugreifen, und so wies sie Ulgacha an die linke Flanke, wo die Kämpfenden knöcheltief in den anbrandenden Wellen standen.

Die Wagenlenkerin kannte das Terrain und vertraute dem kiesigen Untergrund, während sie den Schildwall der Fremden flankierte. Gischt spritzte hoch, und kaltes Wasser schlug gegen ihre erhitzten Leiber, als der Wagen schlingerte, doch dann waren sie hinter der Front. Eillean und die Rothaarige sprangen ab und fielen den äußersten Kämpfern in den Rücken. Das brachte die feindliche Linie ins Wanken, und sobald ihre Formation bräche, mussten die Axtkämpfer obsiegen.

Medbhs Wurfspeere erwischten die Feinde von hinten und brachten zwei zu Fall. Das beschleunigte den Zusammenbruch der Flanke, doch sie selbst sprang erst im Zentrum der Linie vom Wagen, wo der Anführer der Sklavenjäger sie bereits erwartete. Er kam ihr gemessenen Schrittes entgegen, doch sein Schild war erhoben, und seine Haltung zeugte von gespannter Wachsamkeit. Das war ein gefährlicher Gegner, doch Medbh musste ihn bezwingen, ehe Dommaghs Krieger ermüdeten. Außerdem ließ ihre verletzte Schulter einen Zermürbungskampf gar nicht mehr zu. Sie fasste den Speer mit beiden Händen, rannte los und rammte die Waffe mit voller Wucht gegen seine Mitte. Wohl hob er seinen Schild, doch den würde sie ihm mit ihrem Stoß an die Brust nageln.

Sie taumelte, als Fangzahn mit einem schaurigen Ton abprallte. Die Wucht prellte ihr den Schaft aus der Hand, doch sie hatte nur Augen für sein siegessicheres Lächeln, während sein Schwert auf sie herabfuhr. Wie aus dem Nichts kniete Ulgacha über ihr und fing den Hieb mit erhobenem Schild ab. Sie riss Medbh zurück und hoch, parierte einen zweiten Schlag des Fremden, der ihre Wehr zertrümmerte.

„Geh!“, rief die Kriegerprinzessin und stieß die tapfere Wagenlenkerin zur Seite, ehe der Fremde den tödlichen Streich gegen sie führte. Seine überhebliche Zuversicht wich einer wütenden Fratze, als ihm auch sein zweites Opfer entschlüpfte. Während Medbh den Griff ihrer Streitaxt packte, überlegte sie, wie der Mann ihrem Angriff standgehalten hatte. Magie? Wohl kaum. Ihr Stoß hatte eine Furche an seinem Schild hinterlassen, metallisch schimmernd und deutlich heller, als die dunkle Bronze der Coughnacht.

Sie wich seinem Schwert aus, das denselben lichten Schimmer zeigte. Eisen?! Göttin, welch ein Frevel. Wie kann er es wagen? Die Wut über seine ruchlosen Waffen ließ sie jegliche Vorsicht vergessen. Sie schlug eine Finte, und er parierte, doch Medbh änderte den Schwung ihre Axt und verhakte das herabgezogene Blatt im Rand seines Schildes. Sie legte die zweite Hand an den Stiel und ließ sich zurückfallen. Er stürzte über sie hinweg, schlug hart auf und verlor dabei seinen Schild. Sie rollte unter ihm weg, nahm ihren Speer auf und war über ihm, ehe er begriff, was geschah. Sie setzte zum Todesstoß an, doch etwas in seinen geweiteten Augen berührte sie, ließ sie zögern.

Ein dumpfer Schlag traf ihren Oberschenkel. Sie zuckte herum, doch zwischen ihr und dem fremden Schiff war niemand. Dann sah sie zu ihrem Bein hinab, aus dem ein lächerlich dünner Stock ragte, mit bunten Federn am Ende. Ihr Gegner war noch am Boden, schob sich aus ihrer Reichweite, so rasch er konnte und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Da wusste Medbh, dass sie ihn töten musste, wenn sie Frieden haben wollte. Sie hob Fangzahn zum tödlichen Stoß, doch als sie nachsetzte, knickte sie ein und brach in die Knie.

„Aaah!“ Sie brüllte ihren Zorn hinaus, doch mehr konnte sie nicht tun. Sie kannte die Waffe nicht, die ihr das antat, die ihr mit so einer winzigen Verletzung alle Kraft raubte. Links und rechts von ihr rannten die Fremden um ihr Leben ohne sie zu beachten, verfolgt von den wenigen Coughnacht, die noch die Kraft dazu hatten. Einer taumelte und fiel, und ein anderer schrie auf und hielt inne, als auch sie von den seltsamen Stöcken getroffen wurden.

„Zurück!“, brüllte Dommagh durch den Tumult, und dann spürte sie seine kräftigen Arme, die sie aus der Reichweite der feigen Angreifer schleiften.

„Geh!“, rief Medbh dem Eisenmann hinterher, der taumelnd auf die Beine kam und von zwei Kameraden gedeckt zu seinem Schiff hastete. „Geh und komm nicht wieder! Sonst wird dich die Göttin richten!“

* * *

„Maeve! Kommst du bitte?“, rief Ari aus dem Fenster.

„Gleich Mama!“, antwortete sie, steckte das verrottete Metall in ihr Tuch und lief vor das Haus.

Jemand kam vom Dorf herauf, und bald erkannte sie Ryan Doherty, dem das Pub gehörte. Der untersetzte Mann war nicht sonderlich groß, aber kräftiger, als man ihm auf Grund seines Bäuchleins zutraute. Die roten Haare flammten im Sonnenlicht und seine grauen Augen versprühten Tatkraft und Entschlossenheit. „Ist Ari da?!“, rief er schon von weitem.

Maeve nickte und wies auf das Haus. „Ich sag Mama Bescheid!“, rief sie und huschte zur Türe hinein. „Ryan kommt“, kündigte sie an und wollte wieder gehen, doch Ari rief sie zurück.

„Du solltest zuhören“, bot sie an. „Es wird Zeit, dass du mehr lernst, als das Wissen über die Kräuter.“ Gemeinsam traten sie ins Freie, Ari setzte sich auf die Bank vor der Kate, und Maeve hockte sich daneben ins Gras.

„Guten Morgen“, grüßte Ryan.

Ari wies neben sich. „Nimm Platz. Was führt dich her?“

Ein Schatten huschte über das Gesicht des Mannes. „Patrick ist krank“, sagte er. „Er kriegt kaum Luft und das Atmen tut ihm weh. Ellie lässt fragen, ob du einen Wickel für ihn hast und einen Tee.“

Ari schloss die Augen, rief sich das Bild des aufgeweckten Buben ins Gedächtnis und spürte in seinen Körper hinein. „Das sehen wir uns besser selbst an“, sagte sie zu Ryan. „Ich packe nur ein paar Sachen zusammen.“

Der Weg zum Dorf führte über feuchte Wiesen, die für wenig mehr taugten als für die Schafe, doch sie bargen Blumen und Kräuter, die auf trockeneren Böden nicht gedeihen wollten.

„Die schlucken uns jetzt“, sagte Ryan Doherty unvermutet. Das Mädchen horchte neugierig auf, doch da Ari nicht auf seine Bemerkung einging, musste sie sich gedulden.

„Ein vereinigtes Königreich“, ließ er sie nicht lange warten. „So ein Scheiß. Die setzen uns ihre Herrenhäuser vor die Nasen, beuten uns aus, lassen uns bluten und verhungern, und dafür sollen wir ihnen in den Arsch kriechen? Irland bleibt Irland. Die Engländer werden uns nie respektieren – und wir sie auch nicht.“

„Was willst du tun?“, fragte Ari, nachdem sein Redeschwall versiegt war, doch Ryan brummelte nur in seinen roten Bart.

„Dacht ich mir“, sagte sie. „Denk daran, was beim letzten Mal herausgekommen ist. Außerdem sind wir fast da, und du solltest dein Maul halten, wenn du nicht weißt, wer sonst noch zuhört.“

Bei diesem Wetter herrschte reges Treiben auf der Dorfstraße. Die Menschen grüßten Ryan, doch mehr als einer übersah die Frau und das Mädchen an seiner Seite geflissentlich.

„Du wartest hier“, wies Ari ihn an und stieg mit Maeve die Außentreppe empor, die in den ersten Stock des Pubs führte, über dem die Dohertys wohnten.

„Ellie?“, kündigte sie sich an, als sie in die Stube traten.

„Gut, dass du kommst“, hörte sie Ellie Dohertys klare Stimme, während sich Aris Augen an das schummrige Licht gewöhnten. „Er sagt, es geht ihm gut, aber das Atmen fällt ihm schwer, und er fiebert.“ Mit ihren blonden Haaren und dem herzförmigen Gesicht war Ellie eine der hübschesten Frauen im Dorf, doch heute war ihre Miene von Sorge gezeichnet. „Ich habe Angst“, flüsterte sie, als sie der Kräuterfrau Platz machte.

Ari hob die Decke an und legte ihre Hand auf die Brust des Fünfjährigen. Der Junge schlug die Augen auf und sah sie an. „Es tut weh“, sagte er leise.

„Das wird wieder“, sagte Ari. „Aber du musst ein paar Tage im Bett bleiben, und du wirst ordentlich schwitzen. Maeve, schau mir zu, wie ich den Wickel gegen das Fieber anlege.“

„Wird er gesund?“, fragte Ellie besorgt, und Ari nickte beruhigend.

„Komm her“, sagte sie zu Maeve, als sie fertig war. „Leg jetzt deine Hand auf Patricks Brust. Genau hier. Konzentrier dich auf ihn, und sag mir, was du spürst.“

„Es sticht“, sagte das Mädchen überrascht. „Hinter dem Brustbein und rechts davon.“

„Sehr gut“, sagte Ari. „Jetzt denk ganz stark daran, dass du ihm helfen möchtest. Stell dir vor, der Schmerz geht weg, und Patrick wird wieder gesund.“

Maeve biss die Zähne zusammen und nickte tapfer. „Ich wünsch mir, dass es nicht mehr wehtut.“

„Gut gemacht“, lobte ihre Mutter, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du hast Patrick sehr geholfen. Jetzt zeigst du Ellie noch, wie sie den Tee richtig aufgießt, und dann gehst du nach draußen und spielst mit Eileen und den anderen. Ich schau noch in den Pub und sag Ryan Bescheid.“

Lächelnd sah sie dem Kind nach, das aus der Türe huschte.

* * *

Maeve folgte dem Lärm der lachenden Kinder und bog hinter das Haus. Eileen, ein blondes Mädchen, das ihre Mutter nicht verleugnen konnte, sah auf und lief ihr entgegen, und ein Junge mit kurzen braunen Haaren folgte ihr zögerlich. „Wie geht’s ihm?!“, rief sie schon von weitem. „Wird er gesund?“

„Ich glaub schon“, gab Maeve Bescheid. „Hat zumindest Mama gesagt.“

„Danke“, sagte Eileen. „Meine Mama hat sich wirklich Sorgen gemacht. Kennst du Tom? Tom O’Cleary?“ Sie winkte den Burschen herbei. „Komm schon. Hab dich nicht so.“

Ein älterer Bursch kam neugierig herbei, rümpfte aber die Nase, als er Maeve erkannte. „Was gebt ihr euch mit dem Feenbalg ab?“, rief er herüber. „Kommt lieber wieder spielen.“

„Gleich!“, antwortete Eileen. „Moment noch!“

Sie ging dem schwarzhaarigen Mädchen entgegen, das unsicher zu Boden sah. „Lass Seamus reden“, sagte sie. „Der kommt sich gut vor, wenn er über andere lästert. „Komm schon Tom. Hab dich nicht so.“

Der Junge zögerte und musterte Maeve von Kopf bis Fuß, als sähe er sie zum ersten Mal. Das blonde Mädchen nahm seinen Arm, zog ihn heran und gab ihm einen Schubs.

„Bist du wirklich ein Feenbalg?“, stieß er hervor, und schlug sich die Hand vor den Mund, als Maeve zusammenzuckte. Sie wandte sich traurig ab und wollte gehen, doch Eileen hielt sie zurück. „Ist doch egal, was die Erwachsenen sagen. Ich find das toll, was ihr könnt, du und deine Mama.“

Tom sah Maeve noch einmal an, fasste nach ihren pechschwarzen Haaren, zögerte aber, bis sie ihn ermutigte. „Nicht anders, als anderes Haar“, stellte er fest und griff danach Eileen an den Kopf. „Und trotzdem irgendwie feiner“, befand er, und damit war das Thema beendet. „Spielen wir verstecken?“

* * *

„Setz dich“, sagte Ryan Doherty, als Ari den noch leeren Pub betrat. „Ein Bier? Geht aufs Haus. Oder willst du etwas Stärkeres? Wie geht’s meinem Jungen?“

„Der wird wieder, wenn er ein paar Tage im Bett bleibt. Bei deiner Ellie ist er in guten Händen.“ Ari setzte sich an den Tresen und fixierte den Kneipenwirt, bis er unruhig wurde. „Womit verdiene ich deine plötzliche Freundlichkeit?“, erkundigte sie sich.

„Mir ist klar, dass es um meinen Jungen nicht gut gestanden hat, und ich bin dir dankbar. Nichts für ungut, Ari, aber jeder im Dorf weiß, dass deine Maeve ein Wechselbalg ist – und du bist das ja auch, wenn wir ehrlich sind.“ Er stockte, als die Heilerin abrupt aufstand und fuhr eilig fort. „Warte, so hab ich’s nicht gemeint. Ich danke Gott dafür, dass es so ist, und das sollten die anderen verdammt nochmal auch tun.“

„Halt deinen Gott da raus“, zischte Ari. „Mehr als einmal hat Pater Jeremiah von der Kanzel gepredigt, jeder, der sich mit mir einließe, sei des Teufels. Glaubst du, das bekäme ich nicht mit, nur weil ich nicht in seine Kirche gehe? Verbrannt hätte er mich, wenn er gekonnt hätte.“

„Konnte er nicht, weil Hexen nicht mehr verbrannt werden dürfen“, sagte Ryan und nahm einen tüchtigen Schluck.

„Was er zutiefst bedauert hat“, flüsterte Ari bitter.

„Pater Jeremiah ist tot“, beschwichtigte Ryan. „Gott hab ihn selig. Pater O’Neill, der Neue, ist in unserem Alter. Er wirkt auf mich viel aufgeschlossener – und er sagt, es gäbe gar keine Hexen.“ Er schlug ein Kreuzzeichen, ehe er fortfuhr. „Wenn du möchtest, rede ich mit ihm, wenn er nächsten Sonntag von Ballysadare herüber kommt.“

Langsam füllte sich der Pub, und mehr als Einer musterte Ari scheel, doch Ryan bezog sie wie selbstverständlich in die Gespräche ein, und nach dem ersten Bier nahm kaum noch einer Notiz. Dough O’Cleary, ein kräftiger Bauer um die Dreißig mit dunkelbraunem Haar und ebensolchen Augen griff zu Gitarre, stimmte eine beschwingte Weise an, in dessen Refrain die Meisten einfielen und dabei die Mühsal des Tages vergaßen.

Ein wenig später kam Ellie Doherty herunter. Sie schob sich durch die Menschen, begrüßte sie, und dann umarmte sie Ari. „Patrick schläft jetzt!“, sagte sie so vernehmlich, dass sie alle Blicke auf sich zog. „Es geht ihm gut, dank dir und deiner Maeve! Hat jeder was er braucht?!“, rief sie in die Menge, und lächelte dabei in die Runde, wie nur sie das konnte.

Ryan langte über den Tresen, zog sie an sich und küsste sie. „Du bist die Beste.“ Sie lachte, entschlüpfte seinem Griff und räumte die leeren Krüge von den Tischen.

„Und wir werden jetzt alle brave englische Untertanen“, schnitt Ryan sein Lieblingsthema an, während er die Krüge trocken rieb. „God Save The King! Ist gerademal zwei Jahre her, dass sie unsere Jungs erschossen haben. Ich frag mich, ob wir uns zukünftig selbst auf den Kopf scheißen dürfen.“

„Ist mir doch gleich, wem ich die Pacht und die Steuern zahle“, sagte Shane, der das karge Land östlich des Dorfs bewirtschaftete, doch er stieß damit auf erbitterten Widerspruch. „Was wollt ihr denn machen?!“, rief er schließlich in die hitzige Debatte.

„Ich sag dir, was ich machen will“, antwortete Ryan. „Die Franzosen haben ihren König um einen Kopf kürzer gemacht und seine Speichellecker gleich mit.“

„Und was haben sie davon außer Krieg?“, wandte Dough O’Cleary ein. „Die können nicht gegen ganz Europa gewinnen. Hat dir das Blutbad vor zwei Jahren nicht gereicht? ‚Wir befreien euch‘, haben sie gesagt und wir haben ihnen geglaubt. Die Franzosen haben sich wieder dünne gemacht, und unsere Jungs baumelten am Galgen.“

„Wir stehen auf der falschen Seite, sag ich euch“, beharrte der Wirt. „Dieser Naplon hat die Österreicher geschlagen, und die Franzosen kommen wieder, wenn sie erst sehen, dass wir uns wehren. Wir sollten nach Sligo gehen und die Englischen hinausprügeln.“

„Beim letzten Mal hast du deinen Bruder Kyle verloren und ich meine Saoirse“, sagte Dough mit plötzlichem Schwermut. „Ich hab die Schnauze voll. Ich such jetzt meinen Tom und geh heim.“

„Ich hab dir gesagt, halt dein Maul“, sagte Ari zu Ryan, trank aus und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Trotzdem danke fürs Bier. Ellie, gib mir Bescheid, falls es Patrick schlechter geht.“

„Dieser Vollidiot“, schimpfte Dough, als er auf der Straße stand und sich nach seinem Sohn umsah. „Reicht es nicht, wenn wir unsere Kartoffeln und unsere Gerste anbauen und abends unser Bier trinken?“

„Es ist Wut in seinem Herz“, sagte Ari. „Er sucht Gerechtigkeit, doch die wird er im Zorn nicht finden. Ich frage mich, ob er das irgendwann versteht. Maeve! Wo steckst du?! Wir gehen heim!“

„Hallo Mama!“, rief das Mädchen, als es um die Ecke schoss. „Das ist Tom“, keuchte sie und zeigte auf den Jungen, der hinter ihr lief. „Eileen kennst du ja.“

„Tom kenne ich auch“, lachte Ari. „Ich hab bei seiner Geburt geholfen. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, sagte Dough und hielt ihre Hand etwas zu lange, bis sie sie jäh zurückzog.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Maeve, als sie in der Abenddämmerung über die Wiesen marschierten.

„Ja, alles bestens“, antwortete ihre Mutter. „Wenn du möchtest, kannst du jetzt öfter ins Dorf gehen und mit den Anderen spielen, wenn du deine Arbeit erledigt hast.“

* * *

„Du bist schnell“, keuchte Eileen, als sie sich neben Maeve und Tom ins Gras fallen ließ. „Ich finde das schön, dass du jetzt mit uns spielen darfst.“

„Ich auch“, befand Tom. „Der Sommer macht mit dir viel mehr Spaß. Willst du heute bei uns zu Hause schlafen?“

Maeve schüttelte den Kopf. „Manchmal fürchte ich mich noch im Dorf“, sagte sie.

Die anderen sahen sie überrascht an.

„Ihr habt mich an den Haaren gezogen und Erde nach mir geworfen. Die Erwachsenen haben mich angespuckt oder mit ihrer Faust bedroht“, brach es aus ihr heraus. „Glaubt ihr, es ist schön, als Feenbalg beschimpft zu werden? Alle haben mich ausgelacht und beschimpft, und manche tun es noch. Dieser Seamus ist am schlimmsten.“

„Das tut mir leid“, sagte Eileen und legte ihren Arm um Maeves Schultern. „Ehrlich. Und Seamus ist sowieso ein Idiot. Du hast meinen kleinen Bruder gerettet. Das vergess ich dir nie.“

„Meine Mama hat ihm geholfen“, wehrte Maeve ab. „Ich hab nur zugesehen.“

„Patrick erzählt da was anderes“, beharrte Eileen. „Er sagt, seine Brust wär ganz heiß geworden, als du deine Hand draufgelegt hast, und dann hätt er wieder Luft gekriegt.“

„Manchmal wünschte ich mir, ich hätte einen Bruder oder eine Schwester“, sagte Tom nachdenklich. „Aber Mama ist tot, und Papa weint manchmal, wenn er glaubt, ich schlafe schon.“

„Ich hab auch keine Geschwister“, sagte Maeve. „Aber Mama und ich kommen gut zurecht. Trotzdem würde mir ein kleines Brüderchen gefallen. Da hast du Glück, Eileen.“

„Wo ist dein Papa?“, erkundigte sich Eileen.

„Weiß ich nicht“, sagte Maeve. „Ich glaub, ich hab gar keinen.“

„Jeder hat einen Papa“, beharrte das blonde Mädchen.

„Vielleicht wirst du ja bald meine Schwester“, sagte Tom, und seine Miene hellte sich auf. „Ich würd mich freuen.“ Er bemerkte Maeves verwunderten Blick. „Ist dir noch nie aufgefallen, wie mein Papa deine Mama anschaut? Das sieht doch ein Blinder.“

„Wo hast du den Spruch denn her?“, erkundigte sich Eileen schnippisch.

„Von deiner Mama“, trumpfte der Junge auf. „Die hat’s deinem Dad erzählt, und der hat gelacht.“

„Ich weiß nicht“, warf Maeve schüchtern ein. „Ich könnt mir das schon vorstellen, dich als Bruder, aber ich glaub, Mama ist lieber alleine.“

Die Kinder lagen im Gras, sahen den ziehenden Wolken nach und lauschten dem Lied der Grillen. Vieles ging Maeve durch den Kopf. Das Krachen der Äxte mischte sich in den rauen Ton der Kriegspfeifen und die Schreie der Kämpfenden. Ein Rabe krächzte, und als sie sich nach ihm umwandte, stand sie plötzlich in einem Kreis heiliger Steine. Eine junge Priesterin kniete vor dem Zentralstein und richtete ein Opfer aus geflochtenen Kräutern. Ihr blondes Haar schimmerte im Sonnenlicht, als sie den Kopf hob und Maeve geradewegs in die Augen sah.

* * *

„Schau!“, rief Tom. „Ist das riesig!“

Maeve öffnete die Augen, und der Tagtraum zerstob. Ein Schiff lief mit halben Segeln in die Bucht. „Ist das ein Engländer?“, erkundigte sie sich.

Tom nickte. „Siehst du die Flagge ganz hinten? Das rote Balkenkreuz auf dem weißen Grund? Und das blaue Rechteck mit dem doppelten roten Kreuz ist unsere neue Fahne.“

„Deren Fahne“, widersprach Eileen. „Wir sind Iren.“

„Siehst du den hellen Streifen mit den Luken?“, fuhr Tom unbeirrt fort. „Hinter jeder einzelnen ist eine Kanone, und der hat ….“ Sein Finger huschte durch die Luft. „Sechzehn nur auf dieser Seite und nochmal zehn am Deck.“

„Wo der wohl hinwill?“, fragte Maeve, doch Ballysadare war sowieso der einzige Hafen, der für ein so großes Schiff geeignet war.

„Die wollen uns zeigen, wie stark sie sind“, sagte Eileen und spie angewidert aus, wie sie das von ihrem Vater kannte, sobald das Gespräch auf die Engländer kam. „Und die Frage lautet: Was wollen sie von uns?“ Sie sprang auf. „Kommt mit. Ich sag Papa Bescheid. Vielleicht müssen wir uns verstecken.“

* * *

Eilig brachten sie Raum zwischen sich und die Schiffe. Medbh musste sich schwerer auf ihren Bruder stützen, als ihr lieb war, und jeder Schritt bereitete ihr Schmerzen. Ulgacha kam mit dem Wagen und zog sie mit Dommaghs Hilfe auf die Plattform. Als sie außerhalb der Reichweite der seltsamen Waffen waren, hielten sie an, sahen zurück und sammelten die zurückflutenden Krieger.

„Verdammte Feiglinge!“, schimpfte Medbh. „Wir hatten sie beinahe!“ Sie musterte die abgekämpften Coughnacht und sah zu Dommagh, doch der schüttelte den Kopf und deutete zur Anhöhe hinauf. Widerwillig gestand sie sich ein, dass ihnen die Kraft für den entscheidenden Sturm fehlte.

„Ich hasse das!“, rief sie, während die Wölfe den Kriegswagen über den Anstieg zogen. Die Männer, die in der Nähe waren, drehten sich zu ihr um.

„Was ist?“, erkundigte sich Eillean mit jäher Besorgnis. „Ist was passiert?“

„Natürlich ist was passiert“, schimpfte Medbh jetzt deutlich leiser. „Sie entkommen, weil ich versagt habe.“

„Du hast nicht versagt“, beruhigte Dommagh. „Wir haben einen großen Sieg errungen.“

Eillean stimmte ihm zu: „Du hast den Überfall verhindert, und deren Verluste sind mindestens dreimal so groß wie unsere. Was willst du noch.“

„Sie sind entkommen“, knurrte Medbh. „Und sie werden wieder kommen. Ich hätte das Schwein abstechen sollen, als ich die Gelegenheit hatte.“

„Es war ein Sieg“, wiederholte Dommagh. „Dein Sieg. Das wird dich weiterbringen.“

„Inwiefern weiterbringen?“

„In der Nachfolge“, antwortete er. „Du hast heute ganze Arbeit geleistet. Die Leute bewundern dich. Sie vertrauen dir, und sie folgen dir.“

„Blödsinn“, sagte sie. „Du folgst unserem Vater, und was Anderes würde er nie zulassen. Ich trete doch nicht gegen meinen eigenen Bruder an.“

„Halbbruder“, korrigierte er. „Mir ist heute vieles klar geworden. Ich fühle mich wohl, wenn ich mit meinen Männer kämpfe, aber an deine Gabe werde ich nie herankommen.“

„Welche Gabe?“, fragte sie irritiert. „Was meinst du?“

Sie erreichten die Anhöhe und Dommagh hielt an. „Du weißt es gar nicht“, stellte er überrascht fest. „Hast du es nicht bemerkt? Ich habe gegen sie gekämpft, Mann gegen Mann. Wir sind stärker, aber sie sind besser ausgerüstet als wir, und sie wissen genau, was sie tun. Das sind professionelle Söldner, die uns von Anfang an überlegen waren, aber du ….“

„Auh!“ Der Rest seines Satzes ging in einem jähen Schmerz unter, und Medbh knickte weg.

„Schon fertig“, sagte Eibrin und hielt das Stöckchen in die Höhe, dessen blutige Spitze metallisch schimmerte. „Ich muss die Wunde nur noch säubern und verbinden.“

„Aber du hast sie besiegt“, fuhr Dommagh unbeirrt fort. „Es war, als wüsstest du über jede Bewegung, jeden möglichen Zug des Gegners Bescheid. Ich kann so etwas nicht, niemand von uns kann das. Also ist es recht und billig, wenn du Vater auf den Thron folgst, und es wäre gut, wenn er das einsieht.“

„Da geht noch eher die Sonne im Westen auf“, brummte sie. „Außerdem will ich das gar nicht.“

„Denk darüber nach“, sagte ihr Bruder. „Ich bin ein Krieger, aber die Coughnacht brauchen mehr als das: Sie brauchen einen Anführer. Sie brauchen dich.“

Sie setze gerade zu einer Entgegnung an, als sie bei den Schiffen eine Bewegung bemerkte. Drei Männer stiegen den Hang herauf. Medbh winkte die Männer zurück, die sich auf die Fremden stürzen wollten und erwartete sie. Zwei waren schwarzhaarig und bärtig, in lose Gewänder gehüllt, während der Dritte die Stammesfarben der Cuil-Ceannacht trug, und sie waren allesamt unbewaffnet. Einer der Fremden war schmächtig und trug einen weißen Fetzen vor sich her, dem er eine Bedeutung zumaß, die sich Medbh nicht erschließen wollte. Der andere war unzweifelhaft der Eisenmann, dem sie beinahe unterlegen war.

Die Cuil-Ceannacht lebten südlich der Bucht und standen seit Generationen in einem rivalisierenden, aber respektvollen Konflikt mit den Coughnacht, der sich alle paar Jahre in heftigen Scharmützeln entlud. Dommagh äußerte einen bösen Verdacht. „Glaubst du, die machen gemeinsame Sache?“, flüsterte er, doch Medbh wollte nicht daran glauben und schüttelte energisch den Kopf. „Sie könnten sich unser mit Hilfe der Söldner ein für alle Mal entledigen“, insistierte er, doch sie weigerte sich, darauf auch nur einzugehen.

„Was wollt ihr?!“, rief sie, als der Fremde und seine Begleiter auf zwanzig Schritte heran waren. Er musterte sie mit wachem Interesse, ehe sein Blick über Dommagh zu Eillean wanderte, einen Moment an ihrer Blöße verharrte und sich wieder auf Medbh heftete.

„Das Askarion“, rief der Schmächtige mit einem grauenhaften Akzent und deutete auf seinen stattlichen Begleiter. „Wir handeln wollen.“ Er hielt sein weißes Tuch hoch und fuchtelte damit herum. „Du Frieden halten?“

„Ich kaufe nichts von Mördern!“, gab Medbh Bescheid. „Geht, ehe ich euch töte.“

„Sie wollen nicht handeln sondern verhandeln“, kam der Ceannacht zu Hilfe.

„Was hast du mit denen zu schaffen?“, sagte sie schroff.

„Ich heiße Torwingh, und ich bin ihr Gefangener“, versicherte er hastig, ehe der Eisenmann ihn wütend unterbrach, und sich die Unterhaltung von dem Schmächtigen übersetzen ließ. Dabei sah er des Öfteren zu ihr herüber, und in seinem Blick lag eine Mischung aus Respekt und unverhohlener Feindschaft.

Als sie fertig waren, wandte sich der Dolmetscher wieder an Medbh und Dommagh. „Wieviel habt gefangen ihr?“, radebrechte er.

Sie legte Daumen und Zeigefinger zu einem Ring aneinander und beschied ihm so auf unhöfliche Weise, dass ihn das nichts anginge, doch er erbleichte.

„Kein?“, stammelte er. „Kein Einzige?“

Das Missverständnis erheiterte Medbh so sehr, dass sie lachen musste, was den Mann noch mehr erschütterte. „Wir haben Gefangene, aber ich sag dir sicher nicht wie viele“, klärte sie ihn auf, und er besprach sich mit seinem Anführer.

„Mein Bruder?“, erkundigte sich der Eisenmann mit unbeholfener Zunge, nachdem er beim Schmächtigen die Worte erfragt hatte, und verlor dabei erstmals seinen Ausdruck überlegener Entschlossenheit.

„Dein Bruder hat mir das hier verpasst“, sagte Medbh und griff nach dem durchgebluteten Verband an ihrer Schulter. „Er ist als tapferer Mann gestorben.“

Der Mann schluckte, als ihm ihre Worte übersetzt wurden, fing sich wieder und kam zum Kern der Verhandlungen. „Wir wollen unsere Männer und unsere Toten“, lautete seine Forderung. „Jeden Einzelnen.“

„Wofür?“, erkundigte sich Medbh, bemüht, sich weder ihr Misstrauen noch ihre Irritation anmerken zu lassen. Der Fremde hatte nichts anzubieten, was seinem Ansinnen Nachdruck verleihen könnte, doch sein Auftreten war alles andere als unsicher.

„Euer Dorf ist nicht das erste, das wir angegriffen haben“, ließ er ausrichten. „Wir haben dreiundzwanzig Krieger, an die sechzig Frauen und noch einmal so viele Kinder eures Stammes auf unseren Schiffen. Dieser hier kann das bezeugen.“

Medbh setzte zu einer höhnischen Entgegnung an, doch der flehentliche Blick des Ceannacht ließ sie zögern. Sie überschlug die Lage und begriff, was vor sich ging. Torwingh hatte seine Peiniger eine dreiste Lüge aufgetischt und riskierte viel dabei, doch er tat das für seinen Stamm – oder das, was noch davon übrig war. Falls sie auf sein gewagtes Spiel nicht einging, drohte seinem Volk ein Leben in Sklaverei.

„Siebzehn Gefangene“, beschied sie dem Schmächtigen. „Die meisten davon werden ihre Verletzungen überstehen.“ Ihre Geste hielt Dommagh und Eillean im Zaum, denen sie ihre Überlegungen jetzt nicht erklären konnte. „Ich gehe auf den Austausch ein.“

„Siebzehn gegen hundertvierzig? Das ist ein schlechtes Geschäft“, lautete die Antwort. „Messt ihr dem Leben eurer Leute so wenig Wert bei? In diesem Fall wollen wir alle unsere Waffen dazu. Speere, Schilde, Schwerter und Äxte und alle Rüstungen.“

„Das werde ich nicht alleine entscheiden“, sagte Medbh. „Wir geben euch Bescheid.“

Der Fremde nickte bedächtig. In seinen Augen lag dasselbe Flehen, das sie eine Stunde zuvor vom tödlichen Stoß abgehalten hatte, doch diesmal löste es ein jähes Begehren in ihr aus. Ihr Blick folgte ihm, als er sich umwandte und mit ebenso geschmeidigen wie kraftvollen Schritten zur Küste hinabstieg. Seine braune Haut schimmerte in der Sonne, war glatter als jene der Coughnacht, fast wie jene Eilleans oder Eibrins, begehrenswert und verlockend. Sie entzog sich seinem unterschwelligen Bann, wandte sich ab und winkte Eibrin und Brynswick herbei.

„Was soll das?“, ereiferte sich Dommagh, als die Fremden außer Hörweite waren. „Der Handel brächte uns um alle Kriegsbeute. Was scheren uns die Ceannacht?“

Eillean stieß ins selbe Horn. „Wir könnten sie vertreiben, jetzt, wo sie geschwächt sind. Dann hätten wir ein für alle Mal Ruhe vor ihnen.“

„Noch tragen wir die Runen des Kampfes, Schwester, und die Erregung tobt in uns, doch das darf unseren Verstand nicht trüben“, entgegnete Medbh. „Die Ceannacht sind ein vertrauter Feind, sie sind von unserem Volk und glauben an dieselbe Göttin wie wir. Mich erschreckt der neue, der unbekannte Gegner. Wir wissen nichts über sie, aber es liegt Gier in ihren Augen.“

Skryr krächzte von einer nahen Buche herab, und es klang wie eine Zustimmung. Eibrin legte ihre Hand auf Medbhs Arm und schloss die Augen. „Die Weisheit der Göttin spricht aus dir. Auf uns gestellt und alleine können wir den Fremden nicht lange widerstehen.“

„Dem stimme ich zu“, sagte Brynswick bedächtig. Mit seinen fast vierzig Jahren war er doppelt so alt, wie Dommagh und die Frauen, ein Veteran vieler Kämpfe und ein erfahrener Anführer. „Heute hatten wir Glück.“ Eillean wollte aufbegehren und Dommagh setzte zu einer Entgegnung an, doch der Alte fuhr fort: „Wir hatten Glück, dass Medbh uns geführt hat, da stimme ich mit euch überein. Warum sollten wir ihr jetzt nicht mehr vertrauen?“

* * *

Medbh ließ sich aus der Rüstung helfen, zog ein einfaches Leinenhemd über und ging zum Strand hinunter. Eillean und Dommagh begleiteten sie mit wenigen Kriegern, um ihr notfalls beizustehen, und Eibrin schloss sich ihnen an, da sie die Schiffe der Fremden aus der Nähe sehen wollte.

Askarion kam ihr mit dem Dolmetscher entgegen und lächelte, als sie dem Handel zustimmte. „Den Rest erledigen meine Männer“, sagte er und deutete auf ein Zelt aus hellem Leinen. „Das dauert Stunden, ehe der Austausch abgewickelt ist. Ich habe für euch eine Erfrischung vorbereitet und Geschenke, die unseren guten Willen bezeugen.“

Obwohl er ihr in der Schlacht größer vorgekommen war, überragte er sie nur unwesentlich, war in den Schultern aber deutlich breiter als sie. Sie suchte nach Anzeichen eines Verrats in seinen Zügen, doch sie fand sie nichts als kompromissloses Begehren, das unzweifelhaft ihr galt – und in ihr einen ebenso heftigen wie unerwarteten Widerhall hervorrief. Seine Haut schimmerte, und sein Bart war sorgsam geschnitten, als hätte er jedes Haar einzeln auf die richtige Länge gestutzt. Unter den dichten Brauen blitzten seine Augen wie dunkle Brunnen zwischen langen, geschwungenen Wimpern hervor, und sein Lächeln enthüllte makellose Zähne.

„Dommagh, kannst du den Austausch beaufsichtigen?“, appellierte sie. „Die Leiche seines Bruders bekommen sie zuletzt, wenn alles andere erledigt ist.“

Er nickte, brummte etwas Unverständliches und trollte sich.

Medbh wandte sich an Eillean und die Priesterin und küsste sie nacheinander. „Bleibt in der Nähe“ bat sie.

Ein hintergründiges Lächeln huschte über Eibrins Gesicht, als sie Medbhs bebende Lippen spürte. „Gehorche der Göttin, wo immer sie dir begegnet“, flüsterte sie, während sie ihre Wange streichelte. „Wo steht dein Mond?“

„Keine Gefahr“, versicherte Medbh und folgte Askarion in das Zelt.

Helle Decken und weiche Kissen beanspruchten einen Gutteil des Inneren. Auf einem niederen Tisch standen Schalen mit Früchten, die Medbh nicht kannte. Rechtecke mit intensiven Farben und verwirrenden Mustern lagen am Boden, erinnerten sie entfernt an die bedruckten Stoffe, die ihr Stamm neuerdings aus dem Osten einführte, und waren doch ungleich feiner und kunstvoller gefertigt. Verschiedenste Gerüche schmeichelten ihrer Nase und betäubten zugleich ihren Verstand, während ihr Begehren jeglicher Kontrolle entglitt.

Er löste eine Kordel an seinem Gewand, und ließ es zu Boden gleiten. Verwundert bemerkte sie, dass er, bis auf das Dreieck über seinem Glied, kaum Haare am Körper hatte, so wie sie das nur von den Jünglingen der Coughnacht kannte. Seine Haut war glatt und ebenmäßig wie die einer Frau, wenn sie von den Narben absah, die er sich bei seinen Raubzügen eingehandelt hatte.

Als ihr auffiel, dass sie noch ihr Hemd trug, streifte sie es rasch ab. Askarion sah in ihr Gesicht, über ihren Hals zu ihren Brüsten und tiefer hinab. Seine Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, während ihre Haut unter den unsichtbaren Berührungen seiner Blicke erbebte. Sie gab ihre Beherrschung auf, überbrückte die letzten trennenden Schritte und küsste ihn wild.

Er schob sie von sich, wollte sie streicheln, ihren Körper mit Küssen bedecken, doch sie war nicht in der Stimmung dazu. Bald gab er seinen Widerstand auf, ließ zu, dass sie ihn zwischen die Pölster warf und sich erbarmungslos holte, wonach sie gelüstete. Als er sich nach ihrem Höhepunkt entlud, erreichte sie einen zweiten Gipfel und ließ sich erschöpft auf ihn sinken.

Sie gönnte sich einige Atemzüge, küsste ihn flüchtig, setzte sich auf und wollte sich von ihm erheben, aber er packte ihre Handgelenke und zog sie neben sich auf die Kissen. Im ersten Reflex begehrte sie auf, doch wieder einmal waren es seine Augen, die sie in den Bann zogen und ihren Willen beugten. Sie verstand kein Wort von dem, was er sagte, aber seine Stimme war beruhigend.

Seine Finger zeichneten unsichtbare Muster auf ihren Körper und weckten eine andere, weichere Begierde in ihr, die sie sonst nur von Begegnungen mit Frauen kannte. Die Berührungen waren leicht, fast so zart wie jene der lieblichen Eibrin, und sie erbebte unter seinen Händen, die über ihre Haut fuhren, ihre Narben berührten und sich mit jeder Spirale ein wenig mehr den Zentren ihrer neu erwachenden Lust näherten. Mit einem wohligen Seufzen ergab sie sich, ließ sich auf sein Spiel ein und vertraute sich ihm an.

So tat Askarion mit ihr, was sie sich erträumt hatte – und was sie nicht zu träumen gewagt hätte. Er führte sie auf den schmalen Grat zwischen Lust und Schmerz, an die Grenzen zwischen Abscheu und unstillbarem Verlangen und darüber hinaus, bis sie sich auf Dinge einließ, für die ihr selbst die Worte fehlten, sie zu beschreiben, so sie das gewollt hätte.

* * *

Völlig erschöpft und noch in Trance gefangen kämpfte sie sich schließlich in die Höhe und wollte das Zelt verlassen, doch er packte sie erneut und ließ auch nicht los, als sie ihn abschütteln wollte. Wütend fuhr sie herum – und sah sein entwaffnendes Lächeln, während er ihr das Hemd entgegen hielt. Sie riss es an sich, zog es über und trat ins Freie, ohne sich noch einmal umzusehen, während er in seiner seltsam weichen Sprache etwas zu ihr sagte.

Sie sah sich um, verschaffte sich einen Überblick und erkannte, dass der Austausch der Gefangenen und die Übergabe der Toten beinahe abgeschlossen waren. Eillean sah herausfordernd herüber, und Medbh winkte zur Bestätigung, dass es ihr gut ging. Askarion trat hinter ihr aus dem Zelt, wiederholte seine Worte und winkte den Dolmetscher heran, als sie nicht reagierte.

„Geh mit mir“, übersetzte der Mann zögernd und wich einen Schritt zurück, als sie ihn anfunkelte. „Wie Königin ich behandle dich“, fuhr er mit einem Seitenblick zu Askarion fort, während er sich vor ihr duckte. „Geh mit mir.“

Die Hitze ihrer Erregung wich einer gnadenlosen Kälte, als sie an die Toten dachte und an das Leid, das die Fremden über ihr Volk, über die Ceannacht und zahllose andere Stämme gebracht hatten und noch bringen würden. „Geh und komm nie wieder“, zischte sie. „Falls ich dich noch einmal an unseren Küsten sehe, bringe ich dich um.“

Askarion zuckte vor ihr zurück, noch ehe ihm ihre Worte übersetzt wurden, und mit seinem Lächeln verschwand auch jegliche Nachgiebigkeit aus seinen Zügen. Ein letzter Blick durchforschte ihre Miene nach einem Gefühl, nach einem Echo der eben durchlebten Leidenschaft, doch er suchte vergeblich. Er spie aus, wandte sich ab und ging zu den Schiffen, ohne sich noch einmal umzusehen, während seine Männer das Zelt zusammenpackten und die letzten Toten verluden.

Medbh ging zu Torwingh, der bei befreiten Kriegern seines Stammes stand, winkte ihn zu sich und reichte ihm die Hand. „Du bist der tapferste Lügner, der mir jemals untergekommen ist. Bring deine Leuten nach Hause, und sag eurem Volk, wir wünschen einen dauerhaften Frieden, mehr noch, ein Bündnis gegen diese Bedrohung und jede weitere, die noch kommen mag.“

Der Ceannacht fiel auf die Knie und küsste ihre Hände. „Ich danke dir, Prinzessin Medbh. Wir stehen tief in deiner Schuld.“

„Willst du das nicht mit Vater besprechen?“, zischte Dommagh, als sie sonst niemand hören konnte.

Sie sah ihn an und hielt seinem fordernden Blick stand. „Nein, will ich nicht.“

„Kommen sie wieder?“, fragte Eillean, als sie von der Anhöhe auf die Schiffe hinabsahen, die dem offenen Meer entgegen strebten.

„Wir werden vorbereitet sein“, sagte Medbh.

* * *

„Setz dich“, sagte Ari. „Wir müssen reden.“

Irgendetwas stimmte nicht. Das Mädchen schluckte ihre Frage hinunter und hockte sich mit angewinkelten Beinen ins Gras vor der Holzbank.

„Magst du Tom?“, eröffnete die Mutter.

Maeve nickte abwartend. Seit sie sich öfter mit dem Jungen und Eileen traf, duldeten sie auch die übrigen Kinder, und das alleine war Grund genug ihn zu mögen, doch das war weder ein Geheimnis, noch ein Anlass für eine Aussprache.

„Was hältst du von Dough?“, setzte Ari nach.

Als Tom zum ersten Mal davon begonnen hatte, war ihr der Gedanke absurd vorgekommen, aber in den letzten Wochen hatte sie öfter darüber nachgedacht und sich eine Meinung gebildet. „Viel wichtiger ist, was du von ihm hältst“, antwortete sie. „Wenn du Dough magst, geht das in Ordnung, und falls Tom mein Bruder wird, soll es mir recht sein.“

Aris Miene entspannte sich. Sie beugte sich vor und gab Maeve einen Kuss auf die Stirn. „Danke, Kleines“, sagte sie. „Ich war mir nicht sicher, wie du es aufnimmst. Könntest du dir vorstellen im Dorf zu leben? Dough würde mir ein Stück vom Garten überlassen für unsere Kräuter, und du hättest endlich ein normales Leben wie jedes andere Kind.“

„Ich glaub schon“, antwortete Maeve mechanisch. Normal, dachte sie. Ich bin nicht normal. Niemand sonst hat schwarze Haare oder wasserhelle Augen. Keiner hier interessiert sich für die Heilkraft der Pflanzen, für die Kraft der heiligen Steine oder für die alte Göttin. Sie tun das als Legenden ab und als Aberglaube, aber wie kann ich das? Ich bin doch ein Teil davon.

„Das wird schon werden“, beantwortete Ari ihre nicht gestellte Frage. „Den Sommer über bleiben wir noch hier. Zum Erntedank werden Dough und ich heiraten, wir ziehen zu ihm, und ab Herbst gehst du in die Schule.“

Maeve stand auf und umarmte ihre Mutter. „Ich freu mich für dich, für euch, wirklich“, betonte sie.

Ari erwiderte ihre Umarmung und spürte dabei ihre Anspannung. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich.

Maeve schmiegte sich an sie. „Ja Mama. Es kommt nur ein bisschen plötzlich. Ich liebe dich, und der Rest wird sich finden.“

* * *

Noch am selben Tag suchten sie Dough auf. Er sah sie schon von weitem und kam ihnen entgegen. Sein Sohn stand in der Tür und sah neugierig herüber.

„Ja, ich will deine Frau werden“, sagte Ari und Doughs Lächeln verbreiterte sich, während er sie stürmisch umarmte.

„Tom, sie nimmt mich!“, rief er über die Schulter zurück. „Ich sag Ryan Bescheid! Der soll‘s gleich anschlagen, und dass das Bier am Samstag auf mich geht. Dann wissen es alle, und am Sonntag bestellen wir das Aufgebot.“ Er umarmte Ari, hob sie hoch, küsste sie und merkte nicht, dass die Aussicht auf den Rummel sie weniger begeisterte als ihn.

„Weißt du eigentlich, wie sehr ich deine Mutter liebe?“, sagte er, kniff Maeve in die Wange und lief zum Pub, ehe das Mädchen antworten konnte.

„Ich freue mich“, sagte Tom. „Du bist sicher eine tolle Schwester. Kommst du mit? Wir sagen es Eileen.“

Maeve zögerte und sah zu Ari.

„Geh nur. Ich komm gleich nach“, sagte die, und die Kinder folgten Dough, der soeben den Pub erreichte.

* * *

Für die Heranwachsenden begann eine wunderbare Zeit, und durch die Freundschaft mit Tom und Eileen lernte Maeve auch die übrigen Kinder besser kennen. Meist trafen sie sich bei der Ruine der alten Abtei, die an dem kleinen Moorsee zwei Meilen westlich des Dorfes lag. Seit Maeve dabei war, drängten auch Eileens jüngere Brüder Patrick und Kyle in die Gruppe und ließen sich nur noch schwer abwimmeln.

Dieser Sommer taugte nicht zum Baden, und ein altes Gewölbe bot Schutz vor den häufigen Schauern. Dort saßen sie beisammen und erzählten sich Sagen und Legenden über Kobolde und Trolle, über Elfen, Feen und Geister, die sie alle kannten und schon dutzendfach gehört hatten. Maeves Geschichten von Steinkreisen, Druidinnen und blutigen Schlachten waren hingegen neu und aufregend, und so stand sie bald im Mittelpunkt ihres kleinen Zirkels.

So schön das für die Kinder war, blieb ihnen mit Fortgang des kühlen nassen Sommers die gedrückte Stimmung der Erwachsenen nicht länger verborgen. Als sie wieder einmal beisammen saßen, hielt es Eileen nicht länger. „Irgendwas liegt in der Luft“, sagte sie und Maeve nickte eifrig.

„Ich frag Papa“, schlug Tom vor. „Der kennt sich aus.“

„Ich frag meinen“, widersprach Eileen. „Der weiß immer Alles, und er plaudert gern. Ich sag euch dann Bescheid.“

Sie gingen ins Dorf zurück und setzten sich in Maeves Kräutergarten, während sich das blonde Mädchen auf die Suche nach ihrem Vater machte.

Nach einer Viertelstunde kam sie zurück. „Fehlanzeige“, sagte sie schnippisch. „Wenn mein Papa einmal schweigsam ist, ist das kein gutes Zeichen. Aber ich hab trotzdem was herausgefunden: Heute Abend kommt Arthur Fitzpatrick. Da erfahren wir sicher, worum’s geht.“

„Wer?“, erkundigten sich Maeve und Tom wie aus einem Mund.

„Arthur Fitzpatrick“, erklärte Eileen wichtig. „Der Verwalter von Lord Branton. Er kommt von Ballysadare herüber, um was zu besprechen. Der Pub wird ziemlich voll sein.“

„Und du glaubst, die Erwachsenen lassen uns zuhören?“, wandte Tom mit sichtlicher Skepsis ein.

„Natürlich nicht“, antwortete Eileen. „Aber wir können uns in der Besenkammer verstecken. Da hören wir alles. Ich hole euch ab, bevor es losgeht.“

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„Ruhe Leute, Ruhe!“, brüllte Ryan, und das Gemurmel verebbte.

Arthur Fitzpatrick, ein Mann um die Vierzig mit schütterem rotem Haar, kletterte auf die Theke und stieß sich den Kopf an einem Balken, ehe er einen guten Stand fand. „Bitte haltet Ruhe“, bat er. „Ich muss wissen, wie es um eure Ernte steht.“

„Wir werden nicht genug zu fressen haben!“, rief einer. „So steht es!“

„Weiß der Himmel, wovon wir leben sollen“, sagte Shane ruhiger, aber voll Sorge. „Woher sollen wir dann noch die Pacht nehmen?“

„Ja genau!“, fielen andere ein. „Wenn du deswegen kommst, kannst du gleich wieder heimreiten.“

„Ruhe!“, brüllte der Verwalter und sein Gesicht wurde noch röter, als es schon war. „Ich bin nicht wegen der Pacht hier! Sagt mir einfach der Reihe nach, wie’s steht!“

„Wer’s glaubt“, rief noch jemand, aber dann kam Ordnung in die Runde.

Dough machte den Anfang. „Die Gerste verfault auf dem Feld, und die Rüben sind nicht einmal halb so groß, wie sie um die Zeit sein sollten. Lediglich die Kartoffeln könnten was werden, aber selbst da habe ich mehr Käfer gesehen, als normal.“

„Meine Gerste steht noch“, sagte Shane, „aber falls es nicht bald trockener und wärmer wird, seh ich schwarz. Meine Hoffnungen liegen auch bei den Kartoffeln.“

„Die hat mein Seamus heute ausgegraben“, meldete sich Clary, ein Kleinpächter, der seit langem mehr trank, als gut für ihn war. Er hielt eine Kartoffel in die Höhe, brach sie auseinander und zeigte das schwarze, matschige Innere. „Wenn das eure Hoffnung ist, holt uns alle der Teufel.“

Jeder ahnte, dass ein schlechtes Jahr bevorstand, und sie hatten auch schon ausgiebig darüber geschimpft, aber mit jedem, der sich zu Wort meldete, wurde klarer, was ihnen wirklich bevorstand, und die aufgestaute Wut wich zunehmender Resignation. Selbst dem Verwalter fiel nichts mehr ein und am Schluss saß er schweigsam am Tresen und ließ sich ein Bier geben. „Lord Branton ist keine Unmensch“, sagte er ohne glaubhafte Überzeugung. „Ich rede mit ihm wegen der Pacht.“

Ich piss auf deinen Lord, dachte Ryan Doherty. Den Engländern wäre es nur recht, wenn ein paar der ewig aufsässigen Iren verhungerten, und die übrigen konnte man wegen der ausständigen Pacht von ihren Höfen jagen, in die Armee pressen oder nach Übersee verschiffen. Seine Vorratskammer war gut gefüllt, und falls sie sich einschränkten, käme er mit seiner Familie über den Winter, aber ihm war klar, dass dies auf niemand sonst ihm Dorf zutraf.

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Die Legende der irischen Wolfskönigin

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