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Jänner

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Die Messerklinge näherte sich schwungvoll seinem Hals. Nur nicht bewegen. Nicht zucken. Nicht durchatmen. Das kalte Metall setzte oberhalb des Kehlkopfs an und glitt dann energisch seinen Hals hinab. Brennender Schmerz.

»Hab’ ich Ihnen weh’tan? Nix is g’schehn. Ein kleines Ritzerl nur. Ein bisserl einen Schwamm drauf, und das Bluten is augenblicklich gestillt. So. Is’ schon wieder in Ordnung.«

Heinrich von Strauch atmete tief durch, bevor er seinen Hals aufs Neue darbot und es ihm schien, dass er sich dem Barbier auf Leben und Tod überantwortete.

»Und, Herr Baron, wie laufen die Geschäfte?«

»Ausgezeichnet. Danke der Nachfrage.«

»Ich hätt’ a bisserl was auf die Seite gelegt. Wollen der Herr Baron mir nicht endlich einmal ein paar Aktien verkaufen? Ich hab’ Sie ja schon vor einigen Monaten einmal g’fragt. Aber da haben Sie sich taub gestellt.«

Strauch musste sich eisern beherrschen, um nicht das Gesicht zu verziehen und dadurch ein neues Ritzerl zu riskieren. Nein, seinem Barbier würde er auch in Zukunft kein einziges Wertpapier verkaufen. Da konnte er ihn noch so anflehen. Vor drei oder vier Jahren wäre das vielleicht erwägenswert gewesen, aber nicht heutzutage. Die Lage an der Börse war viel zu instabil. Dazu kam, dass die allermeisten Wertpapiere, mit denen an der Börse gehandelt wurde, nur einen Bruchteil ihres derzeitigen Kurses wert waren. Ein Faktum, das für ihn als Börsenfachmann und Spekulant evident, das aber dem normalen Bürger, der ein bisschen Erspartes im Sparstrumpf hatte, völlig unklar war. Also würde er dem Mann, dem er mehrmals in der Woche seinen nackten Hals zum Rasieren darbot, keinesfalls etwas verkaufen. Mochte der ihn noch so bedrängen. Es war lachhaft, dass die einfachen Leute glaubten, die Bäume der Börse würden ad infinitum in den Himmel wachsen. Mit diesen Deppen, er konnte kein anderes Wort für sie finden, hatte er seit Jahren ein beachtliches Vermögen verdient. Wobei die Deppen, die vor etlichen Jahren eingestiegen waren, bis zum heutigen Tage erstaunliche Gewinne erzielen konnten. Ihrer Gier verdankte er seinen Erfolg. Denn seine Klienten gaben sich mit einmal erzielten Gewinnen nicht zufrieden. Im Gegenteil, sie konnten den Hals nicht voll genug bekommen. Und das hatte ihn dazu veranlasst, die Schlagzahl seiner geschäftlichen Aktivitäten zu erhöhen. In den letzten Jahren hatte er immer wieder neue Gesellschaften gegründet, deren Aktien er umgehend an die Börse gebracht und mit einem saftigen Emissionsaufschlag verkauft hatte. Obwohl die meisten dieser Gesellschaften vorerst keinerlei nennenswerte Geschäftstätigkeit vorweisen konnten, waren ihm ihre Aktien aus der Hand gerissen worden. Wie die warmen Semmeln dem Bäcker in der Morgenstunde. Warum er diesen Irrwitz betrieb? Nun, er hatte bisher Glück gehabt. Die von ihm gegründeten Aktiengesellschaften entwickelten sich recht respektabel, obgleich ihre Gründung vorerst auf reiner Spekulation beruht hatte und sie anfangs meist über kein solides finanzielles Fundament verfügt hatten. Was ihn aber wirklich antrieb, war das Ausreizen der Möglichkeiten im großen Börsen-Spekulationsspiel. Er beherrschte nicht nur die Regeln, nach denen dieses Spiel ablief, er bestimmte sie zum Teil auch mit. Das gab ihm in guten Stunden ein Gefühl von Größe, Überlegenheit und Macht. In weniger guten Stunden, wenn der Gewissenswurm zu nagen begann, erschien ihm seine Tätigkeit eine perfide Rosstäuscherei zu sein, bei der er Gott und die Welt betrog. Aus seinem Beuschel8 kroch in solchen Momenten ein unbehagliches Gefühl hinauf ins Gehirn, das ihn ganz desperat machte. Eine Verstimmung des Gemüts, die ihn im Laufe der letzten Monate immer öfters ereilte. Genauer gesagt seit dem Herbst letzten Jahres, als zahlreiche börsennotierte Werte zu wanken begonnen hatten und ein Zusammenbruch vor der Tür zu stehen schien. Doch plötzlich hatte sich das Blatt gewendet. Die kommende Weltausstellung und die damit verbundene Euphorie hatten die düsteren Wolken vertrieben, und er hatte die Anteile an einigen der von ihm gegründeten Gesellschaften mit stattlichem Gewinn verkaufen können. Trotzdem hatte Heinrich von Strauch seit damals immer wieder schlaflose Nächte. Er träumte, dass er völlig mittellos in einem Erdloch hauste und hungerte. Ungewaschen, in Fetzen gehüllt, mit wild wucherndem Haupt- und Barthaar. Wenn er aus diesem immer wiederkehrenden Albtraum hochschreckte und sich danach bis zum Morgengrauen im Bett hin- und herwälzte, beherrschte ihn ein Gedanke: Dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis all die an der Wiener Börse notierten windschiefen, unterkapitalisierten Aktiengesellschaften als Leichen die Donau hinunterschwimmen würden.

*

»So da! Fertig samma. Guad is gangen, nix is g’schehn.«

Er schreckte aus seiner Grübelei hoch. Mit Wohlgefallen registrierte er, dass die Haut seiner Backen glatt wie ein Kinderpopo war. Es folgte ein Seufzer der Entspannung, als der Barbier sein Gesicht zuerst mit kühlen Tüchern und dann mit Rasierwasser erfrischte.

»Und, Herr Baron, wollen S’ mir nicht endlich einmal einige Ihrer an der Börse so erfolgreichen Papiere verkaufen?«

Heinrich von Strauch lächelte freundlich. Er erhob sich, gab dem Barbier ein großzügiges Trinkgeld, schlüpfte in seinen Überzieher, setzte den Hut auf und verabschiedete sich mit folgenden Worten:

»Legen S’ Ihr Erspartes unter die Matratze. Da können S’ ruhig schlafen. Und ein ruhiger Schlaf ist wichtig für eine ruhige Hand beim Rasieren. Beherzigen S’ meinen Rat: Lassen S’ die Finger von Börsenpapieren. Habe die Ehre!«

*

Dichtes Gedränge. Bettler, Dienstmädchen, noble Herren, Schusterbuben, Dienstmänner, Handwerker, Kleriker, freche Rotzer, gnädige Frauen, eitle Gecken, Blumenmädeln und Tagträumer. Zwischen ihnen bahnten sich Pferdefuhrwerke und Fiaker ihren Weg. Das Gedränge machte die Gäule nervös, und infolgedessen ließen sie jede Menge Pferdeäpfel fallen. Heinrich von Strauch war peinlich bemüht, in keine dieser übel riechenden Hinterlassenschaften hineinzutreten. Es wäre ja auch wirklich schade gewesen, seine Maßschuhe solchermaßen zu beschmutzen. Wo er doch auf dem Weg zu einem Termin in das Büro seiner Wohnbaugesellschaften, das in der Goldschmiedgasse lag, war. Nein, mit Pferdedung an den Sohlen wollte er ihn keinesfalls wahrnehmen. Deshalb tänzelte er wie ein junger Hupfer hin und her, wich einem Fuhrwerk aus, vermied mehrere Haufen von Pferdeäpfeln, rammte um ein Haar den üppigen Busen einer gnädigen Frau und hatte trotz all dem ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. Ja, dieses Gedränge war ihm recht. Sehr recht sogar. Es war die Bestätigung dafür, dass seine Tätigkeit als Entrepreneur nicht nur äußerst gewinnbringend, sondern für die Stadt auch unverzichtbar war. Schließlich war er neben Bankier auch Bauunternehmer. Und sein Bestreben war es, ein neues Großwien zu erbauen. Mit mehr als einem Dutzend Bauprojekten, die er initiiert hatte, wollte er dazu beitragen, die Grenzen der Stadt zu sprengen. Wien brauchte Männer wie ihn. Gründer, die Kapital aufstellten und die mit diesem frisch akquirierten Geld die Stadt erweiterten, ausbauten und modernisierten. Jetzt oder nie wird das neue Wien gegründet. Und das Gedränge, durch das er sich in der Wipplingerstraße kämpfte, gab ihm recht. Wien war für die vielen Wiener zu eng geworden. Wien musste wachsen. Die Reichshaupt- und Residenzstadt platzte förmlich aus allen Nähten. Wie eine fette Matrone, die ununterbrochen Malakofftorten, Cremeschnitten und Konfekt in sich hineinstopfte und deren Fleisch an allen Rändern aus dem Korsett quoll. Gründer wie er würden der Stadt ein neues Kleid schneidern. Hunderte Bauprojekte waren in Planung. Und um die besten Baugründe gab es ein riesengroßes G’riss9.

*

»Ich wünsch dir einen wunderschönen guten Morgen!«

Ernst Xaver Huber begrüßte Strauch mit exzellent guter Laune, so wie es sich an einem sonnigen Wintervormittag gebührte. Huber und Heinrich von Strauch kannten einander seit einer kleinen Ewigkeit. Acht lange Jahre hatten sie gemeinsam im Akademischen Gymnasium die Schulbank gedrückt. Danach hatten beide ein Studium der Jurisprudenz begonnen, das Strauch jedoch nicht abschloss. Sehr bald interessierten ihn die Geschäfte der väterlichen Bank mehr als das Jusstudium. Also brach er es ab und absolvierte eine Banklehre. Da er sich bei Geldgeschäften erstaunlich geschickt anstellte, überantwortete Antonius von Strauch seinem Filius sukzessive ein immer größeres Pouvoir. Schließlich verlieh er ihm die Prokura und erlaubte ihm, selbst eine Bank zu gründen. Und hier kam Ernst Xaver Huber, genauer gesagt Dr. jur. Huber, ins Spiel. Er war in alle geschäftlichen Aktivitäten und Geldgeschäfte der H. Strauch Bankgesellschaft und später dann auch der H. Strauch & Cie Baugesellschaft sowie der zahlreichen weiteren Unternehmensgründungen involviert. Huber war, wie Wohlmeinende sagten, die rechte Hand Heinrich von Strauchs. Weniger Wohlmeinende nannten ihn schlicht und einfach Strauchs G’schaftlhuber.

Heinrich von Strauch war zufrieden. Die Entwürfe des jungen Architekten gefielen ihm und so sagte:

»Ernstl, lass ihm hundert Gulden für den Entwurf auszahlen. Seine Idee konveniert mir sehr. Ich bedanke mich und wünsche einen schönen Tag.«

Er machte eine dezente Verbeugung in Richtung Leo Hornegg und verließ das Zimmer. Huber bat den jungen Architekten, ihm in den Nebenraum zu folgen. Dort sagte er zu dem Kontoristen, der sich an einem Stehpult befand und schrieb:

»Gehen S’, Navratil, holen S’ hundert Gulden aus der Kassa. Der Herr von Strauch hat verfügt, dass wir unserem genialen Architekten einen Vorschuss gewähren. Meine Herren, das können Sie auch ohne mich erledigen, ich hab’ noch zu tun. Ich empfehle mich.«

Navratil legte den Federkiel zur Seite, löschte mit einer Prise Sand das gerade Geschriebene ab und ging zu einem wuchtigen Tresor, den er mit einem Schlüssel öffnete. Navratil holte zehn Scheine aus dem Tresor, verschloss ihn, ging zu seinem Schreibpult, öffnete ein Buch und schrieb leise vor sich hin murmelnd:

»Dem Herrn Architekten Hornegg hundert Gulden ausgezahlt. Wien am 17. Januar 1873. So! Wenn Sie mir hier bitte die Übergabe quittieren.«

Er reichte Hornegg den Federkiel, und der kritzelte seine Paraphe in das Buch. Navratil nahm den Federkiel zurück, legte ihn mit Bedacht auf das Pult und begann, die Scheine nachzuzählen. Einen Zehnguldenschein ließ er danach in der Seitentasche seines Gilets verschwinden. Den Rest drückte er Hornegg in die Hand, der verlegen stammelte:

»Aber das … das sind … sind ja nur neunzig Gulden. Der Herr von Strauch hat mir …«

»Psst!«, zischte Navratil. »Keinen Ton möchte ich mehr hören. Sonst gibt’s keinen weiteren Auftrag.«

»Aber …«

»Kein Wenn und kein Aber, mein lieber Hornegg. Ich war es, der Ihnen die Rutschen zum Herrn Doktor Huber gelegt hat. Und ich bin es, der dafür Provision kassiert. Also, bis bald, Herr Architekt!«

*

Heinrich von Strauch, der gerade das Bureau verließ, hatte Horneggs verdattertes Gesicht gesehen. Er packte den jungen Architekten am Unterarm und stieg mit ihm die Treppen hinunter.

»Das, was der Navratil gesagt hat, dürfen S’ ruhig für bare Münze nehmen, mein lieber Hornegg. Wir werden uns bald, sehr bald wiedersehen.«

»Aber …«

»Kein Aber, mein Lieber. Wissen Sie, was ich jetzt mache?«

»Nein, Herr Baron.«

»Ich kümmere mich um mein neuestes Projekt als Entrepreneur.«

»Sehr interessant, Herr Baron.«

»Das können Sie mit Fug und Recht sagen. Denn die von mir gegründete Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft, deren Aktien ich zurzeit gerade an der Börse lanciere, wird Sie mit Arbeit eindecken.«

»Und? Wird sie auch bauen?«

Die beiden waren mittlerweile auf der Gasse angekommen. Es handelte sich um die Goldschmiedgasse, die vor zum Stock-im-Eisen-Platz führte. Strauch machte eine ausholende Geste in Richtung der gewaltigen Baustelle vor ihnen.

»Schaun Sie sich um! Das Gasslwerk hier, die Brandstatt und der Magaretenhof sind Geschichte. Hier im Herzen Wiens sprengen wir die verwinkelte Enge der alten Stadt und errichten neue moderne Häuser für neue moderne Menschen.«

»Was? Die Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft baut hier in Wien?«

Strauch lachte, klopfte dem Architekten auf die Schulter, lüftete seinen Hut zum Gruß und sagte im Davoneilen:

»Aber nicht doch. Das ist pars pro toto eines der Projekte, an denen ich beteiligt bin. Und es gibt unzählige weitere. Wir alle bauen und bauen und bauen. Sie haben gar keine Vorstellung, mein Lieber, was wir alles bauen.«

*

Sodom und Gomorrha, wohin das Auge blickte. Was bildete sich dieser junge Tutter eigentlich ein? Nimmt sich einfach, was immer sich ihm anbietet. Unverschämtheit so was! Diese Gier, diese unvorstellbare Gier, die diesen Menschen antrieb, war abstoßend. Aber offensichtlich nicht für die Weiber. Die witterten diese Gier und wurden ganz weich. Bozwach10, wie man so sagte. Als ob die Gier ein Aphrodisiakum wäre. Na ja, wahrscheinlich war sie tatsächlich eines. Als er selbst jünger war, war er auch gierig hinter den Weiberröcken her gewesen. Kaum eine hatte ihm auf die Dauer widerstehen können. Waren das Zeiten! Damals, als der alte Herr Baron hier in sein Palais eingezogen war und er seinem Dienstgeber zu verstehen gegeben hatte, dass man für so ein großes Haus eine große Schar Dienstboten benötigte. Das hatte dem alten Freiherrn von Strauch gar nicht geschmeckt. Denn Dienstboten kosteten Geld. Und Geld wurde gespart, nicht ausgegeben. Allerdings hatte er seinem Dienstherrn klargemacht, dass man in einem Palais nicht wie ein Kleinhäusler residieren konnte. Wer ein Palais hatte, hatte auch Dienstboten. Dieses Argument leuchtete Antonius von Strauch ein, und so hatte er ihm den Auftrag gegeben, Dienstboten anzuwerben. Wie hatte er diesen Auftrag genossen! Von einer Dienstbotenvermittlerin hatte er sich ein junges Mädel nach dem anderen schicken lassen. Die schiachn11 Mädeln wurden immer gleich weggeschickt, nur die feschen durften zur Probe bleiben. Die Probe bestand darin, dass sie das Stiegenhaus aufwaschen, die Räume fegen, die Wäsche waschen und bügeln sowie in der Küche mit anpacken mussten. Wenn sie all das zu seiner Zufriedenheit verrichtet hatten, mussten sie dann auch noch herhalten. Joi, war das schön gewesen. In die jungen Hintern kneifen, die strammen Tutteln drücken und die Mädeln in einem stillen Winkel des riesigen Hauses pempern12. Nur die, die ihm mit dem nötigen Spaß an der Freud’ zu Willen waren, wurden eingestellt. Am Ende hatte er dem Herrn Baron dann nicht nur fleißig arbeitendes Personal, sondern sich selbst auch einen kleinen Harem verschafft. Diese Erinnerungen machten ihn ganz kribbelig, obwohl sein Verlangen nach Weibern im Laufe der Jahre abgeklungen war. Nur manchmal packte es ihn noch. Nicht mehr bei einer jeden, aber bei manchen. Sein letztes heftiges Begehren hatte ihn vor zwei – oder waren es schon drei? – Jahren übermannt, als er die Resi eingestellt hatte. Mein Gott, dieses Mädel hatte noch einmal die Säfte in seinen fast schon ausgetrockneten Leib schießen lassen. Ja, die Resi hatte im Laufe der letzten Jahre bei ihm Wunder vollbracht. Aber das war nun vorbei. Seit der junge Herr Baron die Resi zu seiner persönlichen Leib- und Magenbediensteten gemacht hatte, hatte die ihn nicht mehr an ihren wunderbaren Hintern gelassen. Das freche Mensch hatte ihm sogar gedroht, dass sie dem jungen Herrn Baron erzählen würde, wie er sie über Jahre hinweg missbraucht hatte. So ein freches Luder! Am meisten giftete ihn der Umstand, dass der junge Herr Baron die Resi für die Pflege seiner Garderobe einsetzte. Damit konnte er sie jederzeit zu sich rufen, wenn er sich ankleidete. Dieser raffinierte Saukerl. Heute früh hatte er beobachtet, wie die Resi dem Herrn Baron beim Anlegen der Kleidung half. Dabei hatte sie sich vor ihm niedergekniet. Aber nicht, um zu beten! So eine Sauerei! Nein, er durfte gar nicht daran denken. Sonst würde er noch kribbeliger werden. Mein Gott! Er ballte die Fäuste und bebte am ganzen Körper. So konnte er nicht weiter seinen Dienst versehen. Er musste sich abreagieren. Wie ein junger Hund lief er die enge Dienstbotentreppe hinunter, riss die Küchentür auf und stürzte sich auf die Köchin. Die kreischte zuerst vor Schreck und gleich darauf vor Vergnügen. Sie hob ihren Rock und präsentierte ihm ihr gewaltiges Hinterteil. Voll Gier packte er zu. Sodom und Gomorrha! Wunderbar …

*

Splitternackt stand er hinter dem großen Paravent, während Resis zärtliche Patschhand ihn wusch. Bei so einer Bedienung brauchte Heinrich von Strauch wahrlich kein Badezimmer. Als er aus der teuren Mietwohnung im Heinrichshof ausgezogen und in das Barockhaus, das ihm sein Vater vererbt hatte, eingezogen war, hatte er kurz überlegt, hier im zweiten Stock ein komfortables Bad und ein modernes Water Closet einzurichten. Schlussendlich hatte er diese Modernisierungen nur in der Beletage, in der jetzt seine Frau und seine beiden Söhne wohnten, durchführen lassen. Er selbst war in das Stockwerk darüber gezogen. So hielt er die ungeliebte Familie auf Distanz und musste das Schlafzimmer nicht mehr mit seiner Frau teilen. Ja, das war gut! Er grinste verzückt, als Resi ihn hinten zwischen den Arschbacken und nach vorne greifend gründlich einseifte. Das tat wirklich gut. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, die alles in allem nicht sehr glücklich verlaufen war. Einzig die regelmäßige Handwäsche, die ihm sein Kindermädchen angedeihen hatte lassen, war eine der wenigen schönen Erinnerungen. Allerdings hatte sie diese Körperpflegemaßnahme eingestellt, als der Bub beim Waschen regelmäßig eine Erektion bekam. Ab diesem Zeitpunkt musste er sich selbst waschen. Einen Umstand, den er sehr bedauerte. Von einer weiblichen Hand, die in einem Waschlappen steckte, gereinigt zu werden, liebte er. Jahrzehntelang hatte er auf diesen Genuss verzichten müssen. Nun aber, seit er das riesige Barockpalais seines Vaters samt dessen Dienstmädel geerbt hatte, hatte sich alles zu seinem Vorteil entwickelt. Er bewohnte ein ganzes Stockwerk mit Schlafzimmer, Ankleideraum, Speisezimmer, Rauchsalon, Arbeitszimmer und Dienstbotenkammerl. Hier hatte er Resi einquartiert, die seit dem Umzug als seine Kammerdienerin fungierte. Kammerdienerin? Heinrich von Strauch lachte auf, nicht zuletzt deshalb, weil Resi gerade seinen Brustkorb mit dem Waschlappen abrieb und er auf den Rippen kitzlig war. Er als Freiherr von Strauch leistete es sich, exzentrisch zu sein. Und da konnte sein Eheweib noch so sehr die Stirn runzeln und schnippische Bemerkungen machen. Auch dem ehemaligen Kammerdiener Jean und nunmehrigen Majordomus war die Missbilligung ins Gesicht geschrieben, wenn er sich in seinen Wohnbereich begab, um für Verpflegung, Getränke und Rauchwaren zu sorgen. Mehr durfte er für Heinrich von Strauch nicht machen. Reinigung und Pflege der Kleidung, das Zusammenräumen13 der Zimmer, das Bettenmachen und das Ausleeren des Leibstuhls oblagen der Kammerdienerin. Resi hatte das Pouvoir, sich in seinen Wohnräumen frei zu bewegen und allen anderen den Zutritt zu verwehren. Sie war sein guter Geist. Von ihr ließ er sich, wenn er zu Hause war, nach Strich und Faden verwöhnen. Wie zum Beispiel in diesem Moment, in dem Resi mit großer Liebe und Sorgfalt ihn untenrum abtrocknete. Genussvoll schloss er die Augen und murmelte:

»Net aufhören … weitermachen … ja … so is brav.«

*

»Die Herren wünschen zu trinken?«

Heinrich von Strauch blickte über den Tisch zu seinem Freund Gustav von Boschan und dem Zeitungsherausgeber Moritz Szeps und stellte folgende Frage:

»Wie wäre es mit einem trockenen Sherry? Bei der Kälte wärmt das den Magen.«

Boschan und Szeps nickten zustimmend, der Ober eilte davon. Strauch beugte sich über die Speisekarte, überflog sie und sagte jovial:

»Mein lieber Szeps, mein lieber Gustav, ihr seid heute meine Gäste. Also bestellt euch was Ordentliches. Einen Tafelspitz oder ein Beefsteak.«

Szeps erwiderte mit ironischem Lächeln auf den Lippen:

»Zu gütigst, Herr Baron. Aber wenn ich auf ein Beefsteak Gusto hab’, kann ich mir das auch selbst leisten.«

»Ich wollt’ Ihnen nicht nahetreten, mein Lieber. Selbstverständlich können Sie sich als Herausgeber des Neuen Wiener Tagblatts ein gutes Papperl14 leisten. Ich hab’ das vorher ja nur g’sagt, weil ich möcht’, dass es Ihnen gut geht.«

»Sehr liebenswürdig, Herr Baron.«

Der Ober servierte den Aperitif und fragte:

»Zu speisen, die Herren?«

»Der Herr Herausgeber, der Herr von Boschan und meine Wenigkeit nehmen dreimal das Beefsteak. Dazu ein paar Braterdapferln, eine Buttersauce und ein Spiegelei drüber.«

»Wollen die Herrschaften Kohlsprossen15 dazu?«

»Ja, warum denn nicht. A bisserl was Grünes am Teller ist immer fesch.«

Moritz Szeps räusperte sich und sagte leise:

»Verzeihen Sie, aber das ist mir a bisserl zu üppig. Ich nehm’ einen Tafelspitz mit Apfelkren und Gerösteten.«

»Wünschen der Herr auch eine Schnittlauchsauce dazu?«

»Nein, nur Apfelkren.«

Nun schaltete sich Gustav von Boschan ein:

»Sei mir nicht bös’, Heinrich, aber ich hab’ heut’ Lust auf Fisch. Deshalb nehm’ ich die Forelle Müllerin mit Salzerdapferln.«

Der Ober notierte die Speisen und fragte dann:

»Wünschen die Herren eine Suppe?«

Szeps überlegte kurz und entschied sich für eine Bouillon mit Ei, Strauch und Boschan bestellten Frittatensuppe. Zur Begleitung der Speisen wurde ein halber Liter Weißer vom Nussberg geordert.

»Nun, was macht die Börse, Herr Baron?«

»Sie prosperiert, sie prosperiert. Die Geschäfte laufen glänzend. Und deswegen sitz ma ja auch zusammen.«

»Gründen S’ am End schon wieder eine neue Gesellschaft?«

»Nicht irgendeine Gesellschaft, mein lieber Szeps.« Heinrich von Strauch nahm einen Schluck vom Weißwein.

»Ich hab’ gemeinsam mit meinem lieben Freund Gustav die Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft gegründet. Sie geht dieser Tage an die Börse.«

»Ich hab’ davon läuten gehört. Die Frage ist, was unterscheidet diese Baugesellschaft von den unzähligen anderen, die im Laufe des letzten Jahres gegründet wurden?«

Die Suppe wurde serviert, und Heinrich von Strauch ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er löffelte seine Frittaten, lobte den kräftigen Geschmack der Rindsuppe und wartete, bis Szeps seine Bouillon ausgelöffelt hatte. Boschan war als Erster fertig. Er legte den Löffel zur Seite und sagte in beiläufigem Tonfall:

»Nun, die Niederösterreichische Wohnbaugesellschaft unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von anderen Neugründungen: Sie besitzt Grundstücke. Baugrundstücke.«

»Und wo?«

»Überall dort, wo Niederösterreich an das Wiener Stadtgebiet angrenzt: Matzleinsdorf, Margarethen, Meidling, Hietzing, Lainz und Ober-St. Veit. Und dazu besitzt sie Liegenschaften in Gloggnitz und St. Pölten. Alles in allem rund hunderttausend Quadratklafter16

»Ich bin beeindruckt. Das ist ja einmal eine Baugesellschaft, die über einige reelle Werte verfügt. Und wer ist der Präsident des Verwaltungsrats?«

Nun schaltete sich Heinrich von Strauch in das Gespräch ein:

»Mein Freund Gustav.«

»Und warum nicht Sie?«

»Nun, ich steh’ eh schon zu sehr im Rampenlicht. Ich möcht’ mich nicht noch mehr exponieren.«

Der Tafelspitz, die Forelle und das Beefsteak wurden serviert. Die Herren aßen schweigend und mit Appetit. Danach orderte Heinrich von Strauch drei Stamperln Becherovka. Nachdem Szeps einen kräftigen Schluck davon gemacht hatte, fragte er:

»Wozu erzählen Sie mir das eigentlich?«

»Na, weil wir in Ihrem Blatt werben wollen.«

»Da müssen S’ mit den für die Reklameannahme zuständigen Personen sprechen.«

»Kommt doch gar nicht infrage. Ich red’ mit Ihnen, Sie machen mir einen anständigen Preis. Und alles Weitere geht mich nichts an.«

»Und was verstehen Sie unter einem anständigen Preis?«

»Einen günstigen. Was denn sonst?«

*

Alois Pöltl war ein ehrenwerter Mann, der das Handwerk des Barbiers nach allen Regeln der Kunst und darüber hinaus äußerst profitabel ausübte. Letzteres hatte mit der Lage seines Barbierladens zu tun, der sich in unmittelbarer Nähe zur Börse, in der Wipplingerstraße, befand. Zu seinen Kunden zählten Bankiers, leitende Bankangestellte und Beamte, Börsenagenten, Großhändler, aber auch Mitglieder des Adels sowie angesehener Bürgerfamilien. Tatsächlich gehörte es in gewissen Kreisen seit Jahren zum guten Ton, sich von Maître Pöltl rasieren und die Haare schneiden zu lassen. Kurzum, Pöltls Geschäfte liefen blendend, und so hatte er vor einigen Jahren um die Hand der Tochter eines seiner Kunden angehalten. Der betreffende Herr Papa ließ sich regelmäßig von Herrn Alois verschönern und kannte dessen wohlbestallte Situation. Also hatte er dieser Verbindung zugestimmt. Da der Barbier Alois Pöltl seinem Eheweib ein angemessenes Heim bieten wollte, hatte er eine prachtvolle Wohnung in einem eben erst errichteten Haus in der Mariahilfer Vorstadt bezogen. Bald danach kamen das erste, das zweite und schließlich das dritte Kind zur Welt. Alois Pöltl hatte nun drei hungrige Mäuler zu ernähren sowie eine Frau zu erhalten, die eine glühende Bewunderin der Kaiserin17 und ihrer Schlankheit war. Das bedeutete, dass sie nach dem dritten Kind sich eine strenge Diät auferlegte und nach und nach schlank wie eine Gerte wurde. Alois Pöltl, der eher den weiblichen Rundungen als den Ecken und Kanten der weiblichen Anatomie zugetan war, musste dies mit Bedauern feststellen. Auch eine charakterliche Veränderung brachten die strikte Diät und das konsequente Fasten bei seiner Frau mit sich. Ehrenfrieda verhärtete in ihrer gesamten Art und wurde zu einer regelrechten Erbsenzählerin. Sie sparte, wo immer sie konnte, und hortete das Ersparte mit einer Wonne, dass es dem Alois Pöltl das Herz zusammenkrampfte.

»Und? Hast du heut’ endlich den Baron Strauch gefragt?«

Alois, der nach einem langen Arbeitstag müde und hungrig heimgekommen war, schlüpfte in die Hausschuhe und schwieg bockig.

»Wann wirst du ihn endlich fragen?«

Nun schüttelte Alois den Kopf, zog die Schultern ein und schlurfte ins Esszimmer zum gedeckten Tisch. Er setzte sich, seine beiden älteren Töchter kamen und schmiegten sich an den Vater. Er streichelte zärtlich über ihre Köpfe und bemerkte mit Bedauern, dass es heute schon wieder Graupensuppe gab. Seine Frau goss ihm zwei Schöpfer in den Teller und zischte:

»Wenn du nicht Manns genug bist, ihn zu fragen, dann werde ich es tun. Mir reicht es allmählich. Meine Schwester und ihr Herr Gemahl sind inzwischen Millionäre geworden. Und warum? Weil sie schon vor drei Jahren ihr Geld an der Börse angelegt haben.«

Alois löffelte hungrig die Suppe. Nachdem er den Teller geleert und somit den ersten Hunger gestillt hatte, lehnte er sich mit einem Seufzer zurück und sagte:

»Gar nix wirst du tun. Und wennst wirklich was tust, wird’s nix fruchten.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich den Herrn Baron heute neuerlich gefragt hab’.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Zuerst hat er getan, als ob er meine Frage überhört hätte. Als ich dann die Rasur beendet hatte, hab ich ihn noch einmal g’fragt.«

»Ja und?«

»Nix und. Er hat bezahlt, mir einen Batzen Trinkgeld gegeben und sich verabschiedet.«

»Und er hat wirklich gar nix g’sagt?«

»Im Hinausgehen hat er schon was g’sagt, aber das wird dir net g’fallen.«

»Und was war das?«

»Dass ich die Finger von Börsenpapieren lassen soll.«

*

Der, den seine Mutter jahrelang Rotzpip’n genannt hatte, wälzte sich im Bett hin und her, gejagt von Ängsten zu versagen und verzehrt von Hass. Ein Hass, der seit vielen Jahren in ihm brodelte. Und manchmal, wenn er nicht einschlafen konnte, überkam es ihn mit aller Macht. Wie eine riesige Welle, die ihn erfasste und auf und davon trug. Er schwamm dann in einem Meer aus Gewalt, in dem geköpft, gemordet, verstümmelt und gehängt wurde. So wie damals, als er es als dreizehnjähriger Gymnasiast nicht mehr daheim aushielt, sondern hinausstürmte und sich unter die aufgebrachte Menschenmasse mengte. In diesem Meer von Zorn und Erregung, von blinder Wut und rasender Empörung schwamm er dahin und landete vor dem Kriegsministerium am Platz Am Hof. Hier tobte die Menge ganz besonders, hier wallte der Hass. Und plötzlich, als der Befehl an die vor dem Kriegsministerium aufgestellten Kanoniere erfolgte, ihre Kanonen in die Menge abzufeuern, gab es kein Halten mehr. Kartätschensplitter pfiffen ihm um die Ohren, aber das war ihm vollkommen gleichgültig. Gemeinsam mit Hunderten anderen wurden die Kanonenstellungen überrannt, und dann ging es hinein ins Kriegsministerium. Durchs Stiegenhaus rannten sie hinauf, durch Gänge und Säle. Weiter, immer weiter. Was ihnen im Weg stand, wurde zerschlagen, Soldaten worden niedergeprügelt. Hinauf in den vierten Stock. Und plötzlich wüstes Triumphgeschrei. Rundum hielt man inne. Er aber drängte sich in den Raum, aus dem die Brüllerei erklang. Und dann sah er das Unglaubliche: Aus dem offenen Kamin des Zimmers wurde der zappelnde und sich verzweifelt wehrende Graf Latour gezerrt. Kaum war der Kriegsminister aus seinem Versteck heraußen, begann ein Mann mit einer Eisenstange, auf ihn einzuschlagen. Latour schrie wie eine Sau beim Abschlachten, die mit Orden geschmückte Uniform wurde zerfetzt und in Blut getränkt. Als sich der erste Furor gelegt hatte, schnappten die Revolutionäre den leblosen Körper und schleppten ihn durchs Treppenhaus hinunter auf den Platz. Die Menge tobte.

»Jetzt häng’ ma die Kanaille auf!«

»Aufg’hängt wird!«

»Laternisieren ma ihn! Falloten18 gehören laternisiert!«

Atemlos folgte er den Männern, die den leblosen Grafen quer durch die Menge schleiften und ihn schließlich am gegenüberliegenden Ende des Platzes an einer Gaslaterne aufhängten. Als dies vollbracht war, wurde eine Freudensalve in den Oktoberhimmel geschossen. Immer wenn diese Szenen vor seinem inneren Auge abliefen, bekam er einen Schweißausbruch. Sein Körper begann wie bei einem starken Fieberanfall zu zittern. Er knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Minutenlang durchlebte er Spasmen des Hasses.

Wenn sie schließlich abgeklungen waren, schlief er erschöpft ein. Begleitet von der glücklichmachenden Vorstellung, dass er alle Menschen, die er kannte, eigenhändig an Laternen aufknüpfen würde. Und nicht nur die, sondern die ganze Menschheit. Die ganze vermaledeite Packlrass19! Alle würde er laternisieren und zuallererst Heinrich von Strauch.

*

Meister Pöltl wartete unausgeschlafen und ungeduldig auf den Baron Strauch. Seine Alte hatte ihm am Vorabend die Ohren mit Vorwürfen vollgesungen. Eine endlose Suada über die Chancen, die er verpasste, weil er sich weigerte, sein Erspartes an der Börse zu investieren. Im Gesicht ganz blass vor Zorn hatte sie gekeift:

»Wennst jetzt Effekten kaufst, kannst in kürzester Zeit zehnmal mehr verdienen als mit deiner nebbichen Friseur-Quetsch’n. Da! Da, lies!«

Die Herabwürdigung seines meisterhaft betriebenen Handwerks hatte ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Schlussendlich hatte er sich widerwillig einen Artikel auf der Börsenseite des »Illustrierten Wiener Extrablatts« angesehen:

Der vorsichtige Kapitalist.

Vom Geldmarkt. – Im Handumdrehen ist der Geldstand auf einmal ein überaus flüssiger geworden und unterstützte die wiedererwachte Haussetendenz in wirksamster Weise …

Auf seine Frage, was Haussetendenzen denn bedeutete, antwortete seine Frau:

»Das hat mir der Onkel Ferry erklärt: Eine Hausse ist dann, wenn die Kurse steigen. Wennst wirklich viel Geld an der Börse verdienen kannst.«

Pöltl hatte genickt und weitergelesen:

In dieser Woche alleine sind, zweier Subskriptionen nicht zu gedenken, die jungen Aktien der Industrial-Baubank, der Vorschußbank, der Pester Baubank, der Bau- und Parzellirungs-Gesellschaft und der Salzburger Bank zu beziehen; außerdem folgende Einzahlungen zu leisten: Innerberger Hauptgewerkschaft, Graz-Köflacher-Bahn, Türkenlose, Transportgesellschaft, Nordwestböhmische Kohlengewerkschaft, »Haza«, Hochofen-Gesellschaft, Eisen- und Stahlgewerkschaft in Komotau und Prag-Wiener Waggon-Fabrikgesellschaft …

Seine Frau hatte also recht. An der Börse war die Hölle los. Alle Welt investierte und verdiente sich eine goldene Nase. Dieser Artikel war die Ursache für eine von wirren Träumen geplagte Nacht gewesen. Nun, am nächsten Morgen, steckte die Zeitung zusammengefaltet mit der Börsenseite nach oben in seinem weißen Arbeitsmantel. Mit Mühe konzentrierte er sich auf das Frühgeschäft, das aus Börsenleuten und hohen Beamten bestand, die sich vor dem Beginn ihres Arbeitstages rasieren ließen. Danach flaute, so wie an jedem Vormittag, der Kundenandrang ab. Nun war die Zeit gekommen, um die von seinem Lehrbuben Schurli gebrachte Melange zu schlürfen, darin ein mürbes Kipferl einzutunken und voll Ungeduld auf das Erscheinen des Herrn Barons zu warten. Endlich, gegen halb elf Uhr am Vormittag, betrat er das Geschäft und Pöltl atmete mehrmals kräftig durch. Als Heinrich von Strauch es sich auf dem Barbierstuhl bequem gemacht und er ihm einen frischen blütenweißen Umhang umgelegt hatte, fragte er leise:

»Darf ich dem Herrn Baron etwas zeigen?«

»Die neueste Bartmode aus Paris?«

»Nein, nein! Ganz was anderes.«

»Ein neues Rasierwasser?«

Vorsichtig applizierte Pöltl die warmen, feuchten Tücher auf seinem Gesicht und flüsterte:

»Es betrifft Ihr Gewerbe.«

»Wollen S’ umsatteln und Bankier werden?«

»Nein, um Gottes willen! Ich möchte Ihnen nur diesen kurzen Artikel zeigen. Der ist über die Börse.«

Und schwuppdiwupp drückte Pöltl seinem überraschten Kunden das zusammengefaltete »Illustrierte Wiener Extrablatt« in die Hand. Heinrich von Strauch warf einen erstaunten Blick darauf, überflog den Artikel und legte das Blatt kommentarlos zur Seite. Dann lehnte er sich zurück, stieß einen kleinen Seufzer aus, schloss die Augen, und der Barbier begann mit dem Einseifen und mit dem Rasieren. Pöltl legte sich heute besonders ins Zeug. Mit noch mehr Sorgfalt, als er es normalerweise zu tun pflegte, schabte er Heinrich von Strauchs Bartstoppeln am Kinn und an den Wangen ab. Liebevoll schnipselte er den Moustache zurecht und fassonierte mit Bedacht die Koteletten des Herrn Baron. Als er schließlich dessen Gesicht mit kalten, feuchten Tüchern erfrischte, öffnete Heinrich die Augen und fragte lächelnd:

»Sie wollen sicher wissen, was ich vom derzeitigen Börsenaufschwung halte. Nicht wahr?«

»Genauso ist es. Weil … weil …«

»Ihre Freunde und die Mitglieder Ihrer Familie alle an der Börse mitspielen. Ist Ihnen eigentlich das Prozedere der Gründung einer Aktiengesellschaft klar?«

»Na ja … Es finden einige Personen zusammen, die die Idee zu einer Gesellschaft haben, einen Plan derselben ausarbeiten, einen Gesellschaftsvertrag entwerfen, die Gesellschaft mit Kapital ausstatten und …«

»Langsam, langsam, mein lieber Maître Pöltl! Grundsätzlich haben Sie recht. Aber die Gründer oder Entrepreneurs, wie man zu sagen pflegt, sind heutzutage in den seltensten Fällen daran interessiert, das Aktienkapital selbst aufzutreiben, vollständig zu zeichnen und einzubezahlen. Heute wird meist folgender Weg beschritten: Die Entrepreneurs bringen kein oder minimal Kapital ein. Sie legen vielmehr das Aktienkapital ihres Projektes öffentlich zur Zeichnung auf, machen massiv Reklame und laden zum Beitritt der noch zu gründenden Gesellschaft ein. Eine auf diese Weise errichtete Aktiengesellschaft hat demnach zwei Gründungen durchgemacht: eine Primitivgründung unter den Entrepreneurs und die Zeichnung aufgrund des Projektes.«

»Ja, aber wenn genug Kapital von den Anlegern eingezahlt wird, dann ist diese Gesellschaft doch lebensfähig und kann Gewinne machen, an denen dann die Aktionäre beteiligt sind.«

»Theoretisch ja. In der Praxis geschieht Folgendes: Das Produkt der Gründung, die Aktie, wird zu einem Gegenstand der Agiotage. Schon der Gründer oder Entrepreneur trachtete – und das ist laut Gründervertrag völlig legal –, weniger für eine Aktie zu bezahlen als jeder fremde Aktionär. Dadurch gibt es eine Kursdifferenz, an der der Entrepreneur verdient. Er liefert weniger an die Aktiva der gegründeten Gesellschaft ab als die fremden Aktionäre. Die junge Aktie hat somit zwei verschiedene Kurse: den Gründerkurs und den Emissionskurs. Übernimmt ein Bankhaus oder ein Syndikat von Börsengrößen die Einführung der Aktien, so entsteht noch ein Kurswert, zu dem diese Börsenkräfte die Aktien übernehmen. Mit der Einführung an der Börse wird die Aktie dann Gegenstand einer weiteren Reihe von Geschäften, bei denen es stets um Agiogewinn geht. Der ganze Gründungs- und Emissionsapparat wirkt dabei mit, den Aktienkurs hinaufzutreiben. Dies geschieht mit Reklame aller Art, mit Unterstützung durch die Presse und durch Agenten sowie durch Scheinspekulationen. Das Schicksal des auf diese Aktien gegründeten Unternehmens interessiert niemanden. Es interessiert einzig das Schicksal der Aktie und das Steigen ihres Kurswertes. Und da in der Regel dann viel mehr Personen an der Aktie interessiert sind, als es tatsächlich Aktien gibt, kommt es auf den Besitz der Aktien selbst gar nicht an.«

»Aha! Wie ist das zu verstehen?«

»Es kommt einzig und alleine auf die Kursdifferenz an. Der Haussespekulant kauft, um an einem bestimmten Liefertag wieder zu verkaufen. An diesem Tag verzichtet er aber auf die Lieferung der gekauften Aktien und lässt sich den Differenzbetrag, um den die Aktie seit dem Tag des Kaufes gestiegen ist, ausbezahlen. Der Baissespekulant verkauft die Aktie, die er gar nicht besitzt, auf Lieferung und rechnet damit, dass ihr Kurs bis zum Lieferungstag gefallen ist. Wenn dies zutrifft, liefert er aber nicht, sondern lässt sich die Differenz zwischen dem höheren Vertragsabschlusskurs und dem niedrigeren Kurs am Lieferungstag ausbezahlen. Diese sogenannten Differenzgeschäfte drehen sich manchmal um zehnmal mehr Stücke, als von dem Spekulationspapier überhaupt vorhanden sind.«

»Mir schwirrt der Kopf.«

»Sehen Sie, mein lieber Maître Pöltl, deshalb sollten Sie ein vorsichtiger Kapitalist sein.«

»Und wie geht das?«

»Bewahren Sie Ihre Ersparnis daheim unter der Matratze auf. Spielen S’ auf keinen Fall an der Börse mit.«

»Aber das tun doch alle!«

»Ohne dass ihnen bewusst ist, dass der Kapitalismus grausamer als das grausamste Raubtier ist.«

*

Versonnen spielte er mit dem dichten Busch ihres Achselhaares. Er genoss die sanfte Strenge des Schweißes, die aus ihrer Achselhöhle strömte und die sich auf eine betörende Art mit dem sonst eher süßlichen Aroma ihres entspannt daliegenden nackten Körpers verband. Antonia Kotcheva lag auf dem Rücken und atmete gleichmäßig. Hin und wieder entwich ihrem leicht geöffneten Mund ein zarter Schnarchlaut. Das Mädel ist ein Wunder an Natürlichkeit, dachte er. Sie war bei Weitem nicht so erfahren wie zum Beispiel seine Kammerdienerin oder wie die Huren in den Freudenhäusern am Spittelberg. Das war schon außergewöhnlich. Jedes Mal, wenn er sie besuchte, trat er in eine andere Welt ein, die bodenständiger und simpler war als die, in der er selbst lebte. Antonia war unverdorben und hatte eine fast kindliche Freude am Liebesakt. Er ließ ihr Achselhaar durch Daumen und Zeigefinger gleiten und dachte an den heutigen Tag zurück. Mein Gott! Er hatte den Schritt vollzogen. Den entscheidenden. Heute hatte er die von seinem Vater geerbte Privatbank in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Gründungsversammlung hatte in den Geschäftsräumen der A. Strauch Bank stattgefunden, die ein stattliches Vermögen in die neu gegründete Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft einbrachte. Damit verfügte diese Neugründung im Gegensatz zu den meisten anderen frisch gegründeten Banken über eine solide finanzielle Basis. Umso mehr auch deshalb, da Heinrich von Strauch den Baron Epstein als Teilhaber gewinnen konnte. Einen Privatbankier alten Schlags, der ebenfalls beträchtliche finanzielle Mittel in die neue Gesellschaft eingebracht hatte. Ein weiterer Teilhaber war sein alter Freund Huber, den er zum Generaldirektor der neuen Gesellschaft gemacht hatte. Für den lieben Ernstl hatte es bei dieser Gründung keine Ausnahme gegeben, und so hatte der zweihunderttausend Gulden einbringen müssen. Nicht in Form von irgendwelchen windigen Papieren oder stark überbewerteten Grundstücken, sondern bar. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass das Aufbringen dieser Summe für den Ernstl eine nicht zu unterschätzende Hürde dargestellt hatte, aber er hatte sie gemeistert. Als Anerkennung dafür und nach Rücksprache mit Baron Epstein hatte er seinem Schulfreund die Führung der neuen Aktiengesellschaft überantwortet. Eine Lösung, die ihm sehr behagte. Ernstl würde die Geschäfte führen, und er würde ihm dabei als Vorsitzender des Verwaltungsrates auf die Finger sehen und die Grundzüge der Geschäfte der Bank festlegen. Alles andere würde der Ernstl erledigen. Und dabei sehr gut verdienen. Heinrich von Strauch drehte sich etwas zur Seite, betrachtete die groß und flach daliegende linke Brust Antonias, die von einer wohlgeformten rötlich glänzenden Brustwarze gekrönt war. Wie Pudding mit einer Kirsche darauf, dachte er und begann, an der Brustwarze zu lecken. Antonia stöhnte mehrmals, drehte sich zu ihm, und er vergrub seinen Kopf zwischen ihren Brüsten.

Draußen plätscherte das Wasser in die Badewanne, und er hörte Antonia fröhlich vor sich hin summen. Er selbst verspürte keinerlei Lust aufzustehen. Nein, er sponn lieber die Gedanken fort, bei denen er zuvor unterbrochen worden war. Als Gründungsmitglied hatte der Ernstl die Aktien der neuen Bank wesentlich günstiger bekommen, als alle zukünftigen Käufer sie bekommen würden. Da Heinrich von Strauchs Bank und Epsteins Bank heute ein Syndikat zur Einführung der Aktien gegründet hatten, würde der Ernstl als Teilhaber der neu gegründeten Bank am Kurswert der Aktien mitschneiden. Ja, der Ernstl wird bald seine zweihunderttausend investierten Gulden zurückverdient haben. Und ich, ich werde kaum Arbeit haben. Der Ernstl wird alles regeln, und ich werde mir eine goldene Nase verdienen.

»Einzi! Magst zu mir in die Badewanne kommen?«

Sein schläfriges Gehirn gaukelte ihm Millionen von verdienten Gulden vor. Eine Vision, aus der er sich nicht herausreißen lassen wollte. Er antwortete:

»Ich schlaf schon.«

Heinrich von Strauch wälzte sich im Bett mehrmals herum, bis er schließlich kommod auf dem Bauch lag und ins Reich der Träume hinüberglitt. Dabei stellte er sich vor, wie ihm morgen seine Kammerdienerin mit sanfter, kundiger Hand Antonias Liebessäfte vom Körper waschen würde.

*

Ernst Xaver Huber spazierte vergnügt und leise vor sich hin pfeifend durch die Innenstadt. Der eben stattgefundene Notarbesuch hatte sein Leben verändert. Und zwar in die richtige Richtung. Endlich hatte Heinrich von Strauch ihn zum Teilhaber gemacht. Miteigentümer der neu gegründeten Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft, die aus der Fusion der beiden Banken von Strauch Vater und Strauch Sohn entstanden war. Es ist auch Zeit geworden. Schließlich war er das Arbeitstier, das die tägliche Knochenarbeit, die nun einmal zur Leitung einer Bank, der angeschlossenen Maklerfirmen sowie der Baugesellschaften und Industriebeteiligungen gehörte, leistete. Heinrich von Strauch hingegen war eher der Lebemann und Faulpelz, der die Früchte von Hubers Arbeit genoss und außer einigen Ideen sowie zahlreicher gesellschaftlicher Kontakte nicht viel einbrachte. Kurzum: Ohne ihn, dem lieben Ernstl, lief im Strauch’schen Imperium gar nichts. Und weil dem so war, hatte Heinrich von Strauch ihn nun mit zehn Prozent an der frisch fusionierten Bank beteiligt. Huber hatte erreicht, was ihm seit seinem Eintritt in das Familienunternehmen der Strauchs vorgeschwebt war: nicht nur Handlanger, sondern auch Teilhaber zu sein. Ja, er hatte sogar durchsetzen können, dass er im neuen Firmennamen aufschien. Natürlich nicht mit seinem Familiennamen, aber immerhin als Compagnon. Und so spazierte er wohlgelaunt durch die von einer fahlen Wintersonne beleuchtete Stadt, in der an allen Ecken abgerissen und gebaut wurde. Fast wäre er im Überschwang der Glücksgefühle an dem Laden vorbeigegangen, über dessen Eingang eine gusseiserne Schere im kalten Wind schaukelte. Auf den Scheiben des Geschäftes stand in großer, mit allerlei Arabesken versehenen Schrift: »Salon Pöltl Barbier & Friseur«. Huber blieb stehen, fuhr sich mit der Hand über Oberlippe und Kinn und erinnerte sich an den heutigen Morgen. Er hatte verschlafen und war deshalb nicht dazu gekommen, sich zu rasieren. Überhaupt hatte er aus reiner Sparsamkeit bisher nie einen Barbier aufgesucht, sondern immer selbst zu Seife, Pinsel und Rasiermesser gegriffen. Aber nun, als Teilhaber einer renommierten Bankgesellschaft, sollte er seine bisherigen Gewohnheiten überdenken. Es war Zeit, sich etwas Luxus zu gönnen, dachte er, während er mit seiner Rechten über die bartstoppeligen Hautpartien rund um seinen Mund fuhr. Er zupfte am mächtigen Backenbart, der sein Gesicht umgab, und registrierte mit Unbehagen, dass dieser in den letzten Tagen über die Maßen gewuchert war. Er sollte also dringend zur Schere greifen, um den Wildwuchs zurechtzustutzen. Etwas, worauf er bisher wenig Lust gehabt hatte. Damit war es vorbei, beschloss Huber und betrat erhobenen Hauptes und frischen Mutes den Barbiersalon. Meister Pöltl, ein kleiner quirliger Mann mit einem waagerecht links und rechts wegstehenden Schnurrbart und kunstvoll frisiertem Lockenkopf begrüßte Huber in dienstbeflissenem Tonfall:

»Wünsche einen wunderschönen guten Tag, Euer Gnaden. Bitte kurz Platz zu nehmen. Stehe in Kürze zu Diensten.«

Huber nahm auf einem der Fauteuils im Salon Platz, während der Meister einem wohlbeleibten Mann mit klappernder Schere dessen schütteres Haar fassonierte. Huber entspannte sich, schnupperte mit Wohlbehagen die von diversen Rasier- und Haarwässern geschwängerte Atmosphäre, faltete die Hände über dem Bauch zusammen und atmete tief durch. Endlich einmal an nichts Geschäftliches denken. Doch dieser Augenblick der Entspannung war schnell zerstört, als der Wohlbeleibte zu dozieren begann:

»Dank meines untrüglichen G’spürs für die Börse hab ich Ende des letzten Jahres dreißigtausenddreihundertfünfundvierzig Gulden lukriert. Lauter erstklassige Papiere, in die ich mein Geld angelegt hab’. Und wissen Sie was, ich verputz’ das Geld nicht. Nein, ein Alzerl20 nehm’ ich mir fürs Vergnügen, und den Rest investier’ ich neuerlich. Weil man das Heu ernten muss, solange es geht. Ich sag’ Ihnen, mein lieber Pöltl, wir erleben zurzeit eine Jahrhunderthausse. Und die wird anhalten, weil ja auch noch die Weltausstellung kommt. Da werden die Aktienkurse erst recht den Plafond durchbrechen. Eine Million! Eine Million Besucher wurden für die Weltausstellung prognostiziert. Wissen Sie, was das heißt? Dass gebaut wird ad infinitum. Deshalb investiert ein jeder, der g’scheit ist, in Baugesellschaften. In fünfzehn solcher Gesellschaften habe ich mittlerweile mein Vermögen gesteckt. Und wissen Sie was? Es trägt ungeahnte Früchte. Natürlich nicht eine jede Gesellschaft. Aber alle tragen ihr Scherflein zum Wachstum meines Wohlstands bei. Die einen mehr, die anderen weniger.«

Pöltl legte die Schere zur Seite und griff zu einer Glaskaraffe, aus der er einige Spritzer Lotion auf das sehr lichte Haar seines Kunden verteilte. Dann begann er gefühlvoll, den Schädel des beleibten Mannes zu massieren. Der schloss genussvoll die Augen, und Pöltl seufzte:

»Wissen S’, ich bin halt a bisserl misstrauisch, was die Börse betrifft. Ein guter Kunde von mir, der Baron von Strauch, hat mir erst unlängst wieder geraten, mein mühsam Erspartes nirgendwo sonst hin als in meinen Sparstrumpf zu stecken.«

Ernst Xaver Huber wurde aus seinen Gedanken gerissen. Da schau her! Heinrich von Strauch lässt sich hier rasieren. Na, dann bin ich als sein neuer Kompagnon ja bestens aufgehoben. Einem Impuls folgend, räusperte sich Huber, stand auf und machte eine angedeutete Verbeugung vor den beiden Herren:

»Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Dr. Ernst Xaver Huber mein Name. Direktor und Miteigentümer der Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft.«

Dem Friseurmeister fiel fast der Spiegel aus der Hand, den er dem Wohlbeleibten gerade vor die Nase hielt, damit dieser den Sitz seiner Frisur überprüfen konnte. Der Dicke erhob sich schnaufend und schüttelte Huber die Hand:

»Müller. Hofrat Bonifazius Müller. Sehr angenehm, Herr Direktor.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Visitenkarte überreiche? Ich habe beiläufig mitgehört, dass Sie ein ganz engagierter Anleger sind, Herr Hofrat. Schaun S’ doch einmal bei mir in der Bank vorbei. Ich glaub’, ich hätte da einige ganz ausgezeichnete Börsentipps für Sie.«

»Das klingt ja sehr interessant. Wie wär’s denn mit Freitagnachmittag? Da geh ich immer etwas früher aus dem Ministerium weg.«

»Ausgezeichnet. Nach dem Mittagessen? So um halb drei?«

»Wunderbar. Ich freu’ mich.«

Hofrat Müller zahlte, verabschiedete sich und verließ wohlgelaunt den Salon. Huber nahm auf dem Barbierstuhl Platz, atmete tief durch und schloss vor Genuss die Augen, als der Barbier feuchte, warme Tücher auf seine Wangen und seine Mundpartie legte.

»Wie wünschen denn der Herr Direktor die Rasur?«

»Na, ganz normal. Der Backenbart gehört gestutzt.«

»Wünschen der Herr Direktor den Backenbart nach neuester Mode geschnitten?«

»Wie wär das denn?«

»Nun, da müssten wir a bisserl mehr schneiden. Der Elegant21 trägt heutzutage kleinere Bartkoteletten, als es der Herr Direktor derzeit tut. Außerdem würde ich Euer Gnaden empfehlen, sich eine Moustache wachsen zu lassen. Kleine Bartkoteletten und dazu ein fescher Moustache sind der dernier cri.«

»Na, dann mach ma das halt.«

Pöltl entfernte die warmen Tücher, griff zu Seife und Pinsel und begann die zu rasierenden Stellen einzuseifen. Dabei sparte er mit Bedacht die Oberlippe seines Kunden aus, dort, wo in Zukunft ein Moustache sprießen sollte. Danach hörte Huber, wie der Barbier das Rasiermesser schleifte. Zurückgelehnt, den nackten eingeseiften Hals einem fremden Mann entgegenreckend, fühlte sich Ernst Xaver Huber plötzlich unwohl. Als aber die scharfe Klinge von sicherer Hand geführt über seine Gesichtshaut glitt, entspannte er sich. Zwischendurch kam an seinem Backenbart auch die Schere des Meisters zum Einsatz, und als das Verschönerungswerk vollbracht war, staunte Huber. Mit den massiv zurechtgestutzten Bartkoteletten, dem frisch und fröhlich sprießenden Moustache auf seiner Oberlippe und den glatt rasierten, vom Einsatz eines wunderbar duftenden Rasierwassers prickelnden Stellen der Gesichtshaut fühlte Ernst Xaver Huber sich wie neu geboren. Das war nicht mehr das alte, von einem Rauschebart umgebene Gesicht eines hart arbeitenden Bankbeamten, sondern das elegante Gfrieß22 eines Entrepreneurs. Während er sich von seinem Spiegelbild kaum losreißen konnte, räusperte sich Meister Pöltl im Hintergrund und sagte in schmeichelndem Tonfall:

»Fesch. Sehr fesch schaut er aus, der Herr Direktor.«

Huber nickte zufrieden, stand auf, vereinbarte für den übernächsten Morgen einen Termin, zückte sein Portemonnaie, und im Zuge des Bezahlvorganges sagte Pöltl plötzlich:

»Ich täte Euer Gnaden gerne etwas fragen.«

»Worum geht’s denn?«

»Ums Geld. Ums liebe Geld.«

»Na, da sind S’ bei mir an der richtigen Adresse. Wollen S’ am Ende gar ein bisserl was in Aktien anlegen?«

»Meine Frau drängt mich so. Viel hab’ ich ja nicht …«

»Aber ich bitt’ Sie. Niemand muss heute viel Geld haben, um an der Börse zu investieren.«

»Ah so?«

»Es ist ganz einfach: Sie haben ein bisserl eigenes Geld, und dazu nehmen Sie einen Kredit zu, sagen wir … fünf Prozent … auf. Alles zusammen geben Sie mir, und wir machen ein sogenanntes Kostgeschäft.«

»Ein Kostgeschäft?«

»Jawohl. Sie kaufen mit dem eigenen und dem geborgten Geld Aktien. Diese Papiere geben Sie der Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft in Kost. Das heißt, Sie zahlen ein halbes Prozent per Woche dafür, dass wir die Papiere auszahlen und so lange aufheben, bis sie ihren Wert vervielfacht haben. Dann verkaufen Sie die Papiere, zahlen den Kredit zurück und streichen den Gewinn ein.«

»Und das funktioniert?«

»Ich bitt’ Sie! Viele, die an der Börse investieren, machen das nicht mit ihrem eigenen Geld.«

»Ja, ich weiß, ich weiß.«

»Na also. Besprechen S’ das Kostgeschäft in Ruhe mit Ihrer Frau Gemahlin und red’ ma das nächste Mal weiter. Ich empfehle mich und wünsche einen schönen Tag.«

»Das wünsche ich Ihnen ebenfalls, Herr Direktor. À bientôt! Und danke für Ihren Rat. Herzlichen Dank. Danke, danke.«

*

Müde kam Alois Pöltl am Abend nach Hause. Anders als sonst wieselte Ehrenfrieda herbei und half ihm aus dem Mantel. Auch die Hauspatschen standen schon da. Als er nach seinem Hausmantel fragte, schüttelte sie den Kopf und reichte ihm die elegante Hausjacke, die er normalerweise nur zu Weihnachten, Ostern und an seinem Geburtstag tragen durfte.

»Was ist denn los, Frieda?«

Sie antwortete flüsternd:

»Wir haben Besuch. Der Onkel Ferry ist da.«

Oberst Ferdinand Ritter von Wiesner, der jüngere Bruder von Ehrenfriedas Vater Albrecht Wiesner, war ein Kriegsheld. Ein schneidiger Dragoner-Offizier, der im 1866er Krieg unzählige Preussen massakriert und im Zuge der Kampfhandlungen ein Bein verloren hatte. Zum Dank für seine militärischen Verdienste hatte er den Orden der Eisernen Krone erhalten und war in den Ritterstand erhoben worden.

Und das nach einem langen Arbeitstag!, dachte Alois. Aber Selbstmitleid oder gar Flucht waren keine Option. Also stand er auf, atmete tief durch und straffte seine Haltung. Dann marschierte er zum Wohnzimmer, öffnete zackig die Tür, trat ein, stand stramm und schnarrte:

»Gott zum Gruße, Herr Oberst. Servus, lieber Ferry.«

»Servus, Loisl. Steh kommod und nimm bitte Platz.«

Er führt sich auf, als wenn er der Herr im Hause wäre, schoss es Pöltl durch den Kopf und setzte sich, ohne zu antworten. Umgehend ärgerte er sich wieder, da der Oberst seiner Nichte befahl:

»Ehrenfrieda! Nachdem du mich aufs Vortrefflichste versorgt hast, kümmer’ dich jetzt bitte um das leibliche Wohl deines Gatten.«

In Pöltl stieg Wut hoch. Wie komme ich dazu, dass ich mir in meinem Haus dieses Theater bieten lassen muss?

Doch Ehrenfrieda machte vor ihrem Onkel einen Knicks und flötete:

»Jawohl, Onkel Ferry.«

Sie schenkte den beiden Herren aus einer am Tisch stehenden Karaffe Rotwein ein und verschwand in Richtung Küche. Pöltl erhob sein Glas, knurrte »Sehr zum Wohl« und nahm einen kräftigen Schluck. Der Oberst tat es ihm gleich, ließ den Wein über die Zunge rollen, schluckte und verkündete mit Kennermiene:

»Gar nicht so übel, der Rote, den du da zu Hause hast.«

»Der ist aus Sooß.«

»Wir Stabsoffiziere bevorzugen halt einen Vöslauer. Im Kasino hat’s immer nur Vöslauer gegeben.«

Alois’ Wut, die gerade am Abklingen war, kochte neuerlich hoch. Er nahm noch einen Schluck und wollte gerade dem Oberst eine gepfefferte Antwort geben, als Ehrenfrieda das Zimmer betrat und ihrem Mann einen dampfenden Teller Rindsuppe, in der zwei strahlend weiße Grießnockerln schwammen, servierte. Er schluckte seinen Ärger hinunter und begann hungrig wie ein Wolf, die Suppe zu löffeln. Wunderbar! Frieda war einfach eine gute Köchin. Während er aß, schwieg der Oberst. Er trank sein Glas leer, und Ehrenfrieda schenkte nach.

»Der scheint dir ja trotzdem zu schmecken. Obwohl’s kein Vöslauer is’ …«

»Ich sagte ja bereits: gar nicht so übel. Und im Übrigen: Variatio delectat.«

Alois zuckte zusammen. Dieser Hieb hatte gesessen. Latein! Das hatte er in der Grundschule natürlich nicht gelernt. Damit konnten ihn die besseren Herrschaften immer in Verlegenheit bringen, was hin und wieder in seinem Salon vorkam. Neulich, als er dem Ritter von Boschan den Bart massiv stutzte, hatte dieser listig gezwinkert und gemurmelt: »Per aspera ad astra.« Dafür hatte Alois ihm dann beim Rasieren der Kinnpartie einen ordentlichen Schnitt verpasst. Und auch jetzt hätte er am liebsten sein Rasiermesser gezückt. Zum Glück servierte Ehrenfrieda nun das Hauptgericht: Fleischlaberln23 mit Erdäpfelpüree und knusprigen Zwiebelringen. Wie das duftete! Mit Begeisterung begann Pöltl zu essen und dachte sich: Der Oberst soll mir den Buckel runterrutschen!

Nach der Mahlzeit lehnte er sich wohlgesättigt zurück und zündete sich eine Virginier an. Der Oberst nuckelte an seiner Pfeife, während man Frieda gemeinsam mit dem Dienstmädel in der Küche rumoren hörte. Alois genoss die Stille, die allerdings nicht lange dauerte. Denn der Oberst griff in die Innentasche seines Sakkos und legte die aktuelle Ausgabe der »Österreichisch-ungarischen Wehr-Zeitung« auf den Tisch. Er begann zu blättern, faltete die Zeitung zusammen und legte Alois eine Seite vor die Nase, auf der zwei riesengroße Inserate prangten. Das obere hatte die Überschrift Domus, Gesellschaft zur Erbauung billiger Wohnungen. Des Oberst Zeigefinger tippte aber auf die untere Anzeige, deren Titel folgendermaßen lautete: Ohne Risico höchste Fructificirung von Baargeld. Alois schluckte, plötzlich wurde ihm klar, woher der Wind wehte. Da er sich bisher standhaft geweigert hatte, sein Erspartes in irgendwelchen Effekten anzulegen, fuhr Frieda nun schwere Geschütze auf. Sie hatte ihren Onkel Ferry eingeladen, um seine Kapitulation zu erzwingen. Der Oberst beugte sich vor, blickte Alois in die Augen und sagte in väterlichem Tonfall:

»Das solltest du dir anschauen. Das ist einmalig. So eine Gelegenheit gibt’s vielleicht nie wieder. Ich weiß, dass du ein fleißiger Mann bist und dass du einiges Geld im Sparstrumpf hast. Das liegt dort tot herum und arbeitet nicht. Geld muss arbeiten, mein lieber Alois. Vertrau mir. Ich habe vor zwei Monaten bei diesem Bankhaus mein bescheidenes Vermögen angelegt. Und weißt du was? Monatlich, genauso wie es hier geschrieben steht, werden mir die Zinsen in bar ausgezahlt. Es ist wie ein Wunder.«

Voll Widerwillen nahm Alois die Zeitung und las:

J. B. Placht

Bankhaus für Fonds-Spekulationen an der k. k. Wiener Börse

Übersicht des Standes: Laut programmmäßiger Kundmachung vom 18. Jänner sind für Kost- und Prolongations-Geschäfte bis 17. Jänner:

eingegangen Oe. W. fl. 1.797.718,22

rückgezahlt Oe. W. fl. 954.761,19

daher verbleiben Oe. W. fl. 842.957,08

welche ein 20perzentiges Erträgniß erzielten, daher auch alle vom 10. Jänner bis 17. Jänner gemachten Einlagen mit diesem Zinsfuße berechnet werden.

Der Oberst zog an seiner Pfeife, nahm einen Schluck Rotwein, lehnte sich zurück und sagte:

»Da! Schau, was da steht: Bis 200 fl. erfolgt die Rückzahlung ohne Kündigung a vista. Und das ist nicht nur Reklame! Das stimmt alles, was da drinnen steht in diesem Inserat. Schau mich an: Ich hab’ am 20. Dezember zweihundert Gulden beim Bankhaus Placht eingezahlt. Heute am 20. Jänner war ich dort und hab’ zweihundertvierzig Gulden kassiert. Bar auf die Hand! Mein Gott, Alois!«

»Aber Kostgebühren hast zahlen müssen.«

»Ja eh. Aber die fallen net so ins Gewicht. Alles in allem war das a schöner Rebbach.«

8 Hier: Bauch. Sonst: Lunge.

9 Nachfrage

10 weich wie Butter

11 hässlichen

12 Geschlechtsverkehr ausüben

13 Ordnung machen

14 Essen

15 Rosenkohl

16 1 Quadratklafter = 3,5979 m2

17 Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi

18 Halunken

19 Gesindel

20 ein bisschen

21 modebewusster Mann

22 Gesicht

23 Frikadellen

Alles Geld der Welt

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