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Wolfsgeheul

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Ziemlich lange habe ich mich bei der Titelwahl für diese Geschichte nicht zwischen „Hundeelend“ und dem nun gewählten entscheiden können. Warum, das wird wohl bei der anschließenden Lektüre bald einleuchten.

„Die Russen kommen!!!“ Dieser Aufschrei riss das Dörfchen am Bodden im Frühsommer 1945 aus seiner – trotz des Krieges – bis dahin recht beschaulichen Ruhe, sah man einmal von den entsetzlichen Nachrichten in Feldpostbriefen an die Familien – vor allem in letzter Zeit – ab. Mit viel Gebrüll und Peitschenknall hielt eine scheinbar wild gewordene, bunt zusammengewürfelte Schar fremdartig klingender und aussehender Soldaten in abgerissenen Uniformen auf teilweise sehr abenteuerlich anmutenden Fuhrwerken aller Art Einzug. Sie verbreiteten unter der Dorfbevölkerung – vornehmlich weiblichen Geschlechts – verständlicherweise Angst und Schrecken. Nichts war vor ihrem Zugriff sicher, um vor allem die eigenen Bäuche und Pferdekoppeln zu füllen. Am meisten wurden sie natürlich von den Müttern gehasst, deren Söhne „sie auf dem Gewissen hatten“. Fragen von politischer Verantwortung, von Recht und Unrecht der einen oder anderen Seite, dieses größten aller Völkermorde spielten dabei für die Hinterbliebenen nicht die geringste Rolle. Jeder einzelne der Besatzer war für die Frauen der Mörder ihrer Kinder. So wurden sie denn nach Möglichkeit auch entsprechend behandelt.

Hörte ich als Kind von diesen Zeiten, so stellte ich mir Menschenfresser vor, Beweise dafür aber wurden nie erbracht. Später wunderte ich mich zudem, dass auch von Übergriffen ernster Art auf die Dorfbewohnerinnen nie berichtet wurde. Entweder waren tatsächlich keine solchen vorgekommen oder man hatte den Mantel beschämten Schweigens darübergebreitet.

Nach und nach bemerkten die verunsicherten Dörfler eine gewisse Ordnung in dem wilden Haufen. So kamen nur die Offiziere mit Forderungen, Anliegen und Wünschen in die Häuser. Erlaubten sich die „Gemeinen“ irgendwelche Übertritte, gab es auf der Stelle unbarmherzige Bestrafungen in Form von Schlägen und Arrest. Die ausgehungerten Dorfkinder kriegten dann und wann sogar Brot von den „Feinden“ zugesteckt, was das Ansehen Letzterer beträchtlich steigerte.

Eine Geschichte werde ich nie vergessen, die meine Oma uns über jene Tage wieder und wieder in einer Mischung aus Genugtuung, Schauder und Mitgefühl erzählte:

„Ick war grad aufm Hof zum Wäscheaufhängen. De Quajen von Nachbars spielen da so rum (Quade hieß in Omas Neumärker Heimatplatt: kleines Kind, wobei sie ein d hinterm a auch noch bei anderen Wörtern als j aussprach.), als son lütter, krummbeiniger Russenkerl auftaucht, rundrum glotzt und ein Stück Brot in Minnings Hand entdeckt. Haste nich gesehn, reißt der Hund ihr’t wech und stoppt dat in sein eignet Maul. Nach dem ersten Schreck fängt Minning mächtig an zu heulen. Auch ick find meine Sprache wieder und brüll, so laut ick kann, um dem Kerl Angst zu machen und vielleicht Hilfe zu kriegen. Wat ick nich gedacht hatte, passiert: Ein Russenoffizier, den ick kenn und der mich kennt, weil ick ihm paar Mal wat zu essen kochen musste, steht mit mal da und will wissen, wat los is. Ick zeich auf den Krummbeinigen und versuch zu erklären, wat der gemacht hat. Eigentlich hab ick aber nich gedacht, dat der Oberrusse mich verstehen und schon gar nich, dat der irgendwat tun wird. Ihr glaubt nich, wie ick mich geirrt hab! Der reißt mir doch voller Wut ne Wäschestütze aus de Hand und prügelt damit ohne jede Rücksicht auf den Brotklauer los, treibt den blutig in unsern Donnerbalken, knallt die Tür zu, steckt nen Pricken vor und brüllt die ganze Zeit wüstet Zeug. Ick und die Kinner sind erst mal sprachlos. Denn kann ick mir doch nich verkneifen: ‚Dat schad di gonnix!‘, zu rufen, wobei mir, ehrlich gesagt, die Strafe bis dahin schon ganz schön happig vorkam. Aber wisst ihr, wie dat nu weitergeht? Der Scheißkerl saß da inne winzige, stinkende Holzbude und traute sich scheinbar nich, n Mucks zu sagen. ‚Na, der hat ja nu sein Fett wech!‘, dacht ick und: ‚Wird denn sicher bald wieder rausgelassen, muss ja bestimmt irgendwo wat arbeiten‘, aber auch da war ick aufn verkehrten Dampfer. Abends hockt der immer noch drin, weiter mucksmäuschenstill. So langsam fand ick die Sache ja doch n bissen zu doll. Als dat denn dunkel wird und keiner mehr draußen rumhantiert, hör ick mit mal son komischen Ton. Wie ick noch so grübel, wat dat sein kann, merk ick, woher’t kommt: Vom Plumsklo! Zuerst is dat ja man bloß son leiset Jaul’n. Denn später inne Nacht geht dat über in Geheul. So stell ick mir n Wolf, der Hunger hat, in Winter vor: langgezogen, laut und weiß ick wie traurig. Dat ging ein’n glatt durch Mark und Penning. Die Russen ließ dat scheinbar kalt und von uns traut sich keiner hin. ‚Wer weiß, wie dat noch werden soll‘, denk ick und krieg die ganze Nacht kein Auge zu. Hätt ick man nich son Aufstand wegen dat bissen Brot gemacht! Der ‚Steppenwolf‘, der krichte bis zun nächsten Mittach nich Nass, nich Trocken! Bis heut rennt mir dat kalt den Puckel runter, wenn ick dran denken tu.“

Auch in mir klingt bis heute aus dem Bericht meiner Oma, obwohl sie ihren Jüngsten in Stalingrad verloren hatte, ihr Mitgefühl mit dem wilden Weh einer gequälten Kreatur nach.

Im Dezember 2013

Lausch ich in die tiefste Ferne …

Als Opa nicht mehr „bahnern“ tat,

zog er mit Oma in mein Haus.

Kaum, dass bewusst ich zu ihm trat,

trug man ganz still ihn schon hinaus.

Oma starb erst hoch betagt,

war an die 88 Jahr,

hat lebenslang sich treu geplagt

für Söhne, Mann und Enkelschar.

Ich ward ihr „Lieblingssorgenkind“,

hat Nachsicht bei mir stets entfaltet:

„De arme Jong, de is nu blind!“

Hab diesen „Vorzug“ schlau verwaltet.

Im Januar 2014

Lebensstapfen. Tief ist meiner Heimat Spur

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