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Olivia und Paul
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„Hallooooooo! Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“, rief der Mann Olivia mit strahlendem Lachen und glänzenden Augen zu und verstellte ihr den Weg. „Du bist genau das, wonach ich mir die Augen aus dem Kopf gucke!“
Olivia blieb entgeistert stehen und ihr Freund Paul verzog ärgerlich die Miene. Er sah Olivia fragend an.
„Das ist die billigste Anmache, die mir je untergekommen ist!“, meinte diese verwirrt und mit entschuldigendem Blick zu Paul.
„Blonde, lange Haare, ein wunderbar flaches Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und vollen, sinnlichen Lippen, diese herrliche Figur, vielleicht ein bisschen zu muskulös, aber doch noch zierlich genug und dann die Beine, diese herrlich langen Beine. Ein Gedicht, kann ich da nur noch sagen. Ideale Maße. Genau das, was ich suche!“, schwärmte der Mann und musterte Olivia von oben bis unten.
Olivia war es gewohnt, wegen ihrer Schönheit angesprochen zu werden, aber die Aufdringlichkeit dieses Mannes war so extrem, dass ihr ängstlich zu Mute wurde. Außerdem fand sie es unmöglich, dass er sie wie ein Stück Vieh auf dem Markt betrachtete.
Auch Paul hatte die Nase voll. „Sie ist meine Freundin, dass du es nur weißt. Also lass die Anmache und verzieh dich!“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist ein Missverständnis. Das ist keine Anmache!“ Er zeigte auf ein Schild, das hinter ihm an einem Stand hing und auf dem „New Models“ stand. „Ich bin von einer Modelagentur. Und wir suchen ständig neue Gesichter!“ Er drückte den beiden einen Flyer in die Hand, in dem sie irritiert herumzublättern begannen.
Während der junge Mann, der sich mit Robby vorstellte, weiter auf sie einredete, wurde ihnen bewusst, was er von ihnen wollte.
„Wir suchen neue Gesichter, die wir dann an unsere Kunden vermitteln. Und du siehst so gut aus, dass ich mir fast sicher bin, dass du nur so in Aufträgen schwimmen wirst. Versprochen!“
Olivia sah ihn nun schon mit leuchtenden Augen an. „Das ist ja toll! Findest du nicht auch?“
Paul verzog die Miene und war wenig begeistert. „Das kommt davon, wenn man zu so einem Quatsch geht. Ich wollte gleich nicht mit.“
Sie hatten nämlich beschlossen, diesen Samstagnachmittag auf der größten Lifestyle-Messe Londons zu verbringen, danach essen zu gehen und schließlich noch in einer Diskothek abzutanzen.
„Gott sei Dank haben wir das getan. Wenn ich nur daran denke, dass ich beinahe mit dir auf die Handwerkermesse gegangen wäre!“
„Das hätte wenigstens etwas für meinen Beruf gebracht. Und für unseren gemeinsamen Traum!“
Sie hatten beschlossen, sich in ihren Berufen auf einer Farm auf dem Land selbstständig zu machen. Paul war Schreiner und Olivia Physiotherapeutin.
„Das hier ist auch ein Traum von mir, das weißt du!“, konterte Olivia und wandte sich fasziniert Robby zu.
Dieser bemerkte es und hielt ihr einen Vortrag über den Ablauf ihrer Bewerbung bei „New Models“. Er wies auf den Flyer hin, um ihr zu erklären, wo sie sich bewerben sollte. „Da werden deine Daten aufgenommen, Bilder von dir gemacht, du erhältst eine Sedcard, auf der alles Wichtige von dir zu sehen ist und du wirst in Mappen und Files eingeordnet, die unseren Kunden vorgelegt werden. Zieh was Tolles an, richte dir die Haare raffiniert her und schminke dich einigermaßen. Dann werden wir dich als Model unter Vertrag nehmen, das garantiere ich dir!“
„Toll!“, rief Olivia und wäre Robby fast um den Hals gefallen vor Glück. „Das ist schon immer ein Traum von mir!“
Robby wich zurück und lächelte vorsichtig.
Paul sah beide böse an.
„Schau halt nicht so, Paul!“, flehte Olivia. „Freu dich doch mit mir. Das ist doch der einzige Traum, den ich wirklich habe!“
„Ich dachte, unsere Farm auf dem Land, unsere Familie mit Kindern wäre dein Traum. Meiner ist es jedenfalls!“
„Das ist ja nicht aufgehoben, nur aufgeschoben. Aber diese Chance, die sich mir hier bietet, die muss ich nutzen. Und vielleicht verdiene ich ja auch ganz gut, jedenfalls viel mehr, als als Physiotherapeutin!“ Sie sah den Modelscout unsicher an.
„Wenn man so scharf aussieht wie du, dann verdient man `ne ganze Menge Kohle. Da kannst du sicher sein!“ Er strahlte sie mit breitem Lachen an. „Gib mir deine E-Mail-Adresse, dann melden wir uns bei dir und laden dich zu einem Casting ein!“
Olivia diktierte sie ihm.
„Du siehst wirklich fantastisch aus!“, wiederholte er und warf immer wieder einen Blick auf sie.
„Jetzt reicht es aber wirklich mit der Anmache!“, knurrte Paul ärgerlich, um von seinem eigentlichen Problem abzulenken.
Robby trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. „Vergiss doch das blöde Gequatsche von der Anmache!“, flötete er. „Wenn hier jemand Angst haben muss, dann dein Mädchen, wenn du verstehst, was ich meine. Du bist nämlich auch ein ganz schön scharfer Typ. Groß, schlank, schwarze Haare, nur dein Gesicht ist nicht schön genug für ein Model. Aber ich stehe auf Unvollkommenheit und kleine Makel. Das macht mich richtig scharf.“ Er sah Paul verführerisch an.
Da sahen die beiden, dass sie fortkamen.
2
„And the winner is … !“ Der Moderator des Wettbewerbs machte eine Pause, um die Spannung des Publikums zu steigern. Er schaute mit überlegenem Lächeln hinunter zu den Zuschauern, die noch vor wenigen Minuten ihre Favoriten lautstark und mit tumultartigen Szenen unterstützt hatten.
Nun Aber kurz vor der Verkündung der Siegerin, war es totenstill in der Diskothek geworden.
Der Moderator zeigte mit seiner Hand nochmals auf die Models, die neben ihm aufgereiht standen, alle in Bikini und mit Highheels und einer Nummer um ihren Oberkörper. „Werfen Sie noch einmal einen Blick auf diese unglaublichen Geschöpfe! Leider kann nur eine die Siegerin sein!“, hauchte er in das Mikrofon und steigerte so erneut die Spannung.
Das Publikum atmete gemeinschaftlich tief durch.
„And the winner is … !“ Kurzer Blick ins Publikum. „Olivia!“
Lauter Jubel brach in der Ecke aus, in der Paul und Olivias Freunde saßen. Die Fotografen nahmen Olivia in ihren Focus und ein Blitzlichtgewitter brach los. Die Fans der anderen Models stießen zunächst einen Seufzer der Enttäuschung aus, dann applaudierten sie aber angemessen.
„O – li – vi- a, O – li – vi- a!“, skandierten Paul und Olivias Freunde und Freundinnen.
Immer wieder brach Applaus und Jubel der Fans aus, als die Reihenfolge der Sieger genannt wurde. Am Ende waren alle aufgestanden und klatschten und jubelten begeistert. Olivia stand da, sah sich ungläubig in dem großen Raum der Diskothek um, konnte ihr Glück nicht fassen und lächelte selig in alle Richtungen.
Ihre Freunde waren nach vorne an die Bühne gestürzt und riefen ihr begeistert Glückwünsche zu, die sie aber in all dem Lärm nicht verstand, nur erahnen konnte. Dann skandierten sie wieder ihren Namen.
„O – li – vi- a, O – li – vi- a!“
Sie lächelte und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Sie stand da und versuchte sich zu erinnern, wie es dazu gekommen war.
Eine Freundin hatte ihr den Flyer des Schönheitswettbewerbs in der Diskothek „Fire“ mitgebracht.
„Wow! Das ist der angesagteste Club weit und breit.“
„Da musst du mitmachen!“, hatten ihre Freunde gedrängt, obwohl sie nicht hätte gedrängt werden müssen.
Sie hatte sich angemeldet, war zu einer Vorauswahl eingeladen und gemustert worden. „Schöne, blonde, lange Haare, schöne Augen, schönes Gesicht, endlos lange Beine und eine tolle Ausstrahlung!“, hatten die Veranstalter gemeint und ihr dann das Ticket zur Teilnahme zusammen mit einem Infoflyer in die Hand gedrückt.
Wochenlang fieberte sie dem Termin entgegen, erledigte ein tägliches Beauty-Programm, übte eine Choreografie ein und hungerte, um noch ein bisschen abzunehmen, was ihr aber nicht gelang.
„Muss das denn wirklich sein?“, hatte Paul genervt gefragt.
„Freust du dich denn gar nicht für mich?“
„Doch, aber ist das alles nicht ein bisschen übertrieben?“
„Paul, ich brauche jetzt deine bedingungslose Unterstützung, verstehst du das denn nicht. Wenn du mich wirklich liebst, musst du mich unterstützen. Du musst mir Mut machen und mir dabei helfen, meine Unsicherheit loszuwerden. Ich brauche dich jetzt, verstehst du denn nicht?“
„Also gut, ich unterstütze dich, ich unterstütze dich!“, seufzte er und sah sich einen Baumarktkatalog mit den neuesten Geräten an. Er versprach ihr zähneknirschend seine Hilfe.
Und so saß er geduldig neben ihr, wenn sie sich eine Beautypackung aufs Gesicht legte, unterhielt sich mit ihr bei entspannender Musik und blätterte leise in seinen Katalogen. Er joggte mit ihr, damit sie abnahm und aß danach allein in der Küche, während sie im Wohnzimmer hungerte. Sie zeigte ihm ihre Choreografie und er beriet sie dabei, so gut das jemand konnte, der keine Ahnung davon hatte.
„Danke, Paul!“, meinte sie und das war sein Lohn.
Dann war der Tag der Entscheidung da. „Jetzt ist es soweit!“, stammelte sie mit zitternder Stimme.
„Versprich dir nicht zu viel!“, hatte er gemeint und gehofft, dass sie nicht gewinnen würde.
„Was soll das heißen, findest du, dass ich nicht hübsch bin?“
„Nein, nein, nein! Ich möchte nur nicht, dass du nicht zu enttäuschst bist, wenn du nicht gewinnst“, umschiffte er gerade noch das Fettnäpfchen. „Ich meine nur, dass vielleicht noch andere schöne Mädchen da sind!“
Sie warf ihm einen bösen Blick zu und er schüttelte nur den Kopf über seine Dummheit.
Aber dann war es doch so, wie er vermutet hatte. Als Olivia die Umkleideräume der Diskothek betrat, war sie baff, wie viele hübsche Mädchen vor den Schminkspiegeln saßen und sich herrichteten. Eine Frau fragte sie nach ihrem Namen, hakte sie in einer Liste ab, reichte ihr eine Nummer, die sie an ihrem Bikini anheften sollte und zeigte ihr den Spiegel, wo sie sich herrichten sollte. Sie musste einen Augenblick warten, bis das Mädchen fertig war, das an ihrem Spiegel saß und beobachtete die anderen Mädchen, von denen einige nochmals ihre Choreografie übten.
„Mein Gott, Paul hatte Recht. Hier wimmelt es ja von schönen Mädchen!“, dachte sie. Sie war es gewohnt, dass sie in ihrem Freundeskreis immer nur als die absolut Schönste bezeichnet worden war. Und nun erkannte sie, dass sie hier nur eine von vielen war. Hier waren alle schön, umwerfend schön.
Dann setzte sie sich und begann mit zitternden Händen, sich zu schminken.
„Willst du dich herrichten oder hier herumgaffen?“, meinte das Mädchen, das schon als nächste auf ihren Spiegel wartete, lakonisch.
Da wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrer Vorbereitung nicht weiterkam, weil sie alles um sie herum faszinierte, überraschte und erschreckte.
„Die hält hier schon die ganze Zeit den Betrieb auf!“, zischte ein anderes Mädchen.
„Kommt wohl vom Land! Da nimmt man sich Zeit!“
„Grade so sieht sie aus!“, bestätigte das Mädchen, das neben ihr am Spiegel saß und die sie, nach Olivias Meinung, noch gar nicht angesehen haben konnte.
Olivia machte sich schnell zurecht. Dann musste sie mit den anderen auf die Bühne: Vorstellung, Choreografie, Interview und alles unter tosendem Applaus und Jubel der Fans. Und dann die Verkündung der Siegerin, die Nennung ihres Namens. Sie konnte es nicht fassen, begriff nicht, was mit ihr geschehen war. Dann das Blitzlichtgewitter der Fotografen, sie zuckte mit den Augen, zwang sich zu einem Lächeln, sah ihre Freunde, sie lachten und winkten und sie winkte zurück. Sie suchte Paul und entdeckte ihn schließlich. Er stand nachdenklich vor der Bühne.
Der Besitzer der Diskothek kam auf sie zu und überreichte ihr und den anderen Gewinnerinnen ihre Preise. Natürlich wieder unter Jubel und Applaus der Fans. Dann nahm er Olivia in den Arm und küsste sie auf die Wange. „Du hast verdient gewonnen!“, meinte er anerkennend. „Und ich glaube, du wirst deinen Weg als Model machen. Ich mache das nicht zum ersten Mal und kenne mich aus. Du wirkst einfach extrem frisch! Such dir eine gute Agentur und du wirst Erfolg haben, glaub mir!“
„Das werde ich!“, versicherte sie und dachte an den Model-Scout.
Sie konnte sich aber nicht wirklich freuen. Sie sah nur Paul, der nachdenklich und mit ernstem Gesicht an der Bühne stand.
3
„Was ist denn jetzt schon wieder los? Wo rennst du denn jetzt schon wieder hin?“, rief Paul überrascht aus, richtete sich in Olivias Bett auf und sah ihr nach wie sie aus dem Schlafzimmer in ihr Wohnzimmer stürzte.
„Eine Mail ist gekommen, hast du das nicht gehört?“
Paul verzog die Miene und schüttelte verständnislos den Kopf.
Sie hatten einen schönen Sonntagnachmittag verbracht, waren in der Sonne an der Themse entlangspaziert, hatten in einem kleinen Café gesessen und sich unterhalten und Pläne geschmiedet. Als es Abend geworden war, waren sie in Olivias Wohnung gegangen und hatten auf dem Sofa bei einer Tasse Tee geschmust. Dann hatte Paul sie auf die Arme genommen, hatte sie in ihr Schlafzimmer getragen und begonnen, sie auszuziehen. Plötzlich war sie dann aufgesprungen und an ihren Laptop gelaufen. Paul stand aus dem Bett auf und folgte ihr ins Wohnzimmer.
„Das ist ja ein Kompliment für mich: Die Frauen fliehen vor mir!“
Olivia winkte ab. „Ach rede keinen Unsinn! Du bist der Beste von allen, o.k.?“
Paul runzelte die Stirn. „Warum rennst du dann davon, wenn ich so unwiderstehlich bin?“
Sie starrte eine Weile gebannt und wie elektrisiert auf den Monitor ihres Laptops, schwieg, ignorierte ihn völlig, dann plötzlich sackte sie in sich zusammen, legte ihren Kopf in die Arme und schluchzte, ohne zu weinen. „Oh nein, das kann doch nicht wahr sein!“
Paul trat schnell zu ihr hin und nahm sie besorgt in den Arm. „Was ist denn, Liebstes?“
Sie schüttelte den Kopf und zeigte sprachlos auf den Laptop, in dem ihr E-Mail-Center aufgeschlagen war. „Eine Weinwerbung!“
Er blickte abwechselnd auf ihr E-Mail-Center und dann auf sie und verstand immer noch nichts. „Nun gut! Du trinkst keinen Wein. Aber so schlimm ist das doch auch nicht!“
Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Begreifst du denn gar nichts, du Idiot! Ich warte auf eine Mail von der Modelagentur, die mir sagt, ob und wann ich zu einem Casting oder zur Vorstellung kommen soll!“
Sie bemerkte, wie Paul bei dem Wort „Idiot“ zusammengezuckt war und besann sich. „Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen!“ Sie streichelte ihm übers Haar. „Aber du begreifst gar nicht, was gerade in mir vorgeht!“
Er hatte ihr schon verziehen und sah sie stirnrunzelnd an.
Sie sah ihn an, erkannte, dass er tatsächlich nichts begriff oder ihre Sehnsüchte noch nicht realisiert hatte, sie vielleicht nicht ernst genommen hatte und sprudelte schließlich los. „Ich warte auf die Einladung von der Agentur des Modelscouts, der mich angesprochen hat, du erinnerst dich, ich warte darauf, dass sie mich zu einer Vorstellung einladen, verstehst du, egal wann, völlig egal, nur eingeladen werden, eingeladen werden zur Vorstellung, denn wenn das geschieht, glaube mir, wenn das geschieht, dann werde ich es schaffen, diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, eine solche Gelegenheit werde ich mir nicht entgehen lassen, das schwöre ich bei Gott!“
Sie machte eine Pause und schnappte nach Luft.
„Wow!“, grinste Paul. „So viel an einem Stück habe ich dich noch nie reden hören!“
Sie blickte ihn nachdenklich an und ihr wurde klar, dass er immer noch nichts begriff, dass sie emotional auf ganz unterschiedlicher Wellenlänge waren. „Ich weiß nicht, ob du mich wirklich verstehst. Ich glaube, du verstehst mich nicht, Paul.“
Er drehte abwartend den Kopf. „Erklär es mir!“, meinte er immer noch lächelnd.
Sie machte eine Pause und überlegte, wie sie es ihm klarmachen konnte, ohne ihn zu verletzen. „Das ist mein Traum, Paul!“
„Dein Traum?“
„Ja, ja, ja, es ist mein Traum!“, antwortete sie leidenschaftlich und wie aus der Pistole geschossen und zwang sich, wieder langsam zu sprechen. „Das ist mein Traum!“
„Was denn bitte genau!“, schmunzelte er und streichelte sie zärtlich.
„Ich will Model werden, Paul. Ich will in diesem Leben nichts Anderes mehr, als ein Model zu werden. Das ist mein absoluter Lebenstraum.“
Er lachte. „Sei nicht kindisch! Das ist sicher ein interessanter Beruf, aber doch kein Traum!“
„Es ist mein Traum, Paul, mein einziger Lebenstraum!“
„Sag nicht so was, Olivia!“, bat er sie nun ernst. „Du weißt, dass ich andere Träume habe, Träume, von denen ich dachte, dass sie auch deine sind, echte Träume.“
„Ach und du entscheidest, was ein echter und ein unechter Traum ist!“
„Lass doch die Haarspalterei!“
„Das ist keine Haarspalterei! Das ist eine ernste Sache, Paul!“
Er erhob sich von der Stuhllehne und stellte sich vor ihr auf. „Ich dachte, wir hätten andere Träume. Du hast doch immer zugestimmt, wenn ich davon gesprochen habe, dass wir uns eine Farm kaufen und auf dem Land selbstständig machen wollten. Du hast mir immer das Gefühl gegeben, dass dir das auch das Wichtigste ist.“
Sie sah ihn mit ernstem Gesicht an. „Das war es auch, Paul. Aber jetzt habe ich etwas Neues gefunden, das mir im Augenblick jedenfalls wichtiger ist!“
Er blickte enttäuscht zu Boden. „Und ich? Bin ich für dich auch nicht mehr am Wichtigsten?“
Sie stand auf, ging zu ihm hin und streichelte seine Haare! „Du bist der Wichtigste und wirst es immer bleiben!“, versuchte sie ihn zu trösten.
„Wenn`s wahr ist!“
Sie umarmte ihn und sah ihm tief in die Augen. „Dummkopf!“, hauchte sie und küsste ihn.
Dann zuckte sie zusammen. Eine neue E-Mail war gekommen. Sie ließ ihn los und setzte sich wieder vor ihren Laptop. „Ach verdammt, bloß eine Mitteilung von meiner Versicherung!“, seufzte sie enttäuscht.
Sie bemerkte gar nicht, wie er sich anzog.
„Ich glaube, ich sollte denen nicht nur meine E-Mail-Adresse schicken!“, überlegte Olivia. „Ich schicke denen auch noch ein Foto von mir. Vielleicht werden sie dann auf mich aufmerksam!“ Sie öffnete einen Ordner auf ihrem PC, der nur Fotos von ihr enthielt.
„Mmmhh? Welches nehm ich nur. Es muss schließlich einschlagen!“
Sie hatte keinen Blick mehr für ihn. Da ging er.
4
„Was soll das denn? Ich dachte, wir gehen schick essen und dann noch ins Kino?“, meinte Paul verdutzt.
Er wollte Olivia wie besprochen abholen und schön ausführen, weil er eine Lohnerhöhung bekommen hatte. Doch dann kam alles anders, Olivia hatte plötzlich andere Pläne.
„Stell dir vor, was passiert ist!“, rief sie begeistert und zerrte ihn in ihre Wohnung. „Stell dir nur vor, was passiert ist!“
Er hatte zunächst das Schlimmste befürchtet, spürte aber gleich die freudige Erregung Olivias und freute sich sofort mit ihr, ohne eine Ahnung davon zu haben, was geschehen sein könnte. „Hast du den Jackpot gewonnen?“, fragte er scherzhaft.
„Besser, viel besser!“, jubelte sie. Sie zog ihn durch die ganze Wohnung bis zu ihrem Schreibtisch. „Stell dir vor, die Modelagentur hat mich zu einem Casting eingeladen!“ Sie zeigte auf ihr E-Mail-Center in ihrem Laptop.
Paul verzog die Miene und sah sie kritisch an. „Das schicken die bestimmt an alle, die sie anquatschen!“, sagte er ärgerlich.
„Freust du dich denn nicht?“
Er sah sie nachdenklich an. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob das das Richtige ist!“
Olivia sah ihn einen Augenblick verärgert an. Dann hatte sie die Begeisterung wieder gepackt. „Das ist sicher das Richtige, Paul! Das ist mein Lebenstraum, begreif doch!“
Er sah sie immer noch kritisch an, aber sie war nicht mehr zu bremsen. „Sieh nur, hier wird genau gesagt, was mit mir gemacht wird: Ich kann bei einem Casting teilnehmen. Und sie nehmen meine Maße, machen Fotos von mir, erstellen eine Sedcard und nehmen mich in ihre Kartei auf.“
„Toll!“, meinte er ärgerlich.
„Und dann haben sie mir hier eine Liste mit Verhaltensweisen mitschickt, mit denen man sein Aussehen verbessert, vor allem Ernährungshinweise, damit man abnimmt!“
„Du musst nicht abnehmen, Olivia, du hast eine tolle Figur!“ Er lehnte sich von hinten an sie und ergriff ihre Brüste. „Du hast alles, was man braucht. Alles ist so, wie es sein soll!“
„Nicht, wenn man ein Model sein will. Du weißt, dass ich zu dick und zu muskulös bin. Ich muss dringend abnehmen!“
Er schüttelte den Kopf. „Findest du nicht, dass du übertreibst. Du sitzt ständig über Modezeitschriften und analysierst die Models, du isst nur noch Salat, du joggst, bis dir schwindelig wird, du bist ständig auf der Waage oder vor dem Spiegel, ist das nicht alles hoffnungslos übertrieben?“
Sie sah ihn verständnislos und immer wütender an. „Du begreifst einfach nicht, dass es mir wirklich wichtig ist mit dem Modeln. Es ist mein Lebenstraum, Paul. Und wenn du mich wirklich liebst, dann verstehst du mich endlich und unterstützt mich mit all deiner Kraft!“
Er biss sich auf die Lippen, damit er nichts Falsches sagte. Er überlegte, was er tun sollte. „Also gut!“, meinte er schließlich. „Ich hab´s verstanden! Ich verspreche dir, dass ich dich mit all meiner Kraft unterstützen werde. Ich liebe dich schließlich!“
Sie sah ihn aus strahlenden Augen an und küsste ihn leidenschaftlich. „Danke Paul, danke, danke, danke!“ Sie tanzte im Wohnzimmer herum und er betrachtete sie lächelnd.
„Können wir jetzt endlich gehen?“
Sie hielt inne und sah ihn an. „Wohin?“
„Wohin?“ Er stutzte. „Wir sind zum Essen verabredet. Ich habe einen Platz bei unserem Lieblingsgriechen bestellt!“
Sie schien aus allen Wolken zu fallen. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein!“, begann sie. „Wenn es nicht so lächerlich wäre, könnte ich total verärgert sein!“
Er stutzte wieder.
„Ich muss abnehmen, Paul! Ich muss dringend und schnell einige Kilos abnehmen. Und zwar jetzt, jetzt, jetzt, wenn ich die Chance auf eine Modelkarriere haben will! Begreifst du das denn nicht, verdammt noch mal!“
Er war überrascht von der Heftigkeit und Erregung, mit der sie ihn anging. Er dachte angestrengt über das nAch was sie ihm zu erklären versuchte. Er stand verdutzt vor ihr und überlegte. „Und was, was heißt das nun für heute Abend?“
Sie klopfte ihm mit der Faust leicht an seinen Kopf. „Das heißt, dass wir hier zuhause essen. Ich habe einen schönen Salat vorbereitet. Danach können wir dann noch ins Kino gehen, aber nirgendwohin, wo man etwas zu essen bekommt. Ich will den Abend dafür nutzen, keine weiteren Kalorien mehr zu mir zu nehmen. Dann habe ich morgen früh ein Pfund weniger!“
Er schüttelte verständnislos den Kopf und verzog die Miene, als er den Salat auf dem Esstisch sah. „Und den Tisch beim Lieblingsgriechen?“
„Sagst du einfach ab, mein Lieber! Sag ihn einfach ab!“
5
Olivia huschte die U-Bahn-Treppe hoch, blieb kurz stehen, um sich der Adresse zu vergewissern, entdeckte Straßennamen und Hausnummer, zeigte dann für sich selbst mit dem Finger den richtigen Weg, spurtete über eine schmale Straße, um dem Regen zu entkommen und stand vor dem Haus, in dem sich die Agentur befand. Sie blieb vor einer großen Leuchtreklame stehen, auf der der Name der Agentur vorüberlief. „New Models“ las sie.
Dann trat sie ein und fuhr mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Die Glastür zur Agentur öffnete sich automatisch, als Olivia an sie herantrat. Sie ging hinein, blieb stehen und sah sich gespannt um.
„Wow!“, murmelte sie begeistert.
Im gleichen Augenblick erfasste sie das Gefühl puren Lebens, denn sie wurde eingehüllt in ein Durcheinander aus Stimmen, Geräuschen und die Bewegungen hektisch herum laufender Menschen. Der Kopf schwirrte ihr von so viel Chaos, aber sie wurde von einer nie gekannten Euphorie erfasst.
„Wow!“, entfuhr es Olivia wieder.
Die Agentur bestand aus einem großen Empfangsraum, in deren Mitte eine riesige, weiße Ledersitzgruppe stand, auf der mehrere umwerfend gut aussehende und besonders dünne Mädchen saßen und darauf warteten, dass sie für das Fotoshooting aufgerufen wurden. Der Raum war überfüllt mit Mädchen, die sich um die riesige, weiße Polsterecke drängten, sie saßen sogar auf den Lehnen oder auf dem Boden, viele lehnten an den Wänden. Alle sahen so gut aus, dass Olivia wie immer sofort an sich zu zweifeln begann.
„Wow!“, meinte sie wieder.
Aber dann schüttelte sie sich wie immer und sagte sich, dass sie es schon schaffen würde.
Vom Empfangsraum aus gingen einige Türen in verschiedene andere Zimmer, an denen Schilder hingen, auf denen Begriffe wie „Visagistin“, „Hairstylist“ und „Fotoshooting“ , „Maße“ sowie „Archiv“ standen. An der Türe des einen Raums hing ein Schild mit der Aufschrift „Sedcards“ an einer anderen Türe das Schild „Chefin“, an einer „Booker“.
„Irre!“, flüsterte sie vor sich hin und blieb mit offenem Mund stehen.
Nachdem sich Olivia orientiert hatte, bewegte sie sich in Richtung einer Theke hinter der Sofaecke und vor den anderen Räumen, auf der auf einem Messingschild „Anmeldung“ stand. Sie steuerte darauf zu, blieb aber dann an den Headsheets der Models, also der Bildergalerie der Mädchen, die für die Agentur schon gearbeitet hatten, stehen.
„Wow!“, entfuhr es ihr wieder. „Die sind hier alle unter Vertrag!“ Sie erkannte viele Mädchen, die sie schon in den verschiedensten Zeitschriften gesehen hatte. „Wow!“, überlegte sie. „Wenn man es hier schafft, dann hat man es wohl geschafft!“
Olivia wollte weiter zur Anmeldung, wurde dann jedoch wieder von den Eindrücken so ergriffen, dass sie erneut wie eine Statue da stand und in den Raum starrte, in dem so viel Leben war, wie sie es noch nie erlebt hatte.
„Hi!“, meinte jemand hinter ihr und sie fuhr herum. Ein gut aussehender, großer, schlanker und blonder Mann strahlte sie mit breitem Lächeln an.
„Ha, hallo!“, antwortete Olivia überrascht.
„Ich bin Kevin, der Executive Assistent der Agentur.“ Er grinste über beide Backen. „Das heißt nichts weiter, als das Mädchen-für-Alles .“ Er grinste noch mehr.
„Gut zu wissen!“, entfuhr es ihr.
„Es gibt hier eine ganze Menge zu wissen, das ist sicher!“
Sie nickte erschrocken. Sie atmete tief durch. „Hoffentlich kapier ich das alles!“, dachte sie unsicher wie ein kleines Kind.
„Aufgeregt?“
„Äh, äh … “, stammelte Olivia.
„Wohl sehr aufgeregt!“
Sie nickte nur.
„Brauchst du nicht!“ Er legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter. „Das schaffst du schon.“
Sie blickte ihn dankbar an.
„Du hast dich wohl für das Casting gemeldet?“
„Ich wurde eingeladen!“, betonte Olivia.
„So, so!“, meinte er spöttisch. „Und hast du auch schon eine Sedcard?“
„Leider noch nicht!“
„Na dann, dalli, dalli!“, schmunzelte Kevin.
„Ich mach ja schon!“
Sie grinsten um die Wette.
„Am besten du meldest dich zuerst für das Casting an und verwendest die Fotos dann für deine Sedcard. Da schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.“
„Gute Idee!“
„Ich habe nur gute Ideen!“
„Angeber!“
„Stimmt!“, meinte er und hob entschuldigend die Hände.
Sie grinste ihn strahlend an. Da merkte sie, dass sie mit ihm flirtete, musste an Paul denken, tat einen Schritt zurück und versuchte, sachlich zu werden.
Er musterte sie. „Du hast übrigens gute Chancen, unser Fitness-Girl zu werden!“
„Ehrlich?“ Sie hing schon wieder an seinen Lippen und strahlte ihn an.
Er nickte, um sein Urteil zu bestätigen. „Du bist nicht so ganz hager, sondern hast auch ein bisschen Muskelmasse. Na ja, wir werden sehen.“ Er begutachtete sie von oben bis unten.
„Toll!“, dachte sie. „Ich werde das Fitness-Girl!“
„Wenn du mal was brauchst, wende dich ruhig an mich.“
„Mach ich!“ Sie spürte, dass sie ihn schon wieder anstrahlte, er sagte aber auch lauter Sachen, die sie glücklich machten, da war ihr Paul egal. Es ging ja schließlich hier nur ums Business.
„Da drüben ist unsere Anmeldung. Setz dich aber erst zu den anderen Girls und hör zu, was ich zum Casting zu sagen habe. Es geht gleich los!“
Olivia nickte und stolperte durch den Raum zu einer Fensterbank, wo sie sich zwischen zwei Mädchen drängte, die ihr giftige Blicke zuwarfen.
Immer wieder öffnete sich die Tür der Agentur und neue Mädchen strömten herein, eines schöner als das andere. Olivia wurde immer kleiner und unsicherer. Die Mädchen erschienen ihr alle so schön wie Prinzessinnen und alle wirkten selbstsicherer als sie. Einen Augenblick überlegte sie, wie immer, ob sie nicht lieber gehen sollte, aber in diesem Moment trat Kevin in den Mittelpunkt des Raumes und klatschte laut in die Hände.
„Zuhören, Ladies!“, rief er mit lauter Stimme. „Ich habe einige Infos zum Casting für euch!“
Im Nu war es totenstill im Raum.
„Ich habe hier die Casting-Sheets für unser Casting zum Fitness-Girl!“ Er wedelte mit einem Stapel Zettel in der Luft herum und die Blicke der Mädchen richteten sich sehnsüchtig auf sie. „Den muss jede von euch genau ausfüllen.“
Die Mädchen gierten mit ihren Blicken nach den Zetteln. Einige drängten sich heran und wollten schon einen nehmen.
Kevin trat einen Schritt zurück und wehrte sie mit der Hand ab. „Wenn ihr ihn ausgefüllt habt, geht ihr zur Anmeldung! Die ist dort drüben!“, fuhr er fort.
Die Köpfe der Mädchen flogen wieder in die Richtung, in die Kevin zeigte.
„Hinter dem Schreibtisch sitzt Pauline.“
Pauline winkte zu den Mädchen herüber.
„Ihr gebt euren Casting-Bogen bei ihr ab. Dann erhaltet ihr die Nummer. Diese Nummern werden der Reihe nach aufgerufen und bestimmen die Reihenfolge, wie ihr drankommt.“
Kevin machte eine kleine Pause, um sicherzustellen, dass das alle verstanden hatten.
„Das Casting findet in dem Raum mit der Aufschrift „Fotoshooting“ statt!“
Man spürte, dass die Mädchen am liebsten so schnell wie möglich dahin gestürzt wären.
„Aber immer der Reihe nach!“, hielt sie Kevin davor zurück. „Zuerst werdet ihr vermessen!“, grinste er und zeigte auf das Zimmer mit der entsprechenden Aufschrift. „Einfach anklopfen und eintreten!“
Die Mädchen folgten seinem Zeigefinger mit der Hand.
„Danach müsst ihr in den Raum dort drüben zu Allesandro, dem Mann, der bereits mit Kamm und Föhn bereit steht. Er ist unser Hairstylist. Er heißt gar nicht Allesandro, aber er will, dass ihn alle so nennen. Also nennt ihn so, wenn ihr eine tolle Frisur wollt!“
Er lachte und die Mädchen lachten sicherheitshalber ebenfalls über seinen Witz.
„Danach geht´s ins Zimmer daneben zu Angie. Sie ist unsere Visagistin und richtet euch für die Fotos her.“
Die Köpfe der Mädchen fuhren in ihre Richtung und Angie winkte.
„Dann geht´s weiter zu Mario.“
Kevin zeigte auf einen Mann mittleren Alters, der lässig im Türrahmen zu einem Nebenzimmer lehnte und sich die Fingernägel zu säubern schien. Er sah nicht auf, als ihn die Mädchen betrachteten.
„Er organisiert alles um die Aufnahmen herum, die dort in dem Zimmer stattfinden. In dem Zimmer wartet unser Kamerateam auf euch, unser Fotograf, unser Beleuchter und unser Requisiteur. Dort entstehen eure Fotos.“
Er machte wieder eine Pause und wartete auf Fragen.
„Im Grunde müsst ihr euch nur von einem Zimmer ins andere hangeln. Den Rest machen wir!“ Er strahlte. „Fragen?“
Die Mädchen strahlten wieder sicherheitshalber zurück. Aber niemand sagte etwas, weil alle so schnell wie möglich Fotos machen wollten.
„Wenn eure Fotos im Kasten sind, könnt ihr nach Hause gehen. Wir fügen sie eurer Datei bei. Der Kunde, für den wir sie anfertigen, sieht sich dann alle an und sucht das Fitness-Girl aus. Die Siegerin bekommt Nachricht von uns und nur sie. Wenn ihr in den nächsten zwei Wochen keine Nachricht bekommt, dann hat es leider nicht geklappt. Alles klar?“
Die Mädchen nickten.
„So und nun sollte es losgehen – aber zuhören, noch etwas!“
Dieses Mal stöhnten die Mädchen laut auf, denn sie wollten endlich die Anmeldeformulare.
„Letzter Hinweis, ich versprech es!“, versuchte Kevin die Mädchen zu beruhigen.
Wieder wurde es totenstill.
„Wer eine Kopie seiner Sedcard dabei hat, gibt sie beim Casting ab. Ihr wisst, dass wir von euch auch Dateikarten anlegen, auf die wir für andere Projekte zurückgreifen.“ Kevin machte wieder eine Pause, damit Ruhe einkehren sollte. Dann fuhr er fort. „Wer noch keine Sedcard hat, geht im Anschluss an das Casting in das Zimmer mit der Aufschrift Sedcard und lässt sich dann da mit den Fotos vom Casting oder mit mitgebrachten Fotos eine Sedcard erstellen.“
„Weiß ich doch schon!“, meinte Olivia besserwisserisch und einige der anderen Mädchen sahen sie misstrauisch an wegen ihres Wissensvorsprungs.
„Ein Rat von mir!“ Kevin grinste die Mädchen frech an. „Nehmt lieber die von uns. Unser Fotograf ist besser als euer Freund, glaubt mir!“
„Mach ich ja, mach ich ja!“, murmelte Olivia zu sich selbst.
„Und noch ein Tipp!“
„Oh nein!“ Die Mädchen schrien vor Aufregung auf.
„Ihr kommt alle dran, also stürzt euch nicht wie verdurstete Rinder zum Wasser. Hier sind die …!“
Kevins Worte waren sinnlos und gingen im tosenden Ansturm der Mädchen auf die Casting-Sheets unter. Kevin war kaum noch zu sehen, so wild stürmten die Mädchen auf ihn ein. Er hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten.
Olivia staunte mit offenem Mund über das Gedränge und ärgerte sich, dass sie wieder nicht schnell genug war und gleich darauf am Ende der Reihe stand. „Verdammt, ich bin vielleicht eine Schlafmütze!“
Ein Mädchen neben ihr hatte ihre Worte gehört. „Bist wohl zum ersten Mal da?“
Olivia nickte.
„Ich heiße Jenny!“
„Olivia!“
„Erwarte nicht zu viel!“, meinte Jenny. „Es ist nicht alles Gold, was glänzt!“
„Wie meinst du das?“
„Es sind ungefähr 50 Mädchen hier und nur eine kann das Fitness-Model werden. Die Chancen zu gewinnen sind gering. Ich war schon oft da und es hat nie geklappt. Sei nicht traurig, wenn du nicht gewinnst, das wollte ich sagen!“
„Danke!“
Die Sheets wurden Kevin förmlich aus den Händen gerissen. Er wich dem Ansturm der Mädchen mit geschickten Bewegungen aus, um nicht erdrückt zu werden. „Keine Angst, keine Angst, jede von euch bekommt einen Zettel. Wenn die Zettel nicht reichen, dann kopiere ich noch welche nach!“
Die Mädchen atmeten auf.
„Falls der Kopierer nicht kaputt ist!“
Die Mädchen stöhnten entsetzt auf und stürmten wieder auf ihn ein.
Olivia und Jenny kamen erst ziemlich am Schluss an die Zettel. Olivia bemerkte, dass sie keinen Stift dabei hatte und ärgerte sich über sich selbst. Sie sah ein Mädchen fragend an, das ihren Zettel ausfüllte.
„Vergiss es!“, meinte die und wandte sich ab.
„Kannst meinen haben, wenn ich fertig bin!“, versprach Jenny.
„Danke!“
Nachdem Jenny fertig war, füllte Olivia noch ihr Casting-Sheet aus. Sie war überrascht über die vielen Details, die anzugeben waren. Größe, Körpergewicht, Konfektionsgröße, BH, Schuhgröße, Kopfweite, Narben, Piercings, Tattoos, Kameraerfahrung, Führerschein, Teilnahmeerlaubnis der Eltern bei Minderjährigen. Einige Eingabefelder musste Olivia leer lassen.
„Weiß ich auch nicht!“, kicherte Jenny und zeigte auf leere Zeilen in ihrem Sheet.
„Hoffentlich schmälert das nicht unsere Chancen.“
„Wenn schon!“ Jenny zuckte mit den Schultern. „Dann klappt es halt beim nächsten Mal.“
Olivia sah sie überrascht an.
„Wir sind leider die letzten!“
Jenny zuckte die Achseln. „Wenn schon, alle kommen dran!“
„Ja, aber ich habe mich mit Paul, das ist mein Freund, zum Essen verabredet!“
„Tja, das wird wohl nicht klappen!“ Jenny zeigte auf die Schlange vor der Anmeldung.
Olivia nickte. Sie kramte ihr Handy heraus und sendete die SMS an Paul. „Er wird enttäuscht sein!“
„Glaub mir, wenn du in diesem Business erfolgreich sein wirst, dann wird er sehr oft enttäuscht sein!“
Olivia sah auf und schaute nachdenklich drein.
6
„Name?“, fragte Pauline routinemäßig, als Olivia schließlich an der Reihe war.
Sie nannte ihren Namen. „Ich bin eingeladen worden!“, meinte sie bedeutungsvoll. Sie legte das Schreiben auf die Theke.
Das Girl von der Anmeldung beachtete die Einladung gar nicht. „Was meinst du, wie viele Mädchen hier täglich auftauchen, die eingeladen wurden.“
„So?“, fragte Olivia ein bisschen enttäuscht.
Das Empfangsgirl bemerkte es. „Sedcard hast du wohl noch nicht?“
„Die mache ich hier beim Casting!“ Olivia schwenkte begeistert ihren Anmeldebogen. „Meinen Sie, ich habe gute Chancen?“
„Sicher!“ Pauline verzog die Miene ohne sie anzusehen, nahm eine Nummer und schüttelte den Kopf. „Die Hoffnung stirbt zuletzt!“, fuhr sie noch fort.
Olivia verstand sie und versuchte, sich zu beruhigen.
„Nun bist du so ziemlich die letzte. Da musst du halt warten. Hier hast du deine Nummer!“ Sie gab Olivia die Nummer. „Setz dich zu den anderen Mädchen und warte, bis du aufgerufen wirst.“
Olivia drehte sich um und betrachtete nochmals die anderen Mädchen. Hier saßen wirklich sehr viele Mädchen herum. Sie ging zur Sitzecke, um Platz zu nehmen, aber die Girls rutschten nicht zusammen und so musste sie stehen.
„Sehr nett!“
Als ein Platz frei wurde, stürzte sie sich auf das Sofa, weil ihr schon die Beine wehtaten.
„Pass doch auf, du Trampel!“, schnauzte sie ein Mädchen an, das sie aus Versehen beim Setzen berührt hatte.
„Tschuldigung!“, rutschte es ihr heraus und sie ärgerte sich im gleichen Moment über die aggressive Art des Mädchens und dafür, dass sie sich bei dieser Zicke entschuldigt hatte.
Auch hier musste sie noch lange warten. Sie überlegte, wer alles vor ihr war und achtete genau darauf, wer nach ihr gekommen war, da immer noch weitere Mädchen in die Agentur strömten. Tatsächlich wurde jedoch ganz gerecht die Reihenfolge der Nummern beachtet.
„Was glotzte denn so blöde?“, fragte sie ein Mädchen.
Tatsächlich hatte Olivia das Mädchen gemustert, aber das taten alle hier. Die Girls betrachteten alle ihre Konkurrentinnen mit neidischen Blicken.
Olivia schwieg und versuchte, irgendwo anders hinzuschauen, als auf die Mädchen, aber es gelang ihr nicht. Es war total interessant, die vielen verschiedenen Typen zu vergleichen und schließlich machten das auch die anderen, rechtfertigte sich Olivia vor sich selbst.
Endlich wurde ihre Nummer aufgerufen.
„Na endlich!“, entfuhr es ihr.
Das Empfangsgirl warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. Olivia biss sich auf die Lippe.
Pauline zeigte ihr, wohin sie gehen sollte. „Hier hinein, zum Maße nehmen!“
Olivia ging in das Zimmer und wurde von oben bis unten von einer schicken Dame im Minirock vermessen. „Ein bisschen zu dick!“, meinte die Frau, die sie unter die Lupe nahm. „Du solltest einige Kilos abnehmen, sonst hast du keine Chance!“
Olivia verzog verlegen die Miene. „Geh jetzt zum Hairstylisten!“, meinte die Frau.
„O.K.!“ Olivia ging in das Zimmer.
Der Hairstylist strich ihre Haare zurecht und befestigte es mit Spray. „Gelungen!“, meinte er schließlich zufrieden und schickte sie zur Visagistin.
„Schönes Gesicht!“, meinte diese bewundernd. Dann richtete sie ihr das Make-up und schickte sie in das Fotozimmer.
„Komm schon, komm schon!“ Der Fotograf packte sie am Arm und zerrte sie auf eine Bank. Dort musste sie verschiedene Posen einnehmen und der Fotograf schoss unaufhörlich ein Bild nach dem anderen.
„Ein bisschen mehr Leidenschaft, mehr Ausdruck!“, rief er ihr geschäftig zu. „Du willst doch auf dich aufmerksam machen. Bisher können wir noch kein einziges Foto für die Kampagne gebrauchen!“, meinte er, obwohl er schon eine ganze Reihe von Fotos geschossen hatte.
„Drama, Baby, Drama!“, rief er ihr zu. „Mehr Action! Du willst doch unvergleichlich sein!“
Er gab ihr weitere Anweisungen, was sie zu tun hatte und sie versuchte, alles so gut wie möglich umzusetzen, befolgte seine Befehle, verzog ihre Miene und verbog ihren Körper.
„Schon besser, Baby!“, rief er etwas freundlicher. „Aber es fehlt dir noch der X-Faktor!“
„X-Faktor?“
„Das besondere Etwas, Baby! Der Grund, warum man dich buchen sollte und nicht die anderen Girls!“
Sie gab ihr Bestes.
„Noch besser, ja, ja, jetzt hast du es!“ Er fotografierte unaufhörlich. „Hätte ich nicht gedacht, dass das noch was wird.“
Sein Lob freute sie so sehr, dass sie ganz aus sich herausging.
„Klasse, klasse, fuck, das ist Klasse!“, rief er fast schon enthusiastisch und fotografierte weiter.
Jetzt ließ sie sich ganz unter seinen freudigen Rufen der Bewunderung gehen.
„Es reicht!“, meinte er schließlich. „Wir haben genug!“
Sie fiel zufrieden in sich zusammen.
Der Fotograf schickte sie in den Raum mit der Aufschrift „Sedcards“.
Auch hier empfing sie ein junges Mädchen hinter einem großen Glasschreibtisch. Sie nahm die Fotos, die gerade aus dem Drucker kamen, klebte sie auf eine Karte, schob sie durch ein Laminiergerät und reichte sie Olivia. „Hier deine Sedcard!“
„Wow!“, entfuhr es ihr. „Schon fertig!“
„Und dein Composite ist auch schon in der Computerkartei!“
„Composite?“
„Deine digitale Sedcard eben! Jedes Mal, wenn jetzt ein Kunde nach einem bestimmten Typ verlangt und unsere Files durchsieht, kann er auch dein Composite bewundern!“
„Das ist ja wie in der Verbrecherkartei bei der Polizei!“, meinte Olivia und grinste.
Aber das Mädchen sah sie nur humorlos an.
Da schwieg sie.
„Und immer schön aufheben!“, meinte das Mädchen und zeigte auf die Sedcard. „Die musst du immer dabei haben, wenn du dich irgendwo bewirbst!“
Olivia nahm sie ehrfurchtsvoll entgegen.
„Du hast gute Chancen. Du hast zwar große Konkurrenz, aber der Markt schreit nach „New Models“!“
„Prima!“, meinte Olivia. „Aber für die alten Models ist das wohl schlecht?“
Das Girl sah sie wieder verständnislos an. „Du kriegst eine Mail, wenn wir dich brauchen!“
Olivia wollte schon gehen, aber da spürte sie, wie ein Raunen durch den Raum ging. Sie drehte sich um und sah, wie die Mädchen alle in eine Richtung blickten. Ein Mann kam aus einem Büro und holte sich etwas hinter Paulines Tresen. Er war etwa 45 Jahre alt, groß, schlank, durchtrainiert, schwarzhaarig, braungebrannt. Er sah selbst wie ein reifes Malemodel aus. Olivia betrachtete ihn neugierig, da ihm die anderen so viel Aufmerksamkeit widmeten. Der Mann lächelte sie an und verschwand wieder in seinem Büro.
„Das war wohl der Chef!“, flüsterte sie zu Pauline.
„Schlimmer. Die Agentur gehört einer Chefin, aber die repräsentiert nur und ist meistens nie da. Das war dein eigentlicher Boss, dein Booker!“, erklärte Pauline und deutete in Richtung des Büros, auf dem „Booker“ stand. „Tony Anderson, dein Booker. Der wichtigste Mann in diesem Business und von jetzt an in deinem Leben. Er vermittelt dich, er vermarktet dich und sucht nach Jobs für dich. Er ist hier sozusagen Gott und das weiß er. Du wirst ihn kennenlernen, falls wir dich brauchen.“
Olivia nickte ehrfurchtsvoll. Dann nahm sie ihre Sedcard und war im nächsten Moment auf der Straße. Sie blieb einen Augenblick stehen. Sie war überrascht, dass es schon dunkel war. Sie versuchte, Paul auf dem Handy anzurufen, aber er war vorübergehend nicht erreichbar.
7
„Puh, da ist ja wieder was los!“, stöhnte Paul und zwängte sich mit den anderen Fahrgästen in Richtung der Eingangstüren der U-Bahn. Es war die Abendrushhour und die U-Bahn war wie immer hoffnungslos überfüllt. Am Ende der Rolltreppen entstand aus den noch halbwegs geordneten Schlangen eine unspezifische Masse aus Köpfen, Armen, Körpern und Beinen, eine Melange aus Schweiß und Atem, ein Strom aus Menschen, der unaufhaltsam zu den Türen drängte und dem man nicht entgehen konnte, dem man sich nicht entziehen durfte, wollte man nicht umgestoßen, zu Boden geworfen und niedergetrampelt werden. Von hinten schob die Masse derart heftig, dass sich die Beine von alleine bewegten und man schließlich durch die Tür in das Innere der U-Bahn gepresst wurde.
„Wie im Viehtransport!“, schimpfte Paul.
„Und du auch noch hier!“, meinte ein Mann und sah Paul böse an. „Niemand hat auf dich gewartet.“
„Wenn`s nach mir geht, bin ich auch die längste Zeit hier gewesen!“, konterte Paul und grinste den Mann frech an.
Der wandte sich verärgert ab.
Einige Tage waren seit Olivias Casting vergangen und Paul dachte schon nicht mehr an das, was sie ihm alles begeistert erzählt hatte. Er hatte ganz andere Dinge im Kopf.
Paul sah mit einem Blick, dass kein Sitzplatz mehr frei war, ergriff die Haltestange mit der einen Hand und blickte prüfend auf den Blumenstrauß, den er in der anderen hielt. Er atmete auf. Er hatte den Strauß roter Rosen in den Katakomben der U-Bahn über seinem Kopf gehalten und es war ihm gelungen, ihn unversehrt hier hereinzubringen. Er betrachtete ihn genau, erkannte, dass er völlig heil geblieben war, ja prächtig aussah. Da lächelte er glücklich.
„Verliebt?“, fragte eine ältere Frau, die einen Sitzplatz ergattert hatte mit einem Lächeln, das verriet, dass sie sich daran erinnerte, was Paul fühlen musste.
„Total!“, bestätigte er lachend.
„Glücklich?“
Er stutzte. „Ich denke schon!“, schob er schnell nach.
„Gut!“
Ja, glücklich, er war glücklich. Er hätte jauchzen können vor Freude und vor Glück. Denn er war auf dem Weg zu Olivia, mit der er nun schon über ein Jahr zusammen war. Und er war sich in den letzten Wochen darüber klar geworden, dass er sie liebte, alles an ihr liebte, ihre Schönheit, denn sie war wunderschön, ihre Zierlichkeit und Zerbrechlichkeit, was nicht nur ihren Körper betraf, sondern auch ihr Wesen, ihren Stil, ihre Lebensfreude, mit der sie ihn immer wieder aus seiner Übervorsichtigkeit ins Leben geholt hatte und natürlich ihre Zärtlichkeit, diese Zärtlichkeit ihrer Haut, aber auch ihrer Gedanken.
„Meine Traumfrau!“, seufzte er.
Und so war es ihm immer klarer, aber gerade in den letzten Wochen ihres Zusammenseins zur Gewissheit geworden, dass er mit ihr zusammen sein wollte, immerzu, jede Sekunde des Tages und so unrealistisch und lächerlich es ihm auch erschien angesichts eigener Erfahrungen und derer anderer, sein ganzes Leben zusammenbleiben wollte, ja, sein ganzes Leben wollte er mit ihr verbringen, jede Sekunde dieses kurzen und einsamen Lebens wollte er mit ihr verbringen.
„Sie ist die Richtige für mich!“, murmelte er.
So stand er selig in Gedanken da, zwischen den gehetzten Menschen um ihn herum, mit ihren von den Anstrengungen der Arbeit zusammengefallenen Körpern, ihren vom Stress zerfurchten Gesichtern, ihren müden, ausdruckslosen Gesichtern und ihrem Schmutz und Schweiß. Er war einfach nur glücklich und strahlte vor sich hin.
„Blumen!“, begann die Frau wieder.
Er nickte.
„Geburtstag?“
Er schüttelte den Kopf.
„Viel mehr als das?“
Er nickte verlegen.
„Ein Antrag?“
Er nickte.
„Viel Glück!“
„Danke!“
Er sah nachdenklich zu Boden. Seine Miene verfinsterte sich für einen Moment. War es der richtige Zeitpunkt, konnte er sich sicher sein, dass auch Olivia mit ihm zusammen sein, ihn heiraten und das Leben mit ihm verbringen wollte? Er wurde kurz unruhig und dachte nach.
„Was ist, wenn sie ganz anders empfindet?“, überlegte er.
Er ließ die vergangenen Monate und besonders die letzten Tage im Geiste an sich vorüberziehen und versuchte, sich dabei an ihr Verhalten, ihre Worte und Gesten zu erinnern. Dann atmete er auf und lächelte wieder. Es waren wunderbare Wochen gewesen für sie beide und auch für Olivia. Er konnte sich an nichts Anderes erinnern, als daran, dass sie sichtbar glücklich war, dass sie ihm das auch gesagt hatte, dass sie mit ihm von ihrer Zukunft geträumt hatte und dass sie ihm versichert hatte, dass sie ihn liebte und ebenfalls niemals mehr ohne ihn sein wollte.
„Aber wenn es nicht der richtige Zeitpunkt ist?“, murmelte er vor sich hin.
„Das ist es nie!“, meinte ein Mann neben ihm und lächelte ihn weise an.
Er beendete seine Grübeleien rechtzeitig, um nicht die U-Bahn-Station zu verpassen, bei der er aussteigen musste, ließ sich von der Masse die Rolltreppe hinaufschwemmen, wo er schließlich mit den anderen auf die Straße gespuckt wurde. Einen Augenblick stand er da und sog die frische Herbstabendluft ein. Dann überquerte er die Straße, lief mit vor Vorfreude wiegenden Schritten den Gehsteig entlang, bis er schließlich vor dem Haus stand, wo sie im zweiten Stock wohnte.
„Da oben ist mein Glück!“, sagte er hoffnungsvoll.
Er sah hinauf und freute sich über das warme Licht, das durch die Fenster schien. Dann klingelte er und sprang freudig die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Im nächsten Moment stand er vor ihrer Tür. Er war, wie immer, sofort verzaubert, als sie ihm öffnete und ihn mit ihrem strahlenden Lächeln ansah.
Er stand, wie immer, einen Moment wie vom Blitz getroffen da, gefangen von ihrer Schönheit und der Lebendigkeit dieser strahlenden Augen.
„Oh, rote Rosen, wie aufmerksam!“, meinte sie erfreut, ergriff die Blumen und holte ihn so aus seiner Trance.
„Ja, ja, ja, rote Rosen!“, stammelte er.
„Danke!“, sagte sie. „Die stelle ich gleich in die Vase, damit sie lange halten. Und du darfst auch reinkommen, wenn du möchtest!“, grinste sie ihn neckend an.
„Natürlich, natürlich!“, stotterte er wie immer zunächst verlegen in ihrer Nähe und musste über sich selbst lachen, weil er jedes Mal erst wieder zu sich kommen musste, so gefangen war er von ihr, wenn er sie sah.
Er folgte ihr wie immer voller Vorfreude auf ihr Zusammensein, stutzte Aber als er im gleichen Moment einen fremden Mann in ihrem Wohnzimmer sah. Er blieb stehen und musterte ihn.
„Das ist Kevin von der Modelagentur „New Models“. Stell dir vor, ich habe das Casting zum Fitness-Girl gewonnen!“
Sie sprang triumphierend auf und tanzte glückselig herum. „Ich bin das Fitness-Girl, ich bin das Fitness-Girl.“ Dann fiel ihr ein, dass sie nicht allein war. Vor Kevin war ihr ihr Benehmen peinlich, obwohl der sie strahlend ansah.
Paul blickte sie verständnislos an.
Da beruhigte sie sich. „Kevin ist persönlich gekommen, um es mir mitzuteilen!“ Sie setzte sich zu Kevin aufs Sofa.
„Persönlich?“, murmelte Paul verdutzt.
„Hi!“, meinte Kevin und hob die Hand zum Gruß. „Ja, ich dachte, ich überbringe Olivia die gute Nachricht persönlich!“
„Persönlich!“, wiederholte Paul. Er ärgerte sich über die vertraute Art, wie Kevin Olivias Namen sagte.
Olivia bemerkte, dass Paul noch immer neben ihr stand. „Setz dich doch zu uns!“, meinte Olivia fast förmlich und die Distanz in ihrer Haltung tat ihm weh.
Er setzte sich in den Sessel und sah sie hilflos an.
Sie bemerkte seinen Stimmungswandel und lächelte ihn an.
„Das ist Paul!“, stellte sie ihn vor und es verletzte ihn, dass sie nicht sagte: „Das ist mein Freund Paul!“ Er spürte eine tiefe Enttäuschung in sich, versuchte dagegen anzukämpfen und wusste, dass es ihm nicht gelang. Er war auch kein Mensch, der seine Gefühle verbergen konnte.
Sie fühlte es, ignorierte es jedoch, da sie seine Sensibilität eh nicht besonders mochte, lachte ihn an und erklärte ihm alles.
„Ich habe das Casting gewonnen!“, jubelte sie und konnte es immer noch nicht glauben.
„Ja, das hast du!“, bestätigte Kevin.
„Ja, das hast du wohl!“, meinte Paul traurig.
Olivia und Kevin sahen ihn begeistert an.
Er versuchte ebenfalls Begeisterung auf sein Gesicht zu zwingen, aber es gelang ihm nur ein gequältes Lächeln.
„Freust du dich nicht für mich?“, fragte sie überdreht vor Glück.
„Doch, doch!“ Er nickte und versuchte zu lächeln, aber die Enttäuschung breitete sich mehr und mehr auf seinem Gesicht aus.
Kevin bemerkte es. „Tja!“, meinte er. „Ich denke, wir hätten alles besprochen, Olivia. Ich glaube, es wird Zeit für mich. Ich habe noch einen Termin heute Abend!“ Er stand auf.
„Wolltest du mich nicht eben noch ins Café einladen?“ Sie sah ihn fragend an.
Er schüttelte den Kopf. „Es ist mir gerade eingefallen, dass ich noch einen Termin habe!“, blickte er verlegen hin und her. „Vielleicht ein anderes Mal!“
„Abgemacht!“, rief sie begeistert.
„Bringst du mich zur Tür?“
Sie nickte, sprang auf und begleitete ihn hinaus.
Paul hörte, wie sie sich noch kurz im Flur unterhielten, bevor Kevin die Wohnung verließ. Er versuchte zu verstehen, was sie sagten, aber er vernahm nur leises Gemurmel.
Gleich darauf war sie wieder da. Sie tanzte und schwebte durchs Zimmer und strahlte vor Glück. „Stell dir vor, ich werde die Fitness-Girl-Kampagne machen. Ist das nicht toll? Ist das nicht ein Traum?“
Er nickte und setzte ein gezwungenes Lächeln auf, das er aber nicht lange aufrechterhalten konnte. Nach kurzer Zeit nahm er wieder eine enttäuschte Miene an und sackte in sich zusammen.
Sie stand vor ihm und bemerkte es. „Freust du dich denn gar nicht für mich?“
Er sah sie von unten herauf an und versuchte wieder, zu lächeln. „Doch, doch, natürlich, es ist wirklich toll!“
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn fragend an. „Das sieht aber nicht wirklich so aus!“
Er senkte den Kopf und schwieg.
Auch sie schwieg eine Weile. „Mach mir doch nicht auch diese Freude wieder kaputt mit deiner Miesepeterei!“, rief sie aufgedreht und hüpfte jubelnd um den Tisch herum.
Das ging eine Weile so, dann hielt sie inne. „Ach jetzt ist es dir doch gelungen, mir meine Laune zu verderben. Immer verdirbst du mir meine gute Laune!“
„Immer?“, sah er sie fragend an.
Sie begriff, dass sie ihn verletzt hatte. „Na ja, oft halt, oft kann man schon sagen, manchmal eben!“
Er schwieg wieder mit gesenktem Kopf und sie stand vor ihm und sah ihn an. Schließlich begriff sie, dass er wirklich traurig war, setzte sich neben ihn aufs Sofa und legte den Arm um ihn. „Nun sag mir halt, was mit dir los ist!“
Sie saßen eine Weile schweigend da, dann begann er doch zu sprechen.
„Ich, ich hatte mir das heute alles anders vorgestellt, wenn ich ehrlich bin.“ Er blickte ihr tief in die Augen.
„Na leg schon los!“, meinte sie und versuchte ihn, mit ihrem Lächeln aufzumuntern.
„Ich, ich, …!“, stammelte er. Er räusperte sich. „Ich habe nicht nur Blumen mitgebracht!“
„Sondern?“
Er griff in die Jackentasche und zog ein Schmuckkästchen heraus. Er öffnete es und hielt es ihr hin.
„Ein Ring?“, fragte sie überrascht. „Der ist ja wirklich schön!“
Er nahm ihn heraus, ergriff ihre Hand und streifte ihn ihr über.
Sie fuhr erschrocken zurück, ließ es aber dann doch geschehen und besah sich den Ring prüfend an ihrer Hand. „Der ist ja wirklich, wirklich schön!“
„Du hast ihn neulich in der Auslage des Schmuckgeschäftes um die Ecke so bewundert. Da dachte ich, ich könnte ihn dir schenken.“
Sie zuckte zusammen. „Das ist der Ring von dem Juwelier da unten. Aber der war doch sündhaft teuer!“ Sie schaute den Ring skeptisch an. „Den kann ich nicht annehmen, Paul. Der war viel zu teuer. Ich weiß doch, was du verdienst und was der gekostet hat.“
Sie nahm ihn ab und wollte ihn zurück in die Schatulle legen.
Aber er verhinderte es, indem er ihre Hand festhielt.
„Das sollte nicht nur ein Geschenk sein!“ Er sah sie lange an. „Das sollte ein Versprechen sein!“
„Ein Versprechen?“
„Und eine Bitte!“
„Eine Bitte?“
Er nahm ihre Hände und sah ihr tief in die Augen. „Das sollte das Versprechen sein, dass ich dich und nur dich, immer lieben werde. Und ich wollte dich mit dem Ring darum bitten, meine Frau zu werden. Das sollte ein Verlobungsring sein!“ Er sah sie prüfend und unsicher an.
Sie sah ihm in die Augen, dann zog sie ihre Hände zurück, entwand ihm das Schmuckkästchen, legte den Ring wieder hinein, gab ihm alles zurück, stand auf, ging im Zimmer auf und ab und sagte eine Weile nichts.
Auch er schwieg, ratlos.
Schließlich hielt sie vor ihm inne. „Das ist sehr, sehr lieb von dir!“, begann sie. „Sehr, sehr lieb.“
Er stand auf und sie sahen sich an.
„Das ist der wunderbarste Augenblick in meinem bisherigen Leben!“
Er strahlte. „Dann sagst du „Ja“?“
Sie senkte den Kopf, hob ihn wieder, schüttelte ihn. „Nein, nein, nein. Ich sage nicht „ja“!“
Er sah sie fragend an. „Du sagst nicht „Ja“, obwohl du es wunderbar findest?“
Sie nickte.
Er dachte angestrengt nach. „Ich dachte, wir hätten zusammen eine wunderbare Zeit gehabt. Ich dachte, dir hätte es auch mit mir gefallen. Ich dachte, du magst mich.“
Sie legte die Hände auf seine Schultern und zog ihn zu sich heran. „Die Zeit mit dir war die schönste in meinem Leben und ich mag dich nicht nur, sondern ich liebe dich!“
Seine Augen begannen zu strahlen. „Ist das, ist das wahr?“
Sie nickte und lachte. „Natürlich ist das wahr!“
„Dann verstehe ich nicht, warum du dich nicht mit mir verloben willst!“
Sie ließ ihn los. „Ach Paul!“, begann sie. „Worauf soll denn das hinauslaufen?“
Er hob die Hände zur Erklärung. „Worauf wohl, dass wir heiraten, Kinder bekommen, eine Familie gründen, worauf sonst?“
Sie sah ihn an und lachte. „Paul, du bist ein Träumer!“ Sie sah ihn distanziert an.
Er stand verwirrt vor ihr.
„Paul, du bist ein kleiner Schreiner mit einem mickrigen Einkommen.“ Sie beobachtete die Wirkung auf seinem Gesicht. Dann fuhr sie fort. „Und ich bin nur eine kleine Physiotherapeutin, die noch weniger hat. Wir können uns doch eine Familie gar nicht leisten. Es ist schön mit dir, wunderschön. Aber wir kommen doch nie auf einen grünen Zweig. Da muss schon irgendein Wunder geschehen. Verstehst du?“
Er winkte ab. „Aber, aber das ist mir völlig egal. Ich liebe dich und ich bin glücklich, glücklich, glücklich.“
Sie schob ihn weg. „Quatsch! Versteh doch! Werde doch endlich klug. Wir kommen doch mit unserem Geld niemals über die Runden. Weißt du, was von unserem Geld übrig bleibt, wenn wir eine Wohnung und ein paar Kinder finanzieren müssen. Mach die Augen zu, dann siehst du es.“ Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf. „Da muss ein Wunder geschehen, damit das klappen könnte – und vielleicht geschieht es ja gerade!“
Sie saßen eine Weile schweigend da und starrten in verschiedene Ecken des Zimmers.
„Ich liebe dich, ich liebe dich und werde dich immer lieben!“, begann er schließlich wieder.
Sie sah ihn nachdenklich an, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Ich liebe dich auch, ich liebe dich sehr.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und das ist wirklich lieb von dir, dass du mich heiraten willst. Das ist die wunderbarste Liebeserklärung, die man jemandem machen kann, wenn man ihm sagt, dass man ihn heiraten will, weil man damit verspricht, dass die Liebe zu einem Menschen ewig halten wird. Das ist bestimmt die wunderbarste Liebeserklärung, die es gibt, vermute ich.“
Er rückte näher an sie heran. „Warum willst du sie dann nicht annehmen? Ich verspreche dir, dass ich dich glücklich machen werde!“
Sie stand auf, lief im Zimmer auf und ab, lehnte sich schließlich an die Wand. Sie wollte ihn nicht verletzen, denn sie liebte ihn ja auch. Aber sie spürte instinktiv, dass sie ihn auch nicht zu sehr in seinen Hoffnungen bestärken durfte, weil er sie sonst gar nicht verstehen würde. Deshalb suchte sie nun auch die körperliche Distanz.
„Hör zu!“, begann sie schließlich, nachdem sie ihn lange gemustert hatte. „Ich bin einfach noch nicht so weit. Ich habe andere Pläne und Wünsche, ja Sehnsüchte!“
Er verstand sie nicht und schüttelte den Kopf.
Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen und erzählte ihm ihre Vorstellungen. „Ich will hier raus, Paul!“, beschwor sie ihn.
„Das wirst du doch auch. Wir suchen uns eine alte Farm auf dem Land, ich renoviere sie und wir machen uns selbstständig!“
„Nein, nein, nein, das meine ich nicht!“ Sie blieb einen Augenblick stehen und dachte nach wie sie ihm alles erklären sollte. „Ich meine, ich will aus diesem Leben raus. Ich möchte nicht mein ganzes Leben mit ständigen Geldsorgen und den täglich gleichen Arbeiten verbringen müssen. Ich will etwas Anderes erreichen, ich will nicht nur Hausfrau und Mutter sein und eine kleine Physio. Ich will mehr haben vom Leben, viel mehr. Und jetzt, glaube ich, bietet sich die Gelegenheit dazu.“
Sie atmete tief durch, so als ob sie sich damit von allem befreien könnte.
„Ich bin ein hübsches Mädchen, das ist sicher. Und ich will etwas machen aus dem einzigen Kapital, das ich habe. Dein Antrag ist lieb gemeint und wirklich wundervoll. Aber er kommt zur falschen Zeit. Ich will diese Chance, Model zu werden, nicht verstreichen lassen. Aber das heißt ja nicht, dass wir nicht zusammenbleiben können. Wir lieben uns und verschieben einfach unsere Pläne. Ich muss diese Chance nutzen, verstehst du das?“
Er nickte und versuchte, zu verstehen, was sie ihm beizubringen versuchte. „Ja, ja, ich verstehe!“, murmelte er verlegen.
„Super!“, jubilierte sie und tanzte im Zimmer herum. „Das ist ja wirklich super. Ich hatte schon Angst, dass du es nicht verstehen würdest und es aus wäre zwischen uns. Das wäre nämlich echt schade!“ Sie sah ihn mit verschmitztem Lächeln an.
Er war innerlich total verwirrt, zwang sich aber ebenfalls zu einem Lächeln, um sie nicht zu verärgern.
Sie zog ihn vom Sessel hoch und sie tanzten gemeinsam durch das Zimmer.
„Lass uns Party machen!“, meinte sie schließlich. „Lass uns in die Disco gehen.“ Sie hielt inne. „Ich muss nur noch mal kurz ins Bad, dann gehen wir essen und danach zum Tanzen, ja!“
Sie ließ ihn abrupt los und er torkelte ein wenig. Sie beachtete ihn nicht und huschte ins Bad. „Ich beeile mich!“, rief sie ihm fröhlich zu, so als ob es ihm wichtig sei, dass sie sich beeilte.
Aber es war ihm nicht wichtig. Im Gegenteil: Er spürte, dass er etwas Zeit für sich brauchte. „Lass dir Zeit!“, meinte er mit halblauter Stimme. „Lass` dir nur Zeit!“, murmelte er verwirrt vor sich hin. Dann stand er da und starrte mit leerem Blick an die Wand. Schließlich senkte er die Augen und entdeckte das Kästchen mit dem Ring in seiner Hand. Er betrachtete es eine ganze Weile nachdenklich.
„Ich bin so weit!“, rief sie vergnügt aus dem Bad.
Da steckte er das Kästchen in seine Jackentasche. „Prima!“, antwortete er ihr und zwang sich zu einem fröhlichen Klang. Dann spürte er, wie sein Herz schmerzte und er kämpfte mit sich, damit sie es nicht merken sollte. Er wollte ihr nicht schon wieder den Spaß verderben.
8
„Komm, hab dich doch nicht so! Sei doch keine Spielverderberin!“, rief Josie Olivia zu. „Du verdirbst mir ja die ganze Geburtstagsfeier mit deiner albernen Abnehmerei und Gewichthalterei. Heute wird nicht auf das Gewicht geachtet, sondern gefeiert!“
Die anderen Gäste stimmten bestätigend zu.
„Das kannst du echt nicht bringen, Olivia! Bei jedem Spiel verweigerst du dich!“, meinte Tom, Josies Freund.
„Ja, du machst ja den ganzen Spaß kaputt!“, rief Andy, Josies Bruder. „Du hast noch kein einziges Spiel mitgemacht. Man fragt sich, warum du überhaupt gekommen bist, wenn du dich an nichts beteiligen willst!“
Olivia wand sich verlegen hin und her.
„Lasst sie doch!“, half ihr Paul. „Ihr wisst doch, wie wichtig ihr Gewicht für ihre Modelkarriere ist! Nur wenn du da ganz dünn bist, hast du eine Chance!“
„Was is´n das für ein Traumjob, wo man nichts zu fressen kriegt!“, warf Jack lachend ein, dem man ansah, dass er nicht bereit war, für irgendetwas ein Essen stehen zu lassen.
Olivia sah von einem zum anderen und überlegte, was sie tun sollte. Sie sah sich einem ohrenbetäubenden Stimmengewirr ausgelassener, junger Leute gegenüber, alle sahen sie auffordernd an, riefen ihr etwas zu.
„O.K., O.K., O.K.!“, meinte sie schließlich. „Dann will ich mal nicht so sein!“
Eine Sekunde schwiegen alle vor Überraschung, dann johlten die Partygäste begeistert und feuerten Olivia an.
Man musste Schokoteilchen in die Luft werfen und mit dem Mund auffangen. Wer am meisten auffangen konnte, war der Sieger dieses Spiels.
Olivia warf ein Stück Schokolade hoch und scheiterte damit, es aufzufangen und zu essen. Sie machte eine Geste des Bedauerns.
„Betrug!“, rief Tom laut. „Betrug, Betrug, Betrug!“
Die Anderen stimmten in Toms Ausruf ein.
„Betrug, Betrug, Betrug!“, schallte es Olivia entgegen.
„Also das kannst du echt nicht bringen, Olivia! Das war zu billig und zu offensichtlich!“, meinte Josie beleidigt.
Die Anderen stimmten wieder zu.
„Fang noch mal von vorne an und mach es dieses Mal richtig!“, riet ihr Jack.
„Lasst sie doch!“, versuchte Paul wieder, ihr zu helfen.
Aber Olivia winkte ab. „O.K., O.K., O.K., ich versuche mein Bestes! Ich verspreche es!“
Die Partygäste applaudierten.
Olivia begann und es gelang ihr, das Schokoteilchen aufzufangen. Sie schluckte es schnell hinunter, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Ein Riesenjubel setzte ein. „Eins!“, zählte Josie laut.
Olivia versuchte es erneut und wieder gelang es ihr.
„Zwei!“, riefen alle im Chor.
Auch Olivias nächster Versuch gelang.
„Drei!“
Nun folgte Versuch auf Versuch und es gelang Olivia jedes Mal, das Schokoteilchen aufzufangen. Sie verschlang das Teil immer wieder so schnell sie konnte, damit sie es sich nicht anders überlegte und so wieder der Buhmann sein würde.
„Fünfzehn!“, meinte schließlich Josie. „Du kannst aufhören, du bist die Siegerin!“
Frenetischer Jubel setzte ein. Die Jungen packten Olivia, hoben sie hoch und trugen sie durch das Zimmer. Olivia ließ es mit gequältem Lächeln geschehen.
Es folgte noch eine Reihe von Spielen, bevor man sich schließlich zum Abendessen setzte und ein Fondue genoss. Danach unterhielten sich die Partygäste noch eine Weile, bevor alle nach Hause gingen.
Als Olivia ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, spurtete sie zur Toilette und kitzelte sich so lange mit dem Finger im Rachen, bis sie sich übergab.
9
„Also gehen wir nochmals die wesentlichen Punkte des Vertrags durch!“, meinte Mrs Allen, die Personalsekretärin der Agentur routinemäßig und warf nebenbei einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir, also „New Models“, wir sind deine Mutteragentur. Alle Jobs, die du abschließt, laufen über uns. Wenn du Jobs annimmst, ohne uns einzuschalten, fliegst du nicht nur sofort raus, sondern musst auch noch eine Konventionalstrafe an uns zahlen. Dazu kommt bei jedem Fremdengagement eine Beteiligung von 50% der Summe!“
„O.K.!“ Olivia hörte aufmerksam zu und versuchte Mrs Allen zu folgen, die die Grundbedingungen des Vertrags herunterratterte.
„Wir, als deine Mutteragentur, können dich jedoch jederzeit an eine andere Agentur ausleihen. Das ist ja schließlich in deinem Sinne, denn du willst ja möglichst viele Jobs.“
Olivia nickte.
„Du stehst der Agentur an 365 Tagen im Jahr Tag und Nacht zur Verfügung. Wenn ein Kunde dich buchen will, stehst du zur Verfügung, außer du bist bereits bei einem anderen Job im Einsatz. Das ist ja auch in deinem Sinne.“
Wieder nickte Olivia.
„Die Agentur erhält bei jedem „Booking“ 40% deiner Gage. Nur wenn du einen Exklusivvertrag mit einer Firma erhältst, wenn du zum Beispiel das Gesicht einer Kampagne einer Mode- oder einer Kosmetikfirma oder was weiß ich wirst, nehmen wir 50% deiner Kommission. Wenn du eine Celebrity wirst, also das Gesicht der Firma, dann erhalten wir 60% deiner Gage. Das ist ja auch in Ordnung, schließlich haben wir ja deinen Erfolg gemacht!“
„Klar!“, stimmte Olivia begeistert zu. Sie war vollkommen aufgeregt und wünschte nur, dass es endlich losgehen sollte.
„Dazu kommen natürlich noch die Anteile an den Nutzungsrechten!“
„Nutzungsrechte?“
„Na ja, das Buyout. Wir machen alles, was mit dir und um dich herum gemacht wird, zu Geld. Das ist ein Business und kein privates Hobby. Das ist dir doch klar!“
„Völlig klar!“, bemühte sich Olivia möglichst schnell beizupflichten.
„Na ja, und alles was von dir produziert wird, unterliegt natürlich auch dem Copyright. Und dieses Copyright erhält die Agentur durch diesen Vertrag. Das ist doch selbstverständlich, oder?“, fragte Mrs Allen mit vorwurfsvoller Stimme.
„Selbstverständlich!“, stimmte Olivia schnell zu.
Mrs Allen warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Nun gut!“, begann sie erneut. „Du kannst den Vertrag mit nach Hause nehmen und bringst ihn dann halt wieder, wenn du ihn genau durchgelesen hast.“ Sie machte eine Pause und beobachtete Olivias Reaktion. „Sobald du unterschrieben hast, schaut dich Claudia, unsere Stylemanagerin an, um herauszufinden, wie wir dich am besten vermarkten können.“
„Wie schnell kann das gehen?“, wollte Olivia begierig wissen.
„Moment!“ Mrs Allen drückte auf die Tasten der Telefonanlage.
„Claudia.“
„Hier Jeannie! Wann hast du den nächsten Termin frei? Wie, du bist grade frei. So ein Glück. Kann ich dir dann jemanden schicken? O.K.!“ Sie legte auf. „Claudia hat zufällig gerade einen Termin frei. Du müsstest aber vorher unterschreiben, damit wir die Sache nicht umsonst durchziehen!“
„Ja, ja, ja!“, rief Olivia begeistert und unterzeichnete den Vertrag.
„Ach und ich habe da noch eine Idee!“
„Ja was denn?“
„Wie wär`s wenn wir dich „O“ nennen, als Künstlername, meine ich?“
„O?“
„Ja, „O“ für Olivia!“, meinte Mrs Allen. „Das klingt geheimnisvoller als Olivia, das verspricht irgendetwas, das macht sich gut!“
„O.K, O.K., O.K.!“, rief Olivia begeistert. „“O“ für Olivia, das ist prima!“
10
Wenige Augenblicke später befand sie sich im Checkroom der Agentur. Dort wurde sie von Claudia, der Chefstylistin und einigen Assistentinnen empfangen.
„Wie heißt du?“, wollte Claudia wissen.
„Olivia!“
„Oh, ein guter Name, für das Geschäft meine ich. Den können wir lassen, damit können wir dich in der Szene etablieren!“
„Mrs Allen meint, ich solle mich „O“ nennen, das sei geheimnisvoller!“
„“O“ für Olivia!“, wiederholte sie prüfend. „Irgendwie siehst du mehr nach „Sandra“ aus, dynamisch und sportlich.“ Sie machte eine Pause und musterte Olivia. „Aber Mrs Allen hat einen guten Riecher, also machen wir es so, wie sie will. „O“ für Olivia, klingen tut es gut. Mal seh`n, was du draus machst.“
Olivia atmete auf und lächelte.
„Dann legen wir mal los!“
„Zieh dich aus und stell dich gerade hin!“, meinte eine Assistentin.
Olivia hatte sich in Windeseile ausgezogen.
„Gutes Tempo!“, grinste die Assistentin und begann ihre Maße zu nehmen, während ein anderes Mädchen alles aufnotierte.
„Wir brauchen das noch für dein Book, deine Mappe. Wir werden von dir zusätzlich zu deiner Sedcard ein Portfolio anlegen, digital und als echten Ordner. Manche Kunden sind noch ziemlich altmodisch!“, erklärte Claudia.
„Weiß Bescheid!“
Nun betrachtete Claudia sie eine Weile. „Für ein Lolitamodel bist du nicht zierlich genug, für ein Wäschemodel zu muskulös. Da hast du wohl zu viel Sport getrieben!“
„Bestimmt nicht! Ich jogge nur manchmal. Mit Muskeln oder so hab ich noch nie etwas gemacht!“
„Dann ist das einfach Genetik.“ Claudia dachte nach. „Das ist nicht so gut!“
Olivia fiel die Kinnlade vor Schreck nach unten.
„Du bist zwar als Sportmodel zu gebrauchen …“
Olivia atmete auf.
„… aber für alle anderen Jobs nicht so richtig!“
Olivia sackte wieder in sich zusammen.
„Und Sportmodels werden nicht so oft gefragt!“, ergänzte Claudia.
Olivia wurde es richtig schlecht.
„Und der Künstlername „O“ für ein Sportmodel?“ Sie überlegte.
„Nicht?“, fragte Olivia ängstlich.
Claudia trat zu ihr hin und besah sich ihre Hände. „Deine Hände sind nicht schön genug für ein Handmodel, deine Beine sind nicht lang und nicht schön genug für ein Beinmodel, dein Po ist nicht knackig genug für ein Unterwäschemodel. Deine Brüste sind ein bisschen zu klein für ein BH-Model. Für eine Bigbeauty oder ein Oversizemodel bist du wiederum zu dünn. Tja, das passt alles nicht so recht!“
„Aber, aber bisher haben immer alle gesagt, dass ich die Schönste sei!“, stammelte Olivia hilflos.
„Du bist ein schönes Mädchen, zweifellos!“, bestätigte Claudia.
Olivia richtete sich freudig auf.
„Aber alle Models sind schön und das heißt noch nicht, dass du ein Model bist!“
Olivia sackte wieder in sich zusammen und seufzte, aber es kam noch schlimmer.
„Für die Teenies bist du zu alt und als „Classic Model“, also für die älteren Kunden, bist du noch zu jung!“ Sie presste nachdenklich die Lippen zusammen.
Nachdem ihre Maße genommen worden waren, wurde sie vor einen Kleiderständer geführt.
„Probiere mal alle Kleider auf diesem Ständer durch!“, meinte Claudia.
Olivia stutze zunächst, aber dann probierte sie ein Kostüm nach dem anderen.
Claudia und ihre Assistentinnen besprachen sich dabei. Sie ließen ihren Gedanken freien Lauf und diskutierten laut durcheinander.
„Das steht ihr am besten!“
„Ja, das Aerobicoutfit stand ihr bisher am besten, das ist ihr Typ!“
„Es stand ihr nicht nur am besten, es stand ihr eigentlich als einziges. Das ist ihr Ding!“
Alle waren sich einig. „Alles Andere ist nichts!“
Olivia schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein. Ihr müsst euch irren!“, rief sie verzweifelt.
Die Frauen sahen sie schweigend und mit bösen Blicken an. Wie konnte sie es wagen, ihrem Urteil zu widersprechen.
Sie biss sich auf die Lippen. Dann musste sie sich an einen Spiegel setzen, an dem verschiedene Frisuren an ihr ausprobiert wurden.
„Nein, nein, nein, nicht die damenhafte, nur die nicht!“, stellte Claudia fest.
„Der Pferdeschwanz sieht gut aus!“, meinte eine der Assistentinnen.
„Das Mädchen, das mit Pferdeschwanz joggt. Nike!“, phantasierte eine Assistentin.
„Oder reitet!“, brummelte ein anderes Mädchen lakonisch und alle lachten.
Auch bei den Make-ups waren sich alle einig, dass Olivia am besten ein möglichst natürliches Make-up stand.
Zum Abschluss musste Olivia noch posieren, man nannte ihr eine Situation, die sie darstellen und spielen musste.
„Lauf dabei auch auf und ab. Catwalk, Baby, Catwalk!“, befahl Claudia.
Das Urteil fiel ebenso eindeutig aus, wie alle vorherigen.
„Du bist ein Fitnessmodel!“, teilte Claudia mit und alle stimmten zu. „Du kannst am besten Fitness- und Sportsachen präsentieren. Und so werden wir dich hauptsächlich anbieten und in unsere Kartei aufnehmen!“
Olivia war schon alles recht. Sie nickte nur und war froh, dass sie überhaupt für etwas taugte.
„Natürlich musst du auch jeden anderen Job annehmen!“
„Natürlich!“, versprach sie ohne Zögern.
„Du musst keine Angst haben, dass wir dich verramschen. Wir schicken dich schon nicht auf jede Autohauseröffnung!“
Olivia atmete auf, ohne zu begreifen, was Claudia meinte.
Die Assistentinnen kicherten.
„Wir werden schon auf dein Image achten: Wir schicken dich auf die besten Castings für Pret-a-porter-Schauen, auf Catwalks, zu Film- und Fotoschauen und zu Fotostrecken von Zeitschriften!“
„Das ist toll!“, frohlockte Olivia.
„Für die Autohauseröffnung hast du noch Zeit, wenn du kein „New Model“ mehr bist!“
„Das stimmt!“, bestätigte Olivia, ohne zu begreifen, was gemeint war.
Die Assistentinnen grinsten.
„Dann ist alles klar!“, schloss Claudia die Sichtung. „Du hast deine „Sedcard“, wir haben dein File. Jetzt heißt es für dich nur, am Handy sitzen und auf deine Jobs warten!“
„Ja, ja, danke!“ Olivias Herz hüpfte vor Glück.
11
„Hallo Olivia! Alles klar?“, fragte ein junger Mann namens Fred, der ein Arbeitskollege von ihr war und setzte sich neben sie in die Café-Ecke, in der sie ihren Lunch einnahm.
„Hallo!“, antwortete Olivia kühl, denn sie hatte Fred bisher als nicht besonders aufmerksam oder freundlich erlebt.
Fred packte sein Brot und sein Getränk aus und stellte es auf den Tisch. „Hab gehört, du willst in die Modelbranche? Ist ja irre?“
„Amie!“, fuhr es Olivia durch den Kopf. „Der kann man ja wirklich nichts erzählen, sonst wissen es gleich alle!“
Sie setzte ein Lächeln auf. „Ach weißt du, das ist nur so eine Spinnerei!“
„Es hieß, du hättest ein Angebot von einer Modelagentur!“
„Ja, aber das heißt noch nichts! Das ist erst mal nur ein Nebenjob. Wahrscheinlich wird nichts daraus. Jedenfalls habe ich noch nicht gekündigt.“
„Nein, nein, nein!“, unterbrach er sie. „Du solltest nicht so bescheiden sein. Ich glaube, dass du das wirklich schaffen kannst. Ehrlich!“
Sie sah ihn überrascht an. Sie hatte eher erwartet, dass er sich über sie lustig machen würde, so wie sie ihn kannte.
„Meinst du wirklich?“
„Aber ja doch!“, nickte er wild mit dem Kopf. „Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht ernst meinte!“
Sie lächelte geschmeichelt. „Danke!“
„Ich finde wirklich, dass du das Zeug zum Model hast, Olivia!“, begann er wieder.
Sie erschrak immer ein bisschen, wenn er ihren Namen aussprAch es klang in ihren Ohren vertrauter, als sie wirklich waren. Sie nippte an ihrem Getränk. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte, auf der einen Seite mochte sie diesen Jungen nicht, auf der anderen Seite schmeichelte es ihr, dass er ihre Schönheit bemerkt hatte und sie ihm gefiel.
„Ehrlich!“, begann er wieder. „Du hast ein wunderschönes Gesicht, eine süße, kleine Nase, einen herrlichen Schmollmund, tolle, lange, blonde Haare, eine Superfigur …!“ Er machte eine Pause, in der er ihre Formen mit den Händen beschrieb.
Das Gespräch wurde ihr unangenehmer und unangenehmer, deswegen beschwichtigte sie. „Die meisten meinen, ich sei zu muskulös für ein Model!“
Er winkte ab. „Papperlapapp!“, holte er wieder mit den Händen aus, um gleich darauf weiter ihren Körper zu beschreiben. „Dieser knackige Po …!“ Wieder machte er eine kleine Pause. „.. und diese umwerfend langen Beine!“
Olivia verschlug es die Sprache. Das Gefühl des Geschmeicheltseins wich mehr und mehr einem Unbehagen, um nicht zu sagen einer Wut. Wie konnte es dieser ihr völlig unbekannte Mann wagen, sie so intim zu beschreiben?
„Danke!“, meinte sie deshalb und packte ihr Essen in einen kleinen Rucksack. „Ich denke, ich muss jetzt gehen! Die Arbeit geht ja gleich weiter!“ Sie stand auf.
„Nicht so schnell, Kleines!“, hauchte er. „Ich habe da noch eine Idee!“ Er drückte sie sanft auf ihren Stuhl zurück und hielt sie an den Armen fest.
Sie sah ihn verdutzt an.
„Ich dachte, wir könnten vielleicht mal zusammen ausgehen, was meinst du?“
„Ich, ich …!“, stammelte sie verlegen.
„Das wird bestimmt sehr schön, das kann ich dir versprechen!“
Ihr fehlten für einige Sekunden die Worte.
„Ich schwärme total für dich, Olivia. Wir machen uns einen schönen Abend, was meinst du?“
„Ich, ich, ich …!“ Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass er sie anmachte.
„Glaub mir, ich weiß, wie man einer Lady einen schönen Abend macht!“
„Ich glaube nicht, dass das meinem Freund gefallen würde!“
Fred winkte ab. „Der muss ja nicht alles wissen. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß!“
Sie konnte es nicht fassen, wie billig er sie anbaggerte. Sie riss sich los und sprang auf. „Idiot!“, zischte sie ihm zu und stürzte davon.
„Dann eben nicht, dumme Tussi!“, rief er ihr ärgerlich hinterher.
12
„Na endlich, endlich gehst du mal ans Handy. Ich versuche dich schon mindestens eine halbe Stunde zu erreichen!“, schimpfte Paul besorgt. „Ich dachte schon, dass dir etwas passiert ist. Wo bleibst du denn?“
Er horchte eine Weile vergeblich in sein Handy, denn Olivia schwieg verlegen.
„Hallo, hallo, bist du noch da?“
„Ja, ja, ich bin noch dran.“
„Und wo bist du? Was ist los?“
„Ich, ich …“ , stotterte Olivia betreten. „Ich bin hier beim Fotoshooting für das Fitness-Girl. Ich bin ganz kurzfristig angerufen wurden und habe vergessen, es dir zu sagen. Und dein Handy war aus. Immer machst du dein Handy aus. Man fragt sich, warum du überhaupt eins hast.“
Paul blickte verdutzt vor sich hin. „Aber wir sind verabredet!“, sagte er nach einer Weile kleinlaut.
Wieder eine Pause. „Ich weiß, ich weiß, Paul. Es tut mir ehrlich leid. Die Sache war so kurzfristig. Und ich habe dich nicht erreicht.“
„Aber, aber …“, stammelte Paul.
„Es tut mir wirklich leid, Paul. Bitte verzeih mir!“
Paul biss sich mit verbitterter Miene auf die Lippen.
„Hörst du, verzeihst du mir?“
„Was gibt es da zu verzeihen?“, antwortete er schließlich. „Du bist deinem Herzen gefolgt und hast das getan, was du wolltest! Du musst ja schließlich wissen, was dir wichtig ist und was nicht!“
„Ach komm schon, Paul! Sei doch nicht beleidigt. Wir schauen uns die Farm eben ein anderes Mal an, in Ordnung. Vielleicht schon morgen. Die Farm läuft uns ja schließlich nicht davon!“
Paul atmete tief durch. „Wenn du meinst! Und was ist, wenn die Farm verkauft ist?“
„Dann findest du eine andere!“
Sie hörte, wie er schwieg und tief durchatmete.
„Paul, bitte!“
Er schwieg.
„Bist du beleidigt?“
“Beleidigt? Wie das klingt!“
„Wie denn?“
„Ich dachte, es ginge um unsere Zukunft!“, brach es nun aus ihm heraus. „Ich dachte, wir wollten aufs Land ziehen, eine Farm kaufen, uns selbstständig machen. Das war doch unser Traum!“
„Fang doch nicht wieder damit an. Es wird nicht wahrer, wenn du das dauernd wiederholst.“
Er schwieg beleidigt.
„Das war dein Traum, Paul!“, konterte Olivia. „Das war dein Traum! Mein Traum findet gerade hier statt und nicht irgendwo auf dem Land!“
Wieder trat eine Pause ein.
„Ich dachte, es wäre unser gemeinsamer Traum, ja, das dachte ich!“
„Es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe, aber so sicher war ich mir nicht. Und das habe ich dir neulich auch genau erklärt. Nur du, du hörst nicht richtig zu oder willst es nicht begreifen.“
„Ist das so?“
„Ja!“
Er schwieg.
Sie fuhr fort. „Ich weiß noch nicht genau, was ich will. Aber ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass es das ist, was ich will, ja ich glaube, ich möchte ein Model sein!“
Paul war das Herz so schwer, dass er nach Luft rang und nichts sagen konnte, nichts sagen wollte.
„Es tut mir leid, Paul! Aber ich muss mir erst einmal bewusst werden, was ich eigentlich will.“
„Ja, ja, das musst du wohl!“, meinte Paul nach einer langen Pause. „Schade, ich dachte, wir wollen das gleiche!“
„Ich muss jetzt aufhören, Paul. Ich muss zurück zum Shooting. Ich werde gerufen!“
„Hast du dann morgen Zeit und Lust, dir die Farm anzusehen?“
„Wenn ich ehrlich bin, Paul, morgen wird das Shooting fortgesetzt. Eine ganze Fotostrecke, du verstehst?“
„Und deine Arbeit?“
„Ich habe Urlaub genommen!“
„Dafür hast du Zeit!“
„Ach komm!“
Er nickte traurig. „Na dann mal schnell zurück zu deinem Shooting!“, meinte er verbittert.
Sie schwiegen kurz.
„Ich muss wieder …!“
„Dann fahre ich eben mal alleine hin und schau mir alles an!“
„Das ist eine gute Idee. Sondiere das ganze erst mal. Vielleicht gefällt es dir ja gar nicht, dann wäre ich völlig umsonst mitgefahren!“
„Ja, da hättest du wohl viel Zeit sinnlos vertan!“
„Stimmt, so sehe ich das auch. Du, ich werde schon wieder gerufen, Also ciao! Bis dann!“
„Bis bald!“, antwortete Paul enttäuscht. Er hörte wie sei aufgelegt hatte und schaute noch eine Weile nachdenklich vor sich hin.
13
„Du könntest wenigstens fragen, wie es war?“, murrte Paul beleidigt. „Nicht mal das interessiert dich mehr!“
„Wie war`s?“, meinte sie mit gleichgültigem Ton.
„Glaubst du, ich habe Lust es dir zu erzählen, wenn ich schon an deinem Ton merke, dass es dich nicht interessiert.“
Sie schwieg und sah eine Modezeitschrift durch.
„Mann, die Farm auf dem Land, das war doch unser Traum. Und jetzt interessierst du dich nicht einmal mehr dafür!“
„Es war dein Traum, Paul und nur dein Traum!“, gab sie ihm Bescheid und blätterte geschäftig in der Zeitschrift herum.
“Mein Traum? Und nur meiner?“ Paul konnte nicht glauben, was er hörte und schüttelte den Kopf. „Das stimmt doch gar nicht!“, fügte er verärgert hinzu.
„Nur deiner!“
„Nein, nein, nein, das stimmt nicht!“ Er stellte sich vor sie hin und nahm ihr die Zeitschrift ab.
„Wir beide wollten uns die Farm auf dem Land kaufen und uns selbstständig machen. Ich wollte mir eine Schreinerwerkstatt einrichten, Möbel bauen, alte Schränke restaurieren und so weiter. Und du wolltest dich mit deiner Physiotherapie selbstständig machen. Eine Praxis einrichten und außerdem Kunden besuchen. So war es geplant!“
„Du hast es so geplant, Paul, nicht ich!“ Sie sah ihn aus kalten Augen an.
„Nein, das waren auch deine Pläne!“
„Dann hab ich meine Pläne eben geändert. Sowas kommt vor und ist auch erlaubt, verdammt noch mal!“ Sie sprang auf und ging wütend im Zimmer auf und ab.
„Wir wollten dort unser Glück finden, Olivia!“
„Als Schreiner und Physiotherapeutin!“ Sie lachte laut auf. „Träum weiter, Paul!“
Er stand mit geballten Händen vor ihr und wurde zunehmend wütender. „Ja, ich als Schreiner und du als Physiotherapeutin. Das ist doch eine gute Idee. Das kann gut ankommen, gerade auf dem Land!“
Sie lachte nur und nahm ihm die Zeitschrift aus der Hand. „Du bist ein Träumer, Paul, ein hoffnungsloser Träumer.“
Er sah sie ungläubig an.
Sie zeigte auf das Titelblatt der Zeitschrift. „Das Girl auf der Titelseite verdient an einem Tag mehr, als wir beide als Schreiner und Physiotherapeutin in einem Monat. Und ohne jede Investition und ohne jedes Risiko. Begreifst du das, Paul. Begreifst du das?“
Sie sahen sich lange schweigend in die Augen. Dann tat Paul einen Schritt zurück und betrachtete sie. „Das heißt, du willst jetzt voll auf diese Karte setzen und unsere Idee von der Farm ist passé.“ Er fiel in sich zusammen und setzte sich auf das Sofa. „Und das mit uns. Ist das jetzt auch vorbei?“
Sie spürte, dass sie wenig liebevoll mit ihm umgegangen war. Deswegen setzte sie sich schnell zu ihm, legte den Arm um ihn, sah ihn aus strahlenden Augen an und küsste ihn auf die Wange. „Da musst du keine Angst haben. Ich bin doch total in dich verliebt!“
Er sah sie vorsichtig an. „Kann ich das glauben?“
„Das kannst du glauben, Paul. Ich bin total in dich verliebt, total, total, total in dich verliebt!“
Ein Lächeln kam auf sein Gesicht zurück und er war wieder zufrieden.
„Und deine Idee von der Farm muss ja auch nicht gestorben sein. Sie ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben!“
Er atmete auf, lächelte sie liebevoll an und begann sie zu küssen.
Sie stieß ihn sanft zurück. „Aber jetzt muss ich meine Agentur anrufen, ob sie ein Casting oder einen neuen Job für mich haben. Die Fitness-Girl-Fotostrecke ist ja geschossen und in den Magazinen. Und der Scheck dafür ist nicht ohne, das kann ich dir sagen.“
Er verzog beleidigt die Miene.
„Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist und von nichts kommt nichts!“, vertröstete sie ihn.
Damit schwang sie sich an ihr Handy und hatte keine Zeit mehr für Paul.
14
„Versteh mich doch, versteh mich doch bitte!“, flehte Olivia ihn an. „Das ist die Chance meines Lebens. Ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Ich kann sie mir nicht entgehen lassen!“ Sie sah ihn aus aufgerissenen Augen an.
Er blickte sie verzweifelt an. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich erkenne dich einfach nicht mehr wieder, Olivia!“, stammelte er hilflos. „Ich weiß nicht mehr, wer du bist!“ Er ergriff ihre Arme.
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Lass das Gelaber!“ Sie riss sich los. „Ich bin immer noch die gleiche.“ Sie holte tief Luft. „Ich habe nur eine Chance in meinem Leben erkannt, die ich nutzen will.“
Er stand sprachlos vor ihr und rang nach Worten.
„Ich werde mir diese Chance nicht entgehen lassen, hörst du. Ich werde mir diese Chance nicht zerstören lassen, von niemandem auch nicht von dir, begreifst du das?“
Er sah sie ratlos an. „Aber wir sind kaum noch zusammen. Ständig bist du unterwegs. Und jetzt auch noch ein paar Wochen ins Ausland! Was ist mit uns? Ist das noch was mit uns?“
Sie war von der Agentur nach einigen Engagements in London und der näheren Umgebung für einige Jobs in Paris gebucht worden.
„Was soll mit uns sein? Da ändert sich doch nichts, was soll sich da ändern?“
„Ich weiß nicht, du bist mir so fremd geworden in letzter Zeit. Wir verbringen kaum noch Zeit miteinander. Es geht nur noch um deine blöde Modelkarriere!“
Sie sah ihn entgeistert an. „Blöd findest du das also. Na danke!“
„Ja blöd. Ein einziges blödes Getue!“ Er holte tief Luft. „Ständig das Gerede von Castings und Fotoshootings. Ständig das Blabla von Verträgen und dem großen Geld!“
„Blabla? Denk doch nach! Du hast doch auch etwas davon, wenn das klappt!“
„Ich will gar nichts davon. Ich will, dass du bei mir bist, ich will mit dir leben, ich will, dass du da bist, wenn ich dich brauche. Ich will, dass du dich in der Nacht an mich kuschelst, wenn ich mich nach einem Menschen sehne. Ich will, dass jemand da ist, mich versteht und mir hilft, wenn ich Probleme habe. Und jetzt auch noch ins Ausland. Und ohne mich zu fragen!“
Sie hatte das Angebot von der Agentur bekommen und ohne ihm Bescheid zu sagen, zugesagt.
„Wozu hätte ich dich fragen sollen? Ich habe einen Vertrag unterschrieben, an den bin ich gebunden!“
„Auch ohne mich zu fragen!“
Sie schwiegen.
„Ich liebe dich!“ Er sah sie traurig an. „Ich sehne mich nach dir und möchte mit dir zusammen sein!“
„Das kommt ja alles noch. Das ist doch nur verschoben. Ein paar Jahre erfolgreich in diesem Geschäft und wir haben ausgesorgt!“
„Und dann lebe ich von deinem Geld oder was?“
„Wäre das so schlimm für dich?“, wollte Olivia wissen.
Er nickte nur.
„Da bist du ja ziemlich von gestern!“
„Mag sein. Aber so fühle ich eben.“
Sie sah ihn lange schweigend an. Dann holte sie tief Luft. „Also gut, dann eben so!“ Sie atmete tief durch. „Ich habe schon gesagt, dass ich mir die Modelkarriere von niemandem zerstören lasse, auch nicht von dir!“
Er sah sie gespannt an.
„Nachdem ich hier einige Jobs erledigt habe und alle zufrieden war, war es klar, dass ich bald neue Aufträge kriege. Das heißt, dass ich in wenigen Tagen abreisen werde, um meinen nächsten Job zu erfüllen. Bist du damit einverstanden?“
Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht das, was ich möchte. Das ist überhaupt nicht das, was ich möchte!“
„O.K.!“, fuhr sie analysierend fort. „Du willst es nicht und ich will es unbedingt. Das kann nicht gut gehen. Deshalb schlage ich vor, dass wir für unsere Beziehung eine Auszeit nehmen!“
„Auszeit, was soll denn das sein?“, fragte er enttäuscht. „Du meinst doch Schluss, das meinst du!“
„Auszeit heißt Auszeit und nicht Schluss!“
„Das ist doch nur Wortklauberei, sonst nichts. Auszeit bedeutet, dass du andere Männer treffen und mich vergessen wirst!“
Sie sah ihn nachdenklich an. „Vielleicht!“
„Sicher, da bin ich ganz sicher!“
„Gut!“, schnaubte sie auf. „Dann eben Schluss, wenn du das so siehst!“
„Schade!“, meinte er. „Das tut mir sehr weh!“
„Mir auch, aber du willst es ja so!“ Sie wandte sich ab und ging. Dann drehte sie sich nochmals um. „Lebwohl!“, meinte sie dann kühl. „Lebwohl und nicht auf wiedersehen!“