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Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau,

ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu

Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;

das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des

Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen

und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte;

das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden

Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden

Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der

Kirche fernzuhalten.

Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer

Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen.

Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und

kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute

meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum

eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am

Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre

nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei

Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter

gebräunten in das uralte Gesangbuch --; und plötzlich saß der Bahnwärter

wieder allein wie zuvor.

An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet:

das war das Ganze.

An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine

Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform

waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und

militärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den breiten, behaarten

Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte

oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht,

daß ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese

Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines

Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken

Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.

Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam,

einige Bedenken zu äußern:

»Ihr wollt also schon wieder heiraten?«

»Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!«

»Nun ja wohl -- aber ich meine -- Ihr eilt ein wenig.«

»Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.«

Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur

Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.

»Ach so, der Junge,« sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die

deutlich zeigte, daß er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. »Das ist

etwas andres -- wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im

Dienst seid?«

Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn

einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von

ihrem Schoß auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als

eine große Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte

er, zudem da der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere

Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die

Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge

zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. --

Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten

die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd

schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf

kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht

ganz so grob geschnitten wie das seine, nur daß ihm im Gegensatz zu dem

des Wärters die Seele abging.

Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine

unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so

war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei

Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf

genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale

Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es

ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man

bedauerte den Wärter.

Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gutes Schaf wie den

Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es

gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse

doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge,

denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so,

daß es zöge.

Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der

Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig

Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er

gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so

stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in

seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die

Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas

in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem

aufgewogen erhielt.

Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in

denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anläßlich

solcher Dinge, die Tobiäschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges

Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so

unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.

Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte,

wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein

gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während

des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er

ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er

einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt

hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch

wieder gut zu sein. -- Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten

inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die

stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen

an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat

er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er

vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.

Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe

verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt

seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr

abhängig. -- Zuzeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung

der Dinge und er bedurfte einer Anzahl außergewöhnlicher Hilfsmittel, um

sich darüber hinweg zu helfen. So erklärte er sein Wärterhäuschen und

die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für

geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet

sein sollte. Mit Hilfe von allerhand Vorwänden war es ihm in der Tat

bisher gelungen, seine Frau davon abzuhalten, ihn dahin zu begleiten.

Er hoffte es auch fernerhin tun zu können. Sie hätte nicht gewußt,

welche Richtung sie einschlagen sollte, um seine »Bude«, deren Nummer

sie nicht einmal kannte, aufzufinden.

Dadurch, daß er die ihm zu Gebote stehende Zeit somit gewissenhaft

zwischen die Lebende und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel sein

Gewissen in der Tat.

Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht, wenn er

recht innig mit der Verstorbenen verbunden gewesen war, sah er seinen

jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.

Hatte er Tagdienst, so beschränkte sich sein geistiger Verkehr mit der

Verstorbenen auf eine Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit seines

Zusammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch, wenn der Schneesturm durch die

Kiefern und über die Strecke raste, in tiefer Mitternacht beim Scheine

seiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle.

Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch,

Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die

lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden

Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu

Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.

Der Posten, den der Wärter nun schon zehn volle Jahre ununterbrochen

innehatte, war aber in seiner Abgelegenheit dazu angetan, seine

mystischen Neigungen zu fördern.

Nach allen vier Windrichtungen mindestens durch einen

dreiviertelstündigen Weg von jeder menschlichen Wohnung entfernt, lag

die Bude inmitten des Forstes dicht neben einem Bahnübergang, dessen

Barrieren der Wärter zu bedienen hatte.

Im Sommer vergingen Tage, im Winter Wochen, ohne daß ein menschlicher

Fuß, außer denen des Wärters und seines Kollegen, die Strecke passierte.

Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten brachten in ihrer

periodischen Wiederkehr fast die einzige Abwechslung in diese Einöde.

Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit

Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren

unschwer zu überblicken. Vor vier Jahren war der kaiserliche Extrazug,

der den Kaiser nach Breslau gebracht hatte, vorübergejagt. In einer

Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem

heißen Sommertage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine verkorkte

Weinflasche gefunden, die sich glühend heiß anfaßte und deren Inhalt

deshalb von ihm für sehr gut gehalten wurde, weil er nach Entfernung des

Korkes einer Fontäne gleich herausquoll, also augenscheinlich gegoren

war. Diese Flasche, von Thiel in den seichten Rand eines Waldsees

gelegt, um abzukühlen, war von dort auf irgend welche Weise abhanden

gekommen, so daß er noch nach Jahren ihren Verlust bedauern mußte.

Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter

seinem Häuschen. Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe beschäftigte Bahn-

oder Telegraphenarbeiter einen Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes

Gespräch mit unterlief. Auch der Förster kam zuweilen, um seinen Durst

zu löschen.

Tobias entwickelte sich nur langsam: erst gegen Ablauf seines zweiten

Lebensjahres lernte er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater bewies

er eine ganz besondere Zuneigung. Wie er verständiger wurde, erwachte

auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie diese zunahm,

verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in

unverkennbare Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres

ebenfalls einen Jungen gebar.

Von da ab begann für Tobias eine schlimme Zeit. Er wurde besonders in

Abwesenheit des Vaters unaufhörlich geplagt und mußte ohne die geringste

Belohnung dafür seine schwachen Kräfte im Dienste des kleinen

Schreihalses einsetzen, wobei er sich mehr und mehr aufrieb. Sein Kopf

bekam einen ungewöhnlichen Umfang; die brandroten Haare und das kreidige

Gesicht darunter machten einen unschönen und im Verein mit der übrigen

kläglichen Gestalt erbarmungswürdigen Eindruck. Wenn sich der

zurückgebliebene Tobias solchergestalt, das kleine, von Gesundheit

strotzende Brüderchen auf dem Arme, hinunter zur Spree schleppte, so

wurden hinter den Fenstern der Hütten Verwünschungen laut, die sich

jedoch niemals hervorwagten. Thiel aber, welchen die Sache doch vor

allem anging, schien keine Augen für sie zu haben und wollte auch die

Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten

gegeben wurden.

Bahnwärter Thiel

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