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Erster Akt

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Im Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin. Ein fensterloses Zimmer, das sein Licht von einer brennenden Lampe erhält, die von der Mitte der Decke über einen runden Tisch herunterhängt. In die Hinterwand mündet ein gerader Gang, der den Raum mit der Entreetür verbindet: einer eisenbeschlagenen Tür mit einer primitiven Schelle, die der Eintritt Begehrende von außen durch einen Drahtzug in Bewegung setzt. Eine Tür in der Wand links schließt ein Nebengemach ab. An der Wand rechts führt eine Treppe auf den Dachboden.

Auf diesem Dachboden, sowie in den sichtbaren Räumlichkeiten, hat der Ex-Theaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus untergebracht.

Man kann, bei dem ungewissen Licht, in Zweifel sein, ob man sich in der Rüstkammer eines alten Schlosses, in einem Antiquitätenmagazin oder bei einem Maskenverleiher befindet.

Zu beiden Seiten des Ganges sind auf Ständern Helme und Brustharnische Pappenheimscher Kürassiere aufgestellt, ebenso in je einer Reihe an der rechten und linken Wand des vorderen Raums. Die Dachbodentreppe steht zwischen zwei Geharnischten. Die Decke darüber schließt die übliche Bodenklappe ab.

Ein Stehpult ist vorn links an die Wand gerückt. Tinte, Federn, alte Geschäftsbücher und ein Kontorbock, sowie einige Stühle mit hohen Lehnen um den runden Mitteltisch lassen erkennen, daß der Raum zu Bureauzwecken dienen muß. Wasserflasche mit Gläsern auf dem Tisch und einige Photographien über dem Stehpult. Die Photographien zeigen Direktor Hassenreuter als Karl Moor, sowie in verschiedenen anderen Rollen.

Einer der Pappenheimschen Kürassiere trägt einen ungeheuren Lorbeerkranz um den Nacken gehängt, mit einer Schleife, deren Enden in goldenen Lettern die Worte tragen: „Unserem genialen Direktor Hassenreuter! Die dankbaren Mitglieder.“ Eine Serie mächtiger, roter Schleifen trägt nur die Aufschrift: „Dem genialen Karl Moor ... Dem unvergleichlichen, unvergeßlichen Karl Moor ... usw. usw.

Der Raum ist nach Möglichkeit zu Magazinzwecken ausgenutzt. Wo irgend angängig, hängen an Kleiderhaken deutsche, spanische und englische Kostümstücke aus verschiedenen Jahrhunderten. Man sieht schwedische Reiterstiefel, spanische Degen und deutsche Flamberge.

Die Tür links hat die Aufschrift: „Bibliothek.“

Das ganze Gemach zeigt eine malerische Unordnung. Alte Scharteken und Waffen, Pokale, Becher usw. liegen umher.

Es ist eines Sonntags, Ende Mai.

Frau John, über Mitte der Dreißig hinaus, und das blutjunge Dienstmädchen Piperkarcka sitzen am Mitteltisch. Die John, den Oberkörper weit über den Tisch gelehnt, redet lebhaft auf das Dienstmädchen ein. Die Piperkarcka, dienstmädchenhaft aufgedonnert, mit Jackett, Hut und Schirm, sitzt aufrecht. Ihr hübsches, rundes Lärvchen ist verweint. Ihre Gestalt zeigt Spuren noch nicht vollendeter Mutterschaft. Sie malt mit der Schirmspitze auf der Diele.

Frau John

Na ja doch! Freilich! Ick sag’t ja, Pauline.

Die Piperkarcka

Nu ja. Ick will nu also Schlachtensee oder Halensee. Muß jehn un muß nachsehn, ob ick ihm treffe! —

Sie trocknet ihre Tränen und will sich erheben.

Frau John

verhindert die Piperkarcka am Aufstehen.

Pauline! Um Jottes Willen, bloß det nich! Det nich, um keenen Preis von de Welt. Det macht Skandal, kost Jeld und bringt nischt. Wat woll’n Se woll, und wo Se noch in den Zustande sind! dem schlechten Halunken noch weiter nachlofen!?

Die Piperkarcka

Denn soll meine Wirtin heute soll warten umsonst verjeblich auf mir. Ick spring im Landwehrkanal und versaufe.

Frau John

Pauline! Warum denn? warum denn, Pauline? Jeben Se Obacht, heren Se jetzt bloß um Jotteswillen ’n janz’n eenziges ... bloß ma ’n janzen kleenen Ochenblick uf mir, und passen Se dadruf uf, wat ick Ihn vorstelle! Det wissen Se doch, ick hab et Ihn doch bei de Normaluhr, wo ick an Alexanderplatz aus de Marchthalle bin jekomm, jleich anjesehn und hab et Ihn uf’n Kopp druf jesacht. Wat hab ick jesacht? Jeld, hab ick Ihn uf’n Kopp druf jefragt, jeld, kleenet Aas, er will nischt von wissen! — Det jeht hier vielen, det jeht hier allen, det jeht hier vielen Millionen Mächens so! Und denn hab ick jesacht ... wat hab ick jesacht? komm, hab ick jesacht, ick will dir helfen.

Die Piperkarcka

Zu Hause darf ick mir nu janz natürlich nich blicken lassen, wie ick verändert bin. Mutter schreit doch auf’s ersten Blick! Vater haut mir Kopf an die Wand und schmeißt mir Straße. Jeld hab ick nu ebenfalls och weiter nu weiter keens nich! als wie Stücker zwei Joldstücke, was ick mich Jackettfutter einjenäht. Hätte mich, schlechter Mensch nich Mark nich Pfennig übrig gelassen.

Frau John

Freilein, mein Mann ist Mauerpolier. Freilein: wenn Se bloß wollten Obacht jebn ... jebn Se doch um Jotteswillen Obacht, wat ick Ihn for Vorschläge unterbreiten tu. Freilein, denn is doch uns beede jeholfen. Ihn is jeholfen und so desselbijen jleichen och mir. Außerden is Pauln, wat mein Mann is, jeholfen, wo sterbensjerne een Kindeken will, weil det uns doch unser eenziget, unser Adelbertchen, an de Bräune jestorben is. Ihr Kind hat et jut wie’n eechnet Kind. Denn kenn Se jehn Ihrem Schatz wieder ufsuchen, kenn wieder in’n Dienst, kenn wieder bei Ihre Eltern jehn, det Kind hat et jut und keen Mensch uf die janze Welt nich braucht wat von wissen.

Die Piperkarcka

I jrade! Ick stürze mir Landwehrkanal! — (sie steht auf.) — Ick schreibe Zettel, ick lasse Zettel in mein Jackett zurück: du hast mit deine verfluchte Schlechtigkeit deine Pauline im Wasser jetrieben! dann setze vollen Namen Alois Theophil Brunner, Instrumentenmacher zu. Denn soll er sehn, wie er mit sein Mord auf Jewissen man meinswegen fertig wird.

Frau John

Warten Se, Freilein, ick muß erst ufschließen.

Frau John stellt sich, als wolle sie die Piperkarcka hinausbegleiten.

Noch bevor beide Frauen den Gang erreichen, tritt Bruno Mechelke langsam forschend aus der Tür links und bleibt stehen. Bruno Mechelke ist eher klein, als groß, hat einen kurzen Stiernacken und athletische Schultern. Niedrige, weichende Stirn, bürstenförmiges Haar, kleiner runder Schädel, brutales Gesicht mit eingerissenem und vernarbtem linken Nasenflügel. Die Haltung des etwa neunzehnjährigen Menschen ist vornübergebeugt. Große, plumpe Hände hängen an langen, muskulösen Armen. Die Pupillen seiner Augen sind schwarz, klein und stechend. Er bastelt an einer Mausefalle herum.

Bruno

pfeift seiner Schwester wie einem Hunde.

Frau John

Ick komme jleich, Bruno. Wat wiste denn?

Bruno

scheinbar in die Falle vertieft.

Ick denke, ick soll hier Fallen ufstellen.

Frau John

Haste dem Speck denn rinjemacht? — (zur Piperkarcka) — ’T is bloß mein Bruder. Erschrecken sich nicht, Freilein.

Bruno

wie vorher.

Ick ha heute dem Kaisa Wilhem jesehn, Jette. Ick war mit de Wachparade jejang.

Frau John

zur Piperkarcka, die durch Brunos Erscheinung angstvoll gebannt ist.

Et is bloß mein Bruder, bleiben Se man. — (zu Bruno) — Junge, wie siehst du bloß wieder aus? Det Freilein muß sich ja von dich Angst kriejen.

Bruno

wie vorher. Ohne aufzublicken.

Schuberle buberle, ick bin ’n Jespenst.

Frau John

Mach uf’n Boden und stell deine Mausefallen.

Bruno

wie vorher. Tritt langsam an den Tisch.

Jawoll, det is och man wieder so’n Jeschäft zum Vahungern. Wenn ick mit Streichhölzer handeln du, denn ha ick wahrhaftig mehr Pinke von.

Die Piperkarcka

Atje, Frau John.

Frau John

wütend auf den Bruder los.

Wiste woll jehn und wist mir in Frieden lassen.

Bruno geduckt.

Hab dir man nich. Ick jeh ja schonn.

Er zieht sich folgsam wieder in das anstoßende Zimmer zurück, dessen Tür Frau John resolut hinter ihm schließt.

Die Piperkarcka

Den mecht ick Tierjarten Jrunewald nich bejejnen. Bei Nacht nich und nich ma bei Dage nich.

Frau John

Jnade Jott, wo ick Brunon hetze und der ma hinter een hinter is.

Die Piperkarcka

Atje. Hier jefällt mir nich. Wenn mich wieder sprechen wollen, lieber Bank bei Wasserkunst Kreuzberg, Frau John.

Frau John

Pauline, ick ha Brunon mit Sorje un Kummer Tag un Nacht jroßjebracht. Ihr Kindeken hat et noch zwanzigmal besser. Also Pauline, wenn et jeboren is, nehm ick det Kind un, bei meine in Jott vastorbene Eltern, wo ick an Totensonntag immer noch und keen Mensch mich zurückhält nach Rüdersdorf jeh und Lichter uf beede Jräber ansteche: det kleene Wurm soll et madich jut habn, wie et besser keen jeborener Prinz und keene jeborene Prinzessin haben tut.

Die Piperkarcka

Ick jeh, mit meine letzten Pfennig kaufen mir Vitriol — trefft wen trefft! — un jießen dem Weibsbild, wo mit ihm jeht — trefft wen trefft! ... mitten in Jesicht! trefft wen trefft! brennt ihm janze verfluchte hübsche Visage kaput! Mir jleich! Brennt ihm Bart kaput! Brennt ihm Augen kaput! wenn er mit andres Frauenzimmer jeht. Trefft wen trefft! Hat mir betrogen! zu Jrunde jerichtet! hat mir Jeld jeraubt! hat mich Ehre jeraubt! hat mich verfluchtiger Hund verführt, verlassen, belogen, betrogen, in Elend jestoßen! Trefft wen trefft! Soll blind sein! Nase soll wegjefressen sein! soll jar nich mehr überhaupt auf Erde sein!

Frau John

Freilein Pauline, bei meine ewige Seligkeit, von Stund an, wo det kleene Wurm erstma uf de Welt is ... von den Augenblick an! ... det soll et haben, als wenn et, ick weeß nich wo! in Samt und Seide jeboren wär. Bloß jutes Zutrauen! und, det Se „ja“ sachen! — Ick habe mir allens ausjedacht. Et jeht zu machen, Pauline, et jeht, et jeht sach ick Ihn! Und weder ’n Dokter, noch Polizei, noch Ihre Wirtin merkt wat von. — Und denn kriegen Se erst ma hundertunddreiundzwanzig Mark, wat ick mir von det Reinmachen hier beim Direkter Hassenreuter abjespart habe, ausjezahlt.

Die Piperkarcka

Denn lieber bei die Jeburt erwürgen! verkaufen nich!

Frau John

Wer redet denn von verkofen, Pauline?

Die Piperkarcka

Wat hab ick Oktober vorijen Jahr bis heutijen Tag for Himmelsangst ausjestanden. Bräutijam steßt mir fort! Mietsfrau steßt mir fort. Schlafbodenstelle is mich jekindigt. Wat du ick denn, daß man mir so verachtet und von die Leute verflucht un ausstoßen muß?

Frau John

Det sach ick ja, det kommt, weil der Deibel unsern Herrn Christus Heiland noch immer ieber is.

Ohne bemerkt zu werden ist, bastelnd wie vorher, Bruno geräuschlos wiederum in die Tür getreten.

Bruno

sagt in eigentümlicher Weise, scharf, aber wie nebenbei.

Lampen!

Die Piperkarcka

Der Mensch erschrickt mir. Lassen mir fort.

Frau John

geht heftig auf Bruno los.

Willst du woll jehn wo de hinjeherst! Ick ha dir jesacht, ick wer’ dir rufen.

Bruno

wie vorher.

Na Jette, ick ha doch bloß Lampen jesacht.

Frau John

Biste verrickt? Wat heest denn det: Lampen? —

Bruno

Na, klinkt et denn nich an de Einjangstir?

Frau John

erschrickt, horcht, hält die Piperkarcka zurück, die im Begriff ist, davon zu gehen.

Pst, Freilein! Halt! Warten Se man noch ’n Ogenblick.

Bruno schnitzelt weiter. Die beiden Frauen horchen.

Frau John

leise, angstvoll, zu Bruno.

Ick her nischt.

Bruno

Du ollet vatrockentes Kichenspinde, denn schaff da man bessare Lauscha an.

Frau John

Det wär in det janze Vierteljahr det erstema, det der Direkter kommt, wenn Sonntag is.

Bruno

Wenn der Theatafritze kommt, kann a mir meinswejen jleich angaschieren.

Frau John

heftig.

Quatsch nich!

Bruno

grinsend zur Piperkarcka.

Jlobens et, Freilein, ick ha bei Zirkus Schumann ’n dummen Aujust sein Esel dreimal rum die Manesche jebracht. Det mach ick allens! Ick wer’ mir woll furchten.

Die Piperkarcka

scheint die phantastische Sonderbarkeit der Umgebung erst jetzt zu bemerken, erschrocken, stark beunruhigt.

Josef Maria, wo bin ick denn?

Frau John

Wer kann denn det sind?

Bruno

Da Direkta nich, Jette. Det is eha ’ne Tülle, wo elejante Trittlinge hat.

Frau John

Freilein, jehn Se man zwee Minuten, sein so jut, hier uf ’n Oberboden. ’S kommt eener, kann sind, der bloß wat wissen will.

In ihrer zunehmenden Angst tut die Piperkarcka das Verlangte. Sie klettert über die Treppe auf den Oberboden, dessen Klappe geöffnet ist. Frau John hat sich so gestellt, daß im Notfalle die Piperkarcka gegen die Entreetür gedeckt ist. Die Piperkarcka verschwindet. Frau John und Bruno bleiben allein.

Bruno

Wat wiste denn mit die barmherzige Schwester?

Frau John

Det jeht dir nischt an, verstehste mich.

Bruno

Ick frage ja man, weil det de vor det Mächen so ängstlich ’ne Wand machen dust. Sonst is et mich doch wahaftig Pomade.

Frau John

Det soll dir och immer Pomade sind.

Bruno

Danke Komma, denn kann ick woll abtippeln.

Frau John

Lump, weest du woll, wat du mir schuldig bist?

Bruno pomadig.

Wat regste dir denn uf? Wo stoß ick dir denn? Wat wiste? Ick muß jetzt zu meine Braut. Mir schläfert. Vorichte Nacht hab ick unter Sträucher in Tierjarten platt jemacht. Und juterletzt is Kohlmarcht bei mich. — (Er kehrt seine Hosentaschen um.) — Foljedessen muß ick jehn ’n Stück Brod verdienen.

Frau John

Hier jeblieben! — und nich von de Stelle! — oder du krist und wenn det de jaulst wie ’n kleener Hund, kriste nimmermehr wenn’t bloß ’n Pfennich is, krist de von mich! Bruno, du jehst uf schlechte Weche.

Bruno

Ick wer’ woll immer jejen de janze Welt ... noch wat! ... wer’ ick der Potsdammer sind. Soll ick etwa nich jehn, wo ick scheen bei Hulda’n zu leben kriege? — (Er zieht eine schmutzige Brieftasche.) — Nich ma ’n dreckigen Pfandschein ha ick mehr in de Plattmullje drin. Wat wiste von mich, un denn laß mir abschrenken.

Frau John

Von dir? Wat ick will? For wat wärst du woll nitze? Du bist zu nischt weiter nitze, als det eene Schwester, wo nich richtig in Koppe is, mit so’n Lump un Tagedieb Mitleid hat.

Bruno

Kann sind, det de in Koppe manchmal nich richtig bist.

Frau John

Unser Vater hat oft zu mich jesacht, wo du schonn mit fünf, sechs Jahre alt schlechte Dinge jetrieben hast, det mit dir in Leben keen Staat weiter nich zu machen is un det ick dir sollte lofen lassen. Un mein Mann, wo richtig un orntlich is ... vor so’n juten Mann: du darfst dir nich blicken lassen.

Bruno

Jewiß doch, det weeß ick ja allens, Jette! Aber so eenfach schiebt sich det nu eemal nu eben nich. Wat wiste? Ick weeß, ick bin mit ’n Ast uf’n Puckel, wenn det’n och det’n keener sieht, un nich in Zangzuzih uf de Welt jekomm. Ick muß sehn un mir mit mein Ast mang mang helfen. Na jut so! wat wiste? von wechen de Ratten brauchst du mir nich. Du wist bloß wat mit die Dohle vertussen.

Frau John

die Faust drohend unter Brunos Nase.

Verrat du een eenziget kleenet Sterbenswort: denn mach ick dir kalt. Denn bist du ’ne Leiche!

Bruno

Na weeßte, vastehste, ick mache mir dinne. — (Er steigt die Treppe hinauf.) — Womeglich komm ick, mir nischt dir nischt, noch ma in Schokoladenkasten rin. —

Er verschwindet durch die Bodenklappe. Frau John löscht eilig die Lampe und tappt sich zur Bibliothekstür. Sie geht in die Bibliothek, schließt aber die Tür hinter sich nicht ganz.

Die Geräusche eines verrosteten Schlosses und Schlüssels, der darin umgedreht wurde, sind vernehmlich gewesen. Ein leichter Schritt kommt nun den Gang herauf. Vorübergehend war der Berliner Straßenlärm, auch Kindergeschrei aus den Hausfluren vernehmlich geworben. Leierkastenmusik vom Hof herauf.

Mit scheuen Bewegungen erscheint Walburga Hassenreuter. Das Mädchen ist noch nicht sechzehn Jahre alt und sieht hübsch und unschuldig aus. Sonnenschirm, fußfreies helles Sommerkleidchen.

Walburga

stutzt, horcht, sagt dann ängstlich.

Papa! — Ist schon jemand hier oben? — Papa! Papa! — (Sie horcht lange gespannt und sagt dann): — Es riecht ja hier so nach Petroleum! — (Sie findet Streichhölzer, entzündet eines davon, will die Lampe anstecken und verbrennt sich an dem noch heißen Zylinder.) — Au! — Donnerwetter, wer ist denn hier? —

Sie hat aufgeschrien und will fortlaufen.

Frau John erscheint wieder.

Frau John

I, Freilein Walburga, wer wird denn jleich Lärm machen! Sein Se man friedlich! Det bin ja bloß ick.

Walburga

Gott, hab ich aber einen ganz entsetzlichen Schreck bekommen, Frau John.

Frau John

Weshalb denn, Freilein? Wat suchen Se denn heit an Sonntag hier?

Walburga

Hand auf dem Herzen.

Mir steht noch immer das Herz ganz still, Frau John.

Frau John

Wat hat’s denn, Freilein Walburga? Wer ängstigt Se denn? Sie missen det doch von Ihren Herrn Vater wissen, det ick Sonntag und Wochentag hier oben mang die Kisten und Kasten zu tun habe, mit Staub abbürsten und Motten auskloppen. In drei, vier Wochen, wenn ick jlicklich mit die zwölf- oder achtzehnhundert Theaterlumpen eemal ’rum bin und fertig bin, fängt et doch immer wieder von frischen an.

Walburga

Ich hab’ mich erschrocken, weil sich der Lampenzylinder noch ganz heiß anfaßte, Frau John.

Frau John

Nu ja, de Lampe hat ebent jebrannt un ick hab se vor eene halbe Minute ausjepustet. — (Sie hebt den Zylinder ab.) — Mir brennt et nich! Ick hab harte Hände! — (Sie zündet das Docht auf.) — Na, nu wird Licht! Nu hab ick se wieder anjestochen. Wat is nu Jefährliches los? Ick sehe nischt.

Walburga

Hu, Sie sehen ja aus wie ein Geist, Frau John.

Frau John

Wie soll ick aussehn?

Walburga

Das ist, wenn man so aus der prallen Sonne ins Finstere kommt ... in diese muffigen Kammern hinein, da ist man wie von Gespenstern umgeben.

Frau John

Na, kleenet Jespenst, weshalb kommen Se denn? — Sind Se alleene oder is noch jemand? — Kommt am Ende Papa noch nach?

Walburga

Nein! Papa ist heute zu einer wichtigen Audienz nach Potsdam hinaus.

Frau John

Und wat suchen denn also Sie nu woll hier?

Walburga

Ich? Ich bin einfach spazieren gewesen.

Frau John

Na, denn sehn Se man wieder, det Se fortkomm. In Papa’n seine Rumpelkammer scheint keene Pfingstsonne nich.

Walburga

Sie sollten auch, so grau wie Sie aussehen, mal lieber ’raus an die Sonne gehn.

Frau John

I, Sonne is bloß for feine Leite! Wenn ick man alle Tache meine paar Pfund Staub und Dreck uf de Lunge krieje. — Jeh man, Kindken, ick muß an de Arbeet! — mehr brauch ick nich: ick lebe von Müllstob und Mottenpulver. —

Sie hustet.

Walburga

ängstlich.

Sie brauchen Papa nicht sagen, daß ich hier oben gewesen bin.

Frau John

Ick? Ick habe woll sonst nischt besseret zu tun.

Walburga

scheinbar leichthin.

Und sollte Herr Spitta nach mir fragen ...

Frau John

Wer?

Walburga

Der junge Herr, der bei uns im Hause Privatstunde gibt ...

Frau John

Na, und?

Walburga

Sind Sie so freundlich und sagen Sie ihm, daß ich hier gewesen aber gleich wieder gegangen bin.

Frau John

Also Herrn Spitta soll ick et sagen, Papa’n nich?

Walburga

unwillkürlich.

Um Gottes willen nicht, liebste Frau John.

Frau John

Na wacht du, wacht! Jib du bloß man Obacht. Manch eene hat ausjesehn, wie du, und is aus die Jejend jekomm wie du, wo nachher in de Drajonerstraße in Rinnsteen oder jar in de Barnimstraße hinter schwedsche Jardinen zujrunde jejangen is.

Walburga

Sie werden doch damit nicht sagen wollen, Frau John, oder glauben wollen, daß in meiner Beziehung zu Herrn Spitta etwas Unerlaubtes oder Ungehöriges ist?

Frau John

in höchstem Schreck.

Mund zu! — Et hat jemand dem Schlüssel im Schloß jestochen.

Walburga

Auslöschen!

Frau John

bläst schnell die Lampe aus.

Walburga

Papa!

Frau John

— Freilein, ruf uf’n Oberboden.

Sie und Walburga verschwinden über die Treppe durch den Bodenverschlag, der verschlossen wird.

Zwei Herren, der Direktor Harro Hassenreuter und der Hofschauspieler Nathanael Jettel, erscheinen durch die Flurtür im Gange. Der Direktor ist mittelgroß, glattrasiert, fünfzig Jahre alt. Er pflegt große Schritte zu nehmen und bekundet ein lebhaftes Temperament. Sein Gesichtsschnitt ist edel, das Auge von kühnem Ausdruck. Sein Betragen ist laut. Sein Wesen überhaupt durchaus feurig. Er trägt einen hellen Sommerüberzieher, den Zylinder nach hinten gerückt und übrigens Frackanzug und Lackschuhe. Der leger geöffnete Paletot enthüllt eine mit Ordensternen überdeckte Brust. — Hofschauspieler Jettel trägt unter dem leichtesten Sommerüberzieher einen weißen Flanellanzug. Er hat einen Strohhut nebst elegantem Stock in der linken Hand, gelbe Schuhe an den Füßen. Er ist ebenfalls glattrasiert und über die fünfzig alt.

Direktor Hassenreuter

ruft.

John! — Frau John! — Ja, das sind nun hier meine Katakomben, lieber Jettel! Sic transit gloria mundi! Hier hab ich nun alles, mutatis mutandis, untergebracht, was von meiner ganzen Theaterherrlichkeit übrig geblieben ist: alte Scharteken! alte Lappen und Lumpen! — John! John! Sie ist hier gewesen, denn der Lampenzylinder ist heiß! — (Er zündet mit einem Streichholz die Lampe an.) — Fiat lux pereat mundus! So! Jetzt können Sie mein Motten-, Ratten- und Flohparadies bei Lichte besehen.

Nathanael Jettel

Haben Sie also meine Karte bekommen, bester Direktor?

Direktor Hassenreuter

Frau John! — Ich werde mal sehn, ob sie auf dem Boden ist. — (Er steigt sehr gewandt die Treppe hinauf und rüttelt an der Bodenklappe.) — Verschlossen! Den Schlüssel hat die Kanaille natürlich am Schürzenband. — (Er pocht wütend mit der Faust gegen die Klappe.) — John! John!

Nathanael Jettel

etwas ungeduldig.

Direktor, geht es nicht ohne die John?

Direktor Hassenreuter

Was? Glauben Sie, daß ich Ihnen den miserablen Lappen, den Sie gerade da für Ihr Gastspiel brauchen, aus meinen dreihundert Kisten und Kasten, ohne die John, im Frack und mit sämtlichen Orden, so wie ich vom Prinzen komme, selber heraussuchen kann.

Nathanael Jettel

Erlauben Sie mal! In Lappen absolviere ich meine Gastreisen nicht.

Direktor Hassenreuter

Mensch, spielen Sie doch in Unterhosen! meinethalben! Mich stört das nicht! Nur vergessen Sie nicht, wer vor Ihnen steht. Deshalb, wenn der Hofschauspieler Jettel — na wenn schon! — gnädigst zu pfeifen geruhen, springt der Direktor Harro Hassenreuter noch lange nicht. Sapristi! wenn irgendein Komödiant einen schäbigen Turban oder zwei alte Transtiefel braucht, muß sich ein pater familias, ein Familienvater den einzigen Sonntagnachmittag unter den Seinen abknapsen? Soll womöglich wie ’n Tackel auf allen Vieren in alle Bodenwinkel hinein? Nein, Freundchen, da müßt Ihr Euch andere aussuchen.

Nathanael Jettel

sehr ruhig.

Könnten Sie mir nicht sagen, Direktor, wer Ihnen in Gottes Namen auf die Krawatte getreten hat?

Direktor Hassenreuter

Mein Junge, ich habe noch vor kaum einer Stunde die Beine unterm Tisch eines Prinzen gehabt: post hoc, ergo propter hoc! — Ich setze mich Ihretwegen in einen verfluchten Omnibus und kutsche in diese verfluchte Gegend ... wenn Sie meine Gefälligkeit nicht zu würdigen wissen: scheren Sie sich!

Nathanael Jettel

Sie haben mich auf vier Uhr hierher bestellt. Sie haben mich eine volle geschlagene Stunde in dieser entsetzlichen Mietskaserne, auf diesem lieblichen Korridore unter dem Kinderpöbel warten lassen ... Ich habe gewartet, Ihnen nicht den geringsten Vorwurf gemacht! und jetzt sind Sie geschmackvoll genug, mich als eine Art Spucknapf zu betrachten ...

Direktor Hassenreuter

Mein Junge ...

Nathanael Jettel

In’s Teufels Namen, der bin ich nicht! Eher mache ich Sie zu meinem Hanswurst und lasse Sie für sechs Groschen Purzelbaum schießen!

Er nimmt entrüstet Hut und Stock und geht.

Direktor Hassenreuter

stutzt, bricht dann in ein tolles Gelächter aus und schreit hinter Jettel her:

Machen Sie sich nicht lächerlich! — Und übrigens bin ich kein Maskenverleiher.

Man hört die Flurtür ins Schloß knallen.

Direktor Hassenreuter zieht die Uhr.

— Rindvieh verdammtes! — Schafskopf verfluchter! — Ein Segen, daß das Rindvieh, verdammte, gegangen ist!

Er steckt die Uhr ein, zieht sie gleich darauf wiederum und lauscht. Hierauf geht er unruhig hin und her, bleibt stehen, blickt in den Zylinderhut, dessen Inneres einen Spiegel enthält, und kämmt sich sorgfältig. Er tritt an den Mitteltisch und öffnet einige von den Briefschaften, die dort gehäuft liegen. Dazu singt er trällernd:

„O Straßburg, o Straßburg,

du wunderschöne Stadt.“

Abermals sieht er nach der Uhr. Plötzlich geht die Türschelle über seinem Kopf.

Direktor Hassenreuter

Auf die Minute! Was doch die Dinger, wenn es drauf ankommt, pünktlich sind!

Er eilt und öffnet die Flurtür, jemand laut und fröhlich begrüßend. Die Trompetentöne seiner Stimme werden bald von glöckchenartigem Lachen einer weiblichen akkompagniert. Sehr bald erscheint der Direktor wieder, von einer eleganten jungen Dame begleitet, Alice Rütterbusch.

Direktor Hassenreuter

Alice! Kleine Alice! Komm erst mal näher, kleine Alice! Komm mal ans Licht! Ich muß doch sehen, ob du noch dieselbe kleine, schockscharmante, tolle Alice aus den besten Tagen meiner reichsländischen Direktionsperiode bist!? Mädel, ich hab’ dich ja gehen gelehrt! ich hab deine ersten Schritte gegängelt ... das Sprechen! Du sagtest ja immer Cheef statt Chef! Ha ha ha! Hoffentlich hast du das nicht vergessen.

Alice Rütterbusch

Schaun’s Direktor, Sie glauben doch net, daß i undankbar bin?

Direktor Hassenreuter

nimmt ihr den Schleier ab.

Mädel, du bist ja noch jünger geworden!

Alice Rütterbusch

hochrot, beglückt.

Da müßt einer auch gehörig daher lügen, wenn einer behaupten wollt, daß du dich zum Nachteil verändert hast. Aber weißt, arg finster hast’s bei dir oben und a bissel — Harro, wenns d’ mechst a Fenster aufmachen! — so a bissel a schwere Luft.

Direktor Hassenreuter

Pillycock saß auf Pillycocks Berg!

„Doch Mäus’ und Ratten und solch Getier

Aß Thoms sieben Jahr lang für und für.“

Im Ernst, ich hab’ finstere und schwere Zeiten durchgemacht! Du wirst ja schließlich, trotzdem ich dir lieber nichts geschrieben habe, liebe Alice, davon unterrichtet sein.

Alice Rütterbusch

Das war aber net grad, weißt, sehr freindschaftlich, daß d’ mir auf alle die sauberen und langen Brief kein Wörtel geantwort’ hast.

Direktor Hassenreuter

Wozu, ha ha ha, einem kleinen Mädchen antworten, wenn man genug mit sich selber zu tun hat und in keiner Beziehung was nützen kann? Sessa! E nihilo nihil fit! Das heißt auf Deutsch: aus nichts kann nichts werden! Motten und Staub! Staub und Motten! ha ha ha! Das ist alles, was ich von meiner deutschen Kulturarbeit an der westlichen Grenze geerntet habe.

Alice Rütterbusch

Du hast also den Fundus net an den Direktor Kurz abgetreten.

Direktor Hassenreuter

„O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt.“ Nein, meine Kleine, ich habe den Fundus nicht in Straßburg gelassen! Dieser ehemalige Kellner, Kneipwirt und Pächter von anrüchigen Tanzlokalen, der mein Nachfolger wurde ... dieser Kretin, dieser bête imbécil, wollte den Fundus nicht! — Sessa, den Fundus hab’ ich nicht dort gelassen: dafür aber vierzigtausend Mark sauerverdientes Geld, von Gastspielreisen aus meiner Mimenzeit! außerdem fünfzigtausend Mark zugebrachtes Vermögen meiner braven Frau. Sessa! — Übrigens, daß ich den Fundus behielt, war ein Glück für mich. — Da! — Ha ha ha! Diese Kerle hier ... — (er berührt einige der Geharnischten) — du kennst sie doch? ...

Alice Rütterbusch

I kenn’ doch meine Pappenheimer.

Direktor Hassenreuter

Nun also: diese Pappenheimschen Kerle hier, und was drum und dran baumelt, haben den alten Lumpensammler und Maskenverleiher Harro Eberhard Hassenreuter nach seiner Hedschra tatsächlich über Wasser gehalten! — Aber reden wir lieber von heiteren Dingen: ich habe mit Vergnügen aus der Zeitung ersehen, daß du von Exzellenz für Berlin engagiert werden wirst.

Alice Rütterbusch

I mach mir nix draus! I möcht lieber bei dir spielen, und das mußt mir versprechen, wanns du wieder eine Direktion ibernehmen tust ... das versprichst mir, daß i augenblickli kontraktbrüchig werden kann! — (Der Direktor bricht in Lachen aus.) — I hab mi drei Jahre lang gnua auf die Provinzschmieren rumgeärgert. Berlin mag i net! und a Hoftheater schon lang net. Jessas die Leit! das Komödiespielen! — Weißt, i g’hör zum Fundus, i hab immer bloß daher g’hört! —

Sie nimmt unter den Pappenheimern Aufstellung.

Direktor Hassenreuter

Ha ha ha ha! Also komm, du getreuer Pappenheimer.

Er öffnet die Arme weit, sie fliegt hinein, und beide begrüßen einander mit einigen lange anhaltenden Küssen.

Alice Rütterbusch

Geh Harro, jetzt sagst mir: was macht deine Frau?

Direktor Hassenreuter

Therese geht’s gut, außer daß sie trotz Kummer und Sorgen von Tag zu Tag dicker wird. — Mädel, Mädel, wie du duftest! — (Er drückt sie an sich.) — Weißt du auch, daß du teufelsmäßig gefährlich bist?

Alice Rütterbusch

Meinst, daß i blöd bin? Freili bin i gefährlich.

Direktor Hassenreuter

Sakra!

Alice Rütterbusch

Meinst, i sollt mir in der schönen Gegend, drei Stiegen hoch, unter an muffigen Dach, mit dir a Rendezvous geben, wann ich net wißt, daß das für uns zwei, ans wie’s andere, gefährlich is. Ibrigens hab’ i ja, Gott sei Dank, weil i halt immer a Glück haben muß, wann i schon amal auf Schleichwegen geh, auf der Treppen den Nathanael Jettel troffen, bin dem Herrn Hofschauspieler bei ei’m Haar direkt in die Arme g’rannt. Wird schon sorgen, daß das nicht unter uns bleibt, daß i di b’sucht hab.

Direktor Hassenreuter

Ich muß das Datum verschrieben haben: der Mensch behauptet, ha ha ha, ich hätte ihn ganz ausdrücklich für heut nachmittag herbestellt.

Alice Rütterbusch

Das war aber net etwa die einzige Bassermannsche Gestalt, der i auf die sechs Treppenabsätz begegnet bin, und was mir die lieben kleinen Kinderln, die auf die Stufen rumkugeln, nachgeschrien haben, das is dermaßen unparlamentarisch, das is von solche Kröten, noch net drei Käs’ hoch sind, schon die allergrößte Gemeinheit, die mir noch vorkommen is.

Direktor Hassenreuter

lacht, wird dann ernst.

Ja, siehst du: daran gewöhnt man sich: was so hier in diesem alten Kasten mit schmutzigen Unterröcken die Treppe fegt und überhaupt schleicht, kriecht, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit, flucht, lallt, hämmert, hobelt, stichelt, stiehlt, treppauf treppab allerhand dunkle Gewerbe treibt, was hier an lichtscheuem Volke nistet, Zither klimpert, Harmonika spielt — was hier an Not, Hunger, Elend existiert und an lasterhaftem Lebenswandel geleistet wird, das ist auf keine Kuhhaut zu schreiben. Und dein alter Direktor, last not least, rennt, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit und flucht, ha ha ha, wie der Berliner sagt, immer mitten mang mit. Ha ha ha, Mädel, mir ist es recht dreckig gegangen.

Alice Rütterbusch

Weißt ibrigens, wen i, wie i grad auf den Bahnhof Zoologischer Garten zusteuer, troffen hab? Den alten guten Fürst Statthalter hab i troffen. Und sixt, unverfroren wie i amal bin, bin i zwanzig Minuten lang neben ihm hergschwenkt und hab ihn in an langen Diskurs verwickelt und, auf Ehre, Harro, wie ich dir sag, so is es buchstäblich tatsächlich g’schegn. Auf’n Reitweg is plötzlich Majestät mit großer Suite vorübergritten. I denk, i versink! Und hat übers ganze Gesicht gelacht und Durchlaucht so mit dem Finger gedroht. Aber g’freit hab i mi, das kannst mir glauben. Aber jetzt kommt d’Hauptsach. Jetzt paß auf. — Ob i mi freun tät, hat mi Durchlaucht plötzli g’fragt, und ob i wieder nach Straßburg mecht, wann der Direkter Hassenreuter das Theater tät wieder übernehmen. Na weißt: beinah hab i an Sprung getan!

Direktor Hassenreuter

Er wirft seinen Überzieher ab und steht in seinen Orden da.

Du hast wahrscheinlich bemerken müssen, daß die kleine Durchlaucht vorzüglich gefrühstückt hat. Sessa! Wir haben zusammen gefrühstückt. Wir haben ein exquisites kleines Herrenfrühstück beim Prinzen Ruprecht draußen in Potsdam gehabt. Ich leugne nicht, daß sich vielleicht eine Wendung zum Guten im miserablen Geschicke deines Freundes vorbereitet.

Alice Rütterbusch

Liebster, wie a Staatsmann, wie a Gesandter, siehst du ja aus.

Direktor Hassenreuter

Ah, du kennst diese Brust voll hoher und höchster Orden noch nicht!? Klärchen und Egmont! Hier magst du dich satt trinken! —

Neue Umarmung.

Carpe diem! genieße den Tag! Sekt, kleine Naive, steht allerdings auf dem jetzigen Repertoire deines alten Direktors, Erweckers und Freundes nicht! — (Er öffnet eine Truhe und entnimmt ihr eine Flasche Wein.) — Aber dieser Stiftswein ist auch nicht von Pappe! — (Er zieht den Korken. Die Türschelle geht.) — Was? — Pst! — Wer hat denn die ungeheure Dreistigkeit, am Sonntag nachmittag hier anzuklingeln? — (Es klingelt stärker.) — Kleine, zieh dich doch mal in die Bibliothek zurück. — (Alice eilt in die Bibliothek ab. Es klingelt wieder.) — Donnerwetter noch mal, der Kerl ist ja irrsinnig. — (Er eilt nach der Tür.) — Gedulden Sie sich oder scheren Sie sich! — (Man hört ihn die Tür öffnen.) — Wer? Wie? „Ich bin’s, Fräulein Walburga?“ Was? Fräulein Walburga bin ich nicht. Ich bin nicht die Tochter! Ich bin der Vater! Ach, Sie sind’s, Herr Spitta! Gehorsamer Diener, ich bin der Vater! Ich bin der Vater! Was wünschen Sie denn?

Im Gange erscheint wiederum der Direktor, geleitet von Erich Spitta, einem einundzwanzigjährigen jungen Menschen, der Brille und Zwicker trägt und übrigens scharfe und nicht unbedeutende Züge hat. Spitta gilt als Kandidat der Theologie und ist entsprechend gekleidet. Er hält sich nicht gerade, und seiner Körperentwicklung ist die Studierstube und mangelhafte Ernährung anzumerken.

Direktor Hassenreuter

Wollten Sie meiner Tochter Walburga hier auf dem Speicher Privatstunde geben?

Spitta

Ich fuhr im Pferdebahnwagen vorüber und glaubte wirklich, ich hätte Fräulein Walburga unten durch das Portal in’s Haus eilen sehen.

Direktor Hassenreuter

Gar keine Ahnung, mein lieber Spitta. Meine Tochter Walburga ist augenblicklich mit ihrer Mutter in der englischen Kirche, ich glaube, zu einem liturgischen Gottesdienst.

Spitta

Dann verzeihen Sie vielmals, wenn ich gestört habe. Ich nahm mir die Freiheit, heraufzukommen, weil ich mir sagte: eine Begleitung in dieser Gegend, vielleicht auf dem Rückwege nach dem Westen, wäre Fräulein Walburga am Ende nicht unangenehm.

Direktor Hassenreuter

Wohl, wohl, aber sie ist nicht hier, bester Spitta. Ich bedauere sehr. Ich selber bin nur zufällig hier: der Post wegen! und ich habe auch leider andere dringende Sachen vor. — Wünschen Sie sonst was, mein guter Spitta?

Spitta putzt seinen Kneifer und gibt Zeichen von Verlegenheit.

Spitta

Man gewöhnt sich nicht gleich an die Dunkelheit.

Direktor Hassenreuter

Sie benötigen vielleicht Ihr Stundengeld. Schade: ich habe leider die Gewohnheit, nur mit einem Notpfennig in der Westentasche auf die Straße zu gehn. Ich muß Sie schon bitten, sich zu gedulden, bis ich wieder in meiner Wohnung bin.

Spitta

Hat durchaus keine Eile, Herr Direktor.

Direktor Hassenreuter

Ja, das sagen Sie so: aber ich bin ein gehetztes Wild, guter Spitta ...

Spitta

Und doch möchte ich, da ich dieses Zusammentreffen wirklich als eine Art höherer Fügung ansehen muß, um eine Minute Ihrer kostbaren Zeit bitten. Dürfte ich, kurz, eine Frage tun?

Direktor Hassenreuter

mit den Augen auf der Uhr, die er gezogen hat.

Genau eine Minute. Die Uhr in der Hand, bester Spitta.

Spitta

Frage und Antwort wird, denk’ ich, kaum von so langer Dauer sein.

Direktor Hassenreuter

Also los!

Spitta

Habe ich wohl Talent zum Schauspieler?

Direktor Hassenreuter

Um Gottes willen, Mensch, sind Sie denn irrsinnig? — Verzeihen Sie, bester Herr Kandidat, wenn ich in einem solchen Fall bis zur Unhöflichkeit außer dem Häuschen bin. Es heißt zwar natura non facit saltus, aber Sie haben da einen unnatürlichen Sprung gemacht. Da muß ich mal erst zu Atem kommen. Und nun Schluß davon! Denn glauben Sie mir, wenn wir beide jetzt über diese Frage zu diskutieren anfangen, so würden wir in drei bis vier Wochen, sagen wir Jahren, darüber noch nicht zum Schluß gekommen sein.

Sie sind doch Theologe, mein Bester, und stammen aus einem Pastorhaus: wie kommen Sie denn auf solche Gedanken? wo Sie doch Konnexionen haben und Ihnen die Wege zu einer behaglichen Existenz geebnet sind.

Spitta

Ja, das ist eine lange innere Geschichte, eine lange Geschichte schwerer innerer Kämpfe, Herr Direktor, die allerdings bis zu dieser Stunde nur mir bekannt und also absolutes Geheimnis gewesen sind. Da hat mich das Glück in Ihr Haus geführt und von diesem Augenblick an fühlte ich, wie ich dem wahren Ziel meines Lebens näher und näher kam.

Direktor Hassenreuter

mit peinlicher Ungeduld.

Das ehrt mich. Das ehrt mich und meine Familie! — (Er legt ihm die Hände auf die Schulter.) — Dennoch muß ich Ihnen jetzt die ganz inständige Bitte vortragen, von der Erörterung dieser Angelegenheit im Augenblicke abzusehen. Meine Geschäfte sind unaufschieblich.

Spitta

Dann möchte ich nur noch so viel hinzusetzen, damit Sie wissen, daß ich absolut fest entschlossen bin.

Direktor Hassenreuter

Aber mein lieber Herr Kandidat: wer hat Ihnen denn diese Raupen in den Kopf gesetzt? Ich habe mich über Sie gefreut. Habe Sie schon im Geist Ihres friedlichen Pfarrhauses wegen beneidet. Gewissen literarischen Ambitionen, die einem hier in der Großstadt anfliegen, habe ich keinen Wert beigelegt. Das ist nur so nebenbei und verliert sich zweifellos wieder bei ihm, dachte ich mir! — Mensch, und nun wollen Sie Komödiant werden? Kurz: Gnade Gott, wenn ich Ihr Vater wär! Ich würde Sie bei Wasser und Brot einsperren und Sie nicht eher herauslassen, als bis Ihnen jede Erinnerung an diese Torheit entschwunden wäre. Dixi! und nun adieu, guter Spitta.

Spitta

Einsperren oder irgendeine andere Gewaltmaßregel würde bei mir durchaus nichts helfen, fürcht ich.

Direktor Hassenreuter

Aber Mensch: Sie wollen Schauspieler werden? Mit Ihrer schiefen Haltung, mit Ihrer Brille und vor allem mit Ihrem heiseren und scharfen Organ geht das doch nicht.

Spitta

Wenn es im Leben solche Käuze gibt, wie ich, warum soll es nicht auch auf der Bühne solche Käuze geben? Und ich bin der Ansicht, ein wohlklingendes Organ, womöglich verbunden mit der Schiller-Goethisch-Weimarischen Schule der Unnatur, ist eher schädlich, als förderlich. Die Frage ist nur: würden Sie mich, wie ich nun einmal bin, als Schüler annehmen?

Direktor Hassenreuter

zieht hastig seinen Sommerpaletot über.

Nein! denn erstens ist meine Schule auch nur eine Schule Schillerisch-Goethisch-Weimarischer Unnatur! Zweitens könnte ich es vor Ihrem Herrn Vater nicht verantworten! Und drittens zanken wir uns so schon genug, jedesmal nach den Privatstunden, die Sie in meinem Hause geben, beim Abendbrot. Das würde dann bis zur Prügelei ausarten. Und nun Spitta: ich muß auf die Pferdebahn.

Spitta

Mein Vater ist bereits informiert. Ich habe ihm in einem zwölf Seiten langen Brief Punkt für Punkt die Geschichte meiner inneren Wandlung eröffnet ...

Direktor Hassenreuter

Sicherlich wird der alte Herr äußerst davon geschmeichelt sein! Mensch und nun kommen Sie mit mir, ich werde sonst wahnsinnig.

Der Direktor zieht Spitta gewaltsam mit sich fort und hinaus. Man hört die Tür ins Schloß fallen.

Es wird still bis auf das ununterbrochene Rauschen Berlins, das nun lauter hervortritt. Nun wird die Bodenklappe geöffnet und Walburga Hassenreuter steigt in wahnsinniger Hast, gefolgt von Frau John, die Treppe herunter.

Frau John

flüsternd, heftig.

Wat is denn? Et is doch jar nischt jeschehn.

Walburga

Frau John, ich schreie! Ich muß gleich losschreien! — Um Gottes willen, ich kann gar nicht an mich halten, Frau John.

Frau John

Taschentuch mang die Zähne, Mächen! — Et is ja jar nischt! Wat haste dir denn?

Walburga

zähneklappernd, ihr Röcheln gewaltsam bezwingend.

Ich bin ja des Todes ... ich bin ja des Todes erschrocken, Frau John!

Frau John

Wenn ick man wißte, for wat du erschrocken bist?

Walburga

Haben Sie nicht diesen schrecklichen Menschen gesehn?

Frau John

Wat is denn da schrecklich? Det is doch mein Bruder! wo mich manchmal bei Papans seine Sachen auskloppen helfen dut.

Walburga

Und das Mädchen, was mit dem Rücken am Schornstein sitzt und wimmert.

Frau John

Det is deine Mutter nich anders jejangen, eh det du zur Welt jekommen bist.

Walburga

Ich bin hin. Ich bin tot, wenn Papa wiederkommt.

Frau John

Na denn sieh, det de fortkommst, und fackel nich lange.

Frau John begleitet die entsetzte Walburga den Gang hinunter und läßt sie hinaus. Dann kommt sie wieder.

Frau John

Det Mächen weeß, Jott sei Dank, von hellichten Dache nischt.

Sie nimmt die entkorkte Weinflasche, gießt einen der Römer voll und nimmt ihn mit auf den Boden, wo sie verschwindet. Kaum ist das Zimmer leer, so erscheint der Direktor wieder.

Direktor Hassenreuter

noch an der Tür, singend.

„Komm herab, o Madonna Theresa!“ — (Er ruft.) — Alice! — (Noch immer an der Tür.) — Komm mal! Hilf mir mal die eiserne Stange mit dem doppelten Schloß vor die Tür legen. — Alice! — (Er kommt nach vorn.) — Wer jetzt noch unsere Sonntagsruhe zu stören wagt: anathema sit! — Heda! Kobold! Wo steckst du, Alice? — (Er wird auf die Weinflasche aufmerksam und hebt sie in die Höhe.) — Was? — Halb leer? — Schlingel! — (Man hört eine hübsche weibliche Singstimme hinter der Bibliothekstür sich in Koloraturen ergehen.) — Ha ha ha ha! Himmel! sie hat sich schon einen Schwips angetrunken.

Gerhart Hauptmann: Die Ratten

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