Читать книгу Die Altschweiz - Geri Schnell - Страница 5
2. Kapitel
Оглавление«Jetzt bist du wahnsinnig geworden», stellt Franz fest, als Livia ihn darum bittet, mit der Seilbahn hochgefahren zu werden.
«Hast du wenigstens ein Lawinensuchgerät und ein Satellitentelefon bei dir?»
«Aber natürlich, alles dabei, sogar den neusten Lawinenairbag und ein Satellitenorientierungsgerät nehme ich mit, ausserdem bin ich sehr vorsichtig, warm angezogen und habe Proviant dabei. Ich muss ins Hospiz, die Oma ist krank, sie braucht dringend Hilfe.»
«Wie kann man nur so abgelegen wohnen? Bei dem Wetter kann nicht einmal der Helikopter fliegen. Also, ich mache mir schon Sorgen, wenn dir etwas passiert, auch dich könnten wir nicht suchen, die fliegen bei solchem Wetter nicht.»
«Ja, ja, ich weiss, jetzt lass endlich den Motor laufen, ich will nicht noch da oben übernachten. Darauf bin ich wirklich nicht aus.»
«Also, gut aber du meldest dich jede viertel Stunde und gibst die genaue Position durch. Steig schon ein, ein Wahnsinn, die jungen Leute, aber wir waren genauso verrückt, - damals.»
Mit damals meint er die Zeit, als man sich weigerte der Eurozone beizutreten. Diese Generation lebt immer noch in den Erinnerungen. Sie hatte schon als kleines Mädchen ein Problem mit diesen wilden Geschichten. Angefangen mit den langweiligen Geschichtsstunden, den Äusserungen ihres Vaters, den Jubiläumsfeiern und den heldenhaften Filmen im Fernsehen. Ein ganz besonderes Problem hatte sie mit der Tatsache, dass die ausländischen Fernsehsender die gleichen Geschichten ganz anders darstellten.
«Ich melde mich regelmässig, also starte endlich den Sessellift, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.»
«Die wirst du aber brauchen, so schnell kommst du nicht zurück, die Skilifte laufen nicht, du musst mit den Skiern hochsteigen.»
«Natürlich, deshalb habe ich auch die Skis mit den altmodischen Fellen zum hochsteigen, dabei.»
«Damit könnt ihr doch nicht mehr umgehen, aber ich gebe es auf, was ihr Frauen sich in den Kopf gesetzt habt, habt ihr im Kopf, da kann ein vernünftiger Mann lange reden, das war bei meiner damals genauso. Ich gebe es auf, sei bitte vorsichtig!»
Endlich setzt sich der Sessellift in Bewegung. Livia schliesst die Jacke und zieht den Kopf ein. Das Halstuch schlingt sie so um den Kopf, dass nur die Brillengläser nicht bedeckt sind. Die Gläser beschlagen sofort, es macht nichts, sehen könnte sie in diesem Schneegestöber sowieso nichts. Sie orientiert sich nach der Anzahl Masten, welche sie passiert hat, erst nach dem fünfundzwanzigsten muss sie aufpassen und sich auf das Aussteigen vorbereiten.
Als sie den zweiundzwanzigsten Masten passiert, überlegt sie es sich noch einmal, soll sie oben gleich auf dem Sessel bleiben und sofort umkehren, sie geht wirklich ein grosses Risiko ein! Die Sicht ist sehr schlecht und sie ist schon nach zehn Minuten beinahe steifgefroren. Es wird schon gehen, sagt sie sich, ich spüre es, es muss sein.
Franz kennt seinen Sessellift gut, als es ums Aussteigen geht verlangsamt er die Geschwindigkeit. Es ist nicht einfach, die geeignete Ausstiegsstelle zu finden. Der Schnee liegt hier meterhoch. Sie hebt den Bügel hoch, dann dreht sie sich leicht seitlich ab, so kann sie den Rucksack bereits auf den Rücken hängen. Das Handy klingelt, nur mühsam kommt sie an das Gerät heran, «ja, was gibt’s?»
«Willst du nicht wieder umkehren?», fragt ein besorgt klingender Franz.
«Nein natürlich nicht, aber fahre mich noch um die Umlenkrolle, ich will nach dem Aussteigen sofort losfahren, ich habe befürchten, im tiefen Schnee zu versinken. Ich rufe Stopp, wenn es am günstigsten ist.»
«Sei bitte vorsichtig!»
Langsam fährt der Sessel um die Umlenkrolle, sie muss die Beine anziehen, der Schnee reicht beinahe bis zum Sessel. Sie reinigt noch einmal die Brille, dann ruft sie, «Stopp! Ich werde mich sofort melden, sobald ich eine geschützte Stelle erreicht habe. - Danke Franz!»
Bevor sie abspringt verstaut sie das Handy in der Jackentasche, dann springt sie ins Ungewisse. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Wie erwartet sinkt sie tief im Schnee ein, die Landung ist weich. Mit den Stöcken stösst sie sich ab, um sofort etwas Fahrt zu gewinnen. Instinktiv fährt sie schräg zum Hang. Hinter ihr beginnt der Schnee zu rutschen. Durch den Winkel mit welchem sie den Hang durchquert steuert sie die Geschwindigkeit. Sie weiss, der Hang ist breit und endet an einer Felswand. Am Fuss dieser Wand, erhofft sie sich etwas bessere Bedingungen, dort dürfte die Schneeverwehung wesentlich geringer sein. Hinter ihr hat sich eine Lawine gebildet, die relativ langsam, aber mit einem unheimlichen Getöse ins Tal donnert. Sie fährt schnell genug, die Entscheidung den Hang zu queren erweist sich richtig, schon wird der Schnee griffiger. Erst im letzten Moment erkennt sie die Felswand und schwingt ab. Ihre Knie schlottern, am liebsten wäre sie sofort umgekehrt, aber es gibt kein zurück mehr. Die von ihr ausgelöste Lawine löst eine Kettenreaktion aus, von allen Seiten donnern die Lawinen zu Tal. Das Echo lässt sie erschauern. Nach einer kurzen Inspektion des momentanen Standorts, den sie als relativ sicher einstuft, beschliesst sie, Franz anzurufen. Ein Blick aufs Handy zeigt, dass sie Empfang hat, sie braucht das Satellitentelefon nicht. Die Anrufe über das Satellitentelefon sind sehr teuer.
Franz ist erleichtert als sie sich meldet.
«Bleibe vorerst am Fuss der Felswand, dort bist du am sichersten. Ende, - denke an die Batterien! Nur das nötigste reden.»
Es ist auch besser, wenn sich die Lawinensituation etwas beruhige. Die lauten Geräusche, können auch an weit entfernten Stellen Lawinen auslösen. Das kommt ihr nicht ungelegen, die Schneefelder welche am instabilsten sind, werden bereits jetzt abrutschen.
Langsam tastet sie sich die Felswand entlang, nach fünfhundert Meter muss sie ein steiles Schneefeld herunterfahren, denn ein grosser Felsen blockiert den Durchgang. Der Schnee ist ideal zum Tiefschneefahren. Sie geniesst die herrliche Fahrt durch das jungfräuliche Schneefeld, die Schwünge gehen wie von selbst, eine Staubfahne verfolgt sie, es gibt nichts Schöneres für einen guten Skifahrerin wie Livia, als einen solchen Hang hinunterzukurven.
«Was, sie kommt hoch!», ruft Pascal ins Telefon. Franz hat ihn angerufen um ihn auf ihr Kommen vorzubereiten, «wie konntest du das zulassen? Sie hat doch keine Chance durchzukommen.»
«Du weisst wie Frauen sind, wenn die etwas im Kopf haben, du hast einfach keine Chance es ihnen auszureden, sie ist gut vorbereitet. Sie muss deine Oma sehr gerne haben.»
«Meine Oma? – Ach so, ja natürlich, die Oma war bei ihrer Geburt dabei», schwindelt er, beinahe hätte er sich verraten, «das verbindet.»
«Ich weiss nicht? Ich kann mich an meine Hebamme nicht erinnern, aber ich bin auch etwas älter.»
«Sie kommt hoch», stammelt er abwesend vor sich hin, «sie kommt hoch.»
«Wer?», fragt Lisa.
«Livia, ich meine die Frau Doktor!»
«Nein, bei diesem Wetter, was ist mit ihr?»
«Weiss ich auch nicht, aber sie kommt hoch, alle Achtung, die Frau hat Mut.»
Nach einigen Sekunden Stille, erwacht das Hospiz zu neuem Leben. Dem Fremden werden die Verbände gewechselt, die Mutter fährt mit dem Staubsauger durch die Zimmer, die Abwaschmaschine wird gestartet und Lisa fährt mit dem Staubwedel über die Möbel. Man erhält selten Besuch im Hospiz, wenigstens nicht um diese Jahreszeit.
Während Pascal den Patienten versorgt, macht er sich selber Sorgen, warum kommt sie jetzt schon hoch? Hat er ihr zu viel Angst gemacht? Wie kann sie nur bei so schlechtem Wetter hier rauf kommen? Es ist einfach leichtsinnig. Franz hat schon Recht. Frauen sind auch ihm ein Rätsel. Doch wenn er es sich genau überlegt, muss er sich eingestehen, dass er genauso handeln würde. Er ist auch sehr froh darüber, dem Fremden geht es heute schlecht. Das Fieber geht nicht runter. Aufgewacht ist er heute noch nie, er ist nicht ansprechbar, zu gerne hätte er ihn nach der Rennbahn gefragt, für ihn scheint die Skizze ganz klar zu sein, aber wenn man nicht weiss, in welcher Stadt dieses Gebäude steht, hat man keine Möglichkeit, etwas damit anzufangen. Ich kann nur hoffen, dass die Holländer wissen, wo es sich befindet.
«Ich muss nach Holland!», stellt Pascal fest.
«Was hast du gesagt?», fragt Toni.
«Ich muss nach Holland, nur so kann ich herausfinden, wo das Gebäude liegt. In Holland wird es jeder erkennen, da bin ich mir sicher. Für ihn war es selbstverständlich, dass wir wissen, wo sich das Gebäude befindet. Die Holländer werden es mir sagen.»
«Wie willst du das anstellen? Du weisst doch, dass es für Altschweizer schwer ist, eine Einreisebewilligung zu bekommen. Die glauben, du wärst ein Wirtschaftsflüchtling. Du musst genau angeben, wen du besuchen willst und das wird genau kontrolliert.»
«Da muss ich mir etwas einfallen lassen, ich werde mich über die Grenze schmuggeln. Die Kontrollen sind nicht besonders streng, welcher Altschweizer will schon in den Euroraum?»
«Da gibt es inzwischen einige, wir haben immerhin zehn Prozent Arbeitslose, wenn du im Euroraum schwarzarbeitest, kannst du gut verdienen und wenn du das Geld in Form von Waren in die Altschweiz bringen kannst, rechnet sich das bestimmt.»
«Aber wir sind ja zufrieden mit dem was wir haben.»
«Das weisst du, aber die glauben, uns gehe es schlecht und wir wollen ihnen die Arbeit wegnehmen.»
«Ich werde mir etwas einfallen lassen. Wie lange ist Livia schon unterwegs?»
«Erst eine Stunde, das dauert schon noch etwas länger. Du kannst es nicht erwarten. Bist du etwa verliebt?»
Ohne zu antworten verschwindet Pascal nach draussen. Dort späht er in das Schneegestöber, es ist noch niemand zu sehen. Seine lauten Rufe werden nicht gehört. Es ist noch zu früh, sie kann gar noch nicht hier sein.
Inzwischen kämpft Livia mit dem Schneegestöber. Die Abfahrt hat sie gut gemeistert, aber jetzt ist sie im Aufstieg. Die Gegensteigung ist nicht lang, aber bei diesen Verhältnissen geht es in die Beine. Der Schnee ist weich und sie sinkt tief ein. Mit jedem Schritt den sie sich hoch kämpft, hat sie das Gefühl, um die gleiche Distanz zurück zu rutschen. Sie möchte sich gerne einige Minuten ausruhen und verschnaufen, aber sie weiss, dass sie nicht lange an der gleichen Stelle stehen bleiben darf, die Gefahr, dass der Schnee ins Rutschen gerät, ist einfach zu gross. Hat sie auf dem Sessellift noch gefroren, so hat sie jetzt zu heiss und ist unter der warmen Jacke total verschwitzt.
Endlich hat sie den Grat erreicht, vorsichtig fährt sie auf der andern Seite dem Hang entlang. Sie kann nicht weit sehen und ist auf das Erinnerungsvermögen aus dem Sommer angewiesen. Das Schneegestöber beeinflusst die Sichtweite so stark, dass sie praktisch blind dem Grat folgt, dabei hält sie sich immer etwa fünf Meter unterhalb des höchsten Punkt des Grates auf, sie hofft, dass sie so einem Schneebrett entgeht, denn der Wind bläst ihr entgegen, Schneeverwehungen müssten auf der anderen Seite kritischer sein. Nach rund zehn Minuten erreicht sie einen Felsen. Sie folgt ihm, bis sie eine schneefreie Stelle findet. Dort setzt sich hin. Endlich kann sie sich etwas ausruhen. Sie hat Glück, die Stelle ist auch gegen den starken Wind geschützt.
Aus der Jackentasche holt sie das Handy heraus und ruft Franz an. Sie erklärt ihm, dass sie den Grat erreicht hat, aber nicht genau weiss, an welcher Stelle sie den Grat überquert hatte. Auf Grund der Beschreibung die Livia durchgibt empfiehlt er, dass sie sich noch weiter auf dem Grat bewegen solle, biss dieser einen leichten Rechtsknick macht. Dort beginnt ein breites Schneefeld auf dem die Lawinengefahr relativ gering ist, vor allem hat sie dank der Breite des Schneefelds mehr Ausweichmöglichkeiten, wenn es kritisch werden sollte.
Nach dem kurzen Gespräch sucht sie im Rucksack nach etwas Essbaren, trinkt zwei Schlücke heissen Tee aus der Thermosflasche. Das Handy zeigt ihre Position an, nur, die Angabe ist nicht besonders vertrauenerweckend, nach den Angaben des Handys befindet sie sich noch im Aufstieg! Eine Aussage, welche sie klar verneinen kann. Es macht sie aber unsicher, wenn sich das Gerät in die eine Richtung täuschen kann, dann kann es das auch in die andere. Sie wird sich an die Angaben von Franz halten und dem Grat noch einige Zeit folgen.
Pascal ist erleichtert als ihm Franz die Meldung durchgibt, dass sie den Grat erreicht hat. Sie wird es schon schaffen. Er ist allerdings sehr beunruhigt, als er erfährt, dass sie nicht genau weiss, an welcher Stelle sie sich befindet. Im Gebirge können ein paar Meter entscheidend sein und er sieht ja selber, wie weit man hier oben sehen kann. Es ist ihm nicht wohl bei der Sache, aber es ist zu spät, er kann ihre Lage nicht verbessern.
«Die ist genauso stur wie ihr Vater!», brummt Klara, «der ging damals auch alle Risiken ein. Er war es, welcher die Gotthardstrecke durch eine Lawine für beinahe eine Woche sperren konnte. Zu viert hausten sie eine Woche in einem Biwak, bei starkem Schneefall lösten sie die Schrauben an den Lawinenverbauungen. Nach einem Schneesturm brach das grosse Schneefeld ab, die riesige Lawine begrub zehn Leute unter sich. Pascal schämt sich, dass dabei zehn Menschen ums Leben kamen, hatte er nie erfahren. Die ältere Generation war damals stolz darauf, dass danach sowohl die Strasse, als auch die Bahn zwei Wochen unpassierbar blieb. Diese Aktion zeigte den Altschweizern, dass sie sich gegen die Übermacht der Neuschweizer unterstützt von der EU wehren konnten, das Gelände war ihre grosse Stärke, wie es schon in den früheren Jahrhunderten der Fall war, daran hat auch die neue Technik nichts geändert.»
«Ja ich weiss, damals!», brummt Pascal, «aber jetzt ist heute und Livia ist da draussen im Schneesturm.»
Er hat es satt, diese Heldengeschichten hat er schon an die hundert Mal gehört und jedes Mal werden sie dramatischer.
«Lass dich doch nicht verrückt machen, es hat der Frau niemand gesagt, sie soll hochkommen. Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst?»
«Das ist schon lange her, sie ist drei Jahre jünger und ich habe sie ab und zu in der Schule in Andeer getroffen.»
«So, so, von der Schule», brummt Klara, sie verzichtet auf weitere Fragen, aber nur von der Schule her kennt er sie sicher nicht, aber das geht sie nichts an, der Junge hat es nicht einfach, wie soll man so abgelegen eine Frau finden?
Pascal wird von Zweifel geplagt, soll er sie suchen gehen? Dann ist das Risiko sehr gross, dass sie sich verpassen, oder soll er hier warten, auf die Gefahr hin, dass er zu spät kommt? Er wird noch einige Zeit abwarten, das ist vernünftiger.
Um sich abzulenken denkt er an seine bevorstehende Reise nach Holland. Er hat das Gebiet der Altschweiz erst einmal verlassen. Vor drei Jahren leistete er sich den Luxus und flog vom Flugplatz in Stansstaad nach Kairo. Der einstige Militärflugplatz musste soweit ausbaut werden, dass man ihn für Auslandflüge benutzen konnte. In den arabischen Staaten und in einigen Staaten Südostasiens sind die Altschweizer gerngesehene Gäste. Das war ein Erlebnis, unverzüglich steigen die Erinnerungen an die Zeit in Ägypten in ihm hoch.
Jetzt sollte er nach Holland, aber in der EU sind die Altschweizer nicht gerne gesehen, sie werden höchstens geduldet. Auf dem Gebiet der Neuschweiz darf man sich schon gar nicht erwischen lassen, für die sind die Altschweizer ein rotes Tuch! Der Hass ist noch sehr stark. Wird ein Altschweizer erwischt, kann es sein, dass er nach Zürich überwiesen wird, dort wird untersucht, ob sich jemand in der Familie des Verhafteten strafbar gemacht hatte und die Dossiers reichen nicht nur sehr weit zurück, sie sind auch sehr umfangreich.
Er überlegt sich, wie soll er durch das Gebiet der Neuschweiz gelangen? Darf er sich in Holland frei bewegen? Er weiss es noch nicht, am liebsten würde er hier bleiben, doch er kennt sich, er wird es versuchen, koste es was es wolle.
Noch immer fährt Livia knapp unterhalb des Grates und erwartet das von Franz vorausgesagte Schneefeld. Plötzlich befindet sie sich in felsigem Gelände. Das Schneeband hat so plötzlich aufgehört, dass sie gar nicht bemerkt hatte. Sie zieht ihre Skier aus und schnallt sie auf den Rucksack, dann klettert sie vorsichtig die griffigen Felsen nach unten. Als der Nebel kurz aufreisst, kann sie erkennen, dass etwas weiter rechts, ein schmales Schneefeld beginnt, welches steil nach unten abfällt. Hier im Windschatten dürfte es nicht allzu grosse Schneemengen haben, dazu ist es zu steil.
Nach zehn Minuten erreicht sie das Schneefeld. Sie macht noch einmal eine Pause und verpflegt sich. Dann ein kurzer Anruf an Franz. Sie meldet, wo sie sich ihrer Meinung nach befindet. Er vergleicht es auf seiner Karte.
«Ich glaube ich weiss, wo du bist», erklärt er mit ruhiger Stimme, «klettere noch soweit herunter, bis du den Eindruck hast, dass das Schneeband breit genug ist, dass du abfahren kannst. Mir wäre es lieber, wenn du möglichst schnell in tiefere Regionen abfahren könntest, das Wetter wird noch schlechter. Fahre möglichst am Rand des Schneefelds, dort bist du sicherer. Mach es gut! Ruf wieder an. Ende.»
Die Verbindung zu Franz ist wieder unterbrochen. Schnell verstaut sie alles in den Taschen und im Rucksack und beginnt mit dem Abstieg. Sehr früh entscheidet sie sich, die Skier anzuschnallen und die Abfahrt zu riskieren. Sie ist eine gute Tiefschneefahrerin und mit steilen Hängen hat sie keine Probleme. Hier ist es allerdings steiler als sie sich gewöhnt ist, freiwillig würde sie nie da herunterfahren.
Sie nimmt allen Mut zusammen und stösst sich mit den Stöcken ab. Der erste Schwung gelingt, die folgenden sind schon viel einfacher. Schnell wird das Feld breiter. Wenn jetzt schöner Sonnenschein herrschen würde, könnte sie die Fahrt so richtig geniessen. Nur sie spürt die Gefahren, da sind die Lawinen und die Sicht ist auch so schlecht, dass sie nie weiss, ob sie nicht im nächsten Moment über eine Felswand abstürzt. Sobald die Sicht etwas besser ist, lässt sie es laufen, meistens ist sie nur im Schritt-Tempo unterwegs, doch sie kommt voran.
Dem Felsen auf der linken Seite traut sie nicht so recht, vorsichtig versucht sie ihm auszuweichen. Ohne es zu realisieren befindet sie sich plötzlich in der Mitte des Schneefelds. Nur kurz spürt sie, dass der Schnee nachgibt, Sekunden später ist der Hang in Bewegung, instinktiv versucht sie aus dem Lawinenkegel zu entkommen. In einer rasenden Fahrt schiesst sie den Hang hinunter, von hinten nähert sich das Dröhnen der Schneemassen. Ihre Knie beginnen zu zittern, die nackte Angst steigt in ihr auf, dann stürzt sie. Der Lawinenairbag öffnet sich, die Skier werden ihr weggerissen, jetzt muss sie sich völlig auf ihren Instinkt verlassen. Nur oben bleiben und wenn möglich den Rucksack nicht verlieren, noch halten die Gurten. Sie wird durcheinander gewirbelt. Unendlich lange fällt sie in die Tiefe, die Orientierung hat sie schon längst verloren.
Endlich verlangsamt sich die Geschwindigkeit, doch jetzt droht von hinten die Gefahr, die Schneemassen werden übereinander geschichtet, jetzt muss sie oben bleiben, aber wie. Sie kämpft. Im letzten Moment, als sie realisiert, dass die Schneemassen von hinten über sie hinweg fegen werden, zieht sie die Leine des Gesichtsairbags. Augenblicklich bläst sich um ihr Gesicht der Plastiksack auf. Mund und Nase bleiben frei. Das Aufblasen geht sehr schnell vor sich und sie erschrickt dabei, dass sie völlig die Nerven verliert und einen lauten Schrei ausstösst. Dann wird es plötzlich ruhig, sie sitzt fest. Wie geht es jetzt weiter?
Der Anruf von Franz rüttelt Pascal aus seinen Gedanken. Dass sie jetzt auf der Abfahrt ist beruhigt ihn. Ausserdem nimmt es ihm die Entscheidung ab, ob er schon nach ihr suchen soll.
«Meinst du, sie weiss, wo sie sich befindet?»
«Ich bin mir nicht sicher», erklärt Franz, «ich habe mir die Karte genau angeschaut, es gibt zwei Stellen die auf ihre Beschreibung passen. Entweder kommt sie etwa fünfhundert Meter westlich, oder zwei Kilometer östlich vom Hospiz runter. Ich hoffe es ist die Stelle zwei Kilometer nördlich. Die andere ist extrem lawinengefährlich. Ich musste sie einfach da herunter schicken, oben konnte sie nicht bleiben. Einfach zu waghalsig diese jungen Leute.»
«Du warst ja auch nicht besser!»
«Ja schon, aber ich habe es immer überlebt.»
«Nur nicht zu pessimistisch, sie wird...», Pascal bleibt mitten im Satz stecken, draussen hört er, wie eine Lawine zu Tal donnert. Er hasste dieses Grollen der Natur schon immer und heute erst recht.
«Ich werde nachschauen, da ist eine Lawine heruntergekommen und das war keine kleine, das versichere ich dir. Ich melde mich, sobald ich genaueres weiss, ich vermute sie liegt westlich, wenn das nur gut gegangen ist.»
Toni und Lisa sind bereits wetterfest angezogen. Lisa nimmt den Lawinensensor der Notausrüstung mit. Toni und Pascal rüsten sich mit Schaufeln und einer Tragbahre aus. Minuten später stapfen sie in den Schnee hinaus. Westlich des Hospizes ist die Schneewolke zu sehen, der Nebel wurde von der Druckwelle weggeblasen. Der grosse Lawinenkegel liegt vor ihnen. Nur sehr langsam kommen sie voran, der Schnee ist tief und weich, auch mit den Skiern sinken sie ein.
Erst nach einer halben Stunde erreichen sie den Lawinenkegel. Lisa schaltet den Sensor ein. Nichts, kein Signal. Sie gibt ihn Pascal und der klettert auf einen Felsvorsprung.
«Ich empfange ein Signal», ruft er und weiss nicht, ob er sich darüber freuen soll. Sie ist in der Lawine, kein Zweifel, jetzt darf man keine Zeit verlieren. Durch hin und her schwenken versucht er die Richtung des Signals herauszufinden.
«Sucht in diese Richtung», mit dem ausgestreckten Arm zeigt er die Richtung an. Auch er steigt vom Felsen und macht sich auf die Suche. Steil aufsteigend traversieren sie das Schneefeld. Endlich, nach zehn endlos langen Minuten empfängt er das Signal auch von unten. Zielstrebig kämpfen sie sich dem Signal entgegen.
Der Gesichtsairbag hat seine Funktion erfüllt, nachdem dieser in sich zusammengefallen ist, hat sich um das Gesicht ein Hohlraum gebildet, aus der kleinen Flasche strömt genau dosiert Sauerstoff. So könnte sie bis fünf Stunden atmen. Den Sturz hat sie gut überstanden, es ist nichts gebrochen, vielleicht ein paar blaue Flecken, aber sonst nichts. Noch hat sie nicht kalt, der Anzug ist gut isoliert. Die Lage könnte etwas komfortabler sein, sie liegt mit dem Kopf nach unten, nur einen Arm kann sie leicht bewegen. Kontinuierlich arbeitet sie daran, die Bewegungsfreiheit zu vergrössern. Endlich kann sie den Arm soweit zurückziehen, dass er in die Höhle um das Gesicht gezogen werden kann. Jetzt kann sie mit ihm arbeiten, durch schlagen an die Wand vergrössert sie die Öffnung und kann nach langer Zeit, auch den zweiten Arm in die Höhle ziehen. Jetzt kann sie die Finger aneinander reiben und sich so warm halten. Bei den Füssen hat es leider nicht geklappt, sie sitzen fest, sie kann nur die Zehen im Schuh ganz leicht bewegen. Jetzt kann sie nur noch warten. Das Handy kann sie nicht erreichen.
Der Einzige, welcher ihr jetzt noch helfen kann ist Pascal und der wird sie sicher suchen, ob er sie rechtzeitig findet, das ist etwas ganz Anderes. Sie war selber bei der Suche nach Verschütteten dabei, so einfach ist das nicht, schon gar nicht, wenn nur so wenige Leute helfen können.
Das Wichtigste für sie ist jetzt Luft zu sparen, dass sie möglichst lange aushalten kann, viel Energie zu verschwenden um sich selber zu befreien ist sinnlos. Wie in einem Film läuft noch einmal ihr Leben ab.
Sie erinnert sich an ihren Vater, er war Arzt in Zürich. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachten sie ebenfalls in Zürich. Der Vater arbeitete in einem grossen Spital. Sie erinnert sich an die schöne grosse Wohnung und den Spielplatz. Damals wurde sie jäh aus ihrer Umgebung gerissen. Eines Morgens stürmte ihre Mutter ins Kinderzimmer und packte schnell einige Kinderkleider ein, nur ihre Lieblingspuppe durfte sie mitnehmen. Im Taxi fuhr man zum Bahnhof, als ein Polizist auftauchte, zog ihre Mutter sie in eine Toilette, sie mussten sich verstecken, wie die bösen Männer in den Filmen. Doch dies war kein Film, das war Ernst. Livia merkte dies sofort und sie gehorchte der Mutter aufs Wort, dabei hatte sie panische Angst.
Die Fahrt mit dem Zug dauerte nicht lange, die meiste Zeit verbrachten sie auf der Toilette. Auf dem kleinen Bahnhof herrschte ein hektisches Gedränge, dies nutze ihre Mutter geschickt aus und sie schaffte es an den Kontrollen vorbei zu gelangen. Bis am Abend versteckten sie sich in einem grossen Gebäude, erst später erfuhr sie, dass es eine stillgelegte Fabrikhalle war. Ihr kam das Gebäude gruselig vor, jedes Geräusch produzierte ein für sie ungewohntes Echo.
Als es dunkel wurde verliessen sie das Gebäude. Die ganze Nacht wanderten sie durch einen Wald, langsam hat sie sich an die Angst gewöhnt und folgte ihrer Mutter durch den dunklen Wald, bis sie einfach nicht mehr konnte. Ihre Mutter gab noch nicht auf, sie nahm sie auf ihre Schultern und hastete weiter. Die Äste schlugen ihr immer wieder ins Gesicht, bis auch Mutti nicht mehr konnte. Mit Ästen versuchte sie ein kleines Dach zu bauen, im Moos des Waldes schlief sie fest, bis es hell wurde.
Noch drei Tage lang eilten sie durch den Wald, bis sie eine Stadt erreichten. Erst später erfuhr sie, dass sie von Bremgarten nach Zug geflüchtet sind. In der Stadt Zug mussten sie sich bei der Polizei melden. Sie waren nicht die einzigen. Hunderte von Flüchtlingen warteten im überfüllten Polizeigebäude. Die Polizei war offensichtlich überfordert und deshalb sehr gereizt. Nach einer Nacht in dem sie auf dem harten Fussboden schlafen mussten, wurden sie im Gefängnistransporter nach Altdorf gebrach. Auch dort ein ähnliches Bild, die überfüllte Turnhalle diente als Notunterkunft. Die Bevölkerung trat uns feindlich gegenüber. Nach einigen Jahren Konflikt mit den Zürchern ist jeder verdächtig, der Zürichdeutsch spricht.
«Vermutlich sind es Kriminelle, welche zu uns flüchten müssen», hörte sie einmal zwei Frauen miteinander tuscheln.
Nach drei Wochen in Altdorf war der Entscheid gefallen, sie durfte bleiben und wurden Andeer zugeteilt. So kam sie nach Andeer, erst drei Jahre später tauchte ihr Vater in Andeer auf. Er war die ganze Zeit im Gefängnis, bis ihm die Flucht gelang. Sein Verbrechen war, er hatte einem Altschweizer, welcher in Zürich einen Anschlag verübt hatte und dabei durch die Polizei angeschossen wurde, die Kugel aus dem Bein entfernt und anschliessend drei Tage lang versteckt. Als die Polizei sie entdeckte, wurde ihr Vater sofort verhaftet.
In der Schule in Andeer hatte sie es nicht leicht, ihr Zürcherdialekt machte sie zur Aussenseiterin. Besonders schlimm waren die Pausen, dann kamen die grösseren Kinder und belästigten Livia, sie hatte Angst. Es war Pascal, welcher damals seine Klassenkameraden zur Vernunft brachte, zuerst hielt er sie zurück, dann redete er mit ihnen und zum Schluss hatte er einen verprügelt. Von diesem Tag an wurde sie in Ruhe gelassen, sie lernte auch den Dialekt schnell und war bald anerkannt. Die Leistungen in der Schule waren sehr gut und so studierte sie bald in Chur und später in Luzern. Nach Andeer ist sie erst vor einem Jahr zurückgekehrt und hat die Praxis ihres Vaters übernommen. Noch nie hatte sie Gelegenheit, Pascal für seinen damaligen Einsatz zu danken. Es hatte sich nie ergeben. Pascal ist selten in Andeer und sie hatte die ganze Geschichte verdrängt, erst als er gestern angerufen hatte, ist ihr die Geschichte wieder eingefallen.
Langsam wird es für sie immer schwerer, die Erinnerungen verblassen, die Kälte spürt sie nicht mehr, sie hat nur noch einen Wunsch, sie möchte Pascal noch danken. Doch dieser Wunsch wird immer schwächer. Sie schläft ein, ein gefährlicher Schlaf, sie weiss es, aber alles ist ihr jetzt egal, sie ist so müde und will nur noch schlafen.
«Hier muss es sein», ruft Pascal, der Sensor zeigt eindeutig an, dies ist die Stelle.
Einige Meter abseits deponieren sie die Rucksäcke, ziehen ihre dicken Jacken aus, dann beginnen sie zu schaufeln, wenn einer der Männer erschöpft ist und eine Pause brauchte springt Lisa für kurze Zeit ein. Schaufel um Schaufel wird den Hang hinuntergeworfen, das Loch wird immer tiefer.
«Sie muss hier sein», immer wieder kontrollieren sie den Sensor, «es muss hier sein!»
Sie graben weiter, das anfängliche panische Schaufeln wird nun ruhig und wirkungsvoll vorangetrieben.
«Da ist etwas», die Stimme von Toni überschlägt sich beinahe, «es ist ihr Schuh, wir haben sie! Schnell, aber vorsichtig.»
Sie orientieren sich nach der Fussstellung, daraus schliessen sie, wie sie im Schnee liegen muss und beginnen nun so zu graben, dass sie möglichst schnell zum Kopf vorstossen können. Das Schaufeln geht jetzt wenige schnell, man muss aufpassen, dass man sie mit der Schaufel nicht verletzt.
«Sie ist bewusstlos, atmet aber noch», stellt Lisa fest, «macht schnell!»
«Was glaubst du, was wir tun? Immer diese schlauen Sprüche, das hier ist kein Film.»
«Entschuldigung, ich meinte nur.»
Danach wird wortlos weiter gearbeitet, die Nerven sind zum zerreissen gespannt, noch hat man es nicht geschafft, dass sie noch lebt heisst nichts, es gibt nur etwas Hoffnung, gleichzeitig wird der Druck noch grösser, es muss schnell gehen. Lisa hat bereits die Tragbahre zusammengesetzt und beide Skier als Kufen befestigt. Alles ist vorbereitet, endlich ist Livia soweit frei geschaufelt, dass sie aus dem Schnee herausgezogen werden kann.
«Ihr fahrt sie mit dem Schlitten so schnell wie möglich runter, ich komme zu Fuss nach», gibt Toni den Befehl, «tausche deinen Rucksack mit ihrem, sicher hat sie Medikamente mit dabei. Gib mir ihr Handy, ich muss doch Franz informieren, der macht sich sicher Sorgen.»
Während er die Nummer von Franz wählt, beobachtet er, wie Lisa und Pascal vorsichtig aber schnell den Hang hinunter fahren, wenn sie so vorankommen sind sie in zehn Minuten im Hospiz.
Livia wird in die Gaststube gebracht. Diesmal braucht es keine Prozedur wie beim alten Mann, sie ist nicht unterkühlt. Allerdings hat sie noch etwas Mühe zu begreifen, was los ist, sie hat wohl einen leichten Schlag erhalten und ist geistig noch nicht voll da.
Doch dann schlägt sie plötzlich die Augen auf, «Du bist es Pascal! - Ich dachte schon ich sei im Himmel.»
Zuerst will Pascal ihr Vorwürfe machen, doch dann gibt er ihr einen Kuss auf die Stirne. Sie lächelt glücklich, ist aber noch zu schwach. Doch bis am Morgen wird sie wieder fit sein.