Читать книгу Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке - Герман Гессе - Страница 4
Zweites Kapitel
ОглавлениеErst während der letzten Schuljahre, als alle meine Kameraden von ihren künftigen Berufen zu reden begannen, fing auch ich an, hierüber nachzudenken. Die Musik zu meinem Beruf und Erwerb zu machen, lag mir eigentlich fern; doch konnte ich mir keinen andern Beruf denken, der mir Freude gemacht hätte. Ich hatte gegen den Handel oder andere Gewerbe, die mein Vater mir vorschlug, keinen Widerwillen, sie waren mir nur gleichgültig. Aber da meine Kameraden so stolz auf die von ihnen gewählten Berufe taten, vielleicht auch eine Stimme in mir dafür eintrat, schien es mir doch gut und richtig, das zu meinem Beruf zu machen, was ohnehin meine Gedanken ausfüllte und mir allein rechte Freude machte. Es kam mir zustatten, dass ich seit meinem zwölften Jahre das Violinspielen begonnen und unter einem guten Lehrer etwas Rechtes gelernt hatte. So sehr nun mein Vater sich wehrte und davor bangte, seinen einzigen Sohn die ungewisse Laufbahn eines Künstlers einschlagen[6]zu sehen, gerade an seinem Widerstand wuchs mein Wille, und der Lehrer, der mich gern hatte, trat für meinen Wunsch nach Kräften ein. Am Ende gab mein Vater nach, es wurde mir nur zur Prüfung meiner Ausdauer und in der Hoffnung auf eine Sinnesänderung noch ein Schuljahr zudiktiert, das ich mit leidlicher Geduld absaß und währenddessen ich meines Begehrens nur sicherer wurde.
Während dieses letzten Schuljahres verliebte ich mich zum erstenmal in ein hübsches junges Fräulein unserer Bekanntschafft. Ohne sie viel zu sehen und auch ohne sie stark zu begehren, genoss und durchlitt ich die süßen Bewegungen der ersten Liebe wie in einem Traume. Und in dieser Zeit, da ich den ganzen Tag ebensosehr an meine Musik wie an meine Liebe dachte und nachts vor herrlicher Erregung nicht schlafen konnte, hielt ich zum erstenmal mit Bewusstsein Melodien fest, die mir einfielen, zwei kleine Lieder, und versuchte sie aufzuschreiben. Das erfüllte mich mit einem schamhaften, doch durchdringenden Vergnügen, über dem ich meine spielerische Liebesnot fast ganz vergaß. Inzwischen hörte ich, dass meine Geliebte Singstunden nehme, und war sehr begierig, sie einmal singen zu hören. Nach Monaten ward mein Wunsch erfüllt, bei einer Abendgesellschafft im Haus meiner Eltern. Das hübsche Mädchen ward aufgefordert zu singen, wehrte sich heftig und musste am Ende doch und ich wartete darauf mit einer ungeheuren Spannung. Ein Herr begleitete an unserem kleinen schmalen Klavierchen, er spielte ein paar Takte, und sie begann. Ach, sie sang schlecht, traurig schlecht, und noch während sie sang, verwandelte sich meine Bestürzung und Qual zu Mitleid und dann zu Humor, und künftig war ich dieser Verliebtheit ledig.
Ich war ein geduldiger und nicht gerade unfleißiger, aber kein guter Schüler, und im letzten Jahr gab ich mir vollends wenig Mühe mehr. Daran war nicht Trägheit und auch nicht meine Verliebtheit schuld, sondern ein Zustand jünglinghafter Träumerei und Gleichgültigkeit, eine Dumpfheit der Sinne und des Kopfes, die nur zuweilen plötzlich und heftig unterbrochen ward, wenn eine von den wunderbaren Stunden verfrühter schöpferischer Lust mich wie in Äther hüllte. Dann fühlte ich mich von einer überklaren, kristallenen Luft umgeben, in der kein Träumen und Vegetieren möglich war, wo alle Sinne sich geschärft und wachsam auf die Lauer legten[7]. Was in diesen Stunden entstand, war wenig, vielleicht zehn Melodien und einige Anfänge harmonischer Gestaltungen; aber die Luft dieser Stunden vergaß ich nimmer, diese überklare, fast kalte Luft und diese gespannte Zusammenfassung der Gedanken, um einer Melodie die rechte, einzige, nicht mehr zufällige Bewegung und Lösung zu geben. Zufrieden war ich mit diesen kleinen Leistungen nicht und hielt sie nie für etwas Gültiges und Gutes, aber das wurde mir klar, dass in meinem Leben nichts so begehrenswert und wichtig sein werde wie die Wiederkehr solcher Stunden der Klarheit und des Schaffens.
Daneben kannte ich auch Tage des Schwärmens, wo ich auf der Geige phantasierte und den Rausch flüchtiger Einfälle und farbiger Stimmungen genoss. Nur wusste ich bald, dass das kein Schaffen war, sondern ein Spielen und Schwelgen, vor dem ich mich zu hüten habe. Ich merkte, dass es ein anderes Ding ist, seinen Träumen nachzugehen und berauschte Stunden auszukosten, als unerbittlich und klar mit den Geheimnissen der Form wie mit Feinden zu ringen. Und ich merkte schon damals etwas davon, dass ein rechtes Schaffen einsam macht und etwas von uns verlangt, was wir dem Behagen des Lebens abbrechen müssen.
Endlich war ich frei, hatte die Schule hinter mir, den Eltern Lebewohl gesagt und ein neues Leben als Schüler des Konservatoriums in der Hauptstadt begonnen. Ich tat dies mit großen Erwartungen und war überzeugt gewesen, ich würde in der Musikschule ein guter Schüler sein. Zu meinem peinlichen Bedauern kam es aber anders. Ich hatte Mühe, dem Unterricht überall zu folgen, fand im Klavierunterricht, den ich jetzt nehmen musste, nur eine große Plage und sah bald mein ganzes Studium wie einen unersteiglichen Berg vor mir liegen. Wohl war ich nicht gesonnen nachzugeben, doch war ich enttäuscht und befangen. Ich sah jetzt, dass ich bei aller Bescheidenheit mich doch für eine Art von Genie gehalten und die Mühen und Schwierigkeiten des Weges zur Kunst bedenklich unterschätzt hatte. Dazu ward mir das Komponieren gründlich verleidet, da ich jetzt bei der geringsten Aufgabe nur Berge von Schwierigkeiten und Regeln sah, meinem Gefühl durchaus misstrauen lernte und nicht mehr wusste, ob überhaupt ein Funke von eigener Kraft in mir sei. So beschied ich mich, wurde klein und traurig, ich tat meine Arbeit wenig anders, als ich die in einem Kontor oder in einer andern Schule getan hätte, fleißig und freudlos. Klagen durfte ich nicht, am wenigsten in meinen Briefen nach Hause, sondern ging den begonnenen Weg in stiller Enttäuschung weiter und nahm mir vor, wenigstens ein ordentlicher Geiger zu werden. Ich übte und übte, steckte Grobheiten und Spott der Lehrer ein[8], sah manche andere, denen ich es nicht zugetraut hätte, leicht vorwärtskommen und Lob ernten[9] und steckte meine Ziele immer niedriger. Denn auch mit dem Geigen stand und ging es nicht so, dass ich darauf hätte stolz sein können und etwa an ein Virtuosentum denken dürfen. Es sah ganz so aus, als könne aus mir bei gutem Fleiß zur Not ein brauchbarer Handwerker werden, der in irgendeinem kleinen Orchester seine bescheidene Geige ohne Schande und ohne Ehre spielt und dafür sein Brot bekommt.
So war diese Zeit, die ich so sehr ersehnt und von der ich mir alles versprochen hatte, die einzige in meinem Leben, in der ich vom Geist der Musik verlassen freudlose Wege ging und Tage ohne Klang und Takt[10] dahinlebte. Wo ich Genuss, Erhebung, Glanz und Schönheit gesucht hatte, fand ich nur Forderungen, Regeln, Pflichten, Schwierigkeiten und Gefahren. Fiel mir etwas Musikalisches ein, so war es entweder banal und hundertmal dagewesen, oder es stand sichtlich mit allen Gesetzen der Kunst in Widerspruch und konnte also nichts wert sein. Da packte ich alle großen Gedanken und Hoffnungen ein. Ich war einer von den Tausenden, die mit jugendlicher Frechheit zur Kunst gekommen sind und deren Kraft versagt, wenn es Ernst werden soll.
Dieser Zustand dauerte wohl etwa drei Jahre. Ich war nun über zwanzig Jahre alt, hatte offenbar meinen Beruf verfehlt und ging den begonnenen Weg nur aus Scham und Pflichtgefühl weiter. Ich wusste nichts mehr von Musik, nur noch von Fingerübungen, schweren Aufgaben, Widersprüchen in der Harmonielehre, drückenden Klavierlektionen bei einem spöttischen Lehrer, der in allen meinen Bemühungen nur Zeitvergeudung sah.
Wäre das alte Ideal nicht doch noch heimlich in mir lebendig gewesen, so hätte ich es in diesen Jahren recht gut haben können. Ich war frei und hatte Freunde, war ein hübscher und blühender junger Mensch, ein Sohn wohlhabender Eltern. Für Augenblicke genoss ich alles das, es gab vergnügte Tage, Liebeleien, Zechereien, Ferienfahrten. Aber es war mir nicht möglich, mich dabei zu trösten, meine Pflicht in Kürze abzutun[11] und vor allem meiner jungen Tage froh zu werden. Ohne dass ich davon wusste, blickte mein Heimweh doch noch in allen unbewachten Stunden nach dem untergegangenen Stern der Künstlerschafft aus, es war mir unmöglich, die Enttäuschung zu vergessen und zu betäuben. Nur einmal gelang es mir gründlich.
Es war der törichste Tag meiner törichten Jugend. Ich lief damals einer Schülerin des berühmten Gesanglehrers H. nach. Ihr schien es ähnlich zu gehen wie mir, sie war mit großen Hoffnungen gekommen, hatte strenge Lehrer gefunden, war die Arbeit nicht gewohnt und glaubte schließlich sogar ihre Stimme zu verlieren. Sie legte sich auf die leichte Seite[12], flirtete mit uns Kollegen und wusste uns alle toll zu machen, wozu freilich nicht gar viel gehörte. Sie hatte die feurige, lebhafte Schönheit, die bald verblüht.
Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder gefangen, wenn ich sie sah. Ich war nie lange Zeit in sie verliebt, ich vergaß sie oft völlig, aber wenn ich bei ihr war, schlug jedesmal die Verliebtheit wieder über mir zusammen. Sie spielte mit mir wie mit andern, reizte uns, genoss ihre Macht und war selber dabei nur mit der neugierigen Sinnlichkeit ihrer Jugend beteiligt. Sie war sehr schön, aber nur wenn sie sprach und in Bewegung war, wenn sie mit ihrer warmen, tiefen Stimme lachte, wenn sie tanzte oder sich an der Eifersucht ihrer Liebhaber ergötzte. So oft ich von einer Gesellschafft heimkam, in der ich sie gesehen hatte, lachte ich mich selber aus und bewies mir, dass ein Mensch von meiner Art unmöglich diese gefällige Lebenskünstlerin im Ernst lieben könne. Manchmal aber gelang es ihr wieder, mich durch eine Geste, durch ein geflüstertes Wort so zu erregen, dass ich die halbe Nacht heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.
Ich hatte damals eine kurze Periode der Wildheit und eines halb erzwungenen Übermutes. Nach Tagen der Niedergeschlagenheit und dumpfen Stille forderte meine Jugend stürmisch Bewegung und Rausch, und ich ging dann mit einigen gleichaltrigen Kameraden Lustbarkeiten und Streichen nach. Wir galten für lebenslustige, ausgelassene, ja gefährliche Tumultuanten, was bei mir nicht zutraf, und genossen bei Liddy und ihrem kleinen Kreise einen zweifelhaften, doch süßen Heldenruhm. Wieviel von diesem Treiben echte Jugendlust und wieviel gewollte Betäubung war, kann ich heute nimmer entscheiden, da ich jenen Zuständen und aller äußerlichen Jugendlichkeit längst völlig entwachsen bin. Wenn ein Zuviel dabei war, so habe ich es gebüßt. An einem Wintertage, da kein Unterricht war, zogen wir miteinander vor die Stadt hinaus, acht oder zehn junge Leute, darunter Liddy mit drei Freundinnen. Wir hatten Rodelschlitten mit, deren Benützung damals noch für ein Kindervergnügen galt, und suchten in der bergigen Umgebung der Stadt die Straßen und Wiesenhänge nach guten Schlittenbahnen ab. Ich erinnere mich des Tages genau, er war mäßig kalt, zuweilen kam die Sonne für Viertelstunden hervor, die kräftige Luft roch herrlich nach Schnee. Die Mädchen standen mit ihren farbigen Kleidern und Tüchern prächtig im weißen Grunde, die herbe Luft war berauschend und die heftige Bewegung in dieser Frische eine Lust. Unsere kleine Gesellschafft war in fröhlicher Laune, Ulknamen und Hänseleien flogen hin und wider, wurden durch Schneeballen beantwortet und führten zu kleinen Kriegen, bis wir alle heiß und voll Schnee dastanden und eine Weile veratmen mussten, ehe wir von neuem begannen. Es wurde eine große Schneeburg gebaut, belagert und erstürmt, dazwischen fuhren wir da und dort einmal einen kleinen Wiesenhang auf unseren Schlitten hinunter.
Um Mittag, als wir alle von dem Gestürme grimmig hungrig geworden waren, suchten und fanden wir ein Dorf und ein gutes Wirtshaus, ließen sieden und braten[13], bemächtigten uns des Klaviers, sangen, schrien, bestellten Wein und Grog. Das Essen kam und wurde festlich begangen, der gute Wein floß reichlich, danach begehrten die Mädchen Kaffee, während wir die Liköre versuchten. Es war ein Geschrei und Festlärm in der kleinen Stube, dass uns allen die Köpfe rauchten[14]. Ich war immer in Liddys Nähe, die mich heute in gnädiger Laune durch besondere Gunst auszeichnete. Sie blühte in dieser Luft voll Lustbarkeit und Rausch gar prächtig auf, ließ ihre hübschen Augen blitzen und duldete manche halb kühne, halb ängstlich gewagte Zärtlichkeit. Ein Pfänderspiel wurde begonnen, wobei die Pfänder am Klavier durch Nachahmung irgendeines unserer Lehrer eingelöst werden mussten, manche aber auch durch Küsse, deren Zahl und Beschaffenheit genau beobachtet wurde.
Als wir glühend und lärmend das Haus verließen und den Heimweg antraten, war es noch früh am Nachmittag, doch begann es schon ein wenig zu dämmern. Wieder tollten wir wie ausgelassene Kinder durch den Schnee, ohne Eile durch den leis[15] herankommenden Abend nach der Stadt zurückkehrend. Es gelang mir, an Liddys Seite zu bleiben, zu deren Ritter ich mich aufwarf, nicht ohne Widerspruch der andern. Ich zog sie streckenweise auf meinen Schlitten und schützte sie nach Kräften vor den immer wieder versuchten Angriffen mit Schneebällen. Schließlich ließ man uns gewähren, jedes der Mädchen fand seinen Genossen, und nur zwei ledig gebliebene Herrlein zogen neckend und kriegslustig nebenher. Ich war nie so erregt und toll verliebt gewesen wie in jenen Stunden; Liddy hatte meinen Arm genommen und duldete es, dass ich sie im Gehen leise an mich zog. Dabei plauderte sie bald geschwätzig in den Abend hinein, bald schwieg sie glücklich und, wie mir schien, verheißungsvoll an meiner Seite. Ich brannte und war entschlossen, diese Gelegenheit nach Kräften zu benützen, zumindest aber diesen traulich zärtlichen Zustand solange als möglich festzuhalten. Es hatte auch niemand etwas dagegen, als ich kurz vor der Stadt noch einen Umweg vorschlug und in einen schönen Höhenweg einbog, der steil über dem Tale im Halbkreis hinlief, reich an weiten Aussichten auf das Flusstal und die Stadt, die schon mit blitzenden Laternenreihen und tausend roten Lichtern aus der Tiefe glänzte.
Liddy hing noch immer an meinem Arm und ließ mich reden, nahm meine glühenden Überschwen-glichkeiten lachend hin und schien doch selber tief erregt zu sein. Als ich sie aber mit leiser Gewalt an mich zog und küssen wollte, machte sie sich los und sprang beiseite.
»Schauen Sie«, rief sie aufatmend, »die Wiese da hinunter müssen wir schlitteln! Oder haben Sie Angst, Sie Held?«
Ich schaute hinunter und war erstaunt, denn der Abhang war so jäh, dass mir wirklich einen Augenblick vor dieser frechen Fahrt graute.
»Das geht nicht«, sagte ich leichthin, »es ist schon viel zu dunkel.«
Sofort fiel sie mit Spott und Entrüstung über mich her, nannte mich einen Hasenfuß und verschwor sich, den Hang allein hinabzufahren, wenn ich zu feig sei mitzukommen.
»Umwerfen werden wir natürlich«, meinte sie lachend, »aber das ist ja doch das Lustigste bei der ganzen Fahrerei.«
Da sie mich so reizte, kam mir ein Einfall.
»Liddy«, sagte ich leise, »wir fahren. Wenn wir umwerfen, dürfen Sie mich mit Schnee einreiben, aber wenn wir glatt hinunterkommen, will ich auch meinen Lohn haben.«
Sie lachte nur und setzte sich auf den Schlitten. Ich sah ihr in die Augen, die glühten warm und lustig, da nahm ich ganz vorn Platz, hieß sie sich an mich klammern und fuhr ab. Ich spürte, wie sie mich umfasste, ihre Hände auf meiner Brust kreuzend, und ich wollte ihr noch etwas zurufen, konnte aber nicht mehr. Die Steile war so jäh, dass ich das Gefühl hatte, in die leere Luft zu stürzen. Sofort suchte ich mit beiden Sohlen den Boden, um anzuhalten oder doch umzuwerfen, denn plötzlich war mir eine Todesangst um Liddy ins Herz gefahren. War jedoch zu spät. Der Schlitten sauste unaufhaltsam bergab, ich fühlte nur einen kalten, beißenden Schwall aufgewühlten Schneestaubes im Gesicht, dann hörte ich Liddy angstvoll schreien, dann nichts mehr. Ein ungeheurer Hieb wie von einem Schmiedehammer traf meinen Kopf, irgendwo tat es mir schneidend weh. Das letzte Gefühl, das ich hatte, war das der Kälte.
Mit dieser kurzen flotten Schlittenfahrt habe ich meine Jugendlust und Torheit gebüßt. Nachher war mit vielem anderen auch meine Liebe zu Liddy verflogen.
Dem Tumult und ängstlichen Getriebe, das auf den Unfall folgte, war ich enthoben. Für die andern war es eine peinliche Stunde. Sie hörten Liddy schreien, lachten und neckten von oben herab in die Dunkelheit hinein, erkannten endlich, dass etwas Böses geschehen sei, stiegen mühsam herab und brauchten eine Weile, bis sie aus dem Rausch und Übermut heraus zur Überlegung kamen. Liddy war bleich und halb ohnmächtig, jedoch durchaus unverletzt, nur ihre Handschuhe waren zerrissen und ihre feinen Hände etwas zerschunden und blutig. Mich trugen sie für tot hinweg[16]. Den Apfele-oder Birnbaum, an dem der Schlitten und meine Knochen zerschellt waren, habe ich später vergeblich wiederzufinden versucht.
Man dachte, ich sei einer Gehirnerschütterung erlegen, doch stand es nicht so schlimm. Kopf und Gehirn waren zwar mitgenommen, und es dauerte sehr lange, bis ich im Spital wieder zur Besinnung kam, aber die Wunde heilte, und das Gehirn ruhte sich aus. Dagegen wollte das mehrfach gebrochene linke Bein nicht wieder ganz in Ordnung kommen. Ich bin seither ein Krüppel, der nur hinken, nicht mehr schreiten oder gar laufen und tanzen kann. Damit war meiner Jugend unversehens ein Weg in stillere Lande[17] gewiesen, den ich nicht ohne Scham und Widerstreben einschlug. Aber ich schlug ihn doch ein, und manchmal scheint es mir, als möchte ich jene abendliche Schlittenfahrt und ihre Folgen keineswegs in meinem Leben missen.
Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die anderen Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in das Dunkel, oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und Besinnen, die Kur tat mir gut.
Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewusstlos und auch nach dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter was gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett. Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand. Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen; ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges Geltenlassen gewöhnt, als dass nun die erwartete Herzlichkeit den Weg in unsere Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es, von diesem Krankenlager[18] viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.
Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht länger ein Geheimnis daraus, dass mir wohl für immer ein Andenken an diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit einigem Bewusstsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen dauerte noch wohl ein Vierteljahr.
Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht sehr weit. Viel Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne dass ich einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.
Da war es in einer Nacht, dass ich nach wenigen Stunden leichten Schlummers erwachte. Mir schien, ich habe etwas Gutes geträumt, und ich strebte, mich dessen wieder zu erinnern, doch vergebens. Es war mir merkwürdig wohl und frei zumute, als habe ich alles Unangenehme überwunden und hinter mir. Und wie ich lag und sann und leise Ströme der Genesung und Erlösung um mich fühlte, trat mir eine Melodie auf die Lippen, fast lautlos, die summte ich weiter und hörte nimmer auf, und unversehens schaute mich wie ein enthüllter Stern die Musik wieder an, der ich so lange fremd gewesen war, und mein Herz schlug ihren Takt, und mein ganzes Wesen blühte auf und atmete neue reine Lüfte. Es kam mir nicht zum Bewusstsein, es war nur da und durchdrang mich still, als sängen leise Chöre von fern zu mir herein.
In diesem innig frischen Gefühl schlief ich wieder ein. Am Morgen war ich froh und unbedrückt wie lange nicht mehr. Die Mutter merkte es und fragte, was mich freue. Da besann ich mich, und nach einer Weile sagte ich ihr, ich habe solange nimmer an meine Geige gedacht, die sei mir nun wieder eingefallen, und ich freue mich auf sie.
»Du wirst aber noch lange nicht wieder spielen dürfen«, sagte sie etwas ängstlich.
»Das schadet nichts, und wenn ich auch gar nimmer spielen könnte.«
Sie verstand mich nicht und ich konnte es ihr nicht erklären. Aber sie merkte, dass es mir besser gehe und dass kein Feind hinter dieser grundlosen Fröhlichkeit laure. Nach einigen Tagen fing sie vorsichtig wieder davon an.
»Du, wie ist das nun eigentlich mit deiner Musik? Wir haben fast geglaubt, sie sei dir verleidet, und der Vater hat mit deinen Lehrern gesprochen. Wir wollen dir ja nicht dreinreden, am wenigsten jetzt – aber wir meinen, wenn du dich getäuscht hättest und es lieber aufgeben möchtest, so solltest du es tun und nicht aus Trotz oder Scham dabeibleiben. Was meinst du?«
Da fiel mir die ganze Zeit der Entfremdung und Enttäuschung wieder ein. Ich versuchte der Mutter zu erzählen, wie es mir gegangen war, und sie schien es zu begreifen. Nun aber, meinte ich, sei ich meiner Sache wieder sicherer geworden, und jedenfalls wolle ich nicht davonlaufen, sondern erst zu Ende studieren. Dabei blieb es einstweilen. Im Grunde meiner Seele, wohin die Frau nicht blicken konnte, war lauter Musik. Ob es nun mit dem Geigen glückte oder nicht, ich hörte wieder die Welt wie ein gutes Kunstwerk klingen und wusste, es sei außerhalb der Musik kein Heil für mich. Erlaubte mein Zustand das Geigen nimmer, so musste ich darauf verzichten, vielleicht musste ich einen anderen Beruf suchen und etwa Kaufmann werden; aber das alles war nicht allzu wichtig, ich würde als Kaufmann oder sonst was nicht weniger Musik empfinden und in Musik leben und atmen. Ich würde wieder komponieren! Es war nicht, wie ich meiner Mutter gesagt hatte, das Geigen, worauf ich mich freute, sondern es war das Musikmachen, das Schaffen, nach dem mir die Hände zitterten. Schon fühlte ich zu manchen Zeiten wieder die lauteren Schwingungen klarer Lüfte, die gespannte Kühle der Gedanken, wie früher in meinen besten Stunden, und fühlte auch, dass daneben ein lahmes Bein und andere Übel von geringer Bedeutung seien.
Von da an war ich Sieger, und so oft auch seither meine Wünsche ins Land der Gesundheit und Jugendlust hinüberliefen, und so oft ich mit Bitterkeit und zorniger Scham mein Krüppeltum hasste und verfluchte, es ging mir dieses Leid doch nimmer so leicht über die Kraft; es war etwas da, zu trösten und zu verklären.
Ab und zu kam mein Vater hergereist, die Mutter und mich zu besuchen, und eines Tages, da es mir längst erträglich ging, nahm er sie wieder mit sich nach Hause. Die ersten Tage fühlte ich mich etwas vereinsamt, schämte mich auch, dass ich mit der Mutter zuwenig herzlich gesprochen hatte und zuwenig auf ihre Gedanken und Sorgen eingegangen war. Doch füllte mich jenes andere Gefühl zu sehr aus, als dass diese Gedanken über wohlgemeinte Spielereien und Rührungen hinausgeraten wären.
Nun kam unerwartet jemand mich zu besuchen, der sich während der Anwesenheit meiner Mutter nicht herbeigewagt hatte. Das war Liddy. Ich war sehr erstaunt, sie zu sehen. Es fiel mir im ersten Augenblick gar nicht ein, wie nah ich ihr vor kurzem gestanden und wie sehr ich in sie verliebt gewesen war. Sie kam in großer Verlegenheit, die sie schlecht verbarg, hatte sich vor meiner Mutter und sogar vor dem Gericht gefürchtet, da sie sich an meinem Unglück schuldig wusste, und begriff nur langsam, dass die Sache nicht so schlimm war und sie im Grunde gar nichts angehe. Nun atmete sie auf, doch war eine leise Enttäuschung nicht zu verkennen. Die Mädchen hatten, bei allem bösen Gewissen, doch im Grunde ihres guten Weiberherzens sich an der ganzen Geschichte, an so viel ergreifendem und rührendem Unglück, innigst erlabt. Sie brauchte sogar mehrmals das Wort »tragisch«, worüber ich kaum das Lachen verhalten konnte. Überhaupt war sie nicht darauf gefasst gewesen, mich so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden[19]. Sie hatte im Sinn gehabt, mich um Verzeihung zu bitten, deren Gewährung mir als Verliebtem eine gewaltige Genugtuung schaffen müsse, und sich auf Grund dieser rührenden Szene meines Herzens von neuem siegreich zu bemächtigen.
Nun war es dem törichten Kinde zwar keine kleine Erleichterung, mich so vergnügt und sich selbst aller Schuld und Anklage ledig zu finden. Sie wurde aber dieser Erleichterung nicht froh, sondern je mehr ihr Gewissen sich beruhigte und ihre mitgebrachte Angst verflog, desto stiller und kühler sah ich sie werden. Es beleidigte sie nachträglich doch nicht wenig, dass ich ihren Anteil an der Sache so gering anschlug, ja vergessen zu haben schien, dass ich die Rührung und Abbitte im Keim[20] unterdrückt und sie um die ganze schöne Szene gebracht hatte. Dass ich vollends gar nicht mehr in sie verliebt war, merkte sie trotz meiner großen Höflichkeit sehr wohl, und das war das schlimmste. Mochte ich Arme und Beine verloren haben, ich war doch immer ein Anbeter gewesen, den sie zwar nicht geliebt und nie beglückt, an dessen Schmachten sie aber, je elender er war, desto größere Genugtuung gefunden hätte. Nun war es damit nichts, wie sie sehr deutlich merkte, und ich sah auf ihrem hübschen Gesicht die Wärme und Teilnahme der mitleidigen Krankenbesucherin mehr und mehr erlöschen und erkühlen. Schließlich ging sie nach einem phrasenhaften Abschied und kam nie wieder, obwohl sie es heilig versprochen hatte.
So peinlich es mir war und so sehr es mir wider das Selbstgefühl ging, meine frühere Verliebtheit so ins Kleine und Lächerliche gefallen zu sehen, so tat der Besuch mir doch wohl. Ich war sehr verwundert, das schöne begehrte Fräulein zum erstenmal ohne Leidenschafft und Brille zu sehen und wahrzunehmen, dass ich sie gar nicht gekannt habe. Hätte man mir die Puppe gezeigt, die ich als Dreijähriger umarmt und geliebt hatte, so hätte mich die Entfremdung und Änderung des Gefühls nicht mehr verwundern können als hier, wo ich ein vor Wochen noch heiß begehrtes Mädchen als eine völlig Fremde vor mir sah.
Von den Kameraden, die auf jenem Sonntagsausflug im Winter dabei gewesen waren, besuchten zwei mich einigemal, doch fanden wir wenig miteinander zu reden, und ich bemerkte ihr Aufatmen wohl, als es mir besser ging und ich sie bat, mir keine Opfer mehr zu bringen. Später trafen wir einander nicht mehr. Es war merkwürdig und machte mir einen wehmütig sonderbaren Eindruck: alles fiel von mir ab, ward fremd und ging mir verloren, was in diesen Jünglingsjahren zu meinem Leben gehört hatte. Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich die ganze Zeit gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz von mir trennten, so dass es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so lange habe aushalten können oder sie bei mir.
Dagegen überraschte mich ein andrer Besuch, an den ich nie gedacht hätte. Es kam eines Tages mein Klavierlehrer, der strenge und spöttische Herr. Er behielt den Stock in der Hand und die Handschuhe an den Händen, sprach in seinem gewohnten herben, fast bissigen Ton, nannte jene böse Schlittenfahrt eine »Weiberkutschiererei«[21] und schien mir, dem Ton seiner Worte nach, das erlebte Pech durchaus zu gönnen. Trotzdem war es merkwürdig, dass er sich eingefunden hatte, und es zeigte sich denn auch, obwohl er den Ton nicht änderte, dass er nicht in böser Absicht gekommen war, sondern um mir zu sagen, er halte mich trotz meiner Schwerfälligkeit für einen leidlichen Schüler, sein Kollege, der Violinlehrer, sei derselben Meinung, und sie hofften also, ich komme bald gesund wieder und mache ihnen Freude. Obwohl diese Rede, die fast wie eine Abbitte für frühere rüde Behandlung aussah, durchaus im selben bitter scharfen Tone wie alles Frühere vorgetragen ward, klang sie mir doch wie eine Liebeserklärung. Ich streckte dem unbeliebten Lehrer dankbar die Hand hin, und um ihm Vertrauen zu zeigen, versuchte ich ihm klarzumachen, wie es mir diese Jahre her gegangen sei und wie jetzt mein altes Herzensverhältnis zur Musik wieder aufzuleben beginne.
Der Professor schüttelte den Kopf und pfiff vor Hohn, als er fragte: »Aha, Sie wollen Komponist werden?«
»Womöglich«, sagte ich bedrückt.
»Ja, da wünsche ich Ihnen Glück. Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt vielleicht mit neuem Eifer ans Üben gehen, aber als Komponist haben Sie das freilich nicht nötig.«
»Oh, so ist es nicht gemeint.«
»Ja, wie denn? Wissen Sie, wenn ein Musikschüler faul ist und nicht arbeiten mag, dann legt er sich immer aufs Komponieren. Das kann jeder, und ein Genie ist ja bekanntlich auch jeder.«
»So meine ich’s wirklich nicht. Soll ich denn Klavierspieler werden?«
»Nein, lieber Herr, dazu würde es Ihnen doch nicht reichen. Aber anständig geigen lernen könnten Sie schon noch.«
»Nun, das will ich auch.«
»Hoffentlich ist’s Ihnen ernst. Möchte mich nicht länger aufhalten. Gute Besserung, Herr, und auf Wiedersehen!«
Damit ging er davon und ließ mich erstaunt zurück. Ich hatte an die Rückkehr zu den Studien noch wenig gedacht. Nun fürchtete ich doch, es möchte wieder schwer und misslich gehen und am Ende alles wieder werden, wie es vorher gewesen war. Doch hielten solche Gedanken nicht lange stand, und es zeigte sich auch, dass der Besuch des mürrischen Professors wirklich gut gemeint und ein Zeichen redlichen Wohlwollens war.
Nach meiner Genesung sollte ich eine Erholungsreise machen, doch zog ich vor, damit bis zu den großen Ferien zu warten und lieber jetzt gleich wieder ins Zeug zu gehen[22]. Da empfand ich zum erstenmal, wie erstaunlich eine Ruhezeit, namentlich eine unfreiwillige, wirken kann. Ich begann meine Stunden und Übungen mit Misstrauen, aber alles ging besser als zuvor. Allerdings sah ich jetzt auch deutlich, dass nie ein Virtuose aus mir werden würde; doch tat diese Erkenntnis mir bei meinem jetzigen Zustand nicht weh. Im übrigen ging es gut, und namentlich hatte sich in der langen Pause das unheimliche Gestrüpp der Musiktheorie, der Harmonie und Kompositionslehre in einen durchaus zugänglichen, heiteren Garten verwandelt. Ich fühlte, dass die Einfälle und Versuche meiner guten Stunden nicht mehr außerhalb aller Regeln und Gesetze lagen, dass innerhalb des strengen Schülergehorsams ein schmaler, doch deutlich erkennbarer Weg zur Freiheit führte. Wohl gab es noch Stunden und Tage und Nächte, da alles wie ein Stachelzaun vor mir lag und ich mit wundem Gehirn mich an Widersprüchen und Lücken abquälte; aber die Verzweiflung kam nicht wieder, und der schmale Pfad wurde deutlicher und gangbarer vor meinen Augen.
Am Schlusse des Semesters sagte mir zu meiner Überraschung unser Theorielehrer bei der Verabschiedung vor den Ferien: »Sie sind der einzige Schüler dies Jahr, der wirklich etwas von Musik zu verstehen scheint. Wenn Sie einmal etwas komponiert haben, würde ich’s gerne ansehen.«
Mit diesem tröstlichen Wort im Ohr reiste ich in die Ferien ab. Ich war längere Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, nun trat während der Bahnfahrt die Heimat wieder vor mein Herz, verlangte meine Liebe und rief die Flut halbverlorener Erinnerungen an Kinderzeiten und erste Jünglingsjahre herauf. Am Bahnhof der Heimatstadt empfing mich der Vater, und wir fuhren in einer Droschke nach Hause. Doch trieb es mich gleich am andern Morgen hinaus, einen Gang durch die alten Straßen zu tun. Da umfing mich zum ersten-mal die Trauer um meine verlorene aufrechte Jugend. Es war mir eine Qual, mit meinem gekrümmten und steifen Bein am Stock durch die Gassen zu hinken, wo jede Ecke an Knabenspiele und untergegangene Freuden erinnerte. Ich kam schwermütig nach Hause zurück, und wen ich sah und wessen Stimme ich hörte und woran ich dachte, alles mahnte mich bitter an früher und an mein Krüppeltum. Dabei litt ich darunter, dass meine Mutter offenbar mit meiner Berufswahl weniger als je einverstanden war, obgleich sie das nicht deutlich sagte. Einen Musiker, der schlankbeinig als Virtuos oder schneidiger Dirigent sich zeigen konnte, hätte sie etwa noch gelten lassen; wie aber ein Halblahmer mit mäßigen Zeugnissen und scheuem Wesen als Geiger sich weiterbringen wolle, war ihr unverständlich. In diesen Gedanken wurde sie von einer alten Freundin und entfernten Verwandten unterstützt, der mein Vater einmal das Haus verboten hatte, was sie ihm mit bitterem Hass vergalt, ohne freilich wegzubleiben, denn sie kam während der Kontorstunden des Vaters häufig zu meiner Mutter. Sie mochte mich, mit dem sie seit meiner Knabenjahre kaum ein Wort gewechselt hatte, nicht leiden und sah in meiner Berufswahl ein bedauerliches Zeichen von Entartung, in meinem Unglück aber eine offensichtliche Strafe und Mahnung der Vorsehung.
Um mir eine Freude zu machen, hatte mein Vater es vorbereitet, dass ich zum Solospielen in einem Konzert des städtischen Musikvereins aufgefordert wurde. Aber ich konnte nicht, ich lehnte ab und zog mich tagelang in meine kleine Stube zurück, in der ich schon als Knabe gewohnt hatte. Besonders quälte michd asewigeGefragtwerdenu ndR edestehenmüssen[23], so dass ich gar nimmer ausging. Dabei ertappte ich mich dabei, dass ich aus dem Fenster dem Leben der Straße, den Schulkindern und vor allem den jungen Mädchen mit unglücklichem Neide nachsah.
Wie durfte ich denn hoffen, dachte ich, je wieder einem Mädchen Liebe zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen, und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten[24], und wenn je eine freundlich mit mir wäre, so würde es Mitleid sein! Ach, das Bemitleidetwerden hatte ich schon satt bis zum Ekel.
Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte. Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich kaum mehr störte, so musste ich mich mit den Jahren daran gewöhnen, meines Schadens ohne Bitterkeit bewusst zu bleiben und ihn mit Ergebung und Humor zu tragen.
Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr ohne Pause Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze, hohe Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station, ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündners Städtchens[25] dem ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.
Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an weißen, schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.
Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen, armen Dorfes wohnte ich nun, zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voller herber Klarheit und Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genossich die Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, dass ich nicht weit in die Berge gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und lernte, mich in meine körperliche Schwäche, wenn nicht mit Heiterkeit, so doch mit Resignation finden.
Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben gewesen. Ich atmete die reine, helle Luft, trank das eisige Wasser der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über die jenseitige Höhe hinweg die fernen, rein gezeichneten Spitzen hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer armen, kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinnsel feucht erhielt, fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte, blaue Schar da, und jedesmal war es ein Feiertag.
Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage.
Ich war das Alleinsein nicht gewohnt, und als das erste Ausruhen und Schwelgen vorüber war, sah mich zuweilen das Leid, dem ich entronnen, plötzlich wieder aus schrecklicher Nähe an. Manchen kalten Abend saß ich in meiner winzigen Stube, die Reisedecke auf den Knien, müde und wehrlos törichten Gedanken hingegeben. Alles was das junge Blut begehrt und hoft, Feste und tanzende Fröhlichkeit, Frauenliebe und Abenteuer, Triumph der Kraft und der Liebe, das lag drüben am anderen Ufer, für immer von mir abgetrennt und für immer unerreichbar. Sogar jene trotzig ausgelassene Zeit einer halb erzwungenen Lustigkeit, deren Ende mein Sturz im Schlitten gewesen war, erschien in meiner Erinnerung dann schön und paradiesisch gefärbt als ein verlorenes Land der Freude, deren Nachhall mir nur noch von ferne her mit verklingendem baccischem[26] Taumel herüberklang. Und wenn zuweilen nachts die Stürme gingen, wenn das kalte stetige Geräusch der stürzenden Gewässer vom leidenschafftlich wehklagenden Rauschen des zerwühlten Tannenwaldes übertönt wurde oder im Dachgebälk des gebrechlichen Hauses die tausend unerklärten Geräusche der schlaflosen Sommernacht laut wurden, dann lag ich in hoffnungslosen heißen Träumen von Leben und Liebessturm, wütend und Gott lästernd, und kam mir als ein ärmlicher Dichter und Träumer vor, dessen schönster Traum doch nur ein dünnes Seifenblasenschillern ist, während tausend andere rings in der Welt, ihrer Jugendkräft e froh, jubelnde Hände nach allen Kronen des Lebens ausstreckten.
Wie ich jedoch die heilige Schönheit der Berge und alles, was meine Sinne täglich genossen, nur durch einen Schleier zu mir herblicken und nur aus einer seltsamen Ferne zu mir reden fühlte, so trat auch zwischen mich und jenes oft so wild aufbrechende Leid ein Schleier und eine leise Fremdheit, und bald war es so weit, dass ich beides, den Glanz der Tage und den Jammer der Nächte, wie Stimmen von außen vernahm, denen ich mit unverletztem Herzen zuhören konnte. Ich sah und fühlte mich selbst als einen Himmel mit ziehendem Gewölk, als ein Feld voll kämpfender Scharen, und ob es Lust und Genuss oder Leid und Schwermut war, es tönte beides klarer und verständlicher, löste sich aus meiner Seele und trat mich von außen an, in Harmonien und Tonreihen, die ich wie im Schlafe vernahm und die ohne mein Wollen von mir Besitz ergriffen.
Es war in einer Abendstille bei der Heimkehr aus den Felsen, als ich das alles zum erstenmal deutlich empfand, und als ich daran grübelte und mir selber ein Rätsel war, fiel es mir unversehens ein, was das alles bedeute, und dass es die Wiederkehr jener fremden, entrückten Stunden sei, die ich in früheren Jahren ahnungsweise vorgekostet hatte. Und mit dieser Erinnerung kam jene herrliche Klarheit wieder, die fast gläserne Helligkeit und Durchsichtigkeit der Gefühle, deren jedes ohne Maske dastand und deren keines mehr Schmerz oder Glück hieß, sondern nur Kraft und Klang und Strom bedeutete. Aus dem Treiben, Schillern und Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.
Nun sah ich an meinen hellen Tagen die Sonne und den Wald, die braunen Felsen und die fernen silbernen Berge mit doppeltem Gefühl von Glück und Schönheit und Empfängnis, und ich fühlte in den dunklen Stunden mein krankes Herz mit doppelter Glut sich dehnen und empören, und ich unterschied nicht mehr Genuss und Weh, sondern eines war dem andern gleich, und beides tat weh, und beides war köstlich. Und während es mir innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik.
Ich konnte diese Musik nicht aufschreiben, sie war mir selber noch fremd und ihre Grenzen mir unbekannt. Aber ich konnte sie hören, ich konnte die Welt in mir als Vollkommenheit empfinden. Und etwas konnte ich auch festhalten, einen kleinen Teil und Widerklang, verkleinert und übersetzt. Daran dachte ich und sog ich nun tagelang und fand, dass es mit zwei Geigen auszudrücken war, und fing an, wie ein junger Vogel das Fliegen wagt, in aller Unschuld, meine erste Sonate aufzuschreiben.
Als ich den ersten Satz eines Morgens in meiner Kammer auf der Geige spielte, fühlte ich wohl die Schwäche und Unfertigkeit und Unsicherheit, aber es lief mir doch jeder Takt wie ein Schauer übers Herz. Ich wusste nicht, ob diese Musik gut war; ich wusste aber, dass es meine eigene Musik war, in mir erlebt und geboren und nirgends vorher gehört.
Unten in der Gaststube saß, unbeweglich und weiß wie ein Eiszapfen, jahraus, jahrein der Vater des Wirts, ein Mann von mehr als achtzig Jahren, der nie ein Wort sprach und nur aus ruhigen Augen sorgsam um sich blickte. Es war ein Geheimnis, ob der feierlich Schweigende im Besitz übermenschlicher Weisheit und Seelenstille sei oder ob die Geisteskräfte ihn verlassen hatten. Zu diesem Greise stieg ich an jenem Morgen hinab, meine Geige unter dem Arm, denn ich hatte bemerkt, dass er meinem Spiel und jeder Musik immer mit Aufmerksamkeit zuhörte. Da ich ihn allein fand, stellte ich mich vor ihm auf, stimmte die Violine und spielte ihm meinen ersten Satz vor. Der uralte Mann hielt seine stillen Augen, deren Weißes gelblich und deren Lidränder rot waren, auf mich gerichtet und hörte zu, und wenn ich an jene Musik denke, so sehe ich auch den Alten wieder und sein regungslos steinernes Gesicht, aus dem die ruhigen Augen mich betrachteten. Als ich fertig war, nickte ich ihm zu, er blinzelte listig und schien alles zu begreifen, seine gelblichen Augen erwiderten meinen Blick, dann wandte er sich ab, ließ den Kopf ein wenig sinken und erlosch wieder zu seiner alten Starre.
Früh begann der Herbst in dieser Höhe, und als ich eines Morgens abreiste, lag dicker Nebel und fiel in staubzarten Tropfen sprühend ein kalter Regen. Ich nahm aber die Sonne der guten Tage und außer der dankbaren Erinnerung auch einen frohen Mut für meine nächsten Wege mit.
6
die Laufbahn einschlagen – выбирать профессию, становиться кем-л.
7
sich auf die Lauer legen – подкарауливать, подстерегать
8
steckte Grobheiten und Spott der Lehrer ein – проглатывал грубости и насмешки преподавателей
9
Lob ernten – добиваться похвалы, пожинать похвалу
10
ohne Klang und Takt – зд. без занятий музыкой
11
meine Pflicht in Kürze abtun – быстро выполнить задания
12
sich auf die leichte Seite legen – пойти по лёгкому пути; не сопротивляться обстоятельствам
13
ließen sieden und braten – зд. заказали всякой еды
14
uns allen rauchten die Köpfe – у всех нас шумело в голове
15
leis = leise
16
Mich trugen sie für tot hinweg. – Меня они посчитали мёртвым.
17
in stillere Lande – в более тихий (спокойный) мир
18
Krankenlager n – зд. время болезни
19
Überhaupt war sie nicht darauf gefasst gewesen, mich so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden. – И вообще она не ожидала увидеть меня таким бодрым и испытывающим столь мало почтения к своему несчастью
20
im Keim – в зародыше
21
»Weiberkutschiеrerei« – бабское вождение (окказионализм)
22
ins Zeug gehen – приняться за дело
23
das ewige Gefragtwerden und Redestehenmüssen – постоянные вопросы и необходимость отвечать
24
nicht für voll gelten – считаться неполноценным
25
ein Graubündners Städtchen – городoк в кантоне Граубюнден
26
baccisch – вакхический, необузданный (от имени римск.-греч. бога вина Бахуса или Вакха; лат. Ваcchus)