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Das Rattenschiff

Worauf hatte er sich da nur wieder eingelassen. Aber das Mädel an der Stange war eine Cola für zwanzig Euro wert gewesen.

Die Zeit seines Sohnes als Feldwebel ging zu Ende. Vier Soldaten, die Ausstand feierten. Für die Fete hatte sein Ältester einen Chauffeur gebraucht. Zuerst nach Enschede, zum Tabledance, Vorglühen in der Muschibude, wie sie es nannten. Bei den Jungs floss natürlich reichlich Alkohol. Danach hatte Louis die vier nach Nordhorn gefahren, zur Ranch, wie sie den Stützpunkt nannten.

Louis ließ das Fenster ein Stück herunter, der Geruch seiner eben abgelieferten Ladung hing zäh im Wagen. Es roch nach Bier und Schweiß mit einem Hauch Aftershave, ein bisschen wie in einem heruntergekommenen Puff. Flüchtig glitt sein Blick über die helle Lederausstattung. Er war nicht pingelig, aber eine Rücksitzbank mit Bierflecken musste nun wirklich nicht sein.

Acht Jahre Armeezeit lagen hinter seinem Großen. Plötzlich rebellierte etwas in ihm gegen die Vorstellung, dass Oliver bald Vater wurde. Und er damit Großvater. Opi Louis. Mit sechsundvierzig. Sabine war achtzehn und er zwanzig gewesen, als Oliver kam. Früh übt sich … in der sozialistischen Provinz gab es nicht viel, was sich abends anstellen ließ. Also wurde die Bettdecke auf den Rücken genommen. Natürlich mit Folgen, natürlichen Folgen.

Da können wir uns auch trauen lassen. So oder ähnlich hatte sein Antrag geklungen. Wegen des Ehekredits make by Honecker wurde flott geheiratet. Fünftausend Ostmark, das entsprach einem Jahreslohn. Für den Fall der Fälle war Scheidung problemlos, Hindernisse wie Ehegattenunterhalt gab es nicht, Emanzipation bedeutet für die Ostfrau vor allem, für sich selbst verantwortlich zu sein. Was die Eheanbahnungsspritze so lukrativ machte, waren die Bumsraten, wie man sie nannte. Eintausend Mark wurden beim ersten, eins-fünf beim zweiten Kind erlassen, beim Dritten den Rest und es gab sogar alles wieder heraus, was schon abgestottert war.

Aber was macht es schon, welche Gründe bei der Zeugung eine Rolle spielen. Entweder werden Kinder geliebt, oder nicht. Nur das zählt. Louis liebte seine drei Kinder. Wie immer wurde er etwas melancholisch beim Gedanken an die zwanzig Jahre Familienleben. Vorbei, seit die Kinder aus dem Haus waren und Sabine endlich das Leben genießen wollte, wie sie es nannte. Endlich. Zwanzig Jahre davor und das Genießen danach, es versetzte Louis noch immer einen Stich.

„In zweihundert Metern biegen sie links ab.“

„Ja, Kathi“, antwortete Louis gewohnheitsmäßig seinem Navi. Er hatte diese Stimme gewählt, weil die Ansage unter dem Namen Kathi angeboten wurde. So hieß seine Tochter. Eigentlich Katharina, aber kaum jemand nannte sie so.

Er bog auf die Brücke über den Ems-Vechte Kanal und fuhr in die Dunkelheit des Waldes. Er zappte sich durch die Radiosender.

WDR 2. Rolf Hoppe war Studiogast. Manchmal wurde Louis mit ihm verglichen, was auch nicht ganz falsch sein mochte, eine gewisse Ähnlichkeit von Typus ließ sich nicht von der Hand weisen. Die gleiche kräftige Statur, einsachtzig, Louis hätte glatt als Sohn des Schauspielers durchgehen können. Rundes, markantes Gesicht, hohe Stirn, besonders glichen sich ihre grau-grün-blauen Augen mit Lachfältchen und wirren, nicht zu dichten Brauen. Allerdings hatte er weder Glatze noch Hoppes früheren Rotbart, sein Haar war braun. Louis mochte den Schauspieler. Sich selbst fand er dagegen durchschnittlich. Daran hatten auch seine ansehnlichen Eroberungen in der Jugend nichts geändert.

„… 1963 bin ich zur DEFA“, kam es aus dem Radio.

„Kennen Sie noch einen Song aus dieser Zeit?“

Louis konnte förmlich sehen, wie Hoppe grinste.

„Fernweh hatten wir doch alle in der DDR. Japan zur Kirschenblütenzeit, davon haben damals viele geträumt. Jacqueline Boyer“, Hoppe schnalzte mit der Zunge, „Mitsou Mitsou Mitsou, mein ganzes Glück bist du.“

Sein Gesang konnte sich hören lassen. Natürlich spielten sie das Lied.

Im Prinzip hörte Louis nie Schlager, doch aus einem unerfindlichen Grund kannte er zig Texte. „… Laternen in den Bäumen, die laden ein zum Träumen“, sang er mit.

Wie aufs Stichwort tauchten Lichtpunkte in der Ferne unter den Bäumen auf. Sie gehörten zum Flugplatz Klausheide, eine Landebahn für kleine Maschinen.

Louis musste pinkeln. Er hielt unter den letzten Bäumen und stieg aus. Keine Seele weit und breit, trotzdem trat er an einen Baum. Leises Brummen kündigte das Nahen eines Flugzeugs an. Es kam schnell näher, eine kleine Maschine, sie flog schon ziemlich niedrig. Plötzlich hörte es sich an wie Eisgang auf dem Fluss, es knirschte und knackte laut. Dann sah es so aus, als ob ein großes Teilstück des Fliegers abfiel. Das einzige noch blinkende Positionslicht sackte ab. Alles ging rasend schnell. Ungläubig verfolgte Louis das Schauspiel, bis die Bäume die Sicht versperrten. In dem Moment, als ihm bewusstwurde, was da geschah, krachte es aus der Richtung, in die das Flugzeug verschwunden war. Obwohl die Geräusche nicht allzu laut waren, zog er unwillkürlich den Kopf ein. Es klang beinahe so, als ob jemand in der Ferne Bäume fällen würde. Louis starrte in die Richtung, erwartete einen Feuerball. Aber nichts geschah, kein Aufblitzen, keine Detonation, keine Flammen.

Es blieb gespenstisch ruhig. Er blickte zum Flugplatz. Aber da rührte sich nichts. Wieso rückten keine Rettungsfahrzeuge aus? Vielleicht hatten sie nichts bemerkt, möglich war es, sein Standort lag mindestens einen Kilometer näher an der Unglücksstelle. Er wartete ungeduldig, aber als es weiterhin ruhig blieb, konnte er nicht länger untätig bleiben. Zuerst wollte er zum Flughafen fahren, aber die Zufahrt lag ziemlich weit von ihm entfernt an der Hauptstraße zwischen Nordhorn und Lingen. Er musste selbst für Hilfe sorgen. Flüchtig dachte Louis an sein altmodisches Blackberry-Handy. Aber es lag, wie so oft, zu Hause. Im Grunde macht das nicht viel, vermutete er, die Insassen werden sowieso alle tot sein. Trotzdem wollte er wenigstens nachsehen. Ins Auto springen und es auf einen Wirtschaftsweg steuern, der in etwa zum Absturzort führte, war eins. Der Asphalt war in Ordnung, Louis gab Gas. Es war doch weiter, als es den Anschein hatte. Vielleicht zwei oder drei Kilometer und eine gefühlte Unendlichkeit weiter sah er seitlich im Wald einen Feuerschein und bremste scharf. Wie von einer gewaltigen Sense gemäht, zerteilte eine Schneise geköpfter junger Bäume den Wald und lenkte Louis´ Blicke auf die wenigen Flammen. Es hatte den ganzen Nachmittag geregnet und das Feuer fand im nassen Wald keine Nahrung.

Aus den Augenwinkeln glaubte er, im Seitenspiegel eine Bewegung zu bemerken. Louis starrte in den Spiegel, da war es wieder, etwas bewegte sich am Straßenrand. Er setzte zurück und hielt hinter der Stelle. Im Kegel des Scheinwerfers zeichnete sich ein Körper ab, er lag hinter einem flachen Graben. Louis riss die Tür auf, sprang aus dem Auto und rannte hin. Es war ein Mann.

Der Verletzte lag auf der Seite und hing noch mit dem Gurt im Sitz, so wie es ihn aus dem Flugzeug geschleudert haben musste. Mit einem halb erstickten Stöhnen versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen.

Das Wrack mochte hundert Meter entfernt sein, mindestens. Ungläubig fragte sich Louis, wie der Mann das überlebt haben konnte. Er kauerte sich zu dem Verletzten, dessen rechtes Bein knickte ab und der Oberkörper war unnatürlich verdreht. Louis zögerte, den Gurt zu lösen. Aber der Mann atmete schwer. Das Gurtschloss ließ sich leicht öffnen. Unweigerlich bewegte das den Verletzten, er stöhne furchtbar.

„Bewegen Sie sich nicht“, sprach Louis ihn an. „Gleich kommt Hilfe.“

Aber seine Worte wirkten alles andere als beruhigend auf den Mann. Trotz der Verletzungen wollte er sich hochstemmen.

„Keine Polizei!“, brachte er mühsam hervor, dann sackte er wieder zusammen.

Kein Wunder, dachte Louis flüchtig, mit diesen Ärmchen. Der Verunglückte war ein unscheinbares, dünnes Kerlchen, wahrscheinlich keine eins siebzig groß, selbst wenn sich das in seiner gekrümmten Lage schlecht abschätzen ließ.

„Keine Polizei, bitte“, wimmerte er ein paar Mal mit ersterbender Stimme.

Louis kam der Gedanke, dass der Fremde etwas mit der Ursache des Absturzes zu tun haben könnte. Andererseits war das Blödsinn, hatte er doch selbst in der Maschine gesessen, sicher war das nur ein Schock und er redete wirres Zeug.

Der Mann versuchte, seinen Arm unter dem Sitz vorzuziehen. Vorsichtig half er ihm und nahm den Sitz zur Seite. Darunter kam ein Aktenkoffer zum Vorschein, der mit einer Kette am Handgelenk befestigt werden konnte. Louis öffnete den Verschluss an der Kette und zog den Koffer zu sich. Trotz offensichtlich furchtbarer Schmerzen fasste der Mann nach dem Griff und beruhigte sich erst, als er ihn packen konnte. Er legte sogar den Kopf darauf. Sicher tat es ihm gut, Rücken und Nacken zu entlasten.

Unschlüssig wich Louis eine Armlänge zurück. Vielleicht befand sich etwas Schlimmes im Koffer, Rauschgift, oder Waffen. Plötzlich machte die Angst vor den Bullen Sinn.

„Keine Polizei“, bat der Mann schon wieder.“

„Ich kann Sie doch nicht so liegen lassen. Wer weiß, wie schwer Sie durch den Absturz verletzt wurden!“

„Das war kein Absturz!“ Die Erregung schien dem Fremden neue Energie zu verleihen. „Da war etwas am Flugzeug. Eiskaltes Gas kam aus der Verkleidung, ein Nebel, flüssiger Stickstoff vielleicht, direkt neben mir, dann brach eine Tragfläche ab. Ein riesiges Loch … mein Sitz riss sich los. Oh mein Gott, die anderen drei …“

Sein Kopf sackte wieder auf den Koffer, es sah danach aus, als ob der Mann bewusstlos wurde. Aber der rappelte sich plötzlich wieder auf. „Der Absturz … wegen mir! Keine Polizei. Dann finden sie mich. Die versuchen es wieder. Die bringen mich um.“ Stöhnend drückte er sich hoch. „Schaffen Sie mich weg, ich flehe Sie an.“

So ein Blödsinn! Louis hätte sich am liebsten an die Stirn getippt. Da erst wurde ihm richtig bewusst, was der Abgestürzte gesagt hatte. Drei andere. Es gab vielleicht noch Überlebende. Womöglich hingen sie bewusstlos in den Flammen und verbrannten bei lebendigem Leibe.

Louis lief in die Schneise. Er kam langsamer voran, als ihm lieb war. Die Trümmer der kleinen Maschine lagen nicht so weit verstreut, wie er vermutet hatte. Die meisten Bäume waren noch zu jung gewesen, um den Flieger aufhalten zu können. Erst etwas tiefer im Wald hatte eine Gruppe großer Fichten dem Flug ein Ende gesetzt. Der Rumpf steckte wie ein gewaltiger Speer zwischen den Stämmen. Die Kabine war an der Seite aufgerissen, wo früher einmal die Tragfläche gesessen haben mochte, gähnte ein riesiges Loch. Die Glaskanzel fehlte, der Flügel war nirgends zu sehen. Das Licht der wenigen Flammen reichte, Louis sah die drei angegurteten Männer in den Trümmern des Flugzeugs. Sie waren offensichtlich nicht mehr am Leben. Regelrecht riechen ließ sich der Tod, salzig und nach Eisen, das viele Blut überall. Trotzdem ging er näher und vergewisserte sich. Sie sahen übel aus. Splitter und Äste hatten sie getroffen. In einem der drei steckte ein großes Stück Blech und hatte ihn an der Gürtellinie fast durchtrennt.

Übelkeit stieg in Louis hoch. Mühsam unterdrückte er das Würgen im Hals. Hastig wandte er sich ab und spie den zusammengelaufenen Speichel aus, hier war nichts mehr zu machen. Wie gehetzt rannte er los. Er stürzte über Ranken, raffte sich wieder auf und fiel noch einmal. Zuletzt wäre er beinahe noch auf den Fremden getreten.

Sie sind tot, alle tot, hämmerte es in seinem Kopf. Wer macht so etwas? Obwohl es sehr unwahrscheinlich klang, das Gerede des Abgestürzten über die Tragfläche stimmte vielleicht doch, keiner der jungen Bäume konnte sie abgerissen haben und sie lag auch nicht in der Nähe der Absturzstelle.

Der Überlebende ruhte noch immer mit dem Kopf auf dem Koffer, seine Augen fragend aufgerissen, sie waren sehr dunkel, im Scheinwerferlicht wirkten sie fast schwarz.

Louis brachte keinen Ton heraus.

Der Mann verstand ihn wohl auch so, er versuchte etwas zu sagen, doch es gelang ihm nur ein schmerzverzerrtes Grinsen. Aber er gab nicht auf. „Der Absturz … nur wegen mir“, wiederholte er. „Ausgerechnet ich habe überlebt.“

Das brachte ihn wohl wieder auf seinen unsinnigen Wunsch. „Bringen Sie mich weg! Ich flehe Sie an.“

„Ruhig, bleiben Sie ruhig. Ein Krankenwagen wird gleich da sein.“ Das war gelogen, denn er hatte ja keinen Notruf gesendet. Die Geschichte des Halbtoten kam ihm immer unsinniger vor. „Wovor haben Sie Angst? Was haben Sie da im Koffer?“ Er behielt die Hände des Mannes im Blick, nicht dass der noch eine Pistole ziehen würde.

„Nichts, da ist nichts drin. Mein Name ist Dr. Volker Hansen, ich bin Geologe. Bitte, bringen Sie mich weg.“

Dr. Hansen war ein Allerweltsname. Der konnte viel erzählen, Louis blieb skeptisch. Der ominöse Dr. schien zu begreifen, dass er nichts erreichte.

„In meinem Koffer sind nur Unterlagen. Brisante Unterlagen. Sehr brisante. Die Polizei kann mich nicht schützen. Nicht … vor denen!“ Mühsam wies er mit dem Kopf in Richtung der abgestürzten Maschine. „Die schrecken vor nichts zurück.“

Unter Stöhnen griff er nach Louis´ Hosenbein und krallte sich mit der Kraft der Verzweiflung fest. „Bitte! Helfen Sie mir! 666! Schauen Sie in den Koffer.“ Dann sackte er bewusstlos zusammen.

Er braucht einen Arzt, dachte Louis, schnell. Bestürzt fiel ihm ein, dass keiner kommen würde. Scheiß Handy. Er schwor sich, es nie wieder zu vergessen. Er musste den Verletzten zum Arzt bringen. Unsicher schaute er auf den abgeknickten Oberschenkel. Eigentlich fehlte da eine Schiene, nicht dass die Knochensplitter noch eine Arterie verletzten, wenn er ihn bewegte. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Vorbeugend zerrte er den Gürtel aus der Hose des Fremden und schnürte das Bein ab. Der Hänfling wog nicht viel, trotzdem bereitet es Louis Mühe, den schlaffen Körper auf die Rückbank zu bugsieren.

„Mist“, stieß er hervor, als er im Lichtkegel an sich hinunterschaute. Überall Dreck und Blut. Gerade hatte er sich noch Sorgen wegen der Jungs und den hellen Sitzen gemacht. Er saß schon im Auto, als sein Blick auf den Koffer fiel. Erst wollte er ihn einfach liegen lassen, doch dann besann er sich eines Besseren. Vielleicht hatte das alles tatsächlich etwas mit dem geheimnisvollen Inhalt zu tun. Plötzlich war er sich dessen sicher und holte das Teil. Ungläubig schaute er auf die Zeitanzeige in der Armatur. Nur wenige Minuten waren vergangen, zehn oder fünfzehn vielleicht, sie kamen ihm wie Stunden vor. Er gab richtig Gas. Bald bog er auf die B 213.

Das Rattenschiff

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