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KAPITEL III
ОглавлениеPapillon
Die ersten Disziplinarstrafen verbrachte ich im Pavillon 8, und von Strafe war eigentlich kaum die Rede. Es gab die gleichen Zellen wie unten im Pavillon 6, die Freizeitgestaltung wurde gestrichen, und der Hofgang fand alleine, in einem Käfig, statt. In den gleichen gesetzlichen Richtlinien, die besagen, dass das Überfallen von Postämtern verboten ist, steht auch, dass der Strafvollzug für einen nicht Volljährigen in einer Anstalt für Erwachsene verboten ist. Aber genau das passierte hier – und nicht nur das, der Gefängnisdirektor verhängte für mich, einen Jugendlichen, die härteste Disziplinarstrafe, die ihm zur Bestrafung eines Erwachsenen zur Verfügung stand. Zwar waren die ersten Strafen halb so wild, aber der Freiheitsentzug erzeugt natürlich einen gewissen Druck, den ich selbstverständlich spürte. Ich hatte meine Freiheit verloren und wurde ständig durch Regeln unterdrückt. Die Bösewichte waren diejenigen, die die Regeln handhabten: die Wärter. Ich habe nie verstanden, wie man solch einer Tätigkeit nachgehen kann. Welches Niveau des menschlichen Daseins hat man, wenn man den ganzen Tag im Affenkostüm und mit einem großen Schlüsselbund Menschen einschließt? Findet man als Wärter Befriedigung in seiner Arbeit und geht man nach Feierabend nach Hause mit dem Gefühl, etwas Besonderes geschafft zu haben? Ich stellte mir vor, wie sie abends nach Hause kamen und von ihren Frauen mit einem Kuss und der Frage: „Wie war denn dein Tag, Schatz?“ begrüßt wurden. Und dann ihre Antwort! Die Möglichkeiten, tagsüber der Einsamkeit der Zelle zu entfliehen, sind in der U-Haftanstalt nur sehr begrenzt. Es gab die Möglichkeit, zusammen mit den übrigen Insassen der Abteilung in die Werkstatt zu gehen, und fast jeder nutzte dieses Angebot, denn so kam man raus aus der Zelle, traf andere Insassen und hatte soziale Kontakte. Man hörte den neusten Klatsch, und ein reger Austausch von Informationen und Drogen fand statt. Die angebotenen Tätigkeiten boten wenig Abwechslung. Man konnte Wäscheklammern machen, Schokolade – die jeder bespuckte oder mit Rotz beschmierte – einpacken, Weihnachtskarten einpacken oder große Umschläge leimen. Von 8 Uhr bis 12 Uhr arbeiten, eine halbstündige Kaffeepause um 10.30 Uhr und von 12 Uhr bis 13 Uhr in der Zelle Mittagessen. Am Nachmittag durfte man im Hof eine Stunde lang frische Luft tanken und wie ein Hamster im Kreis laufen. Mit dem Häftling, der mir in der Werkstatt gegenüber saß, lieferte ich mir eine Art Wettkampf. Wer ist der Schnellere im Kleben der Umschläge? Hans, so hieß mein Gegenüber, war einfach unschlagbar. Er war um einiges älter, und ich empfand ihn als eine sehr angenehme Gesellschaft. Außerdem erzählte er mir, dass er ein passionierter Leser war und in der Literatur komplett aufging. Hans gehörte schon fast zum Inventar, er hatte schon etliche Jahre auf den Buckel, und wenn er seine Geschichten erzählte, war ich ganz gefesselt. Weil er so viel las, hatte Hans eine sehr gute Allgemeinbildung, von der ich gierig profitierte. Er wies mich in die Gefängnissitten ein und zeigte mir, wie der Alltag hier ablief. Immer wieder riet er mir, ich solle lesen, weil ich so wissbegierig war. „Wissen ist Macht, Gerrit.“ Ich erzählte ihm, dass ich noch nie ein Buch gelesen hatte, dass ich kaum Bildung hatte und nur das Leben auf der Straße kannte. Immer wieder pochte er darauf, dass ich anfing zu lesen, und wollte mich mittags mitnehmen in die Bibliothek, um mich dort zu beraten, welche Bücher für den Anfang in Frage kämen. Manchmal sagte er Sachen wie: „Nicht du suchst ein Buch aus, das Buch sucht dich aus!“ Viele Jahre und hunderte von Büchern später kann ich dieser Behauptung beipflichten… Und so ging ich eines Tages zusammen mit Hans in die Gefängnisbücherei und suchte mir mein erstes Buch aus. „Papillon“ von Henri Carriere. Es ist die Autobiografie eines französischen Kriminellen aus den dreißiger Jahren und spielt in Paris. Henri, Erzähler und Hauptrolle des Buches, erlebt so manches. Er wird, wie er selber behauptet, unschuldig für den Mord an einem Zuhälter verurteilt. Henri wird zu einer lebenslangen Haft in der Strafkolonie auf Französisch-Guayana verurteilt. Zu der Zeit schob Frankreich alle Kriminellen und was dafür gehalten wurde, in die Kolonien ab. Die Lebensumstände waren so schlecht, dass viele schon auf der langen Seereise starben oder aber später in den Baracken an Unterernährung, den Folgen der schweren körperlichen Arbeit oder einer Tropenkrankheit. Einen Namen machte sich Henri durch seine ständigen Fluchtversuche und die extrem schweren Disziplinarstrafen, die er unter unmenschlichen Umständen erduldete. Sein letzter Fluchtversuch war ihm gelungen, und er lebte einige Jahre bei einem Indianerstamm irgendwo in Südamerika. Während des Lesens fragte ich mich, warum er diese Idylle wieder verließ, um in die zivilisierte Welt zurückzukehren. Ich sah nur die romantische Seite der Geschichte. Auch lange, nachdem um 24 Uhr das Licht gelöscht werden musste, las ich weiter. Ich setzte mich auf die Toilette und tat so, als hätte ich Bauchschmerzen, um weiterlesen zu können. Ich bin Hans sehr dankbar, denn so entdeckte ich die Bücher. Die Literatur mit all dem Wissen bot mir die Möglichkeit, der Realität zu entkommen, und so lernte ich – theoretisch – die Welt kennen.
Doch auch die Liebe fürs Lesen konnte mich nicht vor meinem eigenen aufbrausenden und zerstörerischen Temperament beschützen. Weil Hans und ich uns so gut verstanden, redeten wir ununterbrochen und machten viel Unsinn, und das wirkte ansteckend auf die restlichen Häftlinge. An unserem Tisch wurde es immer gemütlicher und voller, so voll, dass der Werkmeister dachte, er müsse eingreifen und uns auseinander setzen. Sofort bekam ich Krach mit ihm und der Wortwechsel eskalierte. Ich hielt das Ganze für Haarspalterei, und seine Argumente hatten in meinen Augen weder Hand noch Fuß. Der Mann regte mich dermaßen auf, dass ich sagte: „Jetzt hör mal zu, du Arschkriecher, ich werde dir einen Grund geben, um mich zu bestrafen.“ Ich stand auf und trat den Kaffeetisch mit allem, was darauf stand, um. Der Mann schaute mich ganz entgeistert an. Als Nächstes schnappte ich mir seinen großen Bürostuhl und schmiss ihn durch das Fenster zu dem Raum, in dem wir unsere Kaffeepause machten. „Und jetzt bist du dran“ rief ich. Er flüchtete in sein Büro und schlug sofort Alarm. Innerhalb weniger Sekunden war der Stoßtrupp da, und ich wurde von sechs Wärtern zu Pavillon 9 abgeführt. Im Aufzug stand ich in ihrer Mitte, und ich konnte spüren, dass sie wahnsinnig viel Lust verspürten, mir gewaltig aufs Maul zu hauen. Ich hielt mich bedeckt, denn bis dahin war noch nichts passiert. Angekommen im Pavillon 9, musste ich mich vor allen Wärtern komplett ausziehen. Wenn ich mich weigerte, würde man mir ein wenig helfen! Nachdem ich mich ausgezogen hatte, wurden alle Körperöffnungen auf Schmuggelware kontrolliert. Ich musste mich sogar vornüberbeugen und meine Arschbacken auseinanderziehen, sodass man mit vereinten Kräften in meinen Anus schauen konnte. Ich glaube nicht, dass sie wussten, welches Privileg das war! Die Demütigung ist kaum zu beschreiben, wenn man diese Prozedur das erste Mal über sich ergehen lassen muss. Scham und Hass wechselten sich ab. Die Scham sollte schnell vergehen, aber der Hass wuchs ins Unermessliche. Ein Wärter schmiss mir Gefängnisunterwäsche vor die Füße. Sehr elegant war sie nicht, saß aber recht komfortabel. Dann, klatsch… wieder vor meinen Füßen, ein Gefängnisoverall ohne Knöpfe, den ich anziehen sollte, und ein paar Plastik-Latschen, bei denen ich mich weigerte, sie zu tragen, weil sie einen bestialischen Gestank verbreiteten. Des Weiteren hatte ich ein Anrecht auf ein Sitzelement, das ich aber nie bekam, und eine Bibel. „Viel Spaß“, sagte einer der Wärter, und die schwere Stahltür wurde mir vor der Nase zugeschlagen. Das Adrenalin schoss immer noch durch meinen Körper, aber da stand ich nun, äußerlich völlig ruhig, aber innerlich kochte ich vor Wut. Das war die härteste Strafe, die dem Direktor zur Bestrafung eines Erwachsenen zur Verfügung stand, und anfangs erkannte ich noch nicht, was die besondere Härte ausmachte. Du stehst da, und eine Weile schaust du nach draußen, verfolgst die Aktivitäten im Industriegebiet, ich nahm die Bilder am Horizont auf und entdeckte jedes Mal etwas Neues. Dann lief ich auf und ab in meiner Zelle… dabei dachte ich an einen dummen Witz. Es ist erstaunlich, wie der menschliche Geist auf die soziale Deprivation reagiert. Wie ich schon erwähnt habe, herrschte in der Isolierzelle absolute Stille; kein einziges Geräusch von außen drang hinein – nichts. Durch die Stille und das Fehlen äußerer Reize hat der Geist freie Bahn, wodurch eine introspektive Selbstanalyse in Gang gesetzt wird. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass man diesen Prozess so nennt. Ich stellte fest, dass mein Geist sich öffnete und anfing, sich selber zu untersuchen. Erinnerungen, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass es sie gab, traten wieder an die Oberfläche wie die sprichwörtliche Büchse der Pandora. Vieles hatte ich verdrängt, und nun standen die Erinnerungen glasklar vor meinem geistigen Auge. Das Kinderheim, die darauffolgenden Jahre in Vrieheide, die Gewalt, die Familiensituation und meine abweichende Erziehung sowie die Inzesterfahrungen durch meinen Halbbruder Janus. 24 Stunden täglich, 14 Tage lang, hatte mein Geist freie Bahn und untersuchte sich selber. Ich hatte das Gefühl, keinerlei Einfluss darauf zu haben und meinen Gehirnaktivitäten wehrlos ausgeliefert zu sein. Wer war ich eigentlich? Aufgewachsen war ich in einem Kinderheim, danach die Grundschule in Nieuw-Einde, meine abweichende Erziehung oder besser gesagt das Fehlen einer Erziehung, die Gewalttätigkeiten, die ich gesehen hatte, die Belästigungen durch Janus. Die Freundinnen, die ich bis dato gehabt hatte, die Freunde, mit denen ich umgegangen war, kurz gesagt alles, was ich bis dahin in meinem kurzen Leben erlebt hatte, waren die persönlichen Ausgangspunkte, die meine Identität geformt hatten. Und das sah nicht gut aus! Vielleicht war das mit Janus meine eigene Schuld? War ich homosexuell und hatte es provoziert? Vielleicht hatte ich es nicht besser verdient; einen Vater hatte ich auch nie gehabt, er fand mich wohl auch nicht der Mühe wert? Und meine Mutter hatte mich auch nie umarmt und mir gesagt, dass sie mich liebt. Nie! Auch nicht, als ich noch klein war! Zuhause in Nieuw-Einde hatte ich immer das Gefühl gehabt, unsichtbar zu sein; keiner nahm Notiz von mir, egal was ich tat.
Mit 16 Jahren hatte ich schon mit sehr vielen Mädchen eine sexuelle Beziehung gehabt. Einige Beziehungen waren sehr befriedigend, aber dennoch fühlte ich mich unsicher, was meine sexuelle Orientierung betraf. Eine Welle der Negativität nahm Besitz von mir, die Gedanken waren komplett außer Kontrolle, und dieser Denkprozess wurde dort in der Isolierzelle kaum unterbrochen. Morgens kamen die Wärter und nahmen das Stück Schaumstoff und die ranzige Decke wieder in Beschlag. Oft ohne ein einziges Wort. Sie stellten einen Teller mit Butterbroten auf den Boden, mit Brotaufstrich, den ich überhaupt nicht mochte. Mittags ein Pappteller mit einer warmen Mahlzeit und ein Holzlöffel. Um sechs wieder Brot mit dem gleichen ekligen Brotaufstrich. Dann spät am Abend, so gegen 10 oder halb 11, wieder die ranzige Decke und das Stück Schaumstoff. Und dann das Licht, das Tag und Nacht brannte und mich völlig wahnsinnig machte. Es wäre zu meiner eigenen Sicherheit so, behauptete man, was natürlich völliger Unsinn ist; so versucht man den Häftling auf eine sehr subtile Weise zu brechen. Die Stille, die soziale Ausgrenzung, das Fehlen von äußeren Reizen und sozialen Kontakten, das alles zusammen ergab ein komplettes Bild. In einigen Ländern verwendet man diese Methode zur Folter, weil sie keine körperlich sichtbaren Spuren hinterlässt. Erwachsene Männer hatte man so schon psychisch gebrochen… ich war ein 16-jähriger Teenager! Es gab vier Isolierzellen im Pavillon 9, und meistens waren sie unbelegt, was ein deutlicher Hinweis darauf war, dass sie bei den Häftlingen nicht sehr beliebt waren. In der Stahltür gab es eine lange schmale Luke, zirka 10 cm breit und 60 cm lang. Zum Schließen wurde die Luke zugeklickt, was mittels Magneten funktionierte. Ich hatte entdeckt, dass, wenn ich mit voller Wucht gegen die Tür trat – hierzu zog ich die stinkigen Latschen ausnahmsweise an –, die Luke aufsprang und ich durch den Schlitz eine Uhr sehen konnte, die im Flur hing. So wusste ich wenigstens, wie spät es war. Dort in den Zellen verlor man schnell das Gefühl für Zeit, und durch die verdammten Leuchtstoffröhren hatte man auch keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr. Selbst mit geschlossenen Augen sah man das Licht. Einmal hörte ich, dass ich einen Nachbarn hatte. Es handelte sich um keinen Geringeren als Koos H. Der berüchtigte Kindermörder und Ex-Türsteher aus Den Haag. Das Personal fand es amüsant, mir die Neuigkeit mitzuteilen. Es war das erste Mal, dass ich froh war, sicher hinter der massiven Stahltür zu sitzen. Wenn jetzt abends mein Essen kam, passte ich immer gut auf, dass meine Tür gut verschlossen wurde. Da hofft man auf einen Gesprächspartner, der einen ablenkt, und bekommt stattdessen einen Serienmörder als Nachbarn! Die 14 Tage krochen vorbei, und ich durfte wieder zurück, teilnehmen am normalen Gefängnisalltag. Aber die zwei Wochen hatte mehr Einfluss auf mich gehabt, als ich mir selber eingestehen wollte. Ich hatte 8 Kilo abgenommen, war nervös und schreckhaft. Ich fühlte mich unwohl bei all den Menschen, und die sozialen Kontakte empfand ich eher als Bedrohung. Ich zog mich zurück, wollte immer öfter alleine sein und war so aggressiv wie noch nie. Innerhalb kürzester Zeit landete ich wieder im Pavillon 9, und wieder, und wieder, und wieder…! Und auch die introspektive Selbstanalyse ging weiter…
Drei Monate später war mein Gerichtstermin. Für diese Gelegenheit hatte meine Mutter mir einen dreiteiligen Anzug gekauft, in der Hoffnung, den Richter milder zu stimmen und meine Strafe zu mindern. Für mich war alles neu, der große Sitzungssaal, der Richter, der Staatsanwalt, mein Anwalt, Familie und Freunde auf den Zuschauerplätzen und außerdem ein Haufen Fremder. Das war ja wohl der Beweis: ich war ein Publikumsmagnet. Warum ich vor einer Strafkammer stand, war mir ein Rätsel, denn normalerweise werden Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres durch ein Jugendgericht verurteilt. Die maximale Strafe vor dem Jugendgericht war ein halbes Jahr in einer Jugendstrafanstalt. Man verurteilte mich zu einer einjährigen Gefängnisstrafe. Von dieser Strafe wurden drei Monate auf Bewährung ausgesetzt und der dreimonatige Vorarrest abgezogen. Das hieß, ich musste ein halbes Jahr sitzen. Janus bekam die gleiche Strafe. Meine Mutter fing an zu weinen. Ich zuckte mit meinen Schultern, als würde ich sagen „Tja…!“ Wieder mit dem Gefangenentransport eine Runde sightseeing Maastricht und zurück in die U-Haftanstalt. Nachdem ich nun verurteilt war, durfte ich in ein anderes Gefängnis verlegt werden. Innerhalb weniger Wochen war es soweit, ich wurde in die Jugendstrafanstalt Vught verlegt. Der Transport war für mich eine willkommene Abwechslung. Mal wieder raus, was anderes sehen und in dem gammeligen Bus mit den anderen eine Zigarette rauchen. Einfach nur reden, ohne viel Bedeutung. Maastricht war ein hypermodernes Gebäude gewesen, und Vught war das genaue Gegenteil. Den Anblick assoziierte ich sofort mit einem Konzentrationslager. Und damit hatte ich auch Recht, denn im zweiten Weltkrieg hatte Vught tatsächlich als Konzentrationslager gedient. Die Aufnahmeprozedur verläuft fast überall gleich, eine Menge Blabla, das keinen Menschen interessiert… du darfst das nicht, du darfst jenes nicht. Der Standardwitz für alle Neulinge lautete: „Früher unterschrieb man hier bei Ankunft für die Kugel, inzwischen ist sie umsonst.“ Mit der geleisteten Unterschrift bekam man die Erlaubnis, sich frei auf dem Gelände zu bewegen, gab aber gleichzeitig auch sein Einverständnis dass bei einem Fluchtversuch geschossen werden durfte.
Die ersten beiden Wochen hatte ich gearbeitet. In einem unbewachten Moment flüchtete ich. Ich kletterte über den ersten Zaun, wobei ich mir Hände und Gesicht am Stacheldraht verletzte, sprang hinunter, schwamm durch einen Graben und kletterte über den nächsten Zaun, bei dem ich mir wieder alles Mögliche aufschlitzte. Die Freiheit schon zum Greifen nahe, verfing ich mich mit einem Bein im Stacheldraht und kam einfach nicht mehr los. Aus den Augenwinkeln sah ich zwei Wachposten mit Karabinern auf mich zurennen. „Klack, klack“, klang es, als sie die Waffen entsicherten und auf mich zielten. „Hängen bleiben!“ rief einer. Und so musste ich im Spagat hängen bleiben, bis Verstärkung eingetroffen war. Einer der Wachposten hatte einige Tage später beim Einzelhofgang die Aufsicht, und ich ging zu ihm, um mich zu unterhalten. „Eh…, sag mal, du hättest doch nicht wirklich auf mich geschossen, oder? Ich meine, wenn ich weitergerannt wäre.“ „Aber sicher doch.“, sagte er voller Überzeugung. „Du Arschloch“, dachte ich mir, traute mich aber nicht, es laut zu sagen. Während meiner ersten Haft war nicht alles makellos verlaufen, also hielt ich meinen Mund. Meine Aktion wurde auch hier in Vught mit 14 Tagen in der Isolierzelle bestraft, aber dieses Mal so richtig gruselig. In der Zelle neben meiner waren im Zweiten Weltkrieg mehr als 40 Menschen umgekommen, Männer, Frauen und Kinder! Aus Respekt und zum Gedenken an die Toten hatte man nichts in der Zelle verändert. Auch hier verbrachte ich den Rest meiner Haft in der Strafabteilung und den Isolierzellen. Quälend langsam verstrich die Zeit, bis das Ende in Sicht war und die letzte Nacht anbrach. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und versucht, alles, was seit dem Überfall geschehen war, Revue passieren zu lassen. Esmeralda hatte ich abserviert, sie war auf einmal schwanger und wollte mir erzählen, dass es mein Kind war; zeitlich war das überhaupt nicht möglich. Im Besucherraum hatten wir den größten Krach deswegen. Es kam schon fast einer unbefleckten Empfängnis gleich! Ich war schnell durch mit dem Thema und machte ihr klar, dass ich nichts mehr von ihr hören wollte. Später kam die Katze dann aus dem Sack! Das Kind war von Jacky, soweit Esmeralda überhaupt etwas mit Sicherheit sagen konnte, denn sie hatte mehrere Partner gleichzeitig gehabt. Auf jeden Fall nicht von mir, so lag ich die ganze Nacht bis um 7 Uhr am Morgen da und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Ich durfte meine Sachen packen, bekam ein bisschen Geld für die Heimreise, und die Tore öffneten sich. Und dann stand ich auf der Straße, wieder ein freier Mann!
Meine Mutter und ihr Freund, der genau wie ich Gerrit hieß, holten mich ab. Ich konnte ihn gut leiden, wir hatten die gleichen Interessen: Autos. Ich war 17 Jahre alt, und meine Mutter hatte mir, um den Schmerz der Gefangenschaft zu lindern, einen Chevrolet Camaro gekauft. Ein Haifischmaul, dunkelblau mit einem schwarzen Lederdach und breiten Sportfelgen. Er gefiel mir, aber glücklich machte er mich nicht. Nichts konnte mich noch glücklich machen. Neun Monate Haft hatten mich verändert. Ich konnte es weder in Worte fassen, noch konnte ich mein Verhalten erklären. Morgens hatte man mich entlassen, und noch am gleichen Abend stahl ich Autos und verübte Einbrüche. Ich fing an, viel zu trinken, und war keine angenehme Gesellschaft. Jede Nacht war ich unterwegs, und immer alleine. Stahl ein Auto, schlug in einem Fernsehgeschäft das Schaufenster ein und räumte alles leer. Anfangs schlug ich die Schaufenster noch ein, aber dann fuhr ich mit dem Auto in die Schaufenster der Geschäfte. Der enorme Schaden, den ich damit anrichtete, interessierte mich wenig. Der Videorekorder war gerade neu auf dem Markt und ein begehrtes Kaufobjekt. VHS löste Betamax ab, und ich verdiente 1000 Gulden pro Videorekorder. Im Schnitt klaute ich zwischen 3 und 6 Stück pro Nacht, und das an 7 Tagen in der Woche. Ich verdiente gut, wusste aber nicht, warum ich es tat. Geld war mir egal, ich schmiss alles aus dem Fenster für Autos, Nachtclubs, Alkohol und Nutten. Mein Verhältnis zur Polizei war gestört. Ich war aktenkundig, und man behielt mich im Auge. Ich war noch nicht volljährig, hatte also keinen Führerschein, und sobald die Polizei mich mit meinem Wagen sah, verfolgten sie mich. Halteschilder ignorierte ich, denn mein Auto wurde sowieso beschlagnahmt, das war klar. So kam es, egal ob Tag oder Nacht, zu den wildesten Verfolgungsjagden. Anfangs war ich noch nervös bei den Verfolgungsjagden, aber später fing es an, mir richtig Spaß zu machen. Die Risiken, die ich dabei einging, waren unverantwortlich. Ich fuhr Treppen rauf und runter, durch Fahrradtunnel, in die entgegengesetzte Fahrtrichtung usw.… Manchmal gelang es ihnen, mich zu stellen, und dann waren sie völlig außer sich, und ich bekam eine gewaltige Abreibung von den Gesetzeshütern. Nicht selten waren meine Hände dabei schon mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Die Polizei konnte mich auf den Tod nicht ausstehen, und mein Hass auf die Gesetzeshüter wuchs ins Unermessliche. Ich wollte ihnen buchstäblich das Licht ausblasen. 10 Jahre später sollte ich mit einer 38 Kaliber Spezial zwei Polizisten erschießen, einen in den Kopf, den anderen in den Rücken und mir selber in die Brust. Für mich brach eine Zeit an, die ich mehr in Gefangenschaft als in Freiheit verbrachte.
Nur ein paar Monate nach meiner Entlassung wurde ich wieder zu einem Jahr Haft verurteilt. Ich war jetzt 17 Jahre alt, und alles in der JVA wiederholte sich, allerdings wurde der Kampf immer heftiger, und mein Gefühl der Unzufriedenheit wuchs. Während ich meine zweite Haftstrafe absaß, kam ich das erste Mal mit Heroin in Kontakt. Ein paar Tage lang hatte ich mich aufgerafft und war wiedermal zur Arbeit gegangen. Im Werkraum kam ich mit ein paar Leuten in Kontakt, die Heroin rauchten. Auf einem Stück Alufolie lag ein bisschen braunes Pulver. Durch das Erhitzen der Folie mit einem Feuerzeug verflüssigt sich das Heroin, es bildet sich Rauch, der schnell und sorgfältig ganz tief in die Lungen eingeatmet werden muss. Den Rauch einer Zigarette, die direkt danach angesteckt wird, versucht man so lange, wie es geht, drinnen zu halten, und so gelangt die Droge rasend schnell ins Blut. Du fühlst es in deinem Kopf, es durchtränkt deinen ganzen Körper, alles wird warm. Probleme lösen sich in Luft auf, und du siehst alles durch eine rosarote Brille. Durch das Heroin kann man sich komplett in sich selber zurückziehen und jedes Gefühl von Unbehagen verschwindet. Nachdem ich dieses Gefühl zum ersten Mal erlebt hatte, dachte ich: „YES“, das ist es, wonach ich gesucht hatte. Ich schmuggelte Geld rein und kaufte mein Heroin im Gefängnis genauso einfach wie auf der Straße. Meine zweite Inhaftierung verlief wie die erste; viel Isolationshaft. Wieder in Freiheit, nahm ich schon bald meine alten Gewohnheiten wieder auf. Schaufenstereinbrüche, dieses Mal im Wechsel mit Überfällen. Alkohol trank ich schon seit Jahren im Übermaß, aber nun kam noch der Heroinkonsum dazu. Weil ich nicht ohne sein wollte, fing ich selber an zu dealen und trug pfundweise Heroin mit mir herum. Ich fuhr einen fast neuen BMW der 5er-Serie, hatte ein schönes Appartement und immer genug Geld in der Tasche. 24 Stunden täglich war ich nur mit allerlei kriminellen Aktivitäten beschäftigt. Als ich ein Auto, das ich für einen Überfall benutzt hatte, anzünden wollte, wurde ich durch eine enorme Explosion einige Meter durch die Luft geschleudert und erlitt Brandverletzungen dritten Grades im Gesicht. Ich fuhr zu meiner Mutter, um von dort aus einen Arzt zu rufen. Ich hatte vor, einen Unfall mit einem Grill vorzutäuschen, aber die Schmerzen waren unerträglich. Ich füllte einen Eimer mit kaltem Wasser und steckte meinen Kopf solange unter Wasser bis mir die Luft ausging. So fuhr mich meine Mutter in die Notaufnahme, im Wagen, mit dem Kopf im Eimer. Ich ließ den Eimer nicht mehr los. Wohin ich ging, ging auch der Eimer! Im Krankenhaus bekam ich sofort eine Narkose. Als ich wieder zu mir kam, war mein Kopf komplett in Verbände eingewickelt. Ich sah aus wie eine Mumie. Nach einigen Tagen wurde der Verband abgenommen, und ich sah aus wie Niki Lauda. Wieder ein paar Tage später hatte sich eine Gesichtshälfte verfärbt und war so schwarz wie Kohle. Ich machte mir große Sorgen und hatte Angst, die Verfärbungen wäre vielleicht bleibend, aber letztendlich heilte alles ab und war ich wieder so gutaussehend wie vorher!