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Das alte Haus

Erzählung.

Zweite Auflage.

Heimliche und unheimliche Geschichten

Gesammelte Erzählungen.

Zweite Auflage.

von

Friedrich Gerstäcker.

Jena,

Hermann Costenoble.

Verlagsbuchhandlung.

Ausgabe letzter Hand, ungekürzt, mit den Seitenzahlen der Vorlage

Gefördert durch die Richard-Borek-Stiftung und Stiftung Braunschweigischer Kuilturbesitz

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig 2020

Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten © 2020

Die Ahnung einer uns umgebenden fremden und geheimnißvollen Welt liegt uns einmal im Blut. Wie wenig Menschen - ja ich weiß nicht einmal, ob einer unter allen - sind ganz vom Aberglauben frei? Ein wenig davon mag auch vielleicht nicht schaden - du lieber Gott, wie nah' liegt Glauben und Aberglauben überhaupt beisammen! Es bleibt eine Art von Poesie, die uns bestätigt, daß wir nicht blos lebende Maschinen sind - ein angenehm aufregendes Räthsel, das uns der Weltgeist aufgegeben hat, und als solches mögen wir es betrachten und uns immerhin mit der Lösung ein wenig den Kopf zerbrechen. Nur Macht und Gewalt dürfen wir es nicht über uns gewinnen lassen, und - wenn wir uns nicht der Aufgabe vollkommen gewachsen fühlen, sollen wir nicht mit jenem Etwas spielen, das uns geheimnißvoll und ernst umgiebt. Es wird sonst zu einem scharfen Messer in der Hand eines Kindes.

Friedrich Gerstäcker

Das alte Haus

I.

In einer der Hauptstraßen von Hellburg stand vor noch gar nicht so langen Jahren ein steinernes, uraltes Gebäude aus früherer Zeit - wie Viele sogar behaupteten, das älteste Gebäude der Stadt - mit wunderlich geschnitzten Giebeln und Gewänden, künstlich gespannten Fenster- und Thürbogen und großen eisernen drachen- und lindwurmköpfigen Dachrinnen, die der Zeit, wie allen die Straßen aus- oder abwehenden Stürmen die langen, grimmig ausgeschnittenen Zähne gezeigt hatten, und bei heftigen Regengüssen, zum Aerger der Vorübergehenden, ganze Ströme Wassers in die Mitte der Straße sprudelten. Ueber der Thür waren zwei sonderbare Gestalten in Stein ausgehauen, die einen Türken und einen Christen vorstellten, und auch zwischen den Fenstern hatte der Baumeister, dessen Urenkel mit zu den Ahnen der jetzigen Generation gehörten, manche behelmte und bewehrte Gestalt angebracht. Nirgends aber fand sich ein Heiligenbild, nirgends ein Engelsköpfchen, das sonst mit seinen dicken Bäckchen trostbringend aus manchen Verzierungen anderer, fast eben so alter Gebäude herausbläst. Kein frommer Märtyrer mit zerrissenen Gliedern und rundem Heiligenscheine war in der ganzen Masse von Schnitzwerk zu finden; kein frommes Sprüchlein, kein Vers, kein Kreuz angebracht, selbst nicht auf dem Schilde des Ritters über der Thür.

Wie die Dachrinnen Unthiere darstellten, die nur hinten an den Schwänzen von irgend einer wohlthätigen Macht zurückgehalten und verhindert wurden, sich auf die ruhig /8/ Vorübergehenden niederzustürzen und all' ihren zähnefletschenden Grimm an ihnen auszulasten, so trugen kleine boshafte Faun- und Teufelslarven die Fenstersimse und hier und da angebrachte Nischen-Console, und ungeschlachte, halb Thier-, halb Menschenbilder stützten, die Krallenftnger in die dürren Seiten stemmend, Erker und Balkon. Jedenfalls hatte ein wunderlicher Geschmack das Haus erbaut.

Seit langen, langen Jahren nicht bewohnt, war es nach dem Tode des letzten, schon lange verstorbenen Besitzers, und in Folge des darob entstandenen Rechtsstreites zwischen den außer Landes wohnenden Erben, verschlossen und versiegelt worden. Darüber verging die Zeit, und wie das so mit Processen geht, erinnerten sich jetzt ganz alte Leute aus ihrer Jugendzeit noch der großen, der Thür angedrückten Siegel, zu denen sie damals mit stummer Ehrfurcht aufgeschaut. Nichtsnutzige Menschen hatten diese später einmal beschädigt - vielleicht um einen hochweisen Rath zu kränken oder den Nachtwächter zu ärgern - und jetzt waren Streifen Blech über die neu aufgedrückten genagelt worden, um sie zu schützen - denn der Proceß dauerte ruhig fort.

Andere Nachtschwärmer klopften auch früher einmal in frechem Muthwillen mit dem alten eisernen Thürhammer an die versiegelte Pforte, daß der Ton hohl und markerschütternd durch die öden Räume schallte. Als aber bald darauf dumpfe Gerüchte die Stadt durchliefen, daß in der nächsten Nacht bleiche, entsetzliche Gestalten an das Lager jener Ruhestörer getreten wären, sie zu fragen, was sie an dem alten Hause gewollt, gingen von der Zeit an Kinder wie Erwachsene in stiller, unheimlicher Scheu an der verschlossenen Thür vorüber. Niemand belästigte das alte Gebäude weiter, und die Volkssage füllte gar bald jene düsteren, durch gelbe, schwer- seidene Gardinen dicht verhängten Räume mit unheimlichen, spukhaften Gestalten und Wesen an.

Jahre vergingen indeß; von dem alten Hause wurde fast nicht weiter gesprochen, bis es der Nachtwächter wieder einmal in's Gerede bringen wollte. Er behauptete nämlich, und beschwor es hoch und heilig, mehrere Male Nachts zu unbestimmten Stunden Licht in einem der Fenster hinter den /9/ düsteren Gardinen gesehen zu haben; aber trotz allem Wachen und Aufpassen konnte Niemand weiter etwas Aehnliches entdecken.. Der Schimmer, den der Nachtwächter bemerkt haben wollte, war jedenfalls der Mond oder vielleicht auch der Wiederschein eines Lichtes aus der gegenüber liegenden Häuserreihe gewesen, und wer wußte überhaupt, was der außerdem halb blinde Mann da gesehen zu haben glaubte! Das Gerücht verlor sich wie es gekommen.

Auf der rechten Seite des „alten Hauses", das dort hlnaus gar keine Fenster zeigte, lag ein dazugehörendes kleines Grundstück, von dem Rathe der Stadt benutzt, um Bauholz abzulagern. Große Haufen aufgeschichteter Bretter und Balken thürmten sich hier empor, und waren von der Straße selbst nur durch eine hohe, weiß angestrichene Planke geschieden. Nach links zu schlossen sich dagegen die anderen Gebäude der Straße dicht daran an, und das nur durch die starke Brandmauer davon geschiedene Nachbarhaus gehörte dem Regierungs- und Stadtrathe Hechner.

Dieser hatte allerdings schon seit mehreren Jahren versucht, die an sein Grundstück stoßenden, unbenutzt liegenden Räumlichkeiten vergleichsweise und käuflich an sich zu bringen, aber ohne Erfolg. Beide Parteien schienen den geerbten Prozeß, den sie wohl verlieren, aber nicht verkaufen dürften, als eine Art Ehrensache zu betrachten.

Das Haus des Regierungsraths Hechner mußte übrigens mit dem sogenannten „alten Hause" in früherer Zeit, wenn nicht gerade dazu gehörig, doch in unmittelbarer Verbindung gestanden haben. Auf der halben Treppe, unter der ersten Etage, befand sich nämlich noch eine alte eiserne, niedrig gewölbte und von innen verriegelte Thür. Dieser frühere Communicationsweg zeigte jedoch nach außen weder Schloß noch Drücker, nicht einmal ein Schlüsselloch, sondern nur eine glatte, mit starken Barren verwahrte Fläche, die, wenn überhaupt, nur hätte von der innern Seite geöffnet werden können.

Aus Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit war aber diese Thür damals nicht mit versiegelt worden; oder man hatte sie auch als mit der Wand identisch angesehen und eine ge-/10/richtliche Verwahrung derselben nicht für nöthig befunden. Beim Malen der Treppe ließ dann später der Regierungsrath die Haspen und Querbarren soviel als möglich mit Kalk bewerfen, um deren Erhabenheiten weniger auffallend zu machen, und die Thür mit der andern Wand gleichmäßig anstreichen. Wer deshalb nicht wußte, daß sich dort eine Thür befand, konnte es nicht leicht erkennen.

Für Fremde wäre das nun auch vollkommen ausreichend gewesen. Für die Leute im Hause dagegen schien dieses Verheimlichen der Thür eher etwas Unbehagliches zu haben, dem sie allerdings keinen bestimmten Namen geben konnten, das sie aber nichtsdestoweniger störte und beunruhigte. Ein paar der Dienstboten kündigten auch ihrer wirklich vortrefflichen Herrschaft aus dem einzigen Grunde, weil sie sich fürchteten, Abends spät an dem versteckten Eingange vorüber zu gehen. Hinter der Thür sei es, wie sie sich nicht ausreden ließen, unter keiner Bedingung geheuer, und wenn sie Abends spät mit Wasser oder Holz da vorbei müßten, könnte die alte eiserne Pforte auch recht gut einmal von selber auffliegen und ihnen den Tod vor Schrecken bringen.

Die Eine behauptete dabei, sie hätte es einmal Abends dahinter klopfen, die Andere sogar, Jemanden schwer athmen hören, bis der Regierungsrath, des Geschwätzes müde, sie fortjagte und andere Leute in's Haus nahm. Er ärgerte sich aber doch über das dumme, abergläubische Volk, wie er es nannte, das sich nur immer die größte Mühe gab, einen Haken zu finden, um seine albernen Ideen daran zu hängen.

Regierungsrath Hechner war verheirathet, hatte aber nur eine einzige Tochter, ein elfjähriges Mädchen von überdies zarter, schwächlicher Gesundheit, und lebte in seiner kleinen Familie still und zurückgezogen. - Kinder sind übrigens für das Uebernatürliche oder Außergewöhnliche empfänglich, und geben sich demselben leichter und unbefangener hin, als Erwachsene. Ihr Geist ist noch nicht im Stande, die Grenzlinie zwischen dem Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen - wir dürfen kaum sagen: dem Möglichen und Unmöglichen - für sich selber abzustecken und zu befestigen. So hatte sich auch Marie, durch ihren erregten und kränklichen Zustand /11/noch empfänglicher dafür gemacht, viel und lebhaft mit dem alten Nachbarhause beschäftigt und, wenn die Eltern abwesend waren, das besonders mit Begierde aufgefangen, was die Mädchen im Hause darüber zu sagen wußten.

Daß in dem alten unbewohnten Gebäude dann und wann ein „Licht" umging, stellte sich ihr gegenüber auch bald als feste Thatsache heraus. Ebenso bezweifelte sie zuletzt, mit den Zeugnissen dreier, hintereinander abgehender Dienstleute, keinen Augenblick mehr die Existenz irgend eines unglücklichen, verbannten Wesens, das hinter der übermalten Thür an ihrer eigenen Treppe sitze und mit Ungeduld schon viele Jahre lang seiner Befreiung entgegen harre. Mit kindisch schauerlichem Behagen malte sie sich dabei die stillen Stunden selber aus, wie hinter den dichten und verblichenen seidenen Gardinen die alten prächtigen Möbel standen und schwere Teppiche lagen, die dicker Staub wohl lange schon bedeckte. Und an den Wänden hingen gewiß alte, düstere, lebensgroße Bilder der früheren, jetzt still in ihren Gräbern schlummernden Bewohner des alten Hauses - Männer mit unbequem steifen Halskrausen und langen Degen, und Frauen mit großblumigen, herrlichen Kleidern und hohem, wunderlichem Kopfputz, die erstaunt und finster auf die zu ihnen Eintretenden niederbückten und den Fremden, wohin sie gingen, mißtrauisch und unheimlich mit den Augen folgten.

Marie hätte Gott weiß was darum gegeben, das alte Haus einmal betreten zu dürfen. Das war wenigstens, wenn sie sich oben in ihrem sichern Stübchen befand, oft und oft ihr Wunsch gewesen. Kam sie aber Abends einmal von einem Besuche der in der nämlichen Straße wohnenden Tante zurück, und mußte sie an der geheimnißvollen Thür vorüber, dann schlug ihr das kleine Herz doch laut und ängstlich in der Brust, und sie drückte sich scheu und mit zurückgehaltenem Athem an der andern Seite der Treppe vorüber. Sie hätte auch darauf schwören wollen, schon selber zu verschiedenen Malen ein leises Seufzen und Klopfen hinter der Thür gehört zu haben, und einmal - sie vergaß den Schrecken in ihrem Leben nicht - war ein Stück Kalk, gerade als sie vorüberglitt, vom Anwurf über der Thür los-/12/gebröckelt und dicht neben ihr niedergefallen, als ob Jemand von innen dagegen gepreßt und dadurch den Kalk von der Wand abgedrückt hätte.

Marie war auch dieselbe Nacht noch wieder krank geworden, und das alte Haus spielte in der Zeit eine Rolle in allen ihren Träumen. Wenn sie aber aufwachte, wußte sie immer, daß es eben nur ein Traum gewesen. - Da drüben sah es doch gewiß ganz anders aus, als sie es in ihren Phantasien gesehen und sich ausgemalt.

Wunderbarer Weise scheute sie sich dabei aus irgend einem, ihr selber nicht klaren Grunde, der Mutter, der sie sonst nichts verheimlichte, von dem sonderbaren Einflusse zu sagen, den die alte Thür auf sie ausübe. Vielleicht war es die Furcht vor dem Vater, der so bös über den Aberglauben der Dienstmädchen wurde. Aber unwillkürlich kam ihr dabei auch das Gefühl, als ob sie es irgend Jemandem recht heilig versprochen hätte, mit Niemandem, wer es auch sei, darüber zu reden, und doch wußte sie, daß ihr noch keine Seele aus der weiten Welt ein solches Versprechen abgenommen haben konnte. Hing das etwa auch mit ihren Träumen zusammen? -

Wieder hatte ihnen ein Mädchen, der alten Thür wegen, gekündigt. Die Köchin, ein braves, arbeitsames und sonst auch resolutes Frauenzimmer, war vor einigen Abenden ziem- lich spät mit Geschirrscheuern beschäftigt gewesen, und hatte noch vor Schlafengehen, um nicht gleich am frühen Morgen danach laufen zu müssen, eine Tracht Wasser aus dem im Hofe befindlichen Brunnen heraufholen wollen. - Mit ihren beiden gefüllten Kannen - so wörtlich erzählte sie es am nächsten Morgen ihrer Herrschaft - kam sie denn auch langsam die Treppe herauf und blieb aus dem ersten Absatz gerade der Thür gegenüber, an die sie in diesem Augenblicke nicht einmal dachte, zum Ausruhen stehen. Da plötzlich - das heilige Abendmahl wollte sie darauf nehmen, daß sie die Wahrheit rede - hörte sie Jemanden dicht neben sich so recht aus tiefster Brust aufseufzen oder stöhnen. Sie sah sich rasch und erschreckt um; obgleich aber die Laterne, die gerade über ihr auf der Treppe hing, ein ziemlich helles Licht /13/ verbreitete, konnte sie weder nach oben noch nach unten etwas erkennen. Da fiel ihr die Thür ein. Während ihr ein kalter Schauder den Rücken herunterlief, griff sie ihre Wasserkannen auf, um so rasch als möglich die sichere Küche wieder zu erreichen. Da klopfte es auf einmal stark und wie ärgerlich inwendig gegen die Thür an, und eine leise Stimme rief ihren Namen, noch dazu ihren richtigen Namen, Susanne, denn mit dem Dienst im Hause hatte sie auch den für Köchinnen dort erblichen „Rieke" überkommen. Mehr wußte sie aber nicht zu sagen; denn die Kannen fallen lassen, daß sich das freigegebene Wasser in rascher Fluth treppab ergoß, die Stufen hinausstürzen und die Küchenthür hinter sich in's Schloß drücken und verriegeln, war das Werk eines Augenblicks gewesen. Selbst die oben an der Treppe vergessene Lampe wagte sie nicht wieder zu holen - sie mußte ausbrennen wo sie stand, und erst im Bette, unter der bis über den Kopf heraufgezogenen Decke, hatte sie es sich überlegt, ob sie um Hülfe schreien und die Hausbewohner wecken, oder es riskiren solle, da auszuharren, wo sie sich gerade befand. Unter dem Ueberlegen war sie eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erklärte aber die Köchin ihrer Herrschaft auf das Bestimmteste, Nachts oder überhaupt nach Dunkelwerden die Spuktreppe nicht wieder betreten zu wollen, und da sich das mit ihrer Arbeit natürlich nicht vereinigen ließ, kündigte ihr der überdies gereizte Regierungsrath ohne Weiteres wieder den Dienst. Solche stockdumme Dienstleute wollte er, wie er sich ausdrückte, überhaupt nicht in seinem Hause dulden. - Rieke - oder jetzt vielmehr wieder Susanne - war denn auch noch an demselben Nachmittage, vor Dunkelwerden abgezogen, und der Regierungsrath schien selber in einer Sache um Rath verlegen zu sein, die ihm schon zu viel Aerger und Verdruß gemacht hatte und noch zu machen drohte. Er konnte sie nicht gleichgültig vorübergehen lassen.

„Ich weiß bei Gott nicht, was ich am Ende thun soll," sagte er, indem er, die Hände auf dem Rücken zusammengefaßt, mit schnellen, ungeduldigen Schritten im Zimmer auf- und abging und endlich vor seiner an ihrem Nähtische sticken-/14/den Frau stehen blieb, - Marie lehnte, noch etwas leidend, in der einen Ecke des Sophas und blätterte in einem Bilderbuche. - „Wenn ich nicht noch immer die Hoffnung hätte, das alte Gebäude käuflich an mich zu bringen und dadurch meinen Platz hier um das Doppelte zu verwerthen, verkaufte ich wahrhaftig mein eigenes Haus und zöge in eine andere Straße, um nur nicht mehr den Wahnsinn mit anhören zu müssen."

„Wenn man die Thür nur könnte fest und dick vermauern lassen," erwiderte die Frau, „dann wäre dem ganzen Aberglauben gleich der Boden unter den Füßen fortgezogen."

„Ich kann ja den Rath nicht dazu bringen," rief der Regierungsrath in bitterem Unmuth, „und hab' ich nicht einmal selbst schon einen halben Verweis bekommen, als ich es nur auf eigene Hand versuchen wollte, die alte, verwünschte Thür aufzubrechen? Weil man in früherer Zeit übersehen hatte, diesen unglückseligen Aus- oder Eingang ebenfalls zu versiegeln, mögen sie jetzt nicht daran rühren, um unangenehme Erörterungen zu vermeiden, und wünschen das Eisenblech als identisch mit der Mauer zu betrachten."

„Dann bleibt uns doch am Ende nichts Anderes übrig, als auswendig eine Wand dagegen zu setzen," sagte die Frau.

„Und was wird dann mit der Treppe?" brummte ihr Gatte. „Du weißt, daß wir unser Instrument kaum jetzt heraufgebracht haben, und stellen wir noch eine einzige Ziegeldicke dazwischen, so sind wir ganz fertig. Das einzig Mögliche wäre, diesen Theil der Treppe vollkommen zu verbauen und von der anderen Seite des Vorsaales bis zu dem zweiten Absatze andre Stufen hinaufzuführen. Baulich ließe sich das machen, aber ich muß ja nachher wahrhaftig fürchten, daß ich der ganzen Stadt zum Gespötte werde und mein Haus den Namen eines Spukhauses bekommt. - Es fehlt jetzt schon nicht viel daran. Wenn der alte Major oben in der zweiten Etage nicht lauter männliche Bedienung hätte, wär' er auch schon lange ausgezogen. - Hast Du Dich schon nach einer andern Köchin umgesehen?"

„Die Schwester will mir noch heute ein gutes, gerade /15/ freies Mädchen herüberschicken," sagte seine Frau seufzend. „Lieber Gott! wenn es Einem nicht wirklich so schwer ankäme, die alten, liebgewonnenen Räume zu verlassen, ich wollte gleich sagen: laß uns das Haus lieber heute als morgen verkaufen. Diese kleinlichen Unannehmlichkeiten reiben zuletzt den stärksten Menschen auf. Und dabei immer wieder dieselben Albernheiten; es ist ordentlich, als ob es Eine der Andern sagte. Ein Glück nur, daß Rieke abgezogen ist, ehe das neue Mädchen eintrifft; wenn es die auch nachher erfährt, bekommt sie die unsinnige Geschichte doch nicht von dem albernen Geschöpfe selbst erzählt. - Es wäre doch am Ende besser, Hechner, Du ließest die andere Treppe einrichten. Die Leute reden allerdings kurze Zeit darüber, das ist wahr, aber bekommen es auch zuletzt satt, und wenn das mit dem Weglaufen der Dienstboten so fortgeht, macht es noch weit mehr Aufsehen, als eine bloße Veränderung der Baulichkeit."

„Nein," sagte der Regierungsrath, plötzlich stehen bleibend und seinen auf dem Instrumente liegenden Hut aufgreifend, „nein, ich weiß, was ich thue: der Rath darf nur meine Bitte, die Thür vermauern zu lassen, nicht langer abschlagen. Wenn er es aber doch thut, wenn er mich rücksichtslos dieser Unbequemlichkeit aussetzen will, nur um den einmal früher gemachten Fehler nicht einzugestehen, dann bin ich ihm auch keine weiteren Rücksichten schuldig. Dann erkläre ich ihm geradeheraus, daß diese unversiegelte eiserne Thür nun einmal keine Wand ist, sie mögen's drehen, wie sie wollen, und daß ich mich nicht länger dem Gerüchte aussetzen mag, von meinem Hause aus einen möglichen Eingang in das versiegelte Nachbargebäude zu haben. Ich bin mir das auch selber schuldig," setzte er, sich mehr und mehr in den Gedanken hineinarbeitend, hinzu; „denn wenn nachher da drüben vielleicht gar das Inventarium nicht richtig befunden würde, käme natürlich auf mein Haus der Verdacht eines Mißbrauchs zuerst. Die Leute glauben von ihren Nebenmenschen ja doch immer am liebsten das Schlechteste. Der Rath mag mir einen Rathsdiener mit herschicken, oder selber eine Deputation wählen, und in deren Beisein soll der Eingang unter jeder Bedingung vermauert werden. Ich habe /16/ das Gerede satt, und endlich muß einmal mit dem Treppenskandal Ruhe werden."

Er verließ rasch das Zimmer, und Marie lehnte sich auf ihr Kissen zurück und schloß die Augen, um das Gehörte ungestört von äußeren Eindrücken überdenken zu können. -

Die Mutter blieb noch eine lange Zeit schweigend und ihren Gedanken nachhängend bei ihrer Arbeit sitzen, endlich sah sie nach dem auf dem Sopha lehnenden Kinde hinüber und sagte leise:

„Schläfst Du, Marie?" -

„Nein, Mama - ich dachte an das alte Haus," sagte Marie fast unwillkürlich, und erschrak ordentlich, als sie das Wort gesprochen. Die Mutter schüttelte mit dem Kopfe und sagte halb lachend, halb verdrießlich:

„Was hast Du mit dem alten Hause zu thun? Du fürchtest Dich doch nicht etwa auch davor?"

„Nein, Mama."

Es entstand eine Pause. Die Mutter nahm ihre Nadel wieder auf und stickte weiter; endlich murmelte sie halblaut vor sich hin, und mehr mit sich selber, als zu der Tochter redend:

„Der alte Herr Quetzlinberger hätte auch etwas Gescheiteres thun können, als ohne ordentliches Testament zu sterben. Zeit hatte er doch wahrhaftig genug gehabt sein Leben lang."

„Wer ist der Herr Quetzlinberger, Mama?" fragte Marie.

„Der Herr Quetzlinberger? nun, der letzte Besitzer des Hauses, nach dessen Tode es eben verschlossen und versiegelt wurde. Jetzt können sich die Erben noch, wer weiß wie lange, darum streiten und ihr Geld darauf verprocessiren."

„Hast Du ihn gekannt, Mama?"

„Den Herrn Quetzlinberger? nein, mein Kind," lachte die Mutter, „der ist gestorben, ehe ich geboren wurde; aber Deine Großmama hat ihn noch gekannt. - Wir wohnten damals gerade gegenüber in dem gelben Hause mit den hohen Fenstern, wo Postrath Meiers jetzt wohnen. Mutter hat uns oft und viel von ihm erzählt." /17/

„Ich möchte auch so gern etwas von ihm hören, Mama."

„Lieber Himmel! das ist jetzt so lange her," sagte die Mutter, „daß ich mich nur noch auf sehr wenig zu erinnern weiß. Nur das schwebt mir noch vor, daß Herr Quetzlinberger, ein kleines, wunderliches, vertrocknetes Männchen gewesen sein soll, das ganze Tage lang in einem gelbseidenen Schlafrocke mit grellrothen Aufschlägen in seinem Erker da drüben gesessen und in einem großen Buche mit gelben Beschlägen gelesen habe. Dann und wann, erzählte Mutter, hätte er aber auch aus dem Fenster gesehen und den unten Vorübergehenden zur Kurzweil Gesichter geschnitten.“

,Und hat Herr Quetzlinberger ganz allein in dem alten Haus gewohnt?“ fragte Marie leise, „ist Niemand weiter bei ihm gewesen, der ihn pflegte als er krank wurde, und bei ihm blieb, als er starb?"

„Oh, doch wohl," sagte die Mutier- „eine Haushälterin besorgte Altes, was er brauchte, kochte sein Essen und wusch und scheuerte, und soll das alte Haus inwendig sehr blank und reinlich gehalten haben. Wie aber der Besitzer starb, war die Frau auch spurlos verschwunden, und obgleich man sie im Verdacht hatte, daß sie mit Geld und Geldeswerth durchgegangen sei, konnte sie doch nirgends mehr aufgefunden werden."

„Und war Niemand weiter bei den beiden Leuten?" fragte Marie nach einer längeren Pause, in der sie sich ordentlich Muth sammelte zu der neuen Frage.

„Darüber gingen ebenfalls wunderliche Gerüchte," sagte die Mutter. „Es war ein Knabe in der Wohnung des alten Herrn Quetzlinberger gesehen worden, sollte aber einen Tag vor dessen Tode mit der Wirthschafterin davongefahren sein. Überhaupt erzählten damals die Leute wohl eine Menge Geschichten; denn wo sich irgend Jemand vor ihnen zurückzieht, und gar etwas geheim hält, sind sie gleich mit eigener Auslegung und Erklärung da. So viel war gewiß, die alte Wirthschafterin blieb verschwunden, und man weiß wohl bis auf den heutigen Tag noch nicht, was aus ihr geworden."

Marie hatte bei Erwähnung des Knaben leise und langsam mit dem Köpfchen genickt, als ob sie das auch wisse und /18/ Alles ganz in Ordnung sei. Sie erwiderte aber kein Wort und schloß nur, wie vorher, die Augen. Die Mutter arbeitete indessen weiter und glaubte, daß die Tochter eingeschlafen sei.

II.

Drei Wochen mochten nach den oben beschriebenen Vorfällen verflossen sein, und der Regierungsrath Hechner hatte es indessen wirklich durchgesetzt, daß die in das alte Haus führende eiserne Thür im Beisein von zwei Rathsmitgliedern erbrochen, und der innere Raum - ohne weiter zu untersuchen, wohin der Gang führe, mit einer starken Mauer geschlossen werden solle. Damit war denn jede weitere Verbindung abgebrochen und der Aberglaube der Dienstleute hatte seinen Halt verloren. Die Veränderung selber sollte in den nächsten Tagen vorgenommen werden. Marie war in dieser Zeit auch wieder vollkommen wohl und gesund geworden. Aber ein anderer Feind hatte sich bei ihr eingestellt: ein heftiger Zahnschmerz, der, allerdings nur von hohlen Zähnen herrührend, die kaum gesammelten Kräfte doch wieder zu erschöpfen, die Nerven zu überreizen drohte. Alle dagegen angewandten Mittel blieben gänzlich erfolglos, und der Arzt bestand endlich darauf, die beiden schmerzhaften Zähne durch Herausnehmen zu entfernen und dadurch dem Körper die ihm so nöthige Ruhe zurück zu geben.

Marie hatte aber eine unsagbare Angst vor der Operation, und so ungern sich der Arzt dazu verstand, gestattete er doch endlich für das schwächliche Kind den Gebrauch des damals gerade eingeführten Chloroforms, weniger nachtheilige Folgen von der Wirkung des Aethers, als von der übergroßen Angst der armen Kleinen fürchtend. Selbst hiergegen wollte sich freilich Marie noch sträuben; da aber die Schmerzen immer zunahmen und der herbeigerufene Zahnarzt sogar eine Fistel fürchtete, blieb ihr endlich selber keine Wahl mehr, und sie verstand sich dazu, die Operation am Nachmittage vornehmen zu /19/ lassen. Der Nachmittag kam und der Schmerz war eher heftiger geworden. Der Zahnarzt wurde deshalb, ohne Marien weiter ein Wort davon zu sagen, mit seinem Apparate herüber bestellt. Als er mit dem Kästchen unter dem Arm in die Thür trat, erschrak das arme Kind wohl und fing an zu zittern, wagte aber doch keine Widerrede mehr. Nur um einen kleinen Aufschub bat sie, sich erst zu sammeln, nur um ein kleines Viertelstündchen, und als das verflossen war, um noch, und um noch eins. Die Mutter, die sich fast ebenso vor der doch ganz gefahrlosen Operation fürchtete, war zu schwach, ernsthaft auf rascher Beendigung derselben zu bestehen, so daß sich die Zeit mehr und mehr verzögerte und in der That schon langsam die Dämmerung hereinbrach.

Der Zahnarzt hatte sich indessen mit wirklich grenzenloser Geduld der Angst des Kindes gefügt, erklärte aber doch endlich, daß er entweder jetzt die Operation beenden, oder heute ganz davon abstehen müsse. Die Dunkelheit brach mehr und mehr herein, und er wünschte den Vortheil des Lichtes nicht zu verlieren. Da bezwang sich die Leidende; sie fing an, sich ihrer Schwäche zu schämen, und suchte in diesem Gefühl die Furcht zu überwinden, die sie vor dem bleichen Manne in dem schwarzen. Frack und mit dem entsetzlichen blankpolirten Kästchen erfaßt hatte. Der Mutter Arm nehmend, die rasch aufsprang sie zu unterstützen, erhob sie sich vom Sopha und ging selber zu dem schon Stunden lang bereitgeschobenen Lehnstuhl, setzte sich hinein und lehnte ihr Köpfchen in die eine Ecke. Beide Händchen preßte sie dabei gegen den jetzt wieder wie rasend beginnenden Zahn, und sah nun mit klopfendem Herzen, wie der entsetzliche Mann mit der eisernen Ruhe und den weißen ringbedeckten Fingern das Kästchen öffnete. Dort klirrte er ein paar Secunden lang mit seinen Instrumenten, goß dann eine helle Flüssigkeit auf einen Schwamm und kam auf sie zu.

„Es ist ja nur ein Augenblick, mein liebes, süßes Kind," bat die Mutter; „halte Dich nur wenige Secunden still, und Alles ist vorüber und überstanden. - Wenn nur der Vater zu Hause geblieben wäre!"

Der bleiche Zahnarzt lächelte, sagte jedoch kein Wort, und /20/ Marie schaute fest und entschlossen zu ihm auf. Aber - die rechte Hand hielt er etwas zurück; schon hob er den linken Arm mit dem Schwamm, da fiel ihr Blick auf das blitzende Instrument, das er, halb versteckt, in der zurückgebogenen Rechten zu verdecken suchte. In dem einen Moment kehrte bei ihr die alte Furcht und Angst zurück, und mit einem gellenden Schrei, ehe selbst die Mutter sie daran verhindern konnte, sprang sie wieder vom Stuhle auf und der Thür zu.

„Marie!" rief die Mutter erschreckt und bittend, „Marie, wo um Gottes willen läufst Du hin?"

Aber Marie ließ sich durch den Ruf nicht halten, denn zu gleicher Zeit hörte sie auch, wie der entsetzliche Doctor hinter ihr dreinsprang, um sie einzuholen. In der jetzt nur noch vermehrten Angst, von dem fürchterlichen Manne mit den blitzenden Instrumenten gar mit Gewalt gefaßt und gezwungen zu werden, floh sie die Treppe nieder, Schutz drüben bei der Tante zu suchen, die so gut und freundlich mit ihr war. Aber die Verfolger waren dicht hinter ihr. Schon konnte sie die Schritte fast neben sich hören, und die weiße Hand des Arztes, an der die funkelnden Ringe staken, streckte sich nach ihr aus, sie zu erfassen. Mit einem wahren Angstschrei floh sie den ersten Treppenabsatz nieder, da fiel in diesem entsetzlichen Moment ihr Blick aus die bemalte geheimnißvolle Thür des alten Hauses, neben der sie sich befand und die - ein eisiger Schauer zog ihr durch Mark und Bein - halb geöffnet stand.

„Bst - bst!" rief dabei eine leise Stimme, und ein bleicher, schlanker Knabe, von zwölf oder dreizehn Jahren vielleicht, stand auf der Schwelle und winkte ihr rasch und ängstlich, zu ihm herein zu flüchten.

„Um Gottes willen," stammelte Marie - aber hinter ihr sprang Jemand die Stufen herunter, und als sie den Kopf scheu dorthin wandte, sah sie die gierig nach ihr ausgestreckte Hand des Arztes.

„Marie," flüsterte dabei das liebe, fremde Kind dicht neben ihr, und selber kaum wissend, was sie that - halb besinnungslos in Angst und Aufregung, schlüpfte sie durch die eben weit genug geöffnete Thür, die sich augenblicklich wieder /21/ hinter ihr schloß. Noch immer aber sich nicht sicher glaubend, wollte sie weiter den Gang hinunter fliehen, um fort, nur aus der Nähe des mehr als alles Andere gefürchteten Arztes zu kommen, als der Knabe sie am Arm festhielt und lächelnd flüsterte:

„Bleib ruhig stehen, Marie; hier können sie nicht her, wenn wir sie nicht hereinlassen wollen. Horch, wie sie hin- und herlaufen und sich den Kopf zerbrechen, wo Du auf einmal hingekommen bist. Hahahaha - ich kenne sie und habe sie oft und oft behorcht, wenn sie aus der alten, hohlklingenden Treppe auf und nieder liefen. Aber Du hast Schmerzen, armes Kind - warte, davon helf' ich Dir gleich."

Dabei strich er ihr nur ein einziges Mal mit der Hand über das fieberglühende Antlitz, und Marien war es, als ob er mit dem einen eiskalten Finger den Zahn berühre. Im Nu verschwand da der Schmerz, und sie fühlte sich leicht und wohl.

„So, Marie!" sagte da der fremde Knabe freundlich, „jetzt komm mit mir, denn da Du doch nun einmal bei mir bist, so zeige ich Dir auch jetzt die eigene Heimath. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!"

„Marie, meine Marie!" rief in diesem Augenblicke der Mutter Stimme in Todesangst draußen auf der Treppe, und Marie zögerte ängstlich. Der Laut klang gar zu wehmüthig zu ihr herein.

„Wir bleiben nicht lange," flüsterte ihr aber der Knabe zu, „nur bis der Doctor fort ist."

„Der Doctor!" schauderte Marie, und draußen hörten sie sein feines, höfliches Lachen, und es kam ihr fast vor, als ob sie das Klirren der Instrumente, wie der Stahl klingend zusammenstieß, unterscheiden konnte.

„Fort, fort!" stöhnte sie und floh so rasch den dunkeln schmalen Gang entlang, daß ihr der fremde Knabe kaum zu folgen vermochte, bis sie eine verschlossene Thür erreichte und dort stehen bleiben mußte.

„Siehst Du," lachte der Knabe hinter ihr drein, „so ist's, wenn man hinter verschlossenen Thüren sitzen und warten muß und nicht hindurch kann. Aber nur vorsichtig, Marie! /22/ hier sind Stufen - tritt leise auf," setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu, „und sprich kein Wort, bis ich selber es Dir sage. Wir dürfen den alten Mann nicht böse machen."

„Welchen alten Mann?" flüsterte Marie mit kaum hörbarer Stimme furchtsam zurück.

„Nun, den Herrn Quetzlinberger, wen denn sonst? Dem gehört ja das Haus."

„Ja, dem Herrn Quetzlinberger," hauchte Marie mehr, als sie sprach. Der Knabe drückte ihr aber wieder leise den Finger auf die Lippen und öffnete auch in demselben Augenblick eine hohe und, wie sie beim Oeffnen sah, wunderlich geschnitzte Thür. Dann aber wollte ihr das Blut fast in den Adern stocken, denn vor ihr lag - sie deckte die Augen einen Moment mit der Hand, das konnte und mußte ja doch nur ein Traum sein - nein, vor ihr lag in voller, unverkennbarer Wirklichkeit das Hauptzimmer des alten Hauses, mit seinen gelbseidenen niedergelassenen Gardinen, mit dem schweren Teppich, den alten, aus dunkelm Eichenholze gar sonderbar geschnitzten und vergoldeten, aber auch weichgepolsterten Möbeln, und den polirten und ebenfalls zierlich geschnittenen Nußbaumwänden, an denen alte, kaum noch er- kennbare mächtige Bilder hingen.

Eins von diesen fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen. Es stellte einen jungen Mann in Lebensgröße dar, mit hochgepudertem Haar und reich bordirtem, hellgelbem Seidenrocke; das Gesicht sehr roth und weiß, und die ganze helle Figur aus dem fast schwarz gedunkelten Hintergrunde des Zimmers herausspringend.

„Herr Quetzlinberger," flüsterte da der Knabe leise, der dem auf das Bild gehefteten Blicke seines jungen Gastes mit den Augen gefolgt war. Er deutete dabei vorsichtig mit der Hand nach dem schon fast düstern Erker hinüber, wo Marie jetzt zu ihrem Entsetzen die Gestalt des kleinen Mannes erkannte, gerade wie ihn die Großmama in dem gelbseidenen Schlafrocke mit den grellrothen Aufschlägen beschrieben haben sollte, und der jetzt zwischen den fest zusammengezogenen Gardinen vorsichtig nach der Straße hinunter blinzelte. Wie das aber so eigenthümlich ist, daß wir den eigenen /23/ Namen, der in unserem Umkreise, oft selbst außer Gehörweite ausgesprochen wird, fast mehr fühlen als verstehen und uns unwillkürlich, manchmal sogar unbewußt, danach umdrehen, so wandte auch die Gestalt im Erker, die den leisen Ton unmöglich gehört haben konnte, den Kopf halb zur Seite, und ihr Blick fiel in diesem Moment auf das kleine Mädchen, das zitternd in der Mitte der Stube stand.

Herr Quetzlinberger sah sie ein paar Secunden still und forschend an, hob dann langsam die Hand auf und drohte ein klein wenig mit dem Finger. Aber er sah nicht böse dabei aus, und es war mehr, als ob er Ruhe gebieten wolle.

„Er kommt heute wieder nicht," sprach er dabei leise vor sich hin und schüttelte traurig mit dem Kopfe; „es ist schon fast dunkel und er läßt sich noch nicht sehen."

Marie sah fragend zu ihrem Führer auf, der aber legte warnend den Finger auf seine Lippen und zog Marien mit sich auf die gegenüberliegende Seite der Stube, wo gerade unter dem großen Bilde ein breitmächtiges, weich gepolstertes und mit schwerem Seidenzeuge überzogenes Kanapee stand. In dessen eine Ecke drückte er sich hinein und winkte dem Mädchen, neben ihm Platz zu nehmen.

In dem großen Zimmer war es indessen ganz dunkel geworden - dunkel und still. Von gegenüber aber, und wie es Marien so vorkam, von einer breiten, hochbeinigen Commode nieder, schaute ein anderes, fast weißleuchtendes Gesicht aus dem vollkommen unerkennbaren Hintergrunde heraus. Es war dies das Gesicht eines jungen, bildschönen Mannes, auch natürlich in der Tracht damaliger Zeit, doch mit edlen, offenen Zügen, aus denen nur ein trüber, gar so schwermüthiger Ernst sprach. Marien kam es aber fast vor, als ob das gar kein Bild sein könne und die Gestalt mit den lebhaft klugen Augen und den halb geöffneten, wie sprechenden Lippen dort oben in Wirklichkeit stehen müsse und jeden Augenblick herunterspringen könne. Links von dem Erker, wo an der schmalen Wand eines starken Vorbaues ein schmaler hoher Spiegel in goldgeschnitztem Rahmen angebracht war, stand unter diesem ein kleiner Pfeilertisch mit Marmorplatte /24/ und eingebogenen vergoldeten Beinen. Auf diesem lag ein großes aufgeschlagenes Buch voll schwarzer und rother Buchstaben mit großen gelben Beschlägen, wie es die Großmutter beschrieben. Die Brille zwischen den Blättern verrieth auch, daß der alte Herr erst ganz kürzlich darin gelesen und den Band vielleicht erst weggelegt hatte, als es anfing dunkel zu werden. Auf der Commode stand eine Uhr, wie ihr Vater eine ganz ähnliche, ein Erbstück aus alter Zeit, in seinem Studirzimmer hatte. Der Perpendikel ging auch in regelmäßigen Schwingungen herüber und hinüber - aber vollkommen geräuschlos. Nicht das geringste Schnarren oder Klappern konnte sie hören. Lautlos schwang er hin und her, und ebenso rückte der Zeiger nach, das unerbittliche Schreiten der Zeit verkündend.

Keins sprach von da an mehr ein Wort, und Marie schloß die Augen. Es war ihr dabei fast, als ob sie nun wieder daheim in der eigenen Stube in dem bekannten Lehnstuhl sitzen müsse und nur um sich zu schauen brauche, um gleich zu wissen, daß irgend ein toller, wunderlicher Traum sie geneckt. Und doch fühlte sie, daß es kein Traum sei, selbst noch ehe sie die Augen wieder öffnete. Die ganze Luft um sie her war anderer Art; das Sopha, auf dem sie lehnte, so leicht und elastisch, als ob sie mehr darauf schwebe wie ruhe, und das fremde, wunderbare Wesen selbst dort drüben im Erker - deutlich hörte sie es seufzen, und als sie, darüber erschreckt, die Augen aufschlug, hatte es sich von seinem Sitze erhoben und ging langsam, mit den Pantoffeln eben hörbar auf dem weichen Teppich schleppend, durch das Zimmer, durch dessen andere Thür es verschwand.

Marie sah das Alles und wunderte sich dabei, daß sie bei all' dem Unheimlichen, Grausenhaften um sie her so ruhig blieb und sich so gar nicht fürchtete. Aber der freundliche Knabe an ihrer Seite hatte seine Hand wieder auf ihren Arm gelegt, und mit der Berührung war es ihr fast, als ob ihr nun gar nichts Böses von irgend Jemandem geschehen könne.

„Nun muß ich aber wieder hinübergehen," sagte sie endlich, als der junge Bursche aufgestanden war und eine Weile /25/ hinter dem alten Herrn hergehorcht hatte - „die Mutter ängstigt sich doch sonst um mich."

„Jetzt?" lachte aber der Knabe, „jetzt essen wir ja erst zu Nacht, und da mußt Du ja doch unser Gast sein. Hörst Du nicht die alte Margareth draußen mit den Schlüsseln klimpern? das ist stets ihr Zeichen. Heute hat es überdies so lange gedauert."

„Die alte Margareth?"

„Nun ja, unsere Haushälterin."

„Von der hat mir aber ja Mama neulich erzählt," sagte Marie ganz erstaunt, „daß sie spurlos verschwunden wäre und kein Mensch wieder etwas von ihr gehört hätte. Ist das nicht wahr?" Der Knabe lachte leise vor sich hin und sagte kopfschüttelnd:

„Da draußen mögen sie sich wunderliche Dinge erzählen, ihre Spanne Zeit durch, und sie kommen und gehen. Einer hört's vom Andern und Jeder thut das Seine noch dazu. Laß Dich das nicht kümmern, Marie; siehst Du, da kommt sie schon. So, nun gieb mir Deine Hand, und ich führe Dich hinüber in den Speisesaal."

Marie sprang von ihrem Sitze auf, als sich die Thür auch öffnete und eine alte Frau mit einer, das gelbe Gesicht dicht umschließenden spitzen, hohen weißen Mütze den Kopf ins Zimmer steckte und ein freundliches „Es ist angerichtet!" hereinrief. Da nahm der Knabe die Hand des Mädchens und führte es über den sammetweichen, dicken Teppich der Nebenstube zu. Diese öffnete er, und ein heller, blendender Lichtstrahl schoß ihnen daraus entgegen.

„Aber, mein Gott, da hat der alte Nachtwächter ja doch Recht gehabt!" rief Marie fast unwillkürlich aus.

„Ja, sieh nur nach den Gardinen, Margareth," lachte der Knabe, der ihr aber jetzt schon viel größer und älter vorkam als vorher, „daß der alte Narr nicht wieder die ganze Straße in Aufruhr bringt, wie neulich einmal. Und nun komm, Mariechen; setz' Dich zu uns und thu, als ob Du bei Dir zu Hause wärest. Du bist gern gesehen bei uns, und wir haben uns lange darauf gefreut, Dich einmal hier /26/ zu bewirthen; hätten aber doch lange darauf warten müssen, wenn der Doctor heute nicht gekommen wäre."

Marie konnte nichts erwidern, denn zu viel des Neuen, Unbegreiflichen umgab sie hier. Der Kopf wirbelte ihr ordentlich.

Das Speisezimmer stieß dicht an das Wohnzimmer, mußte auch in früherer Zeit gar prachtvoll mit gelber Seide tapeziert gewesen sein, wie denn überhaupt Gelb die Lieblingsfarbe des Hauses schien. Die helle Beleuchtung verrieth hier aber doch, daß die Jahre den Wänden arg mitgespielt. Die Seide hing an sehr vielen Stellen in Streifen herunter und war verschossen und abgebleicht, die Spiegel sahen blind und fleckig aus, und nur die mächtigen Stühle und Schränke standen noch in alter Stattlichkeit. Sie hatten dem Zahn der Zeit trotzig die Stirn geboten, und das Einzige was er vermochte, war vielleicht, ihrem Holze einen dunkleren Glanz zu geben und das Zimmer dadurch allerdings noch düsterer zu machen.

„Nun, gefällt es Dir nicht bei uns?" fragte der Knabe.

„Gewiß, gewiß," sagte schnell Marie; „ich hatte mir das hier Alles nur ganz anders gedacht," setzte sie dann langsam und schüchtern hinzu. „Ich glaubte früher, der Staub müsse auf den alten Möbeln handhoch liegen."

„Da kämest Du bei Margareth schön an," lachte der Knabe; „siehst Du, die geht nicht einmal von einer Ecke des Zimmers in die andere, ohne das Wischtuch in der Hand zu haben."

Die alte Wirthschafterin hatte sich bis dahin eifrig damit beschäftigt, die Gardinen und Vorhänge nachzusehen, ob sie auch alle vollständig und doppelt verhängt wären, und drehte sich jetzt zum Licht, als Marie erstaunt ausrief:

„Aber die kenne ich ja auch! Das ist ja die Frau Bause aus der Scharrenstraße, die den kleinen Laden hat, und den Leuten Schmerzen bespricht, und aus Karten und Kaffeesatz künftige Schicksale phrophezeit."

Die alte Frau schmunzelte still und selbstzufrieden vor sich hin und sagte:

„Ich weiß wohl, Mariechen, Du bist ein braves Kind, /27/ und sollst den schönsten Bonbon haben, den ich im Laden finde, wenn Du einmal wieder zu mir kommst; aber prophezeien thue ich Dir nichts."

„Und warum nicht, Frau Bause?"

„Ja, Kinder, ich habe jetzt keine Zeit zum Plaudern," sagte die Alte geschäftig. „Der Herr Qnetzlinberger werden gleich da sein, und dann muß auch das Essen auf dem Tisch stehen."

Ihre Schlüssel aufgreifend, warf sie dabei einen Blick nach rechts und links im Zimmer umher, ob auch Alles in Ordnung sei, und mit ihrem Tuche noch im Vorbeigehen über die eine Commode fahrend, möglicher Weise aufgeflogenen Staub sorgfältig mit fortzunehmen, verschwand sie rasch durch die hintere Thür.

Der Knabe blieb mit Marie im Zimmer stehen, ohne an dem runden Tische, auf dem für vier Personen gedeckt war, Platz zu nehmen. Marie sah aber fragend und auch ein wenig neugierig zu ihm auf; denn in dem dunkeln Zimmer war sie bis jetzt noch gar nicht im Stande gewesen, sein Gesicht deutlich und ordentlich erkennen zu können.

Der junge Bursche mochte ihrer Meinung nach wohl fünfzehn Jahre zählen, und sein Gesicht war zart und selbst schön zu nennen. Die dunkeln, kastanienbraunen Locken kräuselten sich ihm leicht und weich um die hohe Stirn, und die feingeschnittenen Lippen zeigten ein Paar Reihen blendendweißer Zähne. Auch die Augen waren lebhaft und feurig. Dennoch lag etwas in ihnen, das sie schüchtern von ihm zurücktreten machte, wenn sie sich auch keinen Grund dafür anzugeben wußte - und doch lächelte er so freundlich zu ihr nieder. Wunderbarer Weise zog sich ihm eine feine Narbe quer über die ganze Stirn, oben von der rechten Seite bis hinunter und über den linken Schlaf laufend. Und doch war es auch kaum eine Narbe zu nennen, sondern glich mehr einem scharf darüber hingezogenen Schnitte, der gerade nur die Haut verletzt haben konnte, weil er sonst hätte den ganzen Kopf von einander legen müssen.

Wie sie aber noch furchtsam zu der Narbe aufsah und der Knabe sie anlächelte, ging plötzlich die andere Thür auf, und /28/ Herr Quetzlinberger, jetzt nicht mehr im Schlafrock, sondern in einem hochgelben seidenen Frack mit reicher Stickerei, trat herein. Er trug dabei die Haare schön und sorgfältig gepudert, daß das zierlich gedrehte, schlanke Zöpflein, ein wenig nach der linken Schulter hinüberneigend, ihm keck und etwas nach oben gebogen hinten ausstand; dabei ein kleines dreieckiges Hütlein in der Hand, das er aber augenblicklich wieder ablegte, und kurze, ebenfalls gelbseidene Hosen, Strümpfe und Schnallenschuhe.

Mit einer freundlichen, aber etwas formellen Verbeugung gegen das Kind, die dieses in die größte Verlegenheit setzte, ging er jetzt auf den nächsten Stuhl zu, auf den er sich niederließ, und Margareth, die hinter ihm eingetreten war, legte ihm eine große weiße Serviette vorn über die gelbseidene Weste und band sie hinten in einem großmächtigen Knoten zusammen, daß die beiden Zipfel nach rechts und links hinausstanden.

„Aber, Gundelrebe," sagte der alte Herr da plötzlich, als er sich die Serviette gerückt, eine große Tabaksdose aus der Tasche genommen und neben sich niedergestellt, und den Hals ein paar Mal hin und her gedreht hatte, weil ihm die Margareth wahrscheinlich den Knoten etwas zu fest gebunden, „warum führst Du denn Deinen kleinen Gast nicht zu Tisch? Das Essen wird kalt und die Margareth nachher wieder böse."

„Heißt Du Gundelrebe?" fragte Marie den Knaben leise.

„Nicht wahr, das ist ein wunderlicher Name?" lächelte dieser, „aber Onkel nennt mich immer so. Doch nun komm, setze Dich hierher und lange zu und iß und trink. Wenn Du satt bist, führe ich Dich wieder hinüber auf die Treppe."

„Und darf ich dort Alles erzählen, was ich hier gesehen?" fragte die Kleine schüchtern.

„Warum nicht, mein Kind?" lachte da der alte Herr, der indessen schon tüchtig zugelangt hatte und mit beiden Backen kaute. „Warum nicht, mein Herzchen? Sie werden Dir's nur nicht glauben."

„Ich habe noch nie gelogen," sagte Marie. /29/

Der alte Herr Quetzlinberger lachte, wie er das hörte, dermaßen, daß ihm der Bissen, den er gerade im Munde hielt, vor die Luftröhre kam und er furchtbar anfing zu husten. Nachher fing er noch einmal von Neuem an zu lachen, drehte sich dann nach der hinter ihm stehenden Margareth herum und blinzelte sie mit den kleinen verschmitzten Augen gar so komisch an. Die Margareth aber schüttelte den Kopf, und die Haube darauf wurde immer größer und weißer, und zuckte wie in Strahlen nach der Decke hinaus. Das Flüstern des Knaben an ihrer Seite klang Marien dabei wie das Knistern eines lustigen Feuers im Ofen, und in aller Verlegenheit hob sie den schon eine ganze Weile auf der Gabel gehaltenen Bissen an den Mund. So delicat duftete ihr aber die fremdartige Speise entgegen, daß sie bald alles Andere darüber vergaß.

„Oh, wie herrlich das riecht!" rief sie erstaunt aus, „wie nach Vanille und Zucker und Rosen! So etwas habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet!"

„Spucken Sie aus, Mariechen, spucken Sie aus!" rief ihr aber die Frau Bause in dem Augenblick, über den Herrn Quetzlinberger weg, zu, „sonst bleiben Sie hier drüben bei uns und können nie wieder hinüber zu Ihrer Frau Mama."

Und wie sie das sagte und Mariechen den Bissen im Munde vor Schrecken festhielt, drehte sich der Herr Ouetzlinberger ärgerlich nach der Frau Bause um, legte sein Messer hin und faßte seine große Dose, als ob er ihr die an den Kopf werfen wollte.

„Iß nur, Mariechen, und laß Dir's schmecken," flüsterte jetzt Gundelrebe an ihrer Seite, „die Frau Bause hat nur Spaß gemacht, und der Onkel wird ihr gleich den Kopf mit der Dose herunterwerfen."

Aber Marie sah nur den Serviettenzipfel und die große spitze Haube, die in weißen Lichtern nach der Decke hinauf auszuckten und blitzten. Zwischen den funkelnden Strahlen heraus, unbekümmert um diese wie um die nach ihr zielende Tabaksdose, rief dabei die Frau Bause immer noch: „Spucken Sie aus, spucken Sie aus!" und jetzt war es Marien plötzlich, als ob ihr die Stimme so bekannt vorkomme und die Frau /30/ Bause das eigentlich gar nicht gerufen hätte. Die Warnung kam ja von Jemandem, der dicht hinter oder neben ihr stand, und den sie bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. War das der für das vierte Couvert erwartete Gast? Kaum hob aber das Köpfchen, so blickte sie in das todtenbleiche lächelnde Gesicht des Zahnarztes, der ihr nachgekommen sein mußte, und wie sich das Zimmer in Schrecken und Entsetzen mit ihr zu drehen anfing, und die regenbogenfarbigen Streifen der Serviettenzipfel und Haubenbänder zu vielfarbigen Kreisen wurden, schloß sie die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück.

„Spuckem Sie nur gefälligst aus!" sagte da die Stimme wieder dicht neben ihr, und eine andere rief: „Gott sei tausendmal gelobt, sie kommt wieder zu sich!"

„Mutter!" rief Marie, halb erschreckt, halb erfreut die Augen zu der geliebten Stimme aufschlagend, „wie bist Du hier hereingekommen?" - Sie fühlte dabei, wie sie in dem Arm der Mutter lag, die sie vornüber gebeugt hielt. Vor ihr aber kniete der entsetzliche Mann mit den Stahlinstrumenten und hielt ein Waschbecken in der Hand, in dem Blut war. Als sie jedoch davor zurückschrecken wollte, rief die Mutter wieder mit zitternder Stimme:

„Sei ruhig, mein Kind - es ist ja Alles glücklich vorüber. - Ach, ich habe es ja gleich gefürchtet, daß es sie zu sehr angreifen würde."

„Aber wie bin ich den wieder hier herübergekommen?" sagte Marie, erstaunt und überrascht dabei um sich herschauend. Sie lag wieder in demselben Lehnstuhl, aus dem sie vor dem schrecklichen Manne geflohen, und weder von Herrn Quetzlinberger noch Gundelrebe war das Mindeste zu sehen. - „Wo ist denn - wo ist denn die Frau Bause?"

„Die Frau Bause!" sagte die Mutter erschreckt; der Arzt winkte ihr aber heimlich zu, der eben Erwachten nicht gleich zu widersprechen, und sagte leise und beruhigend:

„Sie ist eben fortgegangen, liebes Kind. Sehen Sie, nun haben Sie sich vor dem Schmerz gefürchtet, und doch noch nicht das Mindeste, davon gefühlt, nicht wahr? Da, da liegen jetzt die beiden bösen Zähne, die Ihnen so heftiges /31/ Weh verursacht haben. Es sind aber auch recht häßliche Knochen, und der eine hat wirklich eine starke, schon fast reife Fistel, die Ihnen noch hätte viel zu schaffen machen können. Es war die höchste Zeit, daß sie herauskamen. Nun ist aber auch Alles überstanden, und Sie werden in ein paar Tagen wieder so gesund und munter herumspringen, wie nur je."

„Und der Herr Quetzlinberger?" sagte Marie leise.

„Aber, Mariechen!" bat die Mutter, ihre Stirn streichelnd.

„Lassen Sie nur, lassen Sie nur, beste Frau Regierungsräthin," beschwichtigte sie der Arzt. „Das giebt sich Alles von selber wieder."

„Ich habe ihr neulich von dem alten Mann erzählt," sagte die Mutter, noch immer mit ängstlicher Besorgniß in den Zügen, „und das hat sich ihr jetzt am Ende in den Kopf gesetzt."

„Sie hat das geträumt," lächelte der Arzt; „wir haben davon manchmal die wunderlichsten Beispiele, und bei den gefährlichsten Operationen singen die Kranken nicht selten, oder träumen die schönsten, angenehmsten Sachen. Lassen Sie die Kleine eine Stunde schlafen, dann ist Alles vorüber und das Ganze wie ein Rausch verflogen, mit dem es auch in seinen Wirkungen eine Aehnlichkeit hat."

Marie blickte in Zweifel und Schwanken zu dem Sprechenden auf, aber der Einfluß des Aethers lag noch zu lähmend auf ihrem Geiste, um sie schon irgend einen Gedanken klar fassen zu lassen.

„Nur ein Traum," hauchte sie leise, und sank dann, die Augen schließend, in den Stuhl zurück, wo sie bald darauf in einen leisen, wohlthätigen Schlummer fiel.

Der Arzt verließ, von seinem Erfolge vollkommen befriedigt, leise das Zimmer, und die Mutter saß neben dem kranken Kinde und bewachte mit liebender Sorgfalt, aber auch mit schon halb getröstetem Herzen die ruhigen, regelmäßigen Athemzüge der Schlafenden. /32/

III.

Marie schlief die ganze Nacht ununterbrochen, aber nicht so sanft und ruhig fort, wie nach der ersten erschlaffenden Wirkung des Aethers. Sie träumte lebhaft, sprach oft einzelne unzusammenhängende Worte, lachte einige Mal und faßte auch wohl krampfhaft und wie ängstlich der Mutter Hand, die nicht von ihrer Seite wich. Nichtsdestoweniger stand die Sonne schon hoch am Himmel, als sie endlich erwachte, oder vielmehr die Augen öffnete, und halb träumend noch umherschaute. Kurz vorher hatte der Hausarzt das Zimmer wieder betreten und hielt jetzt die linke Hand, den Gang des Pulses zu fühlen, während ihre Rechte in der der Mutter ruhte.

„Mutter," flüsterte das Kind endlich leise, „liebe Mutter!"

„Ja, mein Kind, ich bin bei Dir," sagte diese, sie an sich drückend und küssend. „Ich gehe nicht fort von Dir. Halte Dich nur ruhig, und Du wirst bald wieder vollkommen wohl sein."

„Und darf ich dann auch wieder einmal zum Herrn Quetzlinberger und zu Gundelrebe hinüber, liebe Mutter?" fragte Marie. Die arme Frau seufzte recht tief auf, denn was das Kind aus seinem Traume sprach, klang ihr gar zu unheimlich.

„Besinne Dich doch nur, Mariechen," bat sie endlich mit zärtlicher Stimme; „Du hast ja das Alles nur, von dem Aether betäubt, geträumt und bist ja die ganze Zeit nicht hier aus dem Lehnstuhl, nicht aus der Stube hinaus gekommen."

„Nicht?" sagte Marie, rasch und erstaunt zu ihr aufschauend, „und ich wäre nicht nebenan in dem alten Hause gewesen?"

„Mit keinem Fuße, Kind."

„Aber die Thür stand doch offen."

„Welche Thür?"

„Nun, die an der Treppe, an der Gundelrebe schon so oft geklopft hat, wenn ich oder jemand Anderes vorüberging." /33/

„Gundelrebe? wer um Gottes willen ist Gundelrebe?" fragte die Mutter, der die Thränen in die Augen traten.

„Gundelrebe? ei, das ist ja der Neffe des alten Herrn Quetzlinberger, der die feine, schmale Narbe über der Stirn hat."

Der Arzt hatte indessen noch immer ihre Hand gehalten; den Puls aber vollkommen frei von Fieber fühlend, sagte er freundlich:

„Du bist gestern nicht aus der Stube gekommen, liebes Kind, und wie Dir Deine Mutter sagt, ist sie nicht von Deiner Seite gewichen; das darfst Du glauben. Wenn Du also wirklich fortgewesen wärest, müßte sie Dich doch gleich vermißt haben, nicht wahr? Ueberdies möchte es Dir auch schwer geworden sein, in das alte Haus hinein zu kommen."

„Aber ich bin nun doch einmal drüben gewesen und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen," sagte tief erröthend das Kind. Es fiel ihm jetzt wieder ein, was ihr der alte Herr Quetzlinberger gesagt hatte, daß es ihr Niemand glauben würde, und wie er dann fast erstickt war von heftigem Husten. Sie deckte dabei ihre bleiche Stirn mit beiden, fast durchsichtig dünnen Händchen und hielt eine ganze Zeit lang die Augen geschlossen. Unten von der Treppe schallte indessen Hämmern und Pochen herauf, und nachdem Marie kurze Zeit dem fremdartigen Geräusch, auf das sie erst nach und nach aufmerksam wurde, gelauscht hatte, fragte sie leise:

„Was ist das, Mama?"

„Das ist die häßliche Thür," erwiderte die Mutter, indem sie liebkosend das Haar von der Stirn der Kranken strich, „die häßliche Thür, die uns schon so viel Aerger, Noth und Sorge gemacht hat, und die der Rath der Stadt endlich auf Deines Vaters ernste und entschiedene Vorstellungen zu¬mauern läßt."

„Die Tür ist offen?" rief aber Marie schnell; „siehst Du, Mama, daß ich Recht gehabt und nicht gelogen habe?"

„Aber Du hörst ja, daß sie erst heute Morgen geöffnet wurde! rief die Mutter - „die Leute haben erst vor kaum einer halben Stunde damit begonnen." /34/

„Und darf ich einmal hineingehen in den Gang?" fragte schüchtern Marie.

„Gott bewahre!" rief da rasch der Arzt, „wir müssen jede solche unnöthige und thörichte Aufregung streng vermeiden, und man soll um Gottes willen nicht mit solch' albernen Geschichten spielen und Mißbrauch treiben. In die alte, unnütze Thür kommt jetzt, wie mir die Leute unten sagten, eine vier Fuß dicke Mauer, und das wird dem verrückten Mädchenschnack hier im Hause endlich einmal ein Ziel setzen. Der Herr Regierungsrath hätte das schon lange betreiben sollen."

„Eine vier Fuß dicke Mauer!" seufzte Marie leise vor sich hin; „aber du lieber Gott, da kann ja..." Sie hielt plötzlich ein und blickte still und erröthend vor sich nieder, als ob sie sich scheue, das auszusprechen, was sie gerade überdacht.

„Was, mein liebes Kind - was kann? - was meinst Du?" fragte die Mutter. Marie barg das Köpfchen an ihrer Brust, schüttelte es aber dabei und sagte leise:

„Nichts, nichts, liebe Mutter - der Traum will mir noch immer nicht aus dem Sinn - er war gar zu lebhaft und ... und das Hämmern und Klopfen da unten thut mir weh. Müssen sie denn solch' eine dicke Mauer in die Thür setzen?"

„Gewiß, Marie," beruhigte sie die Mutter. „Es ist der Leute wegen, damit das tolle Gerede endlich einmal aufhört." Ein eigener Gedanke schien aus des Kindes Auge zu blitzen, und zu dem Doctor rasch und mißtrauisch aufschauend, sagte sie:

„Aber weshalb vier Fuß dick, Doctor? Wenn wirklich Niemand dahinter klopft und hindurch will, wäre doch die eiserne Thür allein genug gewesen - und wenn..."

„Und wenn - Marie?" fragte die Mutter, dem Doctor dabei einen ängstlichen Blick zuwerfend.

„Und wenn nun doch Gundelrebe," fuhr das Mädchen, sich ein Herz fassend, fort, „wenn nun doch Gundelrebe in dem dunkeln Gange säße, wäre es da nicht traurig, ihm jede Hoffnung abzuschneiden je heraus zu kommen, und müßte er dann nicht in Jammer und Einsamkeit da drinnen vergehen ?" /35/

„Papperlapapp!" lachte der Doctor, „quäle Dich nur jetzt nicht mit solch' albernen Ideen! Die dicke Mauer wird nicht aus Furcht vorgesetzt, daß irgend Jemand von innen herausbrechen könnte, sondern nur um das Gesinde zu beruhigen und die Thür selber zu entfernen. Wenn die erst einmal fort ist und solch ein Haufen Backsteine dasteht, werden auch die Furchtsamsten Muth bekommen und nicht mehr an Geister denken. Säße aber wirklich Dein Gundelrebe dahinter, so könnte er zu irgend einem Fenster oder Kellerloch oder oben zum Dach deshalb noch immer mit Bequemlichkeit herauskommen. Die Fenster sind ja doch nicht zugemauert, und selbst ein gewöhnlicher Mensch könnte von innen herauskommen, wie viel mehr denn ein Geist! Mach' Dir also darüber ja keine unnützen Sorgen, Marie; schlafe jetzt hübsch und halte Dich ein paar Tage ruhig, bis sich die Schmerzen im Zahnfleisch und die Folgen des Aethers verloren haben. Sobald Du dann neue Kräfte gesammelt hast, werden Dir auch die traurigen und überspannten Gedanken vergehen, und Du wirst wieder unser munteres, braves Mariechen sein, wie in früherer Zeit."

Marie war seinen Worten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt, und als er die Fenster und Kellerlöcher erwähnte, nickte sie ihm leise und lächelnd zu. Dann sank sie wieder, die Augen schließend, auf ihr Kissen zurück. Die Kranke schien übrigens mit diesem Gespräch eine Art von Krisis überstanden zu haben. Sie schlief fast den ganzen Tag vollkommen ruhig, wachte gegen Abend auf und genoß etwas, und verbrachte dann eine eben so ruhige Nacht, ohne ein einziges Mal mehr das alte Haus, den Herrn Quetzlinberger oder Gundelrebe zu erwähnen. Die Mutter kam übrigens in der Zeit gar nicht von ihrem Bette, und schlief selbst die Nacht auf dem Sopha neben ihr. Die nächsten Tage fühlte sich Marie viel kräftiger und wieder ziemlich wohl, und da sich die Eltern jede Mühe gaben, sie zu zerstreuen und aufzuheitern, so wurden die Bilder jenes Abends, die ihr mit so merkwürdiger Schärfe vor der Seele gestanden, schwächer und schwächer. Ihre Umrisse verloren erst an Klarheit, und mit anderen Träumen, die sie später geträumt, ver-/36/schwamm das Ganze endlich zu einem wohl immer noch wunderlichen, aber doch wirren Bilde, dessen einzelne Gestalten sie schon nicht mehr so genau abzuscheiden vermochte, und die deshalb auch bald ihre Macht über sie verloren.

Die Thür war indessen, ohne den Gang weiter zu untersuchen, unter Aufsicht der Behörde fest vermauert worden. Der Regierungsrath ließ dann die Stelle mit Kalk bewerfen und die ganze Treppe frisch malen, so daß auch die letzte Spur des hier früher befindlich gewesenen Einganges verschwand. Nach einigen Wochen sprach auch im ganzen Hause kein Mensch mehr davon. Nur Marie ging im Anfang noch mit einiger Angst, mit einem eigenen, schwer zu beschreibenden Gefühle daran vorüber. Aber auch das verlor sich bald, und der Arzt empfahl ihren Eltern jetzt Luftveränderung und Scenenwechsel für die Tochter, um die rasch vorwärts schreitende Genesung zu beschleunigen und zu sichern.

Dem Regierungsrathe war das selbst erwünscht, Urlaub zu einer kleinen Reise zu bekommen, und er benutzte den erhaltenen, mit seiner Familie auf kurze Zeit ein Seebad zu besuchen. Auf Norderney, von dem kühlen Salzwasser gekräftigt, gesundete das junge Mädchen auch von Tag zu Tag, und als sie Ende August wieder nach Hellburg zurückkehrten, war auch die letzte Spur der Krankheit verschwunden. Selbst ein früheres Leiden, oder vielmehr eine Schwäche, die ihren Grund vielleicht ebenfalls mit in der zu großen Reizbarkeit ihrer Nerven fand, hatte sich fast ganz dabei verloren. Ihre Träume hatten nämlich in der letzten Zeit einen so hohen Grad von Lebendigkeit erreicht gehabt, daß sie im Schlafe sogar, ohne es zu wissen, aufstand und in der Stube umherging. Es war, wenn auch keine wirkliche Mondsucht, doch ein geringerer Grad derselben und hatte die Mutter schon mehrmals sehr geängstigt.

Das war durch das stärkende Seebad, die Luftveränderung und überhaupt die durchaus gekräftigte Natur des Kindes jetzt ebenfalls überwunden worden, und die fixen Ideen aus der früheren Zeit, mit dem Einfluß, den der Traum auf sie gehabt, schienen sich ganz verloren zu haben. Wie sie bei der Rückkehr die Treppe im Hause wieder hinaufstieg, blieb sie /37/ sogar an der vermauerten Thür lachend stehen, klopfte daran und rief Gundelrebe bei Namen. Die Mutter, die noch immer nicht ohne Unruhe der damals qualvoll durchlebten Stunden gedachte, wollte sie daran hindern und bat sie, die alten Träume nicht muthwillig wieder zu erwecken. Marie schüttelte aber lächelnd den Kopf und meinte, Mütterchen dürfe sich nicht mehr davor fürchten; sie sei jetzt wieder gesund und doch auch verständiger geworden, und habe die alten thörichten Träume lange vergessen.

Und das war wirklich der Fall. Jahr nach Jahr verging, und das alte Nachbarhaus wäre kaum mehr erwähnt worden, hätte der ewig dauernde Proceß die Aufmerksamkeit der Stadt nicht gewaltsam darauf festgehalten. Alles in der Welt nimmt jedoch zuletzt einmal ein Ende, und selbst dieser Proceß schien sich dem seinigen zu nähern. Die verschiedenen Parteien der jetzt noch lebenden Erben hatten es nämlich endlich doch satt bekommen, mit dem, was ihnen Nutzen bringen konnte, wenn sie sich darüber einigten, eine Anzahl von Advocaten und Beamten zu ernähren, und zeigten sich einer Übereinkunft geneigt.

Verwickelt genug war die Geschichte. Der alte selige Herr Quetzlinberger hatte einen einzigen Sohn gehabt, der also auch nach seinem Tode Universalerbe geworden wäre. Wunderbarer Weise, wie die alten Acten sagten, war dieser aber mehrere Jahre vor des alten Herrn Tode eines Morgens spurlos verschwunden gewesen, und man hatte trotz aller Nachforschung der Gerichte nie herausbekommen können, was aus ihm geworden. Der alte Mann schien sich das aber entsetzlich zu Herzen genommen zu haben und schloß sich vollkommen von der Welt ab. Nur eine Haushälterin von gesetztem Alter besorgte ihm die Wirthschaft und hielt das Haus in Ordnung, das von da an kein fremder Fuß mehr betreten durfte. Wenn dann auch böse Zungen nicht müßig waren, gehässige Gerüchte darüber zu verbreiten, gelangte das entweder nicht zu den Ohren des alten Herrn, oder er kümmerte sich auch nicht. Diese Gerüchte fanden allerdings neue Nahrung, als die Nachbarn des alten Herrn einen Knaben bei ihm am Fenster sahen, von dem es bald hieß, daß er ein Neffe, bald, /38/ aß er ein Adoptivsohn sei. Die guten Frauen von Hellburg gaben sich damals die größte Mühe, Näheres über die Abstammung des Knaben zu erfahren, doch umsonst. Nicht einmal auf die Straße herunter durfte der Kleine; ja, so selten zeigte er sich selbst am Fenster, daß nur erst Wenige ihn dort gesehen hatten und Viele sogar noch seine Existenz bezweifelten. Da fuhr eines Tages eine Kutsche vor, in welche die Haushälterin mit dem Knaben stieg und zum Thore hinausrasselte; - Niemand wußte, wohin. Der alte Herr Quetzlinberger lag damals, wie mündliche Uebertragung in Hellburg lautete, im Fenster und sah ihnen nach, bis sie um die Ecke der nächsten Straße verschwunden waren. Dann machte er das Fenster zu, zog die Gardinen vor - wie sie noch bis auf den heutigen Tag hingen - und ließ sich nicht mehr sehen.

Drei Tage lang blieb das Haus verschlossen, und die Nachbarn vergingen fast vor Neugierde, ob die alte Haushälterin zurückkäme, oder sich der Doctor eine „neue" nähme. Der alte Herr schien aber weder das Eine noch das Andere zu beabsichtigen. Thüren und Fenster blieben verschlossen; aus den Schornsteinen stieg kein Rauch auf; alles Klopfen an der Thür, als man doch ernstlich besorgt wurde, blieb unbeantwortet, und wie die Gerichte endlich, kraft ihres Amtes, sich gewaltsamen Eintritt in das dunkle Heiligthum erzwangen, lag der alte Herr Quetzlinberger in seinem gelbseidenen Schlafrock im Bette und war todt.

Einen halben Tag waren hierauf die Gerichte damit beschäftigt, ein Testament unter den vorhandenen Papieren des Dahingeschiedenen zu entdecken. Sie fanden nichts Derartiges, und nur im Schreibtische einen Zettel, nach dem sein Neffe Konrad G. Schierling, im Falle sein verschwundener Sohn nicht wieder aufgefunden würde, zu seinem Universalerben eingesetzt werden solle.

Der alte Herr wurde hierauf begraben, das Haus versiegelt, und der Proceß um die Hinterlassenschaft, da sich die übrigen Erben einem so unvollständigen Testamente nicht fügen wollten und für die Ansprüche des verschollenen Sohnes ein Fremder auftrat, begann. Advocaten und Erben /39/ starben - der Proceß lebte fort, ja schien mit den Jahren, je schwieriger es wurde ihn zu sichten, nur immer neue Kraft zu gewinnen.

Zu dem alten Hause gehörte dabei noch ein sehr bedeutendes Areal von Bauplätzen und Ackerland in der unmittelbaren Nähe der Stadt. Einem alten Uebereinkommen nach war dieses durch das Gericht selber alljährlich verpachtet worden, um aus dessen Ertrag eben so regelmäßig die fortlaufenden Proceßkosten zu bezahlen. Diese hatten dadurch vollständige Sicherheit erhalten und mehrere Geschlechter von Juristen lebenslängliche Renten daraus bezogen, bis eine vernünftigere Generation von Erben sich einem Vergleiche geneigt zeigte.

Außer dem bestrittenen Universalerben, dem jungen Schierling, erhob die Hauptansprüche ein Doctor Hetzelhofer, der eine von dem jungen Quetzlinberger selbst ausgestellte Verschreibung besaß, worin ihm, oder vielmehr seinem Vorfahren, sämmtliche Ansprüche desselben übertragen wurden. Woher er sie erhalten, blieb ziemlich ungewiß. Doctor Hetzel- hofer aber behauptete, sein Großvater habe dem damals noch jungen Manne wichtige Dienste geleistet, der junge Quetzlinberger selber sei aber später auf einer heimlich unternommenen Seereise verunglückt.

In sein Interesse hatte er dabei einen andern weitläufigen Verwandten des alten Herrn Quetzlinberger, der auch dessen Namen trug und ein sehr geschickter Advocat war, gezogen - vielleicht hauptsächlich mit des Namens wegen. So bildeten die Herren Hetzelhofer und Quetzlinberger gegen Schierling oder dessen Erben, mit einem größeren Anhang weitläufiger Verwandter, die beiden Hauptparteien des Processes.

Um aber die Sache an Ort und Stelle besser betreiben zu können, war Doctor Hetzelhofer, der Enkel des Doctor Hetzelhofer, welcher die ersten Ansprüche erhoben hatte, nach Hellburg selbst, und zwar dem „alten Hause" gerade gegenüber, in die nämliche Wohnung eingezogen, in der Mariens Großeltern in früheren Jahren gewohnt hatten. Durch Briefe, die er mitbrachte, war er dabei ebenfalls an Regierungsrath Hechncr empfohlen und mit diesem bekannt gewor-/

40/den, und wenn auch der Regierungsrath selber keine große Freude an dem etwas abstoßenden, verschlossenen Manne fand, lernte doch die indeß herangewachsene Marie die ihr an Jahren allerdings überlegene Schwester des Doctors kennen und lieb gewinnen, und war von da an oft in des Doctors Hause.

Helene, wie des Doctors Schwester hieß, mochte zwei- oder dreiunddreißig Jahre alt sein und führte, von einer alten Dienstmagd unterstützt, welche die gröberen Arbeiten verrichtete, ihrem Bruder die Wirthschaft. Sie war dabei ernst und häuslich, und vielleicht von einem mehr schwärmerischen als prosaischen Charakter, gegen dessen Uebertreibung sie aber schon ihre Jahre wie ihre Ruhe schützten. Dennoch war es das vielleicht gewesen, was Marien besonders zu ihr hingezogen hatte.

Marie, die indessen ihr siebzehntes Jahr erreicht, schien ihren Körper in der raschen Entwickelung eher gekräftigt und die frühere Reizbarkeit und Erregtheit der Nerven fast ganz abgeschüttelt zu haben. Nichtsdestoweniger war ihr noch immer eine gewisse Vorliebe für das Uebernatürliche, ein Hang zu einer leisen Schwärmerei geblieben, der jedoch mit ihren früheren Träumen und Ideen in keiner Verbindung mehr stand. Das alte Haus und was es enthielt hatte keinen Antheil mehr an jenem unbekannten Etwas, das ihre Brust manchmal erfüllte, und die Bilder jener Zeit waren theils vergessen, theils so in den Hintergrund gedrängt, um mehr als einen gelegentlichen Gedanken daran zu beanspruchen, Die stille, sinnige Helene war ihr, mit diesem Gefühl, diesem halb unbewußten Drang im Herzen, deshalb auch vor allen Anderen eine liebe Gesellschafterin geworden. In der Jugend schließt sich ja das Herz so gern an ein gleichfühlendes an, und noch nicht getäuscht, sucht und findet es leicht, was ihm fehlt, in dem Nachbarherzen. Die Welt liegt da noch im rosigen Licht der aufgehenden Sonne frei und offen vor uns, und kein Falsch in der eigenen Brust, keinen Gedanken, der das Licht zu scheuen brauchte, suchen und finden wir auch nichts Anderes in denen, die Schicksal oder Zufall in unsern Pfad geworfen. So glücklich, wie wir dabei selbst uns fühlen, so glücklich scheint uns Alles um uns her, im Wieder-/41/glanz unseres eigenen reinen Herzens — aber die Zeit gießt Gift in den krystallenen Becher. Tropfen nach Tropfen läßt sie langsam hineinfallen in die demantene Fluth - Tropfen nach Tropfen, die sich erst halten und zusammendrängen in sich selbst, und nur die einzelnen trüben Strahlen, wenn auch im Anfange noch so fein und kaum erkennbar, hinüber senden über die Oberfläche. Mehr und mehr aber breiten sie sich aus; finsterer und trüber füllen sie den Raum, und so rein und treu die klare Fluth sonst auch jedes Bild zurückgab, das sich mit liebendem Auge darüber bog, so finster und abgeschlossen wahrt es dann den eigenen schmerzlichen Schatz: das trübe Gift von Mißtrauen und getäuschter Hoffnung. Wohl drängt und treibt es uns noch immer mit der gleichen Kraft, das gleiche Herz zu suchen, das uns fehlt, und dem wir uns, wenn wir es fänden, vielleicht mit noch größerer, innigerer Liebe anschließen würden als früher, weil wir ja eben den Werth eines solchen Glückes erst in späteren Jahren recht eingesehen und kennen gelernt haben. Aber - wir können uns nicht mehr entschließen, die eigene Brust zu öffnen - wir trauen selbst der Offenheit des Andern nicht. Scheu und trübe schleichen wir vorüber, das Schicksal scheltend, das uns allein und freundlos in die Welt stieß, und vergessen doch ganz dabei, daß wir allein es sind, die, wie der Drache das unterirdische Gold, neidisch unser eigenes Herz bewachen und Jeden mit giftigem Hauche zurückweisen, dessen treue Hand den Schatz für uns heben möchte.

Marie freilich hatte noch keinen Tropfen jenes trüben Giftes eingesogen, und der blaue Himmel, der über ihrer Jugend lachte, spiegelte sich treu und friedlich in dem stillen, reinen Herzen der Jungfrau. Vor der älteren Freundin hatte sie dabei kein Geheimniß und ihr schon lange all' ihre kleinen, unbedeutenden Sorgen und Erlebnisse mitgetheilt, wie Pläne gebaut für die Zukunft - Pläne, bunt und leicht wie Kartenschlösser mit anscheinend breitem, mächtigem Grund, und doch eingeworfen durch einen Hauch. So wußte Helene auch schon Alles von dem „alten Hause", was sie damals geträumt und mit sich herumgetragen, und wie das eine gar so schwere, entsetzliche Zeit für sie gewesen. Damals hatte /42/ sie ja geglaubt, sie gehöre gar nicht mehr dieser Erde an, sondern hinüber in die dunkeln, verschlossenen Räume zu den fremden, unheimlichen Leuten. Ihr Kindesherz hatte sich mit der Sorge gequält, daß denen da drüben nur wieder wohl werden könne, wenn sie bei ihnen sei, ihnen die tödtliche Einsamkeit tragen zu helfen, und nur nach und nach habe sich das verloren, und es sei ihr besser und leichter geworden. Jetzt freilich lachte sie über den tollen Traum.

Noch eine Person darf ich hier nicht unerwähnt lassen, die zu dem Hausstande, ja, eigentlich fast zur Familie des Doctors gehörte, wenn dieser auch den Mann mehr als Diener wie Freund, und manchmal gütig, meist aber hart und abstoßend, ja fast despotisch behandelte.

Es war dies der Famulus des Doctor Hetzelhofer, der hier jedenfalls eine nähere Beschreibung verdient.

Schwiebus, wie er kurzweg im Hause genannt wurde, war eine lange, magere Gestalt mit vorstehenden Backenknochen und tiefliegenden, aber lebendigen grauen Augen. Die dünnen, etwas röthlichen Haare hielt er sorgfältig von beiden Schläfen nach der Stirn hinauf gekämmt, den dort eben nicht mehr zu verdeckenden Mangel soviel als möglich wenigstens zu beschönigen, und sein Gesicht war in eine solche Unzahl kleiner, die Kreuz und Quer laufender Falten gelegt, daß man wirklich nicht daraus klug wurde, ob das Alter oder vielleicht eine blatterähnliche Krankheit solche Spuren in seine Haut gegraben. Je länger man ihn daraus ansah, desto verwirrter wurde man. Während daher die Einen den langen wunderlichen Burschen mit dem unbeholfenen Namen für einen noch jungen, vielleicht durch zu eifrige Studien aufgeriebenen Mann hielten, der unter des berühmten Doctors Leitung seine Kenntnisse vermehren wolle, schworen die Anderen, daß Glatze und Falten wirklich dem Alter angehörten. Diese hielten den Eigner derselben dann für einen hohen Fünfziger, ja vielleicht Sechziger, der, von dem leichtfertigen Götterkind Fortuna übersehen, ein Menschenalter umsonst hinter ihrem Wagen hergekeucht war, und es jetzt endlich aufgegeben hatte, sie einzuholen.

Seine Hautfarbe, das fahle Gelb seiner Züge, schien diese /43/ letztere Ansicht auch besonders zu bestätigen und das Urtheil der Hellburger zu rechtfertigen, die bald darüber einig waren, daß er gerade so aussähe, als ob er schon einmal im Grabe gelegen hätte. So böse er selber aber wurde, und so sehr der Doctor Hetzelhofer darüber lachte, wenn in seiner Gegenwart eine solche Bemerkung laut wurde, ließ sich der Gedanke, wenn einmal gefaßt, doch nicht wieder los werden. Wer nur dem dürren, hagern Menschen in's Antlitz sah, dessen Augen dann nicht selten eine ordentlich grüne, gläserne Färbung annahmen, fühlte ein eigenes, unbestimmtes Grauen, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, und verschiedene alte, würdige Damen hätten eben so gern in der Gesellschaft des anerkannten Gottseibeiuns, als in der seinigen eine Stunde allein zubringen mögen. Bei einer solchen Persönlichkeit ist die böse Welt aber auch rasch mit einem Spitznamen fertig, und Schwiebus hieß bald in der ganzen Stadt „der todte Famulus".

Wunderlicher Weise war Schwiebus dabei in jeder andern Beziehung der freundlichste, gemüthlichste und gefälligste Mensch von der Welt, der besonders gern mit Kindern umging, mit ihnen spielte, wo er sich nur eine Viertelstunde Zeit abgewinnen konnte, und diese bald an sich fesselte. Dabei besaß er ein merkwürdiges Talent, Geschichten, vorzüglich Gespenstergeschichten, zu erzählen. Der Doctor hatte ihm das freilich streng untersagt, denn er machte die Kleinen oft so furchtsam, daß sie nicht mehr allein über die Straße gehen wollten; aber es gehörte nun einmal mit zu seinen Leidenschaften, denen er, wo das irgend anging, den Zügel schießen ließ. Die Kinder rissen sich deshalb auch bald um seine Gesellschaft, trotz seinem sonst nichts weniger als einnehmenden Aeußern, und wo es nur irgend anging, wurden Gespenster- und Geistergeschichten, unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, von dem einen Theile so gern erzählt, wie von dem andern gierig angehört.

Auch in kleinen mechanischen Arbeiten war er geschickt und erfahren. Er drehte Kreisel, die beim Spiel verschiedene Töne von sich gaben; schnitzte Männer, die sich von selbst überschlugen; machte Bälle, die, wenn man sie hoch in die /44/ Luft warf, zu kleinen Ballons wurden und davonflogen, und taufend andere derartige Dinge. Ganze Nächte mußte er zu solcher Arbeit verwenden, wo hätte er sonst die Zeit hergenommen! In seinem Zimmer brannte auch in der That fast jede Nacht hindurch Licht, und die Nachbarn, die von ihren Fenstern aus das seinige beobachten konnten, zerbrachen sich die Köpfe darüber, in welcher Zeit der „todte Famulus" eigentlich schlafe. Waren sie auch um zwei oder drei Uhr erst zu Bett gegangen, wo sie noch Licht in seinem Zimmer und den Schatten an den niedergelassenen Gardinen konnten herüber und hinüber gehen sehen, so war Schwiebus doch jedenfalls am nächsten Morgen schon vor ihnen wieder munter. Wenn sie gleich mit Tagesgrauen aufstanden, lag er sicher schon im geöffneten Fenster und rauchte seine Cigarre, oder unterhielt sich mit einem großen abgerichteten Raben, der in seinem Fenster einen geräumigen, aber offenen Bauer hatte. An Schlafen dachte er gar nicht.

Auch der Rabe gehörte mit zu der Person des „todten Famulus", und die Leute im Hause versicherten, daß er das kluge Thier fast wie einen Menschen behandle und sich oft halbe Stunden lang mit ihm ordentlich unterhalte.

Solch ein Wesen war der Famulus Schwiebus, und es läßt sich denken, daß er dem kleinen Hellburg auf lange Zeit höchst interessanten Stoff zur Unterhaltung gab. Bier- wie Kaffeegesellschaften beschäftigten sich im Anfange wirklich nur mit ihm und dem Doctor, der durch einige fabelhafte Kuren ebenfalls einen großen Ruf erlangt hatte. Es gab auch in der That bald nichts Natürliches wie Uebernatürliches mehr, das man den beiden Menschen nicht zugeschrieben hätte, und eine Zeit lang machten sogar ein paar haarsträubende Geschichten die Runde, in welche die Fremden auf das Engste verwickelt waren. Nur erst als beide Charaktere so still und spießbürgerlich wie sie selber in ihrer Mitte fortlebten und sich keins von all' den ausgesprengten Gerüchten bestätigte, erkaltete nach und nach die Neugierde der Nachbarn. Der Reiz der Neuheit war dem Ganzen überhaupt schon genommen, und noch ehe das erste Jahr ganz verflossen war, ließ man die Beiden still und ungehindert ihre Wege gehen. /45/ Man hatte sich an sie gewöhnt und sie gehörten mit zu Hellburg.

IV.

Helene kam selten zu Hechners hinüber, da während des Doctors öfterer Abwesenheit doch Jemand zu Hause bleiben mußte, anfragenden Kranken Auskunft zu geben, und man sich auf den Dienstboten nicht verlassen mochte. Marie ging dafür desto häufiger hinüber, und hatte auch heute wieder einmal von der Mutter Erlaubniß erhalten, ihrer älteren Freundin Gesellschaft zu leisten, während der Doctor Hetzelhofer nach einem schwer Kranken über Land gerufen war und erst spät in der Nacht zurück erwartet wurde.

Heute war übrigens in Hellburg der Tag bestimmt worden, an welchem der Proceß wegen der Quetzlinberger'schen Erbschaft durch friedliches und freundschaftliches Zusammenkommen der präsumtiven Erben in Güte und nach gemeinschaftlichem Uebereinkommen entschieden werden sollte. Marie hatte das von ihrem Oheim, dem Advocaten Hechner, gehört, und der 1. März des laufenden Jahres war dazu gewählt worden. Natürlich kam aber dadurch das Gespräch auch wieder, was seit langer Zeit nicht der Fall gewesen, auf das alte Haus und die Folgen, die der Endentscheid aus das Geheimniß desselben ausüben müsse. Dann wurden ja auch die Siegel von der Thür gelöst, und die öden Zimmer, die den größten Theil eines Jahrhunderts das Stadtgespräch in Hellburg gebildet, wurden den Blicken einer fremden Generation erschlossen.

„Ich gäbe was drum," sagte Marie endlich, nachdem die beiden Mädchen eine Weile schweigend ihren Gedanken nachgehangen hatten - „ich gäbe was drum, wenn ich die alten Räume betreten dürfte, ehe noch ein anderer Fuß den Zauber jenes unserer Zeit gar nicht mehr angehörenden Gebäudes gebrochen. Es muß gar zu wunderlich sein, die dumpfige Luft da drinnen zu athmen, und den Klang der eigenen /46/ Schritte zu hören, den die Wände so lange, lange Jahre nicht zurückgegeben haben."

,,Und Du vor allen Anderen würdest Bescheid darin wissen," lächelte Helene; „denn so viel ich mich erinnere, bist Du die Einzige, die jene Räume betreten hat, seit damals die Gerichte die dicken Siegel auf den Eingang drückten."

„Aber nur im Traum," lachte Marie.

„Was thut's! wenn der Traum nur getreu war, fändest Du Dich überall zurecht."

„Es ist und bleibt doch immer eine merkwürdige Sache mit solchen Träumen," sagte Marie wieder nach einer längeren Pause, indem sie den Kopf schüttelte und sinnend dabei vor sich niedersah, „und damals hätte ich meiner Seele Heil daran setzen wollen, daß es Wahrheit gewesen. Die Personen standen ja noch Wochen lang nachher oft so deutlich vor mir, als ob sie wirklich lebten."

„Eigentlich ist es schade," lächelte Helene, „daß solche Sachen nicht geschehen, und die prosaische Welt uns nur immer platte, nüchterne Wirklichkeit in Allem bietet, was uns selbst betrifft. Es mag kindisch sein, aber wie oft habe ich mir schon gewünscht, einmal einen Geist zu sehen! und doch will es nie geschehen. Und können trotzdem die Vernünftigsten von uns jeden Bezug mit einer geistigen, von uns unbegriffenen Welt ableugnen? Glauben sie nicht, sie mögen sich dagegen sträuben, so viel sie wollen, an Ahnungen, an Magnetismus, an Somnambulismus und wie jene geheimen Bindemittel zwischen Luft und Erde alle heißen?"

„Ganz kann ich mich auch der Gedanken noch nicht etnschlagen," lächelte Marie, „und manchmal kommen Zeiten - wie heute z. B. wieder, wo ich von dem alten Hause so plötzlich reden hörte, - wo es mir wieder vorkommt, als ob es doch am Ende kein Traum gewesen und ich den wunderlichen Menschen wirklich einmal begegnet sei. Ähnlichkeiten mit ihnen hab' ich auch in der That schon mehrere Male gefunden, und das Herz hat mir dann ordentlich ängstlich geklopft, daß mir der Traum nun plötzlich in's Leben treten solle - bis ich mich selber besann und mich meiner kindischen Furcht, meines Aberglaubens wegen schämte." /47/ „Aber Du hast mir dabei immer von einer Frau Bause erzählt, Marie," sagte Helene - „sie soll ja hier in der Stadt wohnen. Bist Du nie hingegangen, sie aufzusuchen?"

Marie schwieg eine Zeit lang; es war fast, als ob sie sich der Antwort schämte; endlich sagte sie leise und verlegen lächelnd:

„Ich will es Dir nur aufrichtig gestehen, ich - ich habe mich davor gefürchtet - gefürchtet, durch irgend ein zufälliges Wort irgend etwas aus jener fremden, geheimnißvollen Welt bestätigt zu hören. Wozu auch? die Zeit ist vorbei, und weshalb die alten Träume und Thorheiten wieder aufrühren?"

„Von der Frau habe ich übrigens in Hellburg auch schon gehört," sagte Helene, „Schwiebus hat mir davon erzählt."

„Der Famulus?" fragte Marie erstaunt; „aber woher kennt sie der?"

„Oh, der kennt alle Menschen," lächelte Helene. „Nicht wahr, sie legt Karten und prophezeit den Leuten ihr Schicksal aus Kaffeesatz und Bleiguß?"

„Allerdings - wenigstens behauptet die böse Welt das von ihr." sagte Marie.

„Und wenn sie's thäte, was wäre so Uebles daran?" entschuldigte sie Helene. „Es ist gewiß eine arme Frau, und findet sie Menschen, die thöricht genug sind, sie um etwas zu fragen, das nur Gott wissen kann, und die ihr für solche Antworten sogar Geld bezahlen, so wird sie klug genug sein, ihren Nutzen daraus zu ziehen. - Doch fort mit der Frau Bause und all' dem unheimlichen Spuk. Ich bin auch über haupt froh, daß es mit dem alten Hause da drüben nun endlich einmal zu einer Entscheidung kommt. Mag es sein, wie es will, aber es war mir doch manchmal ein unheimliches Gefühl, die dichtverhängten Fenster da drüben so Jahr nach Jahr zu sehen und die leeren, öden Räume dahinter zu wissen, in kurzer Zeit werden ja nun die Siegel geöffnet und die Zimmer wieder gelüftet und bewohnt werden."

„Ob sich das der alte Herr Quetzlinberger gefallen laßt," lachte Marie - „und ob er nicht nachher aus /48/ Aerger und Mißmuth Ketten über die Gänge schleift und in den Schlafkammern spukt! So viel weiß ich, so sehr ich mich danach sehne, das alte Haus im Innern zu sehen - wohnen und schlafen möchte ich doch um keinen Preis darin."

Marie war dabei von ihrem Stuhl aufgestanden, hatte sich an das Clavier gesetzt und mit leisen Fingern ein paar Accorde angeschlagen, während Helene zum Tische trat, die Lampe anzustecken. Es war schon fast dunkel im Zimmer geworden. Da tönten plötzlich die wilden, schrillen Töne einer Geige zu ihnen herüber, und Marie fuhr fast erschreckt empor, den wunderlichen Lauten zu horchen.

„Es ist nichts," lächelte aber Helene, indem sie die Glocke auf die noch düster brennende Lampe setzte, „Schwiebus hat einmal seinen guten Abend und musicirt."

„Das habe ich aber noch nie gehört!" rief Marie erstaunt.

„Es kommt auch nicht oft vor," sagte Helene, „denn meistens sitzt er auf seinem Zimmer bei festverschlossener Thür und läßt Niemanden zu sich hinein, selbst meinen Bruder nicht."

„Und was für wunderliche, eigenthümliche Melodien das sind, die er spielt!"

„Ja," sagte Helene, „er phantasirt auch nur und kennt keine Note, haßt sogar die Notenblätter; denn er sagt, die „schwarzen Dinger" lägen darauf herum, wie Knochen auf einem Kirchhofe. Wenn er einmal zu mir hereinkommt und ein Heft zufällig offen auf dem Instrumente liegt, macht er es jedesmal zu. Heute sollten wir übrigens zu ihm hinüber gehen, denn heute giebt er, wie es der Bruder nennt, „Audienz", und wenn wir ihn da bitten, erzählt er manchmal Geschichten zum Todtlachen oder - Todt fürchten - wie's ihm gerade durch den Sinn fährt."

„Ich glaube, ich würde mich todt fürchten," sagte Marie leise. „Der Mann, so freundlich und gutmüthig er sich immer gezeigt, hat für mich etwas kaum sagbar Unheimliches."

„Das macht sein Name, der todte Famulus," lächelte Helene. „Es giebt wirklich keinen besseren und ge-/49/fälligeren Menschen auf der Welt als ihn, und was er mir oder irgend Jemandem, den er gern hat, an den Augen absehen kann, thut er gewiß. - Aber er spielt nicht mehr, sagte sie, plötzlich hinüberhorchend - und da knarrt seine Thür. Er kommt wahrhaftig herüber. Nun, da hat er einmal seinen geselligsten Tag, und den müssen wir benutzen."

Ehe Marie etwas darauf erwidern konnte, lag eine Hand auf der Thürklinke, und als sich die Thür öffnete, trat Schwiebus, bleicher als je aussehend und allem Anscheine nach die beiden Damen gar nicht bemerkend, in's Zimmer. Er trug seine Violine mit dem Bogen unter dem linken Arm und ging langsam, ohne den Kopf nach rechts oder links zu wenden, zum Fenster. Marie sah erstaunt Helenen an, diese aber ergriff ihren Arm und drückte ihn leise, zum Zeichen, sich ruhig zu verhalten. Die Lampe brannte noch ziemlich düster, und das Zimmer war deshalb nur matt erleuchtet. Der Famulus schien aber gar nicht an die Anwesenheit anderer Personen auch nur zu denken, denn er drehte den Kopf nicht ein einziges Mal dem Lichte zu. Langsam öffnete er das Fenster, in das die kalte Luft frostig hereinschlug, schaute ein paar Secunden nach den Sternen hinauf und dann nach dem gegenüberliegenden alten Hause, und beiden Mädchen kam es so vor, als ob er leise dort Hinüberwinke. Dann schloß er das Fenster wieder sorgfältig mit beiden Wirbeln, nahm sein Instrument vor und begann mit leisem Bogenstrich eine sanfte, unendlich weiche Melodie zu spielen.

Die beiden Jungfrauen horchten der wunderlichen, nie gehörten, aber tief ergreifenden Weise in athemlosem Schweigen. Hatten sie aber vorher in Scherz und Muthwillen den ernsten Mann zu belauschen gedacht, so waren sie jetzt kaum imstande, ihn zu unterbrechen, und hätten mit keinem Laut die rührenden Klänge stören mögen. Die weiche Stimmung des Famulus verlor sich jedoch bald. Scharfe, schrille Töne zuckten wie grelle Blitze über den blauen Himmel seines Liedes, und bald klangen einzelne dazwischen geworfene Tacte wie im Selbstspott über den weichlichen Sang, der sich aber doch immer und immer wieder die Bahn frei rang. Endlich, /50/ wie von seinen Gefühlen überwältigt, sank der Mann auf einen am Fenster stehenden Stuhl nieder und barg sein Antlitz in der linken Hand. Es schien fast, als ob der ganze Körper des Armen in irgend einem schweren innern Weh zucke und zittere, und als ob das, was in ihm tobte, nur gewaltsam zurückgehalten werden könne, hinaus in's Freie zu dringen.

Da stand Helene geräuschlos von ihrem Sitze auf, und über den weichen Teppich mit unhörbarem Fuß schreitend, glitt sie an seine Seite, blieb wenige Secunden wie scheu und furchtsam neben ihm stehen, und legte dann leise und schüchtern die Hand auf seine Schulter.

„Schwiebus," sagte sie dabei mit sanfter, bittender, kaum hörbarer Stimme, „Schwiebus, armer Schwiebus! fehlt Ihnen etwas, und kann ich Ihnen helfen?"

Der Famulus rührte sich nicht, nur das Zittern seines Körpers wurde heftiger.

„Sind Sie krank, Schwiebus?" bat Helene dringender; „sagen Sie mir, was Ihnen fehlt; ich meine es gut mit Ihnen."

„Der verwünschte Katarrh!" brummte da plötzlich der Famulus mit seiner gewöhnlichen trockenen, etwas knarrenden Stimme, indem er sich aufrichtete und die Haare langsam mit den langen, hageren Fingern ans der bleichen Stirn strich. „Der verwünschte Katarrh!" wiederholte er dann, ohne die geringste Ueberraschung über die Anwesenheit der beiden Damen zu zeigen. Rasch, aber ruhig glitt sein Blick über sie hin, und er fuhr, halblaut dabei vor sich hin hüstelnd, fort: „Läßt mir nicht einmal Ruh' in meinem Zimmer, und ich kam eigentlich nur herüber, nach dem Nordstern zu sehen. Wenn der auf dem Kopfe steht, wird es immer besser. Aber guten Abend, meine Damen," setzte er dann mit wieder freundlicher, ganz unbefangener Stimme hinzu, „hätte gar nicht geglaubt, daß Sie im Zimmer säßen."

Der Famulus legte dabei sein Instrument und seinen Bogen neben sich auf das Spiegelschränkchen und rieb sich die langen, knochigen Hände, als ob er sie in Feuer setzen wolle. /51/

Helene und Marie sahen sich erstaunt an. Noch vor wenigen Minuten hatten sie den wunderlichen Menschen in quälendem Seelenschmerz fast aufgelöst geglaubt, und jetzt saß er wieder mit seinem alten trockenen Humor in den Zügen so unverändert vor ihnen, als ob er weder kurz vorher seine herzzerreißenden Melodien gespielt, noch wie ineinander gebrochen gestöhnt und gezittert hätte.

„Aber was meinen Sie damit, Schwiebus," sagte Helene endlich - wirklich verlegen, wie das Gespräch wieder zu beginnen - „wenn der Nordstern auf dem Kopfe steht? - Wie kann denn ein Stern auf dem Kopfe stehen, und wenn er's thäte, wie wären wir im Stande, das zu erkennen?"

„Der Nordstern ist ein komischer Gesell," lachte der Famulus leise vor sich, indem er die Hände stärker zusammenrieb, daß sich die bleichen Wangen ordentlich zu färben anfingen - „komischer Gesell und macht komische Streiche - aber ich habe ihn gern. Ganz allein am Himmel steht er da droben, hat den kleinen Bären am Schwanz und schlenkert ihn sich um den Kopf Nächte lang. Ist er doch auch der Stern der Todten und schützt ihre stillen Stätten über Nacht, wenn sie der Mond oft und oft im Stiche gelassen."

„Was Sie da wieder für tolles Zeug reden, Schwiebus!" sagte Helene kopfschüttelnd - „wenn man nicht wüßte, daß Sie Spaß machten, könnte man sich ordentlich fürchten."

„Spaß? - ja, Spaß!" lachte der Famulus, aber es war kein wirkliches Lachen, sondern fast nur ein krampfhaftes Verziehen der Mundwinkel. Diese zogen sich in tausend und tausend kleine Fältchen zusammen, bis der Mund mit den schmalen, dünnen Lippen ordentlich darin verschwand und dem bleichen Gesichte mit den sparsam rothblonden Haaren etwas entsetzlich Unheimliches gab. „Es ist unendlich spaßhaft, wenn der Nordstern da drüben so kalt und still auf ein frisches Grab niederfunkelt und wir uns dann den Todten da drinnen denken, wie er, die Hände auf der Brust gefaltet, die Glieder ausgestreckt und starr in seinem engen Hause da unten liegt und wir nicht hinunter können zu ihm , - er nicht herauf zu uns."

"Schwiebus hat heut Abend einmal wieder seine geister-/52/hafte Laune," lächelte Helene zu Marien hinüber. „Oh, wenn Du ihn doch da einmal könntest erzählen hören! Er weiß gar zu prächtige Märchen, und ich bin da wie ein kleines Kind und wäre im Stande, ihm Nächte lang zuzuhören."

„Märchen - ja, das ist ja wohl der Name, den die Menschen für derlei haben," sagte der Famulus, langsam dazu mit dem Kopfe nickend - „Märchen - ein ungemein bequemes Wort, und damit sind sie fertig. Märchen - das erklärt ihnen Alles, und sie zerbrechen sich den Kopf nicht weiter über Dinge, die ihnen sonst am Ende das Hirn auseinander treiben könnten. Aber sie haben auch Recht. Wozu sich das Herz schwer machen und den Kopf mit Dingen füllen, die nichts Anderes neben sich dulden und die ruhigen, friedfertigen Gedanken hinauswerfen, ihrem eigenen tollen Sein den Spielplatz frei zu halten! Märchen ist auch ein höchst charmantes Wort dafür. Im Ofen knistert und knattert das Feuer, daß die Fensterscheiben ordentlich an zu schwitzen fangen. Die Kinder und Erwachsenen rücken dicht um den Tisch, auf dem die Lampe düster brennt; draußen heult wo möglich ein Schneesturm über das Land und kos't mit den Trauerweiden, bis sie verlangend und zitternd die nackten Arme hinter ihm drein strecken, pfeift in die Kamine hinunter und fegt sich die Straßen rein zum Tanz, während droben am Himmel die Wolken an der dünnen Mondessichel vorüberjagen, als ob sie zu spät zum neuen Tage kämen. - Das ist die Zeit, ein Märchen zu erzählen, und weshalb?

- weil es draußen gleich mit spielt in Lebensgröße, an die Läden klopft und durch die gefrorenen Fenster schaut und seine wilden Weisen summt zu den drinnen gesprochenen Worten. Die Menschen rücken dann dicht zusammen im warmen Zimmer, horchen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf das Erzählte, und freuen sich wie die Kinder über den Nervenkitzel, der ihnen eben nur leichthin über das Leben streift. Es ist ja nur ein Märchen!"

„Aber wie ich noch ein Kind war," rief Marie lächelnd, „hab' ich wahrhaftig geglaubt, daß das Alles auch wirklich passirte!"

„So?" sagte der Famulus und fing wieder an, sich die /53/ knochige» Hände zusammen zu reiben, „so? - wirklich passirt. - Es ist doch toll, was sich die Menschen manchmal für wunderlichen Gedanken hingeben - wirklich passirt - hihihihi!"

„Wie ich ein Kind war, Schwiebus, hab' ich gesagt," entschuldigte sich die Jungfrau dem Lachenden gegenüber, der sie ja sonst für noch immer so kindisch halten konnte - „jetzt weiß ich wohl, daß das nur Thorheit war."

„Und doch hören wir die Märchen noch gern, wenn wir auch erwachsen sind," sagte Helene; „es ist ordentlich wie eine Erinnerung aus der Kinderzeit, von der sich das Herz ja doch nur ungern und schwer trennt, und was früher so viel mehr den Reiz des Schauerlichen hatte, das ersetzt jetzt reichlich die Erinnerung an die vergangenen Tage."

„Ja, es ist entsetzlich, wie gescheidt und klug wir werden mit der Zeit," sagte der Famulus und griff wieder seine Geige auf, über deren Saiten er leise und wie herausfordernd mit dem Bogen strich - „und wir haben nachher eine Erklärung für Alles - auch für das Unerklärliche, mit dem wir eigentlich am allerleichtesten fertig werben."

„Das Unerklärliche?" sagte rasch Helene; „allerdings giebt es dessen genug für uns arme Sterbliche hier, und ich gehöre gewiß nicht zu denen, Schwiebus, die Alles nur einfach fortleugnen, weil sie eben nicht gleich in das geheime Schaffen und Walten der Natur den Blick thun können oder dürfen, der ihnen die Räthsel derselben enthüllen würde. Ich glaube zum Beispiel an eine geheime Verbindung unserer Seelen mit einer andern Welt, in die wir oft hineinragen, ohne es mit unseren gröberen Sinnen zu verstehen, und die uns wieder zu Zeiten berührt und mit Ahnungsschauern jenes unerforschten Reiches durchzittert, das unser Fuß nie betreten soll, bis einst der Körper im stillen Grabe schlummert."

„Helene," lächelte Marie, „Du darfst mich nicht mehr mit meinem Aethertraum necken und mit dem alten Herrn Quetzlinberger und der Frau Bause."

Der Famulus zuckte bei Nennung der Namen zusammen und hörte mit Spielen auf; endlich sagte er langsam:

„Die Frau Bause? - Kennen Sie die denn auch?"

„Warum sollen wir sie nicht kennen?" sagte Helene; /54/ „wohnt sie nicht hier in der Stadt, und prophezeit sie den Leuten nicht, die zu ihr kommen?"

Schwiebus sah wohl ein paar Minuten lang still und schweigend vor sich nieder, ohne irgend etwas darauf zu erwidern. Dann griff er sein Instrument wieder auf, und die Worte mit den leisen Tönen begleitend, fuhr er langsam fort:

„Die Frau Bause ist eine gar würdige alte Dame, die schon etwas durchgemacht hat in der Welt - mehr, als sich manche Menschen vielleicht träumen lasten. Wenn die erzählen wollte, müßte es gar interessant sein, zuzuhören, aber" - und wieder sprangen die Töne in die frühere schrille und schroffe Weise über, und er lachte dabei still und unheimlich vor sich hin - „sie darf nur nicht."

„Und das ist auch nicht mehr als recht!" rief Marie. - „Mutter hat noch neulich davon gesprochen, daß die Polizei das Prophezeien und Kartenlegen eigentlich gar nicht dulden sollte. Einzelne, zufällig eingetroffene Sachen machen die Leute nur verwirrt. Viele setzen sich tolle Ideen in's Hirn - lassen sich ihren Todestag sagen und sterben zur prophezeiten Stunde, nur weil sie sich so entsetzlich davor gefürchtet. Andere treiben andern Unsinn, der ihr Vermögen oder ihre Gesundheit ruinirt, um einem geweissagten Unglück auszuweichen oder ein versprochenes Glück zu erjagen. Der liebe Gott hat es gar unendlich weise eingerichtet, daß uns nicht allein die ferne Zukunft, nein, schon die nächste Stunde ein verschlossenes, unberührbares Buch bleibt. Ich würde nie die Hand danach ausstrecken, es zu öffnen."

Schwiebus hatte das junge Mädchen indessen mit hoch aufgezogenen Brauen, weit ausgespitzten Lippen und einem unendlich komischen Ausdruck in den wunderlichen Zügen stier angesehen. Die Violine stützte er dabei, um besser hören zu können, auf sein linkes Knie, während die rechte Hand mit dem Bogen auf dem andern ruhte.

„Die Polizei," sagte er, als sie geendet, leise, und über die immer dunkler werdenden Züge zuckte und blitzte es in eigenen wunderlichen Lichtern - „die - die Polizei." - Und er schüttelte sich plötzlich, ohne aber einen weiteren Laut /55/ von sich zu geben, so vor innerem Lachen, daß es ordentlich aussah, als ob ihm die Glieder locker würden.

„Nun ja, was ist denn darin so Komisches, Herr Schwiebus?" sagte Marie erstaunt; „hat denn die Polizei nicht das Recht, Leuten, die ein ordentliches Gewerbe daraus machen, leichtgläubigen Menschen das Geld aus der Tasche zu locken, das Prophezeien zu verbieten?"

Schwiebus nickte wieder und wieder rasch mit dem Kopfe, als ob ihm das innere Lachen fast die Stimme ersticke, und nur endlich sagte er heiser und von öfterem Husten unterbrochen:

„Ja - verbieten kann sie's - verbieten kann sie‘s, die - die Polizei. Schwiebus kann auch dem Laubfrosch verbieten, daß er bei schlechtem Wetter in's Wasser geht."

„Aber, Schwiebus," lachte Helene, „Sie wollen doch nicht alte Frauen, die einen Erwerb daraus machen, andere Leute anzuführen, mit etwas vergleichen, dem die Natur schon den Instinct für das Wetter wenigstens gegeben hat? Ja, wenn die Frau Bause so gut prophezeien könnte wie ein Laubfrosch!"

„Hm - würde ihr sehr angenehm sein, das zu hören," lachte der Famulus wieder auf seine stille Weise - „würde ihr ungemein angenehm sein." Er blinzelte dabei mit dem linken Auge, den Kopf halb dem Fenster zugewandt, immer nach dort hinüber, als ob da draußen Jemand säße, mit dem er sich unendlich über den Spaß freue und der ganz einverstanden mit ihm wäre.

„Sie sind ein komischer Kauz," sagte lächelnd Helene und schraubte die Lampe etwas höher, daß sie heller brannte. „Ob übrigens die Frau Bause prophezeien kann oder nicht, soll mich wenig kümmern, ich werde ihre Künste doch nicht in Anspruch nehmen. - Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben."

„Scherz?" sagte der Famulus und wurde auf einmal ganz ernsthaft, „Scherz? - wer hat von Scherz gesprochen? - Wer sich einen Spaß zu machen wünscht, soll um Gottes willen andere Sachen wählen, als die Geister einer andern Welt zu incommodiren. Es thut nicht gut, und wir kommen /56/ mit ihnen schon weit mehr, als rathsam, in unseren Träumen zusammen."

„In unseren Träumen?" rief Marie rasch, die in den Worten eine Art Bestätigung für Manches zu finden glaubte, dem sie sich selber, sie mochte sich dagegen sträuben, so viel sie wollte, hinzuneigen begann. - „Also halten Sie unsere Träume auch für etwas Wirkliches?"

„Unsinn!" rief Helene lachend; „wenn die etwas Wirkliches sind, so bin ich vor vierzehn Tagen vom Thurme der Dorotheenkirche über die ganze Stadt fortgeflogen und nachher in den Schwanenweiher gefallen, und wie ich aufwachte, lag ich doch warm und weich in meinem Bette."

„Ihr Körper," erwiderte Schwiebus trocken - „Ihr Körper lag im Bette, Fräulein Helene, und der hatte mit der Sache auch weiter nichts zu thun. Ein Körper kann, wie sich das von selbst versteht, nicht träumen, und was der Geist unter der Zeit treibt, wo er den Körper verlassen hat, davon sagt er ihm gewöhnlich nichts. Nur die Seele, die indessen natürlich zu Hause bleibt, verräth es ihm manchmal."

„Die Seele?" riefen Helene und Marie fast zu gleicher Zeit aus; „so machen Sie einen Unterschied zwischen den beiden, die Sie für zwei ganz verschiedene Wesen zu halten scheinen?"

„Und sind sie das nicht?" lächelte der Famulus. „Eine Seele dürfen wir selbst dem Thiere nicht absprechen, dem wir keinen Geist gestatten. Der Geist mag den Körper im Schlafe verlassen, und den Beweis haben wir, wie er in der Zeit durch ferne Räume schweift. Die Seele dagegen muß den allgemeinen Naturgesetzen nach im Körper bleiben, ob er schläft oder wacht. Sobald sie ihn verläßt, ist er todt - bis sie zu ihm zurückgekehrt" - setzte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu.

„Aber sobald sie ihn einmal verlassen, kann sie nie mehr zurück!" rief Marie. „Todte müßten ja sonst wieder zum Leben erstehen."

„Und geschieht das nicht bisweilen?" sagte der Famulus.

„Scheintodte, ja."

„Gut, wir nennen sie Scheintodte!" rief der Famu-/57/lus kopfschüttelnd. „Der Name thut nichts zur Sache, und - sind noch keine solche Scheintodte beerdigt worden?"

„Oh Gott, ja!" rief Helene schaudernd -„selbst in unserer Familie haben wir ein derartiges furchtbares Beispiel."

„In Deiner Familie?" fragte Marie überrascht; „davon hast Du mir ja noch nie erzählt!"

„Wer spricht gern von so Entsetzlichem!"

Der Famulus stemmte die Geige wieder an die Schulter, und eine neue, aber leise Melodie beginnend, um das Gespräch nicht zu stören, sagte er langsam:

„Auch das Entsetzliche wird interessant, sobald es mit dazu dient, die Kenntnisse zu vermehren, an deren Schwelle wir noch stehen - die Kenntnisse jener Welt, von der die Wenigen, die wirklich etwas davon wissen, eben nichts, oder doch so gut wie nichts, verrathen dürfen."

„Also glauben Sie in vollem Ernst, Schwiebus," fragte ihn Helene, „daß hier wirklich Leute auf unserer Erde, in unserer Mitte leben, die etwas von jener andern geheimnißvollen Welt sagen könnten, wenn sie nur eben dürften?"

Der Famulus erwiderte nichts darauf, aber die Töne seiner Geige schnitten wie ein Weheruf in das Ohr der Mädchen.

„Sie wollten uns ja die Geschichte des Scheintodten erzählen," sagte er dann plötzlich, zu Helenen gewandt. „War es Mann oder Frau?"

„Eine Tante von mir," lautete die Antwort. „Erst wenige Jahre verheirathet, fiel sie bald nach ihrer ersten Entbindung in eine schwere Krankheit. Mein Oheim wich nicht von ihrem Lager und berief die geschicktesten Aerzte aus der Residenz, das flüchtige Leben der Sterbenden aufzuhalten. Umsonst - das Kind starb zuerst, und an dem nämlichen Tage folgte ihm die Mutter. Ihr Gatte war außer sich - er raste förmlich, warf sich über den Leichnam und schwur, daß er nicht ohne die Dahingeschiedene leben könne und wolle. Er widersetzte sich sogar den Leuten, nach denen geschickt war, die Leiche für das Begräbniß vorzubereiten, und die Aerzte, die für seinen Verstand fürchteten, drangen endlich darauf, daß /58/ er entfernt würde. Im Anfange ließ er sich das auch wirklich gefallen, schon nach der ersten Nacht aber fing er an zu toben und schrie, daß man seine Frau, von der er behauptete, sie wäre ihm im Traume erschienen, lebendig begraben wolle. Er wüthete dabei dermaßen, daß man ihn festhalten und in eine Zwangsjacke einschnüren mußte.

„So lag er sechsunddreißig Stunden, bis er endlich ruhiger wurde oder seine Kräfte doch so aufgerieben hatte, um sich nicht weiter rühren zu können. Die Zwangsjacke wurde ihm dann allerdings wieder ausgezogen, aber Wochen vergingen doch noch, ehe ihn die Aerzte für so weit wieder hergestellt erklärten, die Anstalt verlassen zu können. Er reiste augenblicklich nach Hause, und seine Schwester, die indessen sein Haus verwaltet, fand ihn wohl noch niedergeschlagen und ernst, aber doch sonst ruhig und selbst gefaßt. Er erkundigte sich nach dem Begräbniß, wie es gehalten worden, und ob Mutier und Kind zusammen begraben wären, fragte, ob die Aerzte auch in der That jedes Mittel angewandt hätten, sich von dem wirklichen Tode der Hingeschiedenen zu überzeugen, und schien sich, als ihm alle diese Fragen genü-gend beantwortet worden, vollständig beruhigt zu haben.

„Er aß zu Mittag, trank seinen Kaffee und sagte dann seiner Schwester, daß er hinaus auf den Kirchhof gehen und die Gruft, in der sein Weib und Kind ruhten, besuchen wolle. Seine Schwester wollte ihn allerdings begleiten, aber er lehnte es ab. Er wünschte allein mit seinem Schmerz zu sein, und wenn er sich da draußen ordentlich ausgeweint, werde ihm schon bester und leichter werden."

„Es war im Januar und bitter kalt, und der Kirchhof lag etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Mein Oheim hatte dort ein Erbbegräbniß, ein ziemlich tiefes und geräumiges Gewölbe mit einem eisernen Gitter darüber, in dem die Särge aus der Familie beigesetzt wurden. Den Schlüssel dazu trug er bei sich, die Kirchhofsthür selber war über Tag offen, denn der Todtengräbcr wohnte draußen in der Nähe. So verging der Nachmittag und es wurde Nacht, und mein Oheim kehrte nicht zurück. Seine Schwester ängstigte sich und wartete bis zu später Stunde auf ihn, doch /59/ umsonst. Mit Tagesanbruch aber, als er bis dahin immer noch nichts hatte von sich hören lassen, bat sie einen Mann aus dem Hause, hinaus zu gehen und sich bei dem Todtengräber nach dem Vermißten zu erkundigen. Großer, allmächtiger Gott! wie sollten sie ihn wieder finden! Der Todtengräber ging mit dem Boten zur Gruft, deren Thür nur angelehnt war, und der Anblick, der sich hier ihnen bot, muß fürchterlich gewesen sein, ließ aber auch nicht den geringsten Zweifel über das, was hier vorgefallen. Der Sargdeckel, unter dem meine Tante damals hinausgetragen worden, war abgeworfen, der Sarg leer, und in der einen Ecke des Gewölbes, die kleine Leiche des Kindes fest in das eigene Leichentuch gehüllt, wie um es gegen die furchtbare Kälte zu schützen, kauerte der erstarrte Körper der jedenfalls lebendig Beigesetzten. Bald nach dem Begräbniß mußte sie wieder zu sich gekommen sein und war nicht mehr im Stande gewesen, ihr Gefängniß - ihr Grab wieder zu verlassen. Nur vor dem Sarge war sie geflüchtet, so weit sie konnte, und dort hatte sie, das bleiche Haupt an die eisbedeckte Wand gelehnt, der Tod ereilt. Neben ihr aber, die Arme in wilder Verzweiflung um die erstarrten Glieder der Gattin und des Kindes geschlagen, lag mit durchschnittenen Adern angefroren an den Boden und die Leichen mit dem eigenen Blute - mein Oheim!"

„Allerbarmer!" rief Marie, „das ist ja fürchterlich!" Der Famulus aber fiel wieder in seine wilden, tollen Weisen ein, und nickte dazu, während er sich fast ganz dem Fenster zudrehte, in einem fort mit dem Kopfe, der auf dem langen Halse ordentlich hin und wieder schwankte.

„Entsetzlich ist es," fuhr Helene langsam fort, „wenn man sich in die Lage der Unglücklichen denkt. Sie war nur wieder zum Leben erwacht, um in grauenvollster Weise alle Schrecknisse des Todes noch einmal durchzumachen."

„Merkwürdig bleibt es aber doch," sagte Marie, „daß der Mann vorher den warnenden Traum gehabt. Großer Gott! die Frau lebendig begraben und der Gatte, der ihr zu Hülfe eilen will, in's Irrenhaus gesperrt und in die Zwangsjacke geworfen. Kein Wunder, daß sich der Unglückliche das Leben /60/ nahm, als er das Elend, den Jammer begriff - er muß da wirklich wahnsinnig geworden sein."

Die Töne der Violine wurden hier so furchtbar grell und laut, und klangen so wie Spott und Hohn zwischen die heraufbeschworenen Bilder des Entsetzens, daß die beiden Mädchen den Famulus bestürzt ansahen. Dem aber schienen mit der Erzählung ähnliche Saiten in seiner eigenen Erinnerung berührt zu sein. Jedenfalls hatte er die Gegenwart Anderer neben sich ganz vergessen. Das Gesicht dem Tische zudrehend, warf er das rechte Bein über das linke Knie und ging plötzlich, nach einem kurzen Vorspiel seines Instrumentes, dessen Töne jetzt in der That wie Worte klangen, in eine seiner barocksten Melodien über. Herüber und hinüber zuckten diese wie springende Gnomen und erreichten ihren Zweck wenn sie den gehabt, auch bald vollkommen; denn seine Zuhörerinnen wurden dadurch ordentlich gewaltsam von dem Schreckensbild abgezogen, das Helenens Erzählung vor ihrem innern Geist heraufbeschworen. Im Anfange lauschten sie nur dem sonderbaren, aber nie unmelodischen Gewirre von Tönen, und vergaßen endlich, was eigentlich diesen Sturm von Klängen hervorgerufen, in der Bewunderung über die erstaunliche Fertigkeit, ja, Kunst des Spielenden.

„Träume!" sang da plötzlich Schwiebus mit einer so wilden, heiser knarrenden Stimme, daß die Mädchen, wie sie ihr wenige Tacte gelauscht, und trotz der schaurigen Stimmung, in der sie sich noch vor wenigen Secunden befunden, kaum das Lachen unterdrücken konnten. Ueberrascht schauten sie dabei zu dem langen fahlen Gesichte des Singenden auf, der die wunderlichsten Grimassen dazu schnitt und den ungeschickten Oberkörper, wie um den Tact zu halten, den er auch zugleich mit dem rechten übergeworfenen Beine begleitete, von einer Seite zur andern warf.

„Träume! - Träume, sitzen am Bett, Die närrischen Burschen, und lachen, Wissen wohl, wie es da drüben steht. Wissen nicht, wie sie es machen. /61/

Tanzen, tanzen können sie wohl,

Werfen die schattigen Beine;

Kriechen in's Hirn wie der Has in den Kohl,

Dünken sich Herrn da alleine.

Plaudern können sie, geben nicht Ruh',

Haben schon Manchen betrogen.

Necken und quälen und - greift Ihr dann zu -

Hui! - sind sie blitzschnell entflogen."

„Aber ich habe ja gar nicht gewußt, daß Sie singen können, Schwiebus," lächelte Helene, als er die Strophen beendete und zum Schluß die neckische Melodie durch ein ganzes Chaos von Tönen führte.

„Kann ich auch nicht," sagte der Famulus trocken, „ich mache nur eine Art von Spectakel, den manche Menschen, die es eben nicht besser verstehen, für Gesang halten."

„Nun, schmeicheln thun Sie auch nicht," lachte Helene, „da ist wahrhaftig Ihr Rabe galanter. Der sagt doch jedesmal, wenn ich zu ihm hinüber komme: kluge Frau, kluge Frau!"

„Er wird es eben auch nicht bester verstehen," lächelte Marie, und der Famulus, der keinesfalls die Worte gehört hatte, nickte ganz in Gedanken mit dem Kopfe dazu. Die Mädchen mußten jetzt wirklich laut darüber lachen.

„Ja, ja," sagte aber der Famulus, ernsthaft dabei vor sich hinnickend - „lacht nur, lacht nur, so lange Ihr jung seid und keine weiteren Sorgen, keine Gedanken habt, die Euch quälen und peinigen dürfen. Die Zeit, wo das anders wird, kommt doch noch früh genug."

„Aber es braucht gar nicht anders zu werden, Herr Schwiebus," sagte Marie freundlich. „Wie vielen Menschen hat nicht Gott ein glücklich, friedlich Los beschieden, dem stillen Wasser gleich, das aus sanfter Ebene, unter Blumen hin der Ewigkeit entgegenquillt! Warum sollen wir das nicht auch für uns erhoffen dürfen und uns die schönen Tage jetzt mit Sorge und Noth nutzlos verkümmern? Es geht uns gut aus der Welt, das wollen wir also mit dankbarem Herzen genießen und die finsteren und traurigen Gesichter denen überlassen, die eben Ursache haben, traurig zu sein, und welchen allen wir ja doch nicht helfen können." /62/

„Marie hat Recht," bat da auch Helene, „lassen Sie die trüben Bilder, Schwiebus, machen Sie wieder ein freundliches Gesicht und erzählen Sie uns etwas Lustiges - aus Ihrem eigenen Leben vielleicht. Sie haben es mir schon lange versprochen, und heut Abend hätten wir so treffliche Zeit. Halten Sie Ihr Wort."

„Etwas Lustiges aus meinem Leben?" sagte der Famulus achselzuckend; „wäre nicht übel, möchte nur wissen, wo ich's gleich hernehmen sollte. Etwas Lustiges vom Famulus Schwiebus - Famulus beim Doctor - Hetzelhofer" - und er sprach den letzten Namen mit leiser, scheuer, kaum hörbarer Stimme.

„Oh, Sie wissen gewiß etwas," bat Helene, „wenn Sie sich nur recht besinnen wollten. Ich selber könnte Ihnen etwas angeben."

„So?" sagte der Famulus, und sein Gesicht zog sich wieder in jene tausend Falten, in denen man nie im Stande war zu erkennen, ob er lache oder weine; denn selbst Thränen wären in jenen zahllosen Gruben spurlos verschwunden. „Sie also wüßten etwas Lustiges aus meinem Leben?" wiederholte er nach kleiner, nachdenkender Pause - „gut, so nennen Sie's, Fräulein Helene, und wenn ich's nicht vergessen habe, will ich's erzählen."

„Gewiß?" rief Helene rasch und streckte ihm die Hand zum Einschlagen entgegen.

„Gewiß," sagte der Famulus, ihr selber neugierig dabei in's Auge schauend.

„Gut!" rief Helene, der Freundin zublinzelnd, „dann erzählen Sie uns heut Abend, Schwiebus, wie Sie - mit meinem Bruder bekannt wurden."

Der Mann zuckte zusammen, als ob er von einem elektrischen Schlage getroffen wäre, und sein Blick flog rasch und unstät von dem Antlitz der vor ihm Stehenden nach dem Fenster hinüber und wieder zurück. Als er aber die Augen Helenens in jubelnder Lust, ihn so weit überlistet zu haben, aus sich ruhen sah, war es fast, als ob ein eigen wilder Humor über ihn komme. Er griff den Bogen wieder auf und schaute mehrere Minuten lang still und schweigend vor /63/ sich nieder. Dann lachte er aber plötzlich so laut und hell auf, daß die beiden Mädchen ordentlich zusammenfuhren. So herzlich hatten sie ihn noch nie lachen hören, und doch lag auch wieder etwas gar so Unheimliches in dieser wilden, fast unnatürlichen Fröhlichkeit.

„Und weshalb glauben Sie, meine Damen, daß das etwas Lustiges ist?" sagte er endlich, nachdem er einen förmlichen Lachkrampf überwunden hatte und wieder zu sich gekommen war; „wer hat Ihnen überhaupt je davon erzählt?"

„Erzählt? eigentlich noch Niemand," sagte Helene; „aber mein Bruder hat doch schon mehrere Male, selbst wenn Sie dabei zugegen waren, darauf angespielt und dann jedesmal so herzlich dabei gelacht."

„Herzlich gelacht? - so?" - sagte der Famulus, jetzt wieder vollkommen ruhig, indem er die auf's Knie gestellte Violine dabei stimmte; „also herzlich gelacht hat er darüber? - ist ein gar lustiger Mann, der . . . der Doctor Hetzelhofer."

„Und wollen Sie es uns erzählen?" fragte Marie.

„Ob ich will? Gewiß will ich!" lachte der Famulus wieder; „habe ich es Fräulein Helenen nicht in die Hand versprochen? Ich halte immer Wort - das thut ja sogar mein Rabe, und ich werde mich doch nicht etwa gar von dem beschämen lasten. Aber - es wird ein wenig lang werden, das - Märchen. - Die ganze Geschichte ist auch überhaupt weiter nichts," setzte er, still und heimlich vor sich hinlachend, hinzu - „und - ich habe sie wahrscheinlich nur irgendwo einmal geträumt."

„Desto besser, Schwiebus!" rief Helene, der Freundin vergnügt dabei zunickend, denn nun verging ihnen der Abend gewiß rasch und angenehm.

„Aber ich begreife nur nicht, wie es ein Märchen sein kann," sagte Marie.

„Kein Märchen?" wiederholte der Famulus kaum hörbar, und sah Momente lang still und stier vor sich nieder.

Sein Gesicht war dabei wo möglich noch fahler geworden, und die Augen lagen ihm tief in ihren Höhlen. Das dauerte aber nicht lange - er legte sein Instrument neben sich nieder, /61/ bog sich im Stuhl zurück, stützte den linken Ellbogen auf das Fensterbrett und den Kopf in die Hand, daß sein Blick zuweilen die Sterne draußen suchen konnte, und begann dann mit leiser, aber vollkommen deutlicher, ruhiger Stimme:

V.

Die Geschichte des „todten Famulus".

„Draußen im Walde wohnen die Träume - kleine, winzige, luftige Dinger, in Felsenspalten und Bergesschlucht, in hohlen Bäumen und einsamen Klüften, wie der Adler seinen Horst sucht, still und allein - aber Nachts kommen sie hervor. In Schaaren und Schwärmen, die der blöde Wanderer gewöhnlich für Schwaden und Nebel hält, verlassen sie Berg und Wald und suchen Schlafende. Mit deren Geist plaudern sie dann und führen ihn mit sich fort in Gedankenschnelle - weit über die Welt hinaus, bis er eben so wie sie zum Traum einst wird. Husch sind sie hier - husch sind sie da, und was für Schätze breiten sie da dem staunenden Blicke nicht aus in Gold und Demanten, köstlichen Speisen und Gewändern, was das Herz wünschen könnte und begehren! Und Zauberstäbe haben sie, Zauberkäppchen, Tischchen decke dich und Scepter und Kronen; Flügel für den, der durch die Lüfte zu ziehen wünscht, Flossen für den Schwimmer, und weit auf werfen sie die Pforten ihrer Berge, die Eingänge zu Muschelsaal und Demantenwald, dem neugierigen Schwärmer ein herzliches Willkommen entgegen rufend. Nur mitnehmen darf er nichts, wenn er sie verläßt. Ob er's geschenkt bekommen oder selbst genommen, unter den Händen schwindet's ihm wieder fort in Luft und Hauch. Die Flügel versagen ihm den Dienst, das Wasser speit ihn aus, der Berg drängt ihn zurück, und die Erinnerung nur bleibt dem Geiste mit ihren bunten, schillernden Farben - gerade wie das Bild, das der Sonnenstrahl auf glatte Fläche wirft und auf ihr hält - anscheinend fest und deutlich, und doch nur wie ein Duft darüber hingehaucht. /65/

„Der Geist des Menschen ist frei, und kann streifen und schweifen, wohin er will, wachend oder schlafend. Nicht an die Materie gebunden, sattelt er sich sein zauberschnelles Roß, den Gedanken, und fliegt damit weit über Berg und Thal, über Land und Meer. Geist und Traum sind deshalb auch wackere, tüchtige Spielgefährten - nicht so die Seele.

„Die sitzt daheim, an den Körper gebunden, und sorgt und sinnt und grübelt und rechnet, und sehnt sich hinaus in's Freie dabei - in die Luft zu fliegen mit dem Aar, in die Tiefe des Meeres zu tauchen - wie es der Geist kann, der wilde, unruhige Gesell. Umsonst - das Band, das sie an den Körper fesselt, ist wohl zerreißbar, kann aber dann nicht wieder geknüpft werden mit Menschenhänden, und aus ihrer Hülle vorzeitig gerissen, müßte sie durch das Nichts schweifen in Ewigkeit - durch das öde, entsetzliche Nichts ..."

Er hielt schaudernd einen Augenblick inne und griff, fast wie unwillkürlich, nach dem Instrumente, ließ es aber neben sich liegen und fuhr nach kleiner Pause, wieder vollkommen ruhig, fort:

„Draußen im Berge wächst eine Kraft - die Menschen nennen sie Gift - die ist im Stande, die Seele von dem Körper zu trennen, und keine menschliche Kunst wäre im Stande, sie zurück zu führen. In der Tag- und Nachtgleiche aber, wenn die Sonne gerade über dem Aequator steht, schießt hier und da über Nacht in einzelnen Felsspalten ein dünner, blutrother Halm auf und welkt und verdorrt, wenn nicht gepflückt, wie ihn der erste Sonnenstrahl bescheint. Die Träume, rastlose Burschen, die herüber und hinüber streifen und alle Winkel und Ecken kennen, wissen die Plätze wohl, und wem sie gut sind, dem zeigen sie geheime Kraft und führen den Geist, der mit ihnen um ihre Spielplätze kreist, zu den geweihten Stellen.

„In irgend einer Stadt Deutschlands - der Name, und ob sie uns nah oder fern liegt, thut nichts zur Sache, denn lange Jahre sind seitdem entschwunden - lebte einst ein junger Bursche so froh, so glücklich in den sonnigen Tag hinein, so überselig in dem Genusse alles dessen, was diese Erde uns armen Sterblichen zu bieten im Stande ist, daß er - na-/66/türlich zuletzt übermüthig wurde und mehr verlangte. Die Träume waren dabei seine besten Freunde, und wenn er am Tage des Glückes Horn erschöpft und sich am Abend auf sein Lager warf, freute er sich schon im Voraus auf die wilde Bahn, die er mit ihnen weit hinaus in's Freie ziehen konnte - und er blieb keine Nacht daheim.

„Aber das waren und blieben doch immer nur Träume, und die genügten ihm zuletzt nicht mehr. Er wollte und verlangte Wirklichkeit, und härmte und quälte sich ab, wurde traurig und niedergeschlagen, und sein alter Vater grämte sich nicht allein darüber, sondern er selber versündigte sich auch dadurch an Gott. Die Träume aber, selber seelenlose Geschöpfe, wurden des mürrischen, kopfhängerischen Spielgefährten müde und sannen auf Mittel, ihn zu zerstreuen. Seiner Seele Drang konnte ihnen auch nicht auf die Länge der Zeit Geheimniß bleiben; wie sie ihn deshalb erst getrieben, sich von der lästigen Bürde zu befreien, zeigten sie ihm zuletzt die Stelle, wo der rothe Halm keimte, zur rechten Stunde. Noch schrak er zurück vor dem entscheidenden Schritte, aber in der nächsten Tag- und Nachtgleiche suchte er doch und fand den Schatz, der ihn zum Herrn machte über Raum und Zeit - weil er die Bande jetzt lösen und knüpfen konnte, die ihn an das Irdische fesselten und - er pflückte den Halm.

„Von dem Augenblick an," fuhr der Famulus fort, und strich sich mit der langen, bleichen Hand über die heiße Stirn, „war der sonst so lebensfrohe, glückliche Mann ein anderer Mensch geworden. Die wundervolle Welt um ihn her existirte nicht mehr für ihn - nicht des Himmels Blau, nicht der Erde Pracht, selbst seinen Träumen wurde er fremd, und Nächte lang saß er auf in dumpfem Brüten, in Unentschlossenheit, den Schritt zu thun, zu dem es ihn gezogen und gedrängt, und der ihm jetzt in eine neue - gefürchtete Welt einführen sollte, ihn, den fremden Eindringling."

Der Famulus barg Stirn und Augen in beiden Händen und blieb eine ganze Zeit lang schweigend sitzen. Marie wurde aber darüber ganz bestürzt, denn wie sie sich bis jetzt in das Märchen hineingedacht, sah sie den sonst so stillen, /67/ ruhigen Mann jetzt so gewaltig bewegt, als ob er von sich selbst das Furchtbarste erzähle. Und konnte diese Abscheidung der Seele von dem Körper nach Willkür des Menschen denn überhaupt Wahrheit sein? - Der Famulus phantasirte jedenfalls.

„Es ist doch ein eigenthümliches Gefühl," fuhr dieser da plötzlich wieder fort, indem er in seine frühere Stellung zurückfiel und nur einen scheuen, flüchtigen Blick aus dem Fenster warf, „es ist doch ein eigenthümliches Gefühl - neben sich selber zu stehen und den eigenen Körper zu sehen, der bleich, kalt, todt - eine Leiche - vor uns liegt. Noch wunderlicher aber ist dann das Bewußtsein unser selbst - ein Nichts und doch bewußt, ein Hauch, und bewegungs-, lebensfähig.

„Wie der schüchterne Schatten, der sich ängstlich hinter den Körpern birgt und dem Lichte, wo es ihn treffen könnte, scheu entweicht, zittert das neue Selbst vor dem fremden All, das es umgiebt, und wagt nicht die alte Wohnung zu verlaßen. So zögert und zaudert es, kehrt zurück und zwingt auf's Neue sich zu dem Entschluße, bis es den letzten Zweifel, die letzte Furcht von sich geworfen und nun plötzlich in jubelnder, jauchzender Lust frei - frei und ungehindert hinausschweift in die unendlichen Räume in nie geahnter, unbegriffener Seligkeit, durch ein ganzes Meer von Licht und Leben.

„Doch ist es nicht möglich, das zu beschreiben. Worte fehlen da, wo die Seele selbst das unermeßliche Glück nicht fassen konnte und schwindelnd zurückkehrte in den alten Bau, der ihr von da an morsch schien und lebensmatt.

„Es ist aber bei alledem eine gefährliche Geschichte," setzte er plötzlich mit ganz veränderter, trockener Stimme hinzu, „eine ganz gefährliche Geschichte, auf solche Wanderungen zu gehen und lange auszubleiben. Die Menschen, ungeduldige Wesen, die es sind, nehmen keine Rücksicht auf derlei Ferien und machen sich manchmal den Spaß und begraben den Körper indessen, wenn sie ihn finden - und das ist fatal. Hiernach erklären sich auch die Fälle des dann und wann vorkommenden „Lebendigbegrabenwerdens", was aber ein ganz falscher Ausdruck ist. Der Körper ist in der Zeit, in /68/ der er begraben wird, keineswegs mehr lebendig, sondern wirklich nach allen Regeln und Gesetzen todt, nur die noch nicht abgerufene Seele hat sich absentirt und steckt irgend wo, wohin sie nicht gehört, und wenn sie dann zurückkehrt - zu spät..."

Das alte Haus. Heimliche und unheimliche Geschichten

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