Читать книгу Kleine Erzählungen und Nachgelassene Schriften 1 - Gerstäcker Friedrich, Jurgen Schulze - Страница 2
ОглавлениеErstveröffentlichung 1872: "Der Bazar, illustrierte Damen-Zeitung 18. Jahrgang. Berlin: L. Schaefer
Nr.32, Seiten 257 - 259, Nr.33 wurde ausgelassen, Nr.34, Seiten 274 - 275, Nr.35 wurde ausgelassen, Schluss Nr.36, Seiten 289 - 291"
1.
Auf dem Anstand.
Es war ein wunderbar schöner Augustmorgen; der ganze Wald duftete. Eben stieg über die Wipfel des nächsten Höhenzugs jener lichte Rosaschein empor, der das Nahen der Sonne kündet, und wie mit Perlen überstreut lag eine kleine schmale Waldwiese, die sich aber scharf in das Thal senkte, und durch welche ein klarer, murmelnder Forellenbach seine, durch den Porphyr-Untergrund wie bräunlich gefärbte Krystallfluth hinabrieselte. Begrenzt aber wurde die Wiese auf der einen Seite durch einen prachtvollen hochstämmigen Buchenwald, während auf der andern eine sogenannte, etwa zehnjährige Dickung von Nadelholz, in der nur einzelne alte und knorrige Eichen standen, die östliche Einfassung bildete.
Und wie das in den Büschen und Zweigen lebte und zwitscherte, wie das herüber und hinüber flog! Da droben auf dem einen Buchenwipfel girrte ein wilder Tauber, dem von gegenüber ein Nußhäher spottend antwortete; die Finken schlugen, die Drossel flötete dazwischen, und etwas weiter oben äste sich ein schlankes Reh mit seinem Kitz und warf jetzt nur manchmal wie scheu den schönen Kopf empor, als ob es eine Gefahr wittere oder fürchte.
Gefahr? – armes Geschöpf, deine scharfen Sinne würden dich nicht geschützt haben, als du ahnungslos mit der Mor/76/gendämmerung den Platz betratest, denn in dem Schutz der Dickung, kaum hundertfünfzig Schritt von dir entfernt, lauerte wohl versteckt ein Jäger und hätte dich mit seiner sichern Kugel schon längst erreichen können, wenn es nicht eben ein ächter Waidmann gewesen wäre, der nicht daran dachte, Mutterwild zu erlegen.
In einem sorgfältig ausgeschlagenen Gebüsch, das ihm freie Bewegung gestattete und ihn doch vollständig auch gegen das scharfe Auge eines Wildes deckte, stand ein junger Mann in einer grauen Joppe mit grünem Kragen, einen runden Jagdhut auf, der zwei Spielhahnfedern trug, während ein Paar fein gegerbte, aber derbe Jagdstiefel den untern Theil des Beines deckten.
Wohl hatte er hier schon fast seit einer halben Stunde den Bewegungen des Rehes und dem muntern Spielen des Rehkitzes zugeschaut und sich daran erfreut; aber sein Blick schweifte doch oft rasch und forschend darüber hin, denn er wartete hier auf anderes und edleres Wild.
Gerade über diese schmale Waldwiese wechselte jeden Morgen etwa um die nämliche Zeit ein sehr starker Hirsch, dem er schon lange nachgespürt, ja ihn auch einige Mal selbst gesehen hatte, ohne je im Stande zu sein, ihn zum Schuß zu bekommen. Heute wollte er es deshalb mit dem frühen Anstand versuchen, und einen günstigeren Morgen konnte er sich dazu nicht denken. Eben von dort her, wo der Hirsch jedesmal aus der Ecke des Buchenwaldes trat und dann schräg hindurch nach der Dickung herüber schritt, drang der schwache Luftzug, die Witterung konnte er deshalb nicht von ihm bekommen, und von hier aus bestrich er dabei, seines Schusses sicher, den ganzen offenen Grund. Dazu der herrliche Morgen, die stets mehr gespannte Erwartung, der duftende Wald, ja das Reh selbst, das so vertraut dort auf und ab suchte. – Da hob dieses wieder scheu den schönen Kopf mit den klugen Augen, stieß dann einen leisen, fast zirpenden Ton aus und wandte sich wie durch irgend etwas verscheucht und von dem Kitz dicht gefolgt der Dickung zu, in der es gleich darauf verschwand.
War das der Hirsch, den das Reh vielleicht nahen gehört? Der junge Schütze fühlte, wie ihm das Herz fast hörbar in /77/ der Brust schlug, und wenn er auch wahrlich kein Neuling auf der Jagd war, so war der Moment doch ganz danach angethan, ihn aufzuregen und in fieberhafte Spannung zu versetzen.
Da rasselte oben etwas in den Büschen: im Nu hatte er die Büchse herauf, den Hahn gespannt, den Finger am Stecher – trockene Zweige knackten, das Laub raschelte, und:
„Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein.
Hangen und Bangen in schwebender Pein,
Himmelaufjauchzend, zum Tode betrübt,
Glücklich allein ist die Seele, die liebt“4
schmetterte eine helle Stimme wie jubelnd durch den morgenstillen Wald.
Drüben im Buchenwald wurde es laut – dort zwischen den einzelnen Stämmen durch, aber so weit entfernt, daß er die lichte Gestalt dann und wann auf Momente erfassen konnte, ging in voller Flucht der starke Hirsch – sein Hirsch, wie er schon fest geglaubt – aufgescheucht durch das Unterholz. Ein Schuß dahin konnte keinen Erfolg haben, und plötzlich wie in den Boden hinein versunken war auch der Hirsch, der eine Schlucht angenommen hatte, um seine schützende Dickung weiter unten zu gewinnen, und damit spurlos verschwunden.
Der junge Schütze gehörte, wie auch schon das feine Tuch seiner sonst einfachen Jagdkleidung bezeigte, jedenfalls der höhern und gebildeten Gesellschaft an, aber –
„Jauchzend begrüß’ ich das Blumengefild,
Jubelnd die Thäler in Nebel gehüllt.
Ueber die Sterne und weiter hinaus
Breiten die Arme der Liebe sich aus“
sang wieder, jetzt näher kommend und fast laut aufjauchzend die Stimme, und: „Ei so wollt’ ich denn doch, daß ein heiliges Kreuz-Donnerwetter den verdammten Berliner in den Erdboden hineinschlüge!“ knurrte der Schütze in den Bart, als er den Hahn seiner Doppelbüchse in Ruhe setzte und einen zornigen Blick oben nach der kleinen Wiese warf, wo eben ein sorgloses, glückliches Menschenkind in’s Freie trat, einen Moment die wunderschöne, herrliche Welt vor sich, da ihm /78/ dort gerade ein freier Blick über den Wald und das tiefer gelegene Land vergönnt war, überschaute und dann plötzlich ohne die geringste äußere Veranlassung, aus freier Hand einen Purzelbaum mitten auf der Wiese schlug.
„Wenn der Mensch nicht verrückt ist,“ murmelte der so arg gestörte Schütze vor sich hin, „so weiß ich’s nicht. Ob der nur herausgekommen ist, um hier mit Sonnenaufgang auf der nassen Wiese gymnastische Uebungen zu machen? Daß ihn der Henker hole, und solches Volk, das in ein Irrenhaus statt in den Wald gehört, lassen sie frei hier draußen herumlaufen!“
Der junge Fremde indessen, der vollkommen städtisch und sogar elegant gekleidet war, ja auch Lackstiefeln trug, die aber in dem starken Thau nicht recht zur Geltung kommen konnten, blieb noch einen Moment da oben wie in schweigender Bewunderung stehen und eilte dann, aus voller Brust wieder singend, in Lust und Jubel am Rande der Wiese abwärts, wo er die Stelle, auf welcher der Schütze stand, unmittelbar passiren mußte.
„Dürfte ich Sie fragen,“ fragte da dieser, als der Fremde, ohne ihn bis jetzt gesehen zu haben, dicht an ihn herangekommen war und jetzt, bei der lauten unerwarteten Stimme dicht an seiner Seite, ordentlich zusammenfuhr, „was Sie hier zu so früher Stunde im Walde zu suchen haben und weshalb Sie einen so heillosen Spectakel machen?“
„Alle Wetter, haben Sie mich erschreckt!“ rief der junge Mann, indem er zur Seite fuhr und unwillkürlich, nicht etwa nach einer verborgenen Waffe, sondern nach seinem Augenglas griff. Er trug es an einer Schnur um den Hals, und im nächsten Moment saß es ihm mit einem geschickten Druck auf seiner Nase.
„Wie ist mir denn?“ brach aber der Schütze ab, indem er ihn scharf betrachtete, „hab’ ich denn nicht schon –?“
„Kurt!“ rief auch jetzt der junge Fremde, der den so plötzlich Aufgetauchten für einen Moment durch sein Glas fixirte – „bist Du’s denn, oder bist Du’s nicht?“
„Alfred, bei Allem, was da lebt – nun, da hätte ich eher des Himmels Einsturz vermuthet, als Dich hier in diesen /79/ Bergen und beim Morgengrauen anzutreffen, wo Du sonst gewöhnlich noch um acht Uhr in den Federn lagst. Uebrigens hast Du mir meine ganze Jagd verdorben und einen Capitalhirsch verscheucht, der mir sicher zu Schuß gekommen wäre. Weshalb um Gottes willen mußt Du denn Deine Erklärung, daß allein eine verliebte Seele glücklich sei, Morgens mit Sonnenaufgang in Musik gesetzt in den Wald hinausschreien? Das verträgt das Wild nicht!“
„Aber, bester Freund,“ sagte Alfred, „was kann ich dafür, wenn die Viecher nicht musikalisch sind!“
„Verstehst Du unter den ‚Viechern‘ die Hirsche?“ lächelte der Schütze.
„Nun gewiß!“ nickte der junge Mann, „aber ich sage Dir, Kurt,“ fuhr er dann lebhaft fort, indem er Kurt’s Arm ergriff und ihn erregt drückte, „ich sage Dir, Du siehst hier den Glücklichsten der Sterblichen vor Dir, den es gegenwärtig auf der Erde giebt. Mir ist das Herz so voll Seligkeit, daß ich meine Wonne nur in einem fort in den Wald hineinjauchzen möchte.“
„Sehr angenehm das – ich habe eine Probe davon bekommen!“
„Ich weiß mir gar keinen Rath mehr!“ fuhr der noch blutjunge, aber hübsche und schlank aufgeschossene junge Mann mit leuchtenden Augen fort, „und wie ich da oben auf den offenen Hang kam und das weite herrliche Land in dieser fast wunderbaren Beleuchtung vor mir ausgebreitet sah, wußte ich meiner überschwänglichen Wonne in keiner andern Weise Lust zu machen, als daß ich – Du wirst mich auslachen – einen Purzelbaum schlug.“
„Ich habe Dich schon ausgelacht,“ sagte der junge Schütze trocken, „denn ich war Zeuge Deiner allerdings etwas wunderlichen Gefühlsäußerung – aber was – wenn man eigentlich fragen darf, macht Dich denn so übermäßig glücklich, daß Du die ganze Nachbarschaft in Alarm bringst? Wirklich die Liebe? – Kennst Du, bei Deinen musikalischen Talenten, nicht die alte Lehre in dem alten Liede: „Treu geliebt und still geschwiegen, wahre Liebe spricht nicht viel“? /80/ Du hättest Dich dabei eben so glücklich fühlen können und mir – die Jagd nicht verdorben.“
„Thut mir wirklich leid,“ sagte Alfred gutmüthig, „aber ich hatte wirklich keine Ahnung, Dich hier hinter einem Busch zu finden. Doch Du sollst Alles wissen, denn ich bin überzeugt, daß Du Theil an meinem Glück nimmst, – nur jetzt nicht,“ brach er rücksichtsvoll ab, „denn ich möchte Dich nicht gern länger in Deiner Jagd stören und werde Dich deshalb allein lassen.“
„Und glaubst Du,“ lachte Kurt, „daß ich jetzt, nachdem Du die ganze Nachbarschaft auf wenigstens eine halbe Stunde im Umkreis alarmirt hast, noch hier an dieser Stelle zum Schuß käme? – Nein,“ setzte er hinzu, indem er völlig aus dem Tannengebüsch heraustrat und seine Büchse resignirt über die linke Schulter hing, „heute ist’s damit vorbei, und ich bitte Dich nur dringend, bei einem längeren Aufenthalte hier Deine etwas lauten Morgenspaziergänge nicht wieder nach dieser Richtung her auszudehnen. Wohin gehst Du jetzt?“
„In das Dorf zurück. Du wirst auch nicht mehr durch mich belästigt werden, Kurt, denn ich reise schon morgen ab, ihr nach.“
„Also doch eine sie,“ lächelte Kurt, „nun das konnte ich denken; aber dann begleite ich Dich jedenfalls jetzt, und unterwegs schilderst Du mir sie.“
„Aber dann dürfen wir wohl nur leise sprechen,“ warf Alfred schüchtern ein.
„Nein,“ lachte Kurt, „Du brauchst heute Morgen Deinen Gefühlen keinen Zwang mehr anzuthun, denn jeden Schaden, den Du anrichten konntest, hast Du angerichtet – und nun sage mir,“ fuhr er fort, als er seinen Arm in den seines weit jüngeren Freundes legte und mit ihm rechts in eine Schneuse einbog, die einen nicht gerade näheren, doch bequemeren Weg nach dem Dorfe zu herstellte, „sage mir, was Dich heute so glücklich gemacht hat, denn bisher habe ich Dich immer, trotz Deiner Jugend, zu den sogenannten Blasirten gezählt, da Du, obgleich noch so jung, schon nicht mehr tanzen wolltest und das ganze weibliche Geschlecht gewissermaßen unter den Bann der Herzlosigkeit thatest.“
/81/ „Ich bitte ab, Kurt, bei Gott, ich bitte ab!“ rief Alfred, nicht ohne einigen Pathos. „Ehret die Frauen! sie flechten und weben himmlische Dornen in’s irdische5 –, nein, ich bin confus geworden. Kurt, nimm mir’s nicht übel, aber ich weiß in diesem Augenblick wahrhaftig nicht, wo mir der Kopf steht, denn ich fühle mich zu glücklich, zu unsagbar glücklich!“
„Schön,“ erwiderte Kurt, „dann thu’ mir nur den einzigen Gefallen und sei nicht langweilig, sondern erzähle mir mit kurzen einfachen Worten und ohne alle überschwänglichen Redensarten, was Du hast, und wer im Stande gewesen ist, Dich in eine so fabelhafte Extase zu versetzen, – wer nämlich die Sie ist, von der Du schwärmst und wegen der Du Purzelbäume Morgens mit Sonnenaufgang und sogar noch vor dem Kaffee mitten im Walde schlägst.“
„Du bist ein schrecklich prosaischer Mensch, Kurt,“ erwiderte Alfred, „eigentlich noch viel prosaischer, als wofür ich Dich bis jetzt gehalten, aber das soll mich nicht abhalten, Dir mein ganzes Herz auszuschütten, und zwar weniger Deinet-, als meinetwegen, denn ich fühle das innige Bedürfniß, mich auszusprechen, und dies war auch die Ursache, weshalb ich es heute so mit jubelndem Herzen dem Wald in die Wipfel sang.“
„Ich wollte, wir hätten uns gestern schon gesprochen,“ bemerkte Kurt trocken.
„So höre denn,“ fuhr Alfred fort, ohne die etwas doppelsinnige Bemerkung zu verstehen, oder wenigstens, ohne darauf einzugehen, „Du weißt, daß ich mich dem weiblichen Geschlecht bis jetzt ziemlich fern gehalten habe?“
„Du bist zwanzig Jahre alt, nicht wahr?“
„Gewesen ja,“ erwiderte Alfred, „ich hielt die Frauen für falsch – für kokett – ich – war schon verschiedene Male enttäuscht worden.“
„Du kannst dabei keine Zeit versäumt haben –“
„Ich bin jetzt bekehrt!“ rief der junge Mann, so mit Gefühlen beschäftigt, daß er den Einwurf gar nicht beachtete. „Ich habe ein Wesen gefunden – Kurt, ich sage Dir, ein Wesen, das dieser Erde gar nicht anzugehören, sondern den überirdischen Sphären entstiegen zu sein scheint.“
/82/ „Natürlich,“ nickte Kurt lächelnd vor sich hin.
„Lache nicht,“ rief aber Alfred gekränkt, „wenn Du sie gesehen hättest, würdest Du mir in jeder Silbe beistimmen und vielleicht eben so bewegt und ergriffen darüber sein, als ich selber.“
„Und wo hast Du dieses Wunder gefunden?“
„Hier im Walde!“ rief der junge Mann erregt; „denke Dir nur, es sind jetzt etwa fünf Tage, als ich, von dem kleinen Forellenbach von Ludwigsroda aus hinaufgehend und meinen eigenen Träumen nachhängend, einen tiefschattigen Bergkessel erreiche, in dem der Bach eine scharfe Biegung macht, und hier plötzlich ein Wesen vor mir sehe, das nichts Irdisches an sich hatte und nur aus Blüthenduft und Sonnenstrahl gewoben schien.“
„Alfred,“ sagte Kurt lächelnd, „thu’ mir den Gefallen und sprich – so weit Dir das irgend möglich ist, wie ein vernünftiger Mensch. Denke Dir einmal ein Wesen aus Blüthenduft und Sonnenstrahl gewoben! Was ist das? – ein heißer und dadurch unangenehmer Blumengeruch; ich kann mir darunter kein überirdisches Wesen denken.“
„Weil Du ein kalter, calculirender und prosaischer Mensch bist!“ rief Alfred heftig aus; „aber Du sollst mich nicht außer Fassung bringen und die genaue Schilderung jenes Engels hören. Sie trug ein hellblaues, mit kleinen rosa Blümchen überstreutes Barègekleid, um den zarten Hals einen weißen dünnen Shawl von chinesischem Crêpe, einen ebensolchen, wenigstens weißen Gürtel mit einem emaillirten Knopf als Schnalle, eine Korallenschnur um den weißen Nacken und ebensolche Armbänder, und die zierlichsten braun lackirten Saffianschuhe, die sich ein Mensch nur denken kann.“
„Nun, für eine erste Begegnung mit der Geliebten,“ lächelte Kurt, „hast Du Dir ihr Aeußeres ziemlich genau gemerkt. Ich fürchte fast, ich würde nach einem solchen ersten Zusammentreffen verwünscht wenig von dem zu erzählen wissen, was sie eben angehabt hätte.“
„Aber das gehört dazu,“ rief Alfred eifrig, „und ich habe ein merkwürdiges Auge für derlei Dinge, besonders wenn sie nur interessante Persönlichkeiten betreffen. Doch der Anzug /83/ war auch das Wenigste, und ich weiß wahrlich nicht, wie ich Dir die wirklich ätherische Gestalt des jungen bildschönen Mädchens so schildern soll, um Dir wenigstens einen auch nur annähernden Begriff von ihren Reizen zu geben. Denke Dir ein Wesen, das, als sie am Ufer dahin schritt, kaum den Boden zu berühren schien und, als sie sich mir zuwandte, mich an jene Feen erinnerte, die früher unsere Wälder belebt und Sterbliche zuweilen mit ihrer Erscheinung beglückt haben sollen. Sie hatte hellblondes lockiges Haar.“
„Himmelblaue Augen,“ warf Kurt ein.
„Das schönste Himmelblau, das sich auf der Welt nur denken läßt,“ rief Alfred in wahrer Verzückung. „Ihr Teint war dabei von einer durchsichtigen Zartheit – der Mund klein und zierlich, von zwei Reihen Perlen geschmückt, zwei Grübchen in den Wangen und eins im Kinn, und das Lächeln, als sie endlich sprach – nein, Kurt, und wenn ich Methusalems Alter erreichte, ich würde das nicht vergessen.“
Kurt lächelte. „Du bist wirklich, wie ich sehe,“ sagte er endlich, „bis über die Ohren verliebt, und in Deinem Alter läßt sich annehmen, daß diese Liebe wenigstens bis zu Weihnachten anhält.“
„Kurt!“ rief Alfred fast außer sich, „wenn ich je wieder von dem Mädchen lasse, so –“
„Bst,“ unterbrach ihn der ältere Freund, „keine unnöthigen Schwüre jetzt, beschreibe mir vor allen Dingen Eure romantische erste Zusammenkunft im Waldesgrün und an dem murmelnden Bach, denn ich fange doch an, Interesse daran zu nehmen.“
„Ein Eisklumpen müßte das!“ rief Alfred erregt und halb beleidigt über die kalte Aufnahme seiner Schilderung aus, „aber wie soll ich Dir das beschreiben – ich fürchte, ich habe mich bei dieser ersten Begegnung eher etwas zu blöde und albern gezeigt, denn ich konnte mir nicht helfen, es war mir fortwährend, als ob ich einer höhern Erscheinung gegenüber stände.“
„Läßt sich denken,“ nickte Kurt vor sich hin, „und sie hat Dich jedenfalls deshalb im Stillen ausgelacht.“
„Glaube das nicht, Kurt,“ rief Alfred rasch, „sie war die Liebe und Güte selber, und so freundlich und nachsichtig –“
/84/“Und wovon habt Ihr gesprochen?“
„Gesprochen? Von was Anderem als dem rauschenden Bach, den duftenden Blüthen, den flatternden Schmetterlingen und Gottes schöner, herrlicher Welt!“
„Und verschwand sie, wie es Feen sonst gewöhnlich thaten?“
„Nein – ich begleitete sie nachher in’s Dorf hinunter, wo sie mit einer kranken Tante, die sie jetzt pflegt, wohnte.“
„Und Ihr saht Euch wieder?“
„Ach gewiß,“ rief Alfred, „noch verschiedene Male und immer an der nämlichen Stelle, denn die alte Dame war zu leidend, und ich habe sie nur ein paar Mal auf der Promenade gesehen.“
„Und sie um ihre Einwilligung gebeten –“
„Du spottest, Kurt,“ rief Alfred gekränkt, „aber ich gebe Dir mein Wort, daß jenes holde Frauenbild mein ganzes Herz erfüllt, und nicht allein mit grenzenloser Liebe, sondern auch maßloser Seligkeit.“
„Alfred, Alfred!“ sagte Kurt, indem er neben dem Freunde hinschritt und leicht mit dem Kopfe schüttelte. „Du bist stets etwas leidenschaftlicher Natur gewesen, jetzt ist Alles „grenzen-“ und „maßlos“. Du übertreibst fabelhaft, und wie Du das mir gegenüber thust, so fürchte ich, behandelst Du Dich selber in der nämlichen Weise.“
„Aber wie kann man etwas übertreiben, wenn man es genau so schildert, als man es selber fühlt?“
„Man kann sich eben selber täuschen, und das führt dann nicht selten zu unangenehmen Konsequenzen.“
„Kurt, wenn Du sie selber kenntest, wenn Du nur ein einzig Mal in die blauen Sterne hättest schauen dürfen...“
Kurt lachte. „Es ist nun einmal mit Dir kein vernünftiges Wort zu reden, also führe mich zu Deiner Heldin, und ich kann mich dann viel leichter selber überzeugen, inwieweit Deine Begeisterung auch Berechtigung hat. Ich glaube, ich habe die junge Dame schon gesehen.“
„Aber sie ist heute Morgen um drei Uhr mit der Post abgereist.“
„Und deshalb warst Du so vergnügt?“ lachte Kurt.
/85/ „Weil ich unmittelbar hinter ihr herreisen werde,“ erwiderte eifrig der junge Mann; „ich erfuhr ihre Abreise zu spät und konnte nicht so rasch fertig werden, sonst hätte ich sie jedenfalls begleitet.“
„Wo wohnen sie?“
„In Dresden.“
„Und was für einen Rang bekleidet ihr Vater oder welchem Stande gehört er an?“
„Ja, wie soll ich das wissen!“ rief Alfred: „glaubst Du, daß ich in ihrer Nähe an Familienverhältnisse gedacht habe?“
„Ich war der Meinung, Du hättest dabei an nichts Anderes gedacht,“ erwiderte Kurt, „die Frage wäre jedenfalls sehr natürlich und sogar gerechtfertigt gewesen. Jetzt weißt Du nicht einmal ihre Adresse.“
„Sie heißt Hulda.“
„Hulda, allerdings ein hübscher Name, der etwas Duftiges hat, und wenn die junge Dame dem entsprechend aussieht, so kann ich mir Dein Entzücken wohl erklären. Also wirst Du im Adreßkalender den Namen Hulda suchen müssen.“
„Es ist die Huldgöttin, auf die Erde herabgestiegen.“
„Wie alt etwa?“
„Höchstens siebzehn Jahre!“ rief Alfred begeistert.
„Höchstens?“ lächelte Kurt. „Da trägt sie wohl noch kurze Kleidchen?“
„Du bist ein Spötter,“ sagte Alfred halb beleidigt, „aber ich weiß, daß Du mir Abbitte thun wirst, sobald Du sie nur siehst.“
„Lieber Alfred,“ sagte Kurt viel ernster als vorher, indem er seinen Arm in den des Freundes schob, „sieh, an Deinem guten Geschmack zweifle ich keinen Augenblick, aber willst Du von mir einmal ein vernünftiges Wort hören?“
Alfred lächelte.
„Es hat sich gegen Liebe die Vernunft ermannt,
Und als Empörungsfahne Weisheit aufgesteckt.
Die Liebe hat zum Angriff einen Hauch gesandt,
Und die Vernunft hat zitternd das Gewehr gestreckt.“6
„Du scheinst ziemlich bewandert in den Klassikern zu sein,“ sagte Kurt, „und ich kann Dir augenblicklich auf dieses Gebiet /86/ nicht folgen, erlaube mir deshalb in einfacher Prosa zu Dir zu reden, und der Gegenstand, den ich berühren will, ist auch prosaischer Natur, wenigstens wirst Du ihn dafür halten.“
„Du holst weit aus.“
„Und will mich doch sehr kurz fassen. Sagtest Du nicht, daß Du einundzwanzig Jahre alt wärest? ich glaube noch nicht einmal, denn Du siehst wenigstens viel jugendlicher aus.“
„Ich werde im December einundzwanzig Jahre.“
„Also zwanzig und ein halb; Hulda, wie die Himmlische heißt, ist höchstens siebzehn, wie Du selber sagst, was kann sich ein vernünftiger Mensch von einer solchen Liebe versprechen?“
„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig ist?“ rief Alfred begeistert aus.
„Ewig ist ein wunderschönes Wort,“ nickte Kurt still vor sich hin, „man ist damit gleich fertig. ‚Das dauert ewig‘, sagt man im Theater, wenn der Zwischenact ein wenig zu lang ausgedehnt wird, ‚ewiger Regen‘ heißt es bei etwas nasser Witterung, ‚ewige Liebe‘, wenn sich ein junger Mensch zum ersten Mal in ein glattes Gesicht vergafft hat und seine Gefühle dann höchst unbefangen mit einem endlosen Zeitmaß mißt.“
„Du bist wirklich prosaisch, Kurt.“
„Ich habe es Dir vorher gesagt, daß ich es sein würde. Nun bedenke Euer Alter, denn ich setze doch voraus, daß Du auf eine ‚ewige Verbindung‘ mit der Geliebten rechnest. Angenommen wirklich, daß Deine Hulda erst siebzehn Jahre und Deiner Aussage nach ‚ein Engel der Schönheit‘ ist, wie lange glaubst Du, daß sie noch ungesucht blühen wird? doch wohl nur ein oder höchstens zwei Jahre. Dann finden sich, und vielleicht noch früher, die Bewerber ein, die auch zugleich im Stande sind, ihr eine Häuslichkeit zu bieten.“
„Und wenn sie mich liebt, wie ich sie, wird sie jedes Bewerbers Hand mit Entrüstung und kaltem Stolz zurückweisen.“
„Du bist dann zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt,“ fuhr Kurt, ohne von der Unterbrechung Notiz zu nehmen, ruhig fort, „und hast wenigstens noch fünf bis sechs Jahre vor /87/ Dir, ehe Du nur vernünftiger Weise an’s Heirathen denken darfst. Hulda ist bis dahin vierundzwanzig Jahre alt, und glaubst Du, daß ihr an einem so hinausgezögerten Brautstande irgend etwas gelegen wäre?“
„Und wenn sie sechzig Jahre alt wäre,“ rief Alfred, dessen Augen in höchster Aufregung leuchteten, „so würde ich dieselbe heiße, brennende Liebe für sie fühlen wie jetzt!“
„Und hast Du Dich schon gegen sie erklärt?“ frug Kurt.
„Ich wagte es nicht,“ sagte Alfred scheu, „wenn ich es auch hundertmal auf den Lippen hatte.“
„Also weißt Du nicht einmal, ob sie Dich wieder liebt?“
„Sind solche Gefühle nicht stets gegenseitig?“
„Nicht daß ich wüßte; und ihre Eltern kennst Du eben so wenig?“
„Nein, aber ich habe Freunde genug in Dresden, um dort im Haus schon eine Einführung zu bekommen. Ihre Tante heißt von Loswall.“
Kurt schüttelte mit dem Kopfe. „Da hilft alles Reden nichts,“ sagte er. „Du bist einmal in den richtigen Liebestaumel, den blutjunge Leute sehr häufig für wahre Liebe halten, hineingefallen, und ich sehe ein, daß jetzt mit Dir kein vernünftiges Wort zu reden ist. Dein Herz ist mit Deinem Verstande vollständig durch gegangen, und ich werde es dem alten Aesculap, der Zeit, überlassen müssen, Dich von allen Deinen Holzwegen wieder auf die breite Chaussee des wirklichen Lebens zu bringen.“
„Auf eine Chaussee willst Du mich bringen, wo ich jetzt auf blumigen Waldpfaden und weichem duftenden Moose wandere?“
„Das letztere ist ein Irrthum,“ bemerkte Kurt. „Moos duftet gar nicht, bekommt weit eher einen fauligen Geruch.“
„Du bist unausstehlich, Kurt.“
„Ich habe Ursache,“ sagte dieser, „denn Du hast mich mit Deinem Liebeswahnsinn heute um einen starken Hirsch gebracht und, das Schlimmste dabei, nicht einmal eine Ahnung davon, was das heißen will. Aber wann wirst Du abreisen?“
„Morgen früh wollte ich mit der nämlichen Post fort, in der sie heute abgefahren ist. Wie lange bist Du aber schon hier?“
/88/ „Seit vier Tagen.“
„Das ist merkwürdig, daß wir uns da nicht früher begegnet sind; ich bin schon eine ganze Woche hier und nicht aus dem Dorfe oder seiner allernächsten Umgebung hinausgekommen.“
„Da hast Du also gleich den Grund, ich wohne bei dem alten Oberförster dort oben auf der Höhe, und habe nicht allein den Wald nicht verlassen, sondern bin auch jedesmal geflüchtet, wenn ich lichte Kleider durch die Büsche schimmern sah. Der liebe Gott bewahre Einen vor allen Spaziergängern, wenn man bürschen geht!“
„Du hast keinen Sinn für das Schöne.“
„Nicht?“ rief Kurt begeistert aus, und seine Augen blitzten. „Du solltest nur einmal das Glück haben, einen edlen Hirsch aus dem Walde treten zu sehen, wenn er den prachtvollen Kopf hebt, hinaussichert, und dann laut schreiend den Gegner zum Kampfe herausfordert. Alfred, wenn Dir dabei das Herz nicht aufginge, daß Du laut aufjubeln möchtest vor lauter Glück und Seligkeit, dann hast Du kein Herz. Das ist schön, das ist erhaben, und dazu noch der herrliche grüne Wald, die lautlose heilige Stille umher.“
„In die der Hirsch hinein schreit?“ bemerkte Alfred trocken.
Kurt sah ihn einen Moment rasch und wie unwillig an; plötzlich brach er in Lachen aus und rief:
„Du hast wahrhaftig Recht, Alfred. Wir haben Beide unsere verschiedenen Ansichten von Leben, Neigungen und Leidenschaften, und es würde mir so schwer werden, Dich, wie Dir, mich zu überzeugen, daß Du oder ich im Irrthum wären. Also Du gehst nach Dresden?“
„Ja, direct, ich habe dreiwöchentlichen Urlaub erhalten, um meine etwas angegriffene Gesundheit zu restauriren, und kann den nicht besser anwenden.“
Kurt lächelte, erwiderte aber nichts und sagte nur nach einer Weile:
„Gut, dann bleiben wir wenigstens heute zusammen. Ich bin durstig geworden, und vor uns, im goldenen Hirsch, finden wir ein vorzügliches Glas Bairisch Bier.“
„Bier?“ sagte Alfred mit einem wegwerfenden Gesichtsausdruck, „gemeines Bier jetzt! – ich möchte Champagner trinken.“
/89/ „Du würdest hier einen schönen Stoff bekommen,“ lachte Kurt, indem er des Freundes Arm wieder nahm. „Nein, Kamerad, trink Du Bier, denn das ist Dir auch am zuträglichsten. Champagner steigt Dir nur noch mehr in den Kopf, und Du brauchst vor allen Dingen etwas dickes, ruhiges Blut.“
Und die beiden jungen Leute schritten, von jetzt an nur über gleichgültige Dinge plaudernd, die Straße hinab, dem nicht mehr fernen Dorfe zu.
2.
Die Schwestern.
In Neustadt-Dresden, in einer reizenden Villa der so hübsch angelegten Königsbrücker Straße, wohnte der alte pensionirte Forstmeister von Rankhorst mit seiner Familie: seiner verwittweten Tochter und seinen zwei Enkelinnen.
Der alte Herr – er war schon hoch in die siebzig – führte ein ganz glückliches Leben, denn selber mit zeitlichen Gütern gesegnet, so daß er nicht auf seine ziemlich geringe Pension angewiesen blieb, lebte er einen Theil des Sommers gewöhnlich in der Schweiz und kehrte erst im August nach der Residenz zurück, wo er noch mit der alten Leidenschaft die Jagden frequentirte und selbst oft auf der doch ziemlich ermüdenden Hühnersuche drei, vier Stunden draußen in den Feldern umherstieg.
Außerdem war er auch, wie er es stets gewesen, sehr geselliger Natur. Er liebte Gesellschaft, sah auch mit größter Freude Gäste bei sich, und Abends, behauptete er, dürfe man nicht zu Bett gehen, ohne seine Partie Whist gespielt zu haben. Ein jovialer Kamerad, aber dabei ein tüchtig praktischer Mann, war er deshalb auch in seinen Kreisen allbeliebt, und wurde, wenn er in fröhlichen Cirkeln sogar noch manchmal ein Tänzchen wagte, den jungen blasirten Leuten oft als Muster aufgestellt.
/90/ Sein Haus bot übrigens eben durch seine beiden bildhübschen Enkelinnen Hulda und Paula noch einen ganz besondern Reiz, denn etwas Lieblicheres, als diese beiden Zwillingsschwestern, konnte es auf der Welt nicht geben. Dabei war der heitere Charakter ihres Großvaters auf sie übergegangen, und das sang und trillerte und lachte den ganzen Tag im Hause, sowie sie nur eben bei einander waren.
Und heute schien ein ganz besonderer Festtag in der kleinen freundlichen Villa, denn Hulda war von ihrer etwas monotonen Krankenfahrt mit der alten, von je ein wenig mürrischen Tante, die sie in ihre eigene Wohnung zuerst richtig abgeliefert, wieder zurückgekehrt, und die beiden jungen Wesen konnten nun gar nicht genug Zeit finden, sich mit einander auszuplaudern und von hüben und drüben zu erzählen. Es ließ sich nämlich denken, daß „Großpapa“ sein lange und schmerzlich vermißtes Enkelkind nun auch wieder voll genießen wollte. Gegen „Großpapa“ konnte Hulda aber – so herzlich lieb sie ihn hatte, doch nicht so von der Leber weg reden, wie mit der Schwester. Es gab da eine Menge von Dingen, die für sie Beide natürlich vom allerhöchsten Interesse waren, die aber den alten Herrn nicht im Entferntesten interessiren konnten, oder über die er auch am Ende gar in seiner wirklich oft provocirenden Weise gelacht hätte. Kein Wunder denn, daß sich die Schwestern danach sehnten, einmal eine Stunde vollkommen ungestört zu sein, aber die fand sich nicht eher, als bis sie endlich dem Großvater und der Mutter gute Nacht gesagt und nun in ihrem lauschigen kleinen Stübchen, das neben ihrem eigenen Schlafzimmer lag, zusammen auf dem Sopha saßen und Hand in Hand und Auge in Auge ihre Herzen gegen einander ausschütten durften.
„Ach, Hulda,“ sagte Paula, wie ihr die Schwester von der reizenden Gegend, dem schönen prächtigen Walde und den wunderbaren Fernsichten erzählt hatte und dann noch hinzusetzte, was sie für köstliche Forellen gegessen und was für delicate Milch sie getrunken – „manchmal habe ich Dich wirklich beneidet, wenn Du mir so in Deinen Briefen jene himmlischen Berge schildertest – aber wenn ich mir dann auch wieder die langweiligen Morgen- und Abendstunden dachte, die Du /91/ gezwungen warst, allein mit der guten Tante zu verleben, und wenn wir junges Volk dann hier so fröhlich beisammen waren und mit einander sangen und lachten, dann thatest Du mir auch wieder leid, und ich hätte Dich gern einmal auch acht Tage ablösen mögen.“
„Ach, mein liebes Kind,“ sagte Hulda mit einem schelmischen Blick auf die Schwester, indem sie sich ehrbar emporrichtete und sogar mit einem gewissen stolzen, aber doch immer scherzhaften Selbstgefühl fortfuhr, „so sehr verlassen sind wir doch auch nicht gewesen. Junge Leute fanden sich da verschiedene, und ob ich leer ausgegangen, magst Du Dir selber beantworten, wenn ich Dir sage, daß ich sogar persönlich einen eigenen Courmacher gehabt habe.“
„Du?“ rief Paula im äußersten Erstaunen, und es gab in dem Moment vielleicht kein reizenderes Bild auf der ganzen Welt, als diese beiden bildhübschen Mädchen, in ihren schneeweißen Morgenröcken, die blonden Locken gelöst, die Augen blitzend, das heitere unschuldige Lächeln auf den lieben Zügen, dabei einander sprechend ähnlich, wie ein Antlitz und sein Spiegelbild, Schulter an Schulter, ihre Hände zusammen und sich lächelnd in die Augen schauend. Aber wie lieb hatten sie auch einander, und da gab es nichts, weder Freude noch Schmerz, das sie nicht redlich getheilt, so daß sie oft herzlich mit einander weinten und dann auch wieder eben so herzlich mitsammen lachen konnten.
Und jetzt erzählte Hulda von einem Courmacher, und zwar einem, den sie allein gehabt, denn hier im elterlichen Hause fiel das ja gar nicht vor. Wo ein junger Mann mit den beiden Zwillingsschwestern zusammentraf und diese fabelhafte Aehnlichkeit zwischen den Beiden sah, mußte er ihnen seine Schmeicheleien immer im Plural sagen, und die beiden Mädchen waren es deshalb auch gar nicht anders gewöhnt.
„Du?“ wiederholte Paula und konnte den Gedanken noch gar nicht fassen.
„Ja, ich,“ nickte Hulda glückselig, „ich selber, und weißt Du, wer das noch dazu war? – ein lebendiger Lieutenant – Da!“ und als ob das ein förmlicher Schlag gewesen wäre, der nun erst einmal auf die verblüffte Schwester wirken solle, /92/ zog sie ihre Hand aus der Paula’s, rückte ein Stückchen auf dem Sopha von ihr ab und lachte sie mit ihren blitzenden Augen an.
„Unsinn,“ sagte Paula und schüttelte, die Schwester betrachtend, den Kopf, „wie sollte ein Lieutenant dort in die Berge kommen!“
„Ein Lieutenant?“ rief Hulda, indem sie rasch wieder näher rückte; „aber die kommen doch überall hin.“
„Und wie sah er aus, Hulda?“ frug Paula neugierig? „bitte, bitte, erzähle mir, wie das Alles kam! War er hübsch?“
„Nun,“ sagte Hulda, aber entsetzlich gleichgültig, „er war gerade nicht häßlich, aber besonders hübsch kann ich auch nicht sagen, er hatte noch nicht einmal einen Schnurrbart und ganz hellblonde Locken, mitten aus der Stirn beinahe fingerbreit gescheitelt, als ob er sich den Strich da oben rasirt hätte.“
„Das mag ich nicht leiden,“ sagte Paula.
„Aber sie tragen’s beinah alle,“ bemerkte Hulda.
„Ja, und die Oberkellner und Ladendiener auch; aber bei welchem Corps stand er? was für eine Uniform trug er?“
„Gar keine,“ bemerkte unbefangen Hulda, „er war dort in Civil.“
„Aber woher wußtest Du, daß es ein Lieutenant sei?“
„Weil er immer Herr Lieutenant genannt wurde,“ erwiderte die Schwester.
„Ach! das ist häßlich,“ sagte Paula kopfschüttelnd; „was hilft mir ein Lieutenant ohne Uniform! Aber war er interessant?“
„Ich sage Dir, Paula, höchst,“ rief Hulda, aber doch mit einem schelmischen Ausdruck in den lieben Zügen, „und schwärmen konnte er! Wir haben von nichts gesprochen, als Luna, Sternenschimmer, duftendem Wald, wallenden Nebelschleiern, Nachtigallengesang, heiligen Schatten des Forstes, duftenden Kindern Flora’s und tausend ähnlichen wunderhübschen Sachen.“
„Ach geh, Du hast mich zum Besten!“
„Wahrhaftig nicht!“
„Und wo steht er?“
„Ja,“ lachte Hulda, „wenn er da stehen geblieben ist, wo /93/ ich ihn zuletzt sah, so ist das vor dem Postgebäude in Ludwigsroda.“
„Ach, Du bist ein Kind!“ sagte die Schwester ungeduldig. Ich meine, wo er in Garnison steht?“
„Ja, danach habe ich ihn wirklich nicht gefragt. Wir kamen auch auf solch’ prosaische Dinge nie zu sprechen. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, denn als er uns vorgestellt wurde, sprach der alte Brunnenarzt mit seiner geschwollenen Oberlippe so undeutlich, und später kam ich mit dem Herrn Lieutenant vollkommen gut aus. Großvater nennt das ja auch immer einen ‚Handgriff‘ zum Namen.“
„Aber in welcher Weise hat er Dir denn die Cour gemacht?“ frug Paula, die das ganz besonders zu interessiren schien, „denn Deiner bisherigen Beschreibung nach scheint er nur im Allgemeinen, gewissermaßen im ganzen Weltall herum, geschwärmt zu haben.“
„Das hat er auch,“ bestätigte Hulda rasch, „er hat mir zweimal gesagt, daß er den ganzen Wald an’s Herz drücken möchte.“
„Hm aber rede nur einmal vernünftig. Du scheinst wirklich bei Deinem Herrn Lieutenant etwas gelernt zu haben. Also das war sein ganzes Courmachen?“
„Oh, Gott bewahre!“ rief Hulda rasch, „er verglich meine Augen mit den Sternen und den blauen Feldblumen.“
„Wenn Tante dabei war?“
„Nein, wenn wir mit Tante spazieren gingen, denn die setzte sich immer auf eine Bank zum Ausruhen.“
„Und litt sie überhaupt, daß Dich der Lieutenant begleitete?“
„Oh,“ sagte Hulda, doch etwas verlegen, „sie hat ihn nur zweimal gesehen und sagte dann, er wäre noch so jung und schüchtern, mit dem hätte es keine Gefahr. Und dann,“ fuhr sie lebhaft fort, „recitirte er Gedichte und ganze Stellen aus Trauerspielen, oh, das konnte er prächtig! Kurz, er lebte nur immer in höheren Sphären, und ich amüsirte mich vortrefflich dabei.“
„Aber das alles ist noch immer kein Courmachen,“ meinte Paula, „das habe ich mir wenigstens ganz anders gedacht.“
/94/ „Na, dann hättest Du manchmal die Blicke sehen sollen, wenn er glaubte, daß ich ihn nicht beobachtete, und wenn ich ihn dann plötzlich ansah, wurde er bis unter die Haare roth.“
„Ein Lieutenant!“ rief Paula gerade so erstaunt aus, als ob sie darin schon die wichtigsten Erfahrungen gemacht hätte.
„Und Abends,“ fuhr Hulda in der Erinnerung schwelgend fort, „lief er oft zwei, drei Stunden vor meinem Fenster umher, wenn ich auch schon lange das Licht ausgelöscht hatte.“
„Aber woher weißt Du das?“ frug die Schwester verwundert.
„Ich hatte mir,“ flüsterte ihr Hulda zu, als ob sie selbst hier einen Lauscher fürchte, „die eine Rouleau-Ecke ein wenig hinaufgebogen, so daß ich, ohne bemerkt zu werden, hindurchschauen konnte, und gerade gegenüber war das Wirthshaus ‚zur Post‘, vor dem zwei helle Laternen brannten, so daß man Alles deutlich überblicken konnte. Es sah zu hübsch aus, wenn er so auf- und abging, als ob er vor der Post auf Wache stände und auf die Ablösung warte. Es war doch aufmerksam von ihm, und als wir am letzten Morgen schon um drei Uhr mit der Post abfahren wollten, stand er wahrhaftig fertig angekleidet da, um uns noch einmal Lebewohl zu sagen. – Ja, ich glaube sogar, er hat uns auch geweckt, denn um halb zwei Uhr schon wurde so furchtbar an die Hausthür gedonnert, daß wir Alle miteinander in die Höhe fuhren und Tante, die gerade über der Thür schlief, fast den Tod vor Schreck bekam, sie glaubte, es wolle Jemand einbrechen.“
Paula lachte. „Ja, Schatz,“ sagte sie, „dann hast Du in der That einen wirklichen kleinen Roman dort in den Bergen durchgespielt, und es gäbe das eine reizende kleine Erzählung, aber der Schluß ist zu matt. Sie kriegen sich nicht.“
„Unsinn, Paula,“ sagte jetzt Hulda, ihrerseits erröthend, „was Du auch schwatzest! An eine Heirath hat doch weder der Herr Lieutenant noch ich gedacht, und ihm war es jedenfalls nur darum zu thun, seinen romantischen Gefühlen etwas Luft zu machen; aber wie rasch verging uns dabei die Zeit. Ich sage Dir, es war zu hübsch, und dazu dann die ganze /95/ Umgebung: der herrliche Wald, in dem es eine Masse von wilden Thieren gab, die Hasen sprangen uns oft über den Weg; wenn man ein wenig höher in die Berge stieg, konnte man auch dann und wann auf einer grünen Wiese Rehe grasend finden, und einmal haben wir sogar einen großen mächtigen Hirsch gesehen, der gräßlich hohe und gezackte Hörner hatte, so daß ich einen Todesschreck bekam. Aber er that uns nichts, sondern sprang mit einem Satz in die Büsche zurück, wo wir aber sein Stampfen noch lange hörten.“
„Ach, das hätte ich auch sehen mögen, Hulda,“ sagte Paula, in Bewunderung die Hände zusammenfaltend, „es muß gar so herrlich sein!“
„Und dann die Jäger, die mit ihren Hunden in den Wald hinein zogen, die Flinten auf der Schulter,“ fuhr Hulda begeistert fort, „die grauen Joppen an mit grünen Kragen und graue Hüte auf, mit wunderlich zusammengebogenen Federn daran, es sah zu reizend aus, und was für wunderhübsche Menschen waren darunter, und wie stolz sie dabei einherschritten, als ob sie uns andere arme Sterbliche nur so von oben herab betrachteten.“
„Es ist etwas Merkwürdiges um die Jagd,“ sagte Paula, still vor sich hinnickend, „und Großpapa, ja selber noch Jäger mit Leib und Seele. Freilich ein wunderliches Vergnügen, das ich wenigstens nicht begreife. Wenn er aber auch manchmal naß wie eine Katze nach Hause kommt, und hat nur etwas geschossen, so ist er doch vergnügt und erzählt und lacht den ganzen Abend. Aber, ich glaube wahrhaftig, es wird Zeit zum Schlafengehen, sieh nur, es ist schon halb zwölf Uhr geworden. Wie mir der Abend verflogen ist! Wir sind aber auch so lange nicht beisammen gewesen.“
Es war wirklich Zeit, und Hulda von der Reise über Tag auch etwas müde geworden, hatte sie doch jetzt bald in vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen.
„Gute Nacht, Hulda,“ sagte Paula zur Schwester, die zuerst unter ihre Decke schlüpfte, „schlaf’ recht wohl und merke Dir, was Du diese erste Nacht wieder träumst – das hat immer Bedeutung.“
„Ich werde aufpassen, Paula,“ sagte das junge Mädchen /96/ und legte sich ebenfalls zur Ruhe. Reichlich zehn Minuten mochten sie auch ruhig gelegen haben, das Licht war ausgelöscht, und nur das langsame monotone Ticken des Regulators an der andern Wand unterbrach die Stille.
„Hulda,“ sagte da plötzlich Paula’s weiche und vorsichtig gedämpfte Stimme, „schläfst Du schon, Schatz?“
Sie bekam keine Antwort.
„Hulda!“ flüsterte sie noch einmal, nur halblaut, „schläfst Du schon?“
„Nein, Paula,“ erwiderte Hulda, aber wirklich schon mehr als drei Viertel in Schlaf, „was willst Du?“
„Sag’ mir einmal,“ frug Paula, sich halb in ihrem Bett emporrichtend, als ob sie die Frage ganz besonders interessire, „was hattet Ihr denn eigentlich für einen Badearzt?“
„Wir?“ frug Hulda, die den Sinn kaum noch faßte, „wo?“
„Nun, in Ludwigsroda. War es ein angenehmer Mann?“
„Ganz und gar nicht; ein dicker alter Herr,“ murmelte das junge Mädchen halblaut als Antwort.
„In der That?“ erwiderte Paula, die indeß ihren eigenen Gedanken folgte. „Und waren recht hübsche Toiletten dort? – Hulda! schläfst Du?
Sie bekam keine Antwort mehr, der Schlaf hatte die Uebermüdete in seinen Arm genommen und wiegte sie leicht unter freundlichen Träumen ein. – Und was gaukelte er ihr vor? Kindesträume: flüsternde Buchenwipfel, zitternde Mondstrahlen, junge Lieutenants in Uniform und Civil – hübsche Jäger mit der Büchse auf der Schulter – sich haschende Kinder, bunte flatternde Schmetterlinge, und dazu hörte sie im Geiste immer einen wunderhübschen Galopp, den die Dragoner, gerade als sie in Dresden einfuhren, unterwegs gespielt, und süß schlafend und mit lächelnden Lippen schlug sie mit den Fußspitzen den Tact dazu. /97/
3.
Der Besuch.
Lieutenant Alfred von Bersting brach in der That seine Cur in Ludwigsroda, nachdem es „der Engel“ verlassen, sehr kurz ab; sein Gesundheitszustand ließ auch wirklich nichts zu wünschen übrig, und er konnte in Dresden eben so gut eine Nachcur gebrauchen, wie irgend wo anders.
Was ihn aber, als er dort ankam, in die größte Verlegenheit brachte, war, daß er weder Namen noch Wohnung seiner Angebeteten kannte – nur den Namen der Tante, und bei dieser hatte er auch bis jetzt geglaubt, daß sie in der Hauptstadt wohne. Als er aber das Logis derselben, und zwar mitten in der Stadt aufsuchte, und sich erst vorsichtig unten beim Hausmann nach den Familienverhältnissen – d. h. nach den Familiengliedern erkundigte, – ob der Mann nämlich glaube, daß er das „gnädige Fräulein“ zu Hause fände, erklärte ihm dieser, ein gnädiges „Fräulein“ gäbe es nicht in der ganzen Etage – nur eine schon ziemlich bejahrte gnädige Frau, die verwittwete Frau Forsträthin von Loswall, die hier nur mit einer Gesellschafterin – auch schon ziemlich in den Jahren – und einer Köchin wohne. Der Mann wollte auch nichts von ihrer Nichte wissen; sie bekäme allerdings sehr häufig Besuch von jungen Damen, sei auch mit einer solchen erst kürzlich von der Reise zurückgekehrt – lieber Gott, das war ja Hulda – aber wo die wohnten und ob sie verwandt mit einander wären, könne er nicht sagen.
Da stand er – die Frau von Loswall aufzusuchen wagte er nicht, und sie nach ihrer Nichte zu fragen, das hätte doch zu aufdringlich ausgesehen, und außerdem wußte er auch gar nicht, wie sie eine solche Anfrage aufnehmen würde, in Ludwigsroda war sie wenigstens immer ziemlich kalt gegen ihn gewesen. Daß er auch Hulda nie nach ihrem Familiennamen gefragt, denn Loswalls gab es sonst in der ganzen Stadt nicht mehr, sie würde ihn gewiß und sicher genannt haben – und wie /98/ sollte er sie jetzt in der großen und volkreichen Stadt auffinden!
Es war allerdings ein schwer Stück Arbeit, und drei Tage lang suchte er vergebens alle Vergnügungsorte, Terrasse, Großen Garten, zoologischen Garten und alle sonstigen Plätze ab, ja musterte Abends im Theater mit einem guten Operngucker auf das Sorgfältigste den ersten Rang und die Parterrelogen – und selbst – wenn auch mit wenig Hoffnung – den zweiten Rang. Es blieb Alles nutzlos, und trübselig schlenderte er am vierten Morgen eben über die Promenade, in der Nähe des Café français, als er plötzlich zwei junge Damen auf sich zukommen sah, von denen er die Jüngere – das Herz hämmerte ihm in dem Augenblick in der Brust, als ob es seine Banden sprengen wolle – Hulda – seine Hulda erkannte.
Er blieb auch wie rathlos, von seinem ersten Gefühl wirklich übermannt, mitten auf der Promenade stehen, starrte die junge Dame an und mochte dabei wohl ein so verblüfftes Gesicht gemacht haben, daß ihm beide junge Mädchen die lieben Köpfchen zuwandten und vielleicht unwillkürlich ein wenig über ihn lächelten – es giebt für junge Damen gar nichts Interessanteres, als einen verblüfften Lieutenant. Damit glitten sie an ihm vorüber; jetzt aber kam Alfred auch wieder zu sich selber, denn die Gelegenheit durfte er nicht unbenutzt entschlüpfen lassen.
Sich rasch wendend, bemerkte er eben noch, wie beide junge Damen sich nach ihm umsahen, aber auch blitzschnell wieder mit ihren Köpfchen herumfuhren, als sie entdeckten, daß er sich ebenfalls nach ihnen drehte – es war das auch fatal. Jetzt zögerte er aber auch nicht mehr; mit wenigen raschen Schritten hatte er sie eingeholt, und militärisch, aber sehr artig grüßend, sagte er zu Hulda:
„Mein werthes, gnädiges Fräulein, Sie wissen gar nicht, wie glücklich es mich macht, Ihnen hier zu begegnen.“
Die Angeredete schrak etwas vor ihm zurück und bekam einen feuerrothen Kopf, anwortete dann aber, und zwar etwas schnippisch, was ihr übrigens vortrefflich stand:
„Sie irren sich wahrscheinlich in der Person, mein Herr – ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen,“ – und mit /99/ einem kaum halb versteckten Kichern ihrer Begleiterin drehten sich die beiden jungen Mädchen ab und liefen jetzt mehr, als daß sie gingen, vor lauter Verlegenheit jedenfalls – die kleine Strecke der Promenade hinab, bogen in die Kreuzgasse ein, riefen dort eine Droschke an und fuhren über den Altstadtmarkt in die Schloßgasse hinein und auch dort hindurch.
Alfred stand im ersten Moment, als ob er einen Schlag vor den Kopf bekommen habe, denn wie freundlich und lieb war Hulda sonst immer da oben im Walde mit ihm gewesen, und jetzt? – „Sie irren sich wahrscheinlich in der Person, mein Herr“. Er sich irren, in dem Gesicht und Liebreiz! Aber so ganz rathlos blieb er doch nicht stehen, denn während ihm diese Gedanken durch den Kopf flogen, war er den beiden jungen Damen erst mit den Augen gefolgt, bis sie um die Ecke bogen – dann eilte er ihnen nach und sah kaum, daß sie eine Droschke nahmen, als er ebenfalls und ohne sich auch nur einen Moment zu besinnen, die nächste anrief und dem Kutscher gebot, der vorangegangenen Droschke zu folgen und augenblicklich zu halten, sobald jene hielt – aber immer in etwa fünfzig Schritt Entfernung zu bleiben.
Droschkenkutscher sind sehr weise Leute und machen in ihrem Beruf manche nicht uninteressante Erfahrungen. Bei solchen Sachen besonders wissen sie außerordentlich genau Bescheid – in jene Droschke waren, wie er selber gesehen, zwei junge, bildhübsche Damen gestiegen; der junge Officier wollte wissen, wo sie wohnten, und das konnte ihm Niemand besser besorgen, als er.
Die Droschke voraus fuhr der alten Brücke zu und über diese hin – also nach Neustadt – die Hauptallee hinunter und bog in die Königsbrücker Straße ein, hielt aber schon an einem der ersten Häuser, und im Nu standen Alfred’s Pferde eingezügelt.
Alfred hatte eins der vorderen Fenster geöffnet und schaute, durch den Mantel des Kutschers halb verdeckt, hinaus; – es stieg aber nur eine Dame aus und eilte, noch zurück grüßend, durch den kleinen Garten ihrer Wohnung zu. Die Droschke fuhr weiter. Unser Kutscher drehte sich etwas schwerfällig, und weiterer Ordre wegen, nach seinem Fahrgast um.
„Fahr zu, Kutscher!“ sagte dieser.
/100/ „War wohl die Rechte nicht?“ bemerkte der Kutscher.
Alfred schüttelte lachend den Kopf, und das Fuhrwerk rasselte wieder seinen Weg entlang, bis der vordere Wagen zum zweiten Mal hielt und diesmal auch die zweite Dame absetzte.
„Fahren Sie vorüber, Kutscher, daß ich die Hausnummer erkennen kann,“ sagte Alfred. Er brauchte kein Geheimniß mehr zu bewahren, denn er war ja doch, wie er fühlte, längst durchschaut.
Droschke dirigirte die Sache so geschickt, daß er langsam dicht am Haus vorüber fuhr und erst zwei Ecken weiter wieder hielt.
„Wollen Sie noch sonst wohin?“ frug er zurück, als er hier, in sicherer Entfernung, sein mageres Pferd einzügelte.
„Nein – aussteigen.“ – Der Kutscher war mit seinem Trinkgeld zufrieden, und Alfred promenirte jetzt noch, seinen Gedanken dabei vollen Raum gebend, eine Zeit lang vor jenem Hause auf und ab, ohne jedoch irgend wen am Fenster zu sehen. Die Wohnung schien wie ausgestorben.
Uebrigens gab es ein sehr leichtes Mittel, die Insassen jenes Hauses zu erfahren: der Adreß-Kalender. Dies kleine Haus sah auch nicht so aus, als ob es mehr als eine Familie beherberge, und bei dem nächsten Kaufmann konnte er den Namen erfahren.
Da stand er: Oberforstmeister a. D. Paul von Rankhorst – also Hulda von Rankhorst war ihr Name, und jetzt eilte er vor allen Dingen in die Stadt zurück, um Näheres über die Familie zu hören.
Und durfte er es wagen, sie aufzusuchen? Hatte ihn nicht Hulda so kalt und schnöde abgewiesen und sogar geleugnet, daß sie ihn je gesehen habe? Aber sie war nicht allein gewesen – konnte es möglich sein, daß sie sich vor der Freundin genirte, und sprach das denn nicht um so mehr zu seinen Gunsten? – Uebrigens war er trotz seiner Aufregung hungrig geworden, Mittagszeit außerdem, so beschloß er denn auch auf der Terrasse zu diniren und stieg langsam die niederen Stufen hinan, die nach oben führten.
Vor ihm her – noch langsamer als er und sich an der /101/ prachtvollen Aussicht erfreuend, die sich dort ihm bot, schritt ein junger hochgewachsener Mann, sehr elegant gekleidet – sicherlich ebenfalls ein Fremder, welcher der Terrasse seine Huldigung brachte. Als Alfred an ihm vorüberging, wandte er sich, um sein Angesicht zu sehen, eilte aber schon im nächsten Moment auf ihn zu und rief, ihm die Hand entgegenstreckend: „Kurt! – ist es möglich – wie kommst Du nach Dresden?“
„Alfred! bei Allem was lebt!“ rief der Freund. „Also habe ich Dich doch getroffen, denn ich verzweifelte schon daran, da ich Deine Wohnung nicht wußte. Aber wer kommt nicht nach Dresden? Ist es doch Centralpunkt für Alles, was Deutschland an Natur- und Kunstschönheiten bietet, und Du hättest Dich weit eher wundern können, wenn ich nicht hierhergekommen wäre.“
„Aber ich habe nicht geglaubt, daß Du Dich so rasch von dem schönen Wald trennen würdest.“
„Du weißt doch, daß ich schon längere Zeit dort verweilte, ehe wir uns trafen, und dann,“ setzte er lächelnd hinzu – „hatte ich auch meinen Zweck erreicht und vorgestern Morgen, trotz Deiner Störung neulich, den braven Hirsch glücklich erlegt. Da ich nun schon eine Anzahl Rehböcke und auch einen geringen Hirsch vorher geschossen, so mochte ich nicht unbescheiden sein und die Güte meines freundlichen Gastgebers mißbrauchen. Ohne Büchse in den Wald zu gehen, brachte ich nicht über’s Herz, und da hielt ich es für das Beste, mich der Versuchung ganz zu entziehen und den Wald lieber zu verlassen.“
„Also den armen Hirsch hast Du noch wirklich todtgeschossen?“
„Ja, denke Dir nur,“ rief Kurt, während ihm in der Erinnerung schon die Augen blitzten – „zwei Morgen war ich noch vergeblich danach gegangen. Der Hirsch, wahrscheinlich damals durch Dich scheu gemacht, hatte seinen Wechsel verändert. Stunden lang kroch ich im Busch herum, bis ich seinen neuen Wechsel ausmachte und die Stelle fand, wo seine breite Fährte über die Wiese lief. Dort richtete ich mir denn noch vor Sonnenuntergang einen Stand her, ließ ihm die Nacht Ruhe und war Morgens um zwei Uhr schon, und /102/ lange vor Tag zur Stelle. Wie mir aber das Herz klopfte, als ich zur gewöhnlichen Zeit, wo er zu Holze zog, das Knicken dürrer Aeste und das Rascheln im Laub hörte – und da plötzlich trat er heraus, sicherte dem frischen Morgen entgegen und zog vertraut, kaum mehr als neunzig Schritt von mir entfernt, über die Wiese hinüber. Das aber war sein letzter Gang; die Kugel schlug, mit dem Knall selbst zeichnete er, fuhr herum und brach wie ein Wetter in die Haselbüsche hinein, durch die ich ihn noch eine kurze Strecke hören konnte. Natürlich lud ich erst wieder frisch auf den Brand und ging dann erst zum Anschuß hinunter und – hatte mich nicht geirrt. Auf dem Wechsel lag Schweiß, und der Spur folgend, fand ich ihn auch, kaum hundert Schritt von dort entfernt, unter einer mächtigen Buche verendet. Denke Dir, ein unregelmäßiger Sechzehnender und feist wie Butter. Das Geweih wäre mir jetzt nicht für tausend Thaler feil… Aber,“ brach er plötzlich ab, „hast Du Deine Huldgöttin hier schon wieder gesehen?“
„Hm, Kurt,“ meinte Alfred, indem er des Freundes Arm nahm und langsam mit ihm auf der Terrasse zurückschritt, „das ist eine ganz eigenthümliche Geschichte. Denke Dir, ich bin ihr heute Morgen begegnet, und – sie hat mich nicht wieder erkannt.“
„Natürlich – weil sie Dich noch nicht in Uniform gesehen.“
Alfred blieb stehen und sah den Freund rasch und erstaunt an. „Wahrhaftig, Du kannst Recht haben,“ rief er, „daran hatte ich gar nicht gedacht! – Und doch dann, welch ein Unterschied zwischen mir und ihr – ich hätte sie wieder erkannt, und wenn sie mir in dem buntesten Maskeradenscherz entgegengekommen wäre. Uebrigens weiß ich doch jetzt, wo sie wohnt – denke Dir, wie es mir heute Morgen ging“ und jetzt erzählte er dem Freunde die List, die er gebraucht, um ihre Wohnung aufzufinden.
„Und wie ist ihr Name?“
„Von Rankhorst heißt ihr Vater.“
„Oberforstmeister außer Dienst?“ rief Kurt rasch.
„Ich glaube ja – ja wohl – ganz recht.“
/103/ „Das trifft sich sonderbar,“ sagte der junge Mann kopfschüttelnd, „mein Vater hat es mir auf die Seele gebunden, den alten Herrn aufzusuchen, denn Beide sind intime Freunde, wenn sie auch weit voneinander entfernt gewohnt und sich in langen Jahren nicht gesehen haben.“
„Und willst Du ihn aufsuchen?“ rief Alfred rasch.
„Gewiß will ich,“ lautete die Antwort.
„Gut, dann begleite ich Dich,“ rief Alfred entschlossen, „Hulda kann mich in der That nicht erkannt haben, sonst hätte sie mir das durch ihr liebes Lächeln gezeigt und mich nicht so fremd und erstaunt angesehen, und bei dem alten Herrn bist Du dabei gleich im Stande mich einzuführen. Das trifft sich ausgezeichnet.“
„Aber unter welchem Vorwande?“ frug Kurt.
„Hm,“ meinte Alfred, aber doch nicht ganz mit sich einig, „ich – kann Dich ja vielleicht nur begleiten – wir haben uns hier zufällig getroffen – oder auf meine Bekanntschaft aus Ludwigsroda hin. Das geht ja doch, daß ich mich nach dem Befinden der jungen Dame erkundige – ist wenigstens sehr natürlich.“
„Das allerdings,“ lachte Kurt; „nun, auf Deine Verantwortung, denn tiefen Eindruck kannst Du auf die Dame Deines Herzens, wie mir fast scheinen will, nicht gemacht haben, oder sie würde Dich unter jeder Verkleidung selbst wieder erkannt haben.“
„Es war ja nur ein Moment, daß ich sie sah,“ entschuldigte sie Alfred, „aber wann gehen wir?“
„Wenn es Dir recht ist, diniren wir hier oben zusammen. Der alte Herr wird jedenfalls sein Nachmittagsschläfchen halten, und wir treffen ihn nachher bei seiner langen Pfeife und einer Tasse Kaffee in bester Laune.“
„Abgemacht!“ rief Alfred erfreut aus, und die beiden jungen Leute, die bis dahin unter den Bäumen auf und ab gegangen waren, traten jetzt in die Restauration.
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„Denke Dir nur, Hulda,“ rief Paula, als sie nach Hause kam und lachend auf die Schwester zueilte, „als ich vorhin /104/ mit Elsa von Bülow über die Promenade ging, redete mich ganz vertraulich ein fremder Officier an. Ich erschrak natürlich nicht schlecht, habe ihn aber auch wahrhaftig kurz genug abgefertigt.“
„Wer war es denn?“ frug Hulda neugierig.
„Ja, wie soll ich das wissen!“
„Und was wollte er?“
„Jedenfalls eine Unterhaltung mit mir anknüpfen – ich weiß nicht einmal mehr die Worte, aber wenn ich nicht irre, sagte er mir, er würde glücklich sein, meine Bekanntschaft zu machen, oder etwas Aehnliches.“
„Aber eine solche Unverschämtheit!“ rief Hulda erzürnt. „War es denn noch ein junger Mann?“
„Blutjung – er sah wie ein Cadett aus.“
„Dann war’s auch vielleicht einer,“ lachte Hulda; „aber willst Du denn nicht ablegen? Wir essen gleich.“
„Nein, ich bin nur hergekommen, um Mama zu fragen, ob sie mir erlaubt, heute Mittag bei Bülows zu essen; Elise hat mich so darum gebeten, und ich habe es ihr auch schon halb und halb zugesagt. Du solltest auch mitkommen, aber Großpapa ist immer verdrießlich, wenn wir Beide weglaufen. Wo ist Mama?“
„Ich glaube, in ihrem Zimmer – und gehst Du dann gleich?“
„Gewiß – adieu, Herz,“ und die Schwester umarmend und abküssend, eilte das junge fröhliche Kind hinaus.
Das Mittagessen war verzehrt; nachher hielt der alte Oberforstmeister in seinem Lehnstuhl gewöhnlich eine kurze Siesta, und dann trank die kleine Familie zusammen Kaffee, wobei er seine Pfeife Knaster rauchte. Er war einmal daran gewöhnt und nahm deshalb auch nur höchst selten und mit Widerwillen eine Einladung zu einem Diner an, weil er dort seine Bequemlichkeit nicht so haben konnte.
Die Kölnische Zeitung vor sich, saß er da, las bald einmal und horchte dann wieder dem freundlichen Plaudern Hulda’s, die noch immer viel von ihrer „Reise“ zu erzählen hatte, als der Bursche hereinkam und dem Oberforstmeister eine Karte brachte.
/105/ „Zwei Herren wünschen dem Herrn Oberforstmeister ihre Aufwartung zu machen,“ meldete er.
Der alte Herr nahm kopfschüttelnd die Karte – er wäre am liebsten ungestört geblieben, hatte aber kaum einen Blick darauf geworfen, als er in seinem Stuhl emporfuhr und dem Diener zurief:
„Ist das ein alter Herr, der Dir die Karte gegeben hat?“
„Nein, Herr Oberforstmeister, noch ein junger Herr.“
„Dann vielleicht der Sohn,“ rief der alte Oberforstmeister lebendig. „Herein mit ihm, herein; der darf mir nicht so lange vor der Thür stehen. Denk’ Dir, Paula,“ rief er seiner Schwiegertochter, Hulda’s Mutter, zu, „Kurt von Sternbach, erinnerst Du Dich noch auf meinen alten Freund Sternbach, der damals eine Zeit lang bei uns wohnte? Alle Wetter! Das freut mich, wieder einmal von ihm zu hören.“
Es blieb ihm keine Zeit, weiter etwas zu sagen, denn in dem Moment öffnete sich die Thür, und Kurt, dem Alfred schüchtern folgte, betrat das kleine freundliche Gemach, wo ihm der Oberforstmeister schon mit beiden ausgestreckten Händen entgegenkam.
„Sind Sie ein Sohn meines alten Kurt, des Landjägermeisters von Sternbach?“
„Der Sie durch mich tausendmal grüßen läßt, verehrter Herr.“
„Dann seien Sie mir herzlich und wieder und wieder willkommen, mein junger Freund,“ rief der Oberforstmeister, indem er ihn ohne Weiteres in die Arme nahm und ihm einen derben Kuß auf die Wange drückte. „Hier, Paula,“ rief er dabei seiner Tochter zu, „der Sohn meines liebsten und besten Freundes, den ich auf der Welt kenne, wenn wir uns auch fast ein paar Jahrzehnte nicht um einander bekümmert haben, Hulda, meine Enkelin, lieber Kurt – seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie Kurt nenne, aber ein anderer Name will mir nicht über die Lippen. Hulda’s Schwester, Paula, lieber Kurt, ist gerade heute nicht zu Hause.“
Kurt von Sternbach wechselte die Begrüßungen.
/106/ „Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er dabei, „ich glaube, nein, ich bin fest überzeugt, daß ich schon kürzlich in Ludwigsroda das Vergnügen hatte, Ihnen zu begegnen, mit keiner Ahnung freilich, wer Sie wären, und hier mein Freund Alfred von Bersting war, wie ich weiß, ebenfalls so glücklich, dort Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein lieber Herr Oberforstmeister, darf ich Sie bekannt machen?“
Hulda hatte merkwürdiger Weise bei der Anrede einen dicken rothen Kopf bekommen und sich schon verlegen gegen den sie stumm, aber ehrfurchtsvoll begrüßenden jungen Officier verneigt. Der Oberforstmeister aber, dem dies vollständig entging, empfing den jungen Officier ebenfalls in seiner jovialen gemüthlichen Weise. Hulda’s Mutter beorderte gleich frischen Kaffee für die Herren, und kaum zehn Minuten später saßen Alle plaudernd und erzählend so gemüthlich um den großen runden Tisch, als ob sie seit Jahren bekannt gewesen wären und sich nicht erst seit wenigen Minuten gefunden hätten.
Und Alfred schwelgte in Seligkeit. Hulda war allerdings anfangs etwas befangen gewesen, aber das verlor sich bald wieder. Als Kurt nun sogar dem alten Waidmann in humoristischer Weise erzählte, wie und wo er seinen Freund Alfred zum ersten Mal wieder getroffen, und in welcher Art ihm dieser auf der Jagd gedient, wollte sich der alte Herr vor Lachen ausschütten, und schon dadurch war ein heiterer, ungezwungener Ton in das Ganze gekommen. Die Zeit verging ihnen auch so rasch, daß es sechs Uhr wurde, ehe sie an den Aufbruch dachten, und Alfred befand sich gerade noch in eifrigem Gespräch mit Hulda, welcher er einige von Ludwigsroda mitgebrachte Photographien gezeigt.
„Ach, da hab’ ich noch hübschere!“ rief Hulda lebhaft, „das hier sind nur Bilder von Gebäuden und Anlagen, wir haben aber einige reizende Waldlandschaften mitgebracht, die den richtigen Charakter der dortigen herrlichen Berge wiedergeben.“
Damit huschte sie zur Thür hinaus, um die Photographien zu suchen. Kurt aber, der indeß schon Abschied von dem alten Herrn genommen und ihm versprochen hatte, seinen Besuch recht bald zu wiederholen, drängte zum Abschied, und Alfred, /107/ der gern noch länger geblieben wäre, konnte dafür keine Entschuldigung finden.
Draußen, als Hulda eben in ihr eigenes Zimmer hinübereilte, kam ihr gerade Paula entgegen, die dort ihren Hut und Shawl abgelegt und in das Wohnzimmer hinüber wollte.
„Wir haben Besuch, Paula,“ rief sie der Schwester zu, „bitte, gehe hinein, ich komme gleich nach.“
„Besuch? wen?
„Den Sohn eines Jugendfreundes von Großpapa, geh’ nur hinein, er wird Dir schon gefallen.“
Als Paula das Zimmer betrat, kam ihr Alfred entgegen: „Nun, mein gnädiges Fräulein, haben Sie die Photographien schon?“
Paula sah ihn verwundert an; sie erkannte im Moment den jungen Officier von heute Morgen und wich fast scheu vor ihm zurück. Wie kam der hierher?
„Meine Enkelin Paula,“ stellte sie der alte Herr vor. „Kurt von Sternbach, mein Kind, und Lieutenannt von Bersting.“
„Die Aehnlichkeit mit Ihrer andern Tochter ist aber fabelhaft!“ rief Kurt, „es sind Zwillinge, nicht wahr?“
„Und Beides ein paar liebe, gute Kinder,“ nickte der alte Herr vergnügt.
Alfred starrte sie an, als ob er einen Geist gesehen hätte. Das war nicht Hulda? und doch wieder Hulda mit jedem Zug ihres lieben Gesichts, mit jedem einzelnen Theil ihrer Kleidung, mit den lieben blauen Augen, den kleinen reizenden Grübchen, dem schelmischen Lächeln, als sie jetzt errieth, daß der junge Mann sie jedenfalls für die Schwester gehalten. Und jeder Ton ihrer Sprache, dabei jede Bewegung, – es war rein zum Verzweifeln, daß gerade sein Ideal doppelt existiren sollte.
Die jungen Leute hatten sich verabschieden wollen, durch Paula’s Erscheinen war ihnen aber eine neue Fessel angelegt worden, und während sich besonders Alfred nicht losreißen konnte, wurde er zuletzt, als Hulda nun ebenfalls zurückkehrte, und er Beide neben einander sah und mit einander vergleichen /108/ konnte, oder vielmehr im Gegentheil nach einem Unterschied suchte, ganz verwirrt.
Als er endlich, und fast schon gegen Abend, mit dem Freunde zurück nach Altstadt schritt, waren beide junge Leute anfangs sehr schweigsam und Jeder augenscheinlich mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis Kurt endlich frug:
„Nun, Alfred, was sagst Du zu den beiden jungen Damen? Welche gefällt Dir besser?“
„Welche?“ erwiderte der Lieutenant, aber immer noch wie in einem halben Traume, „ja, das ist ja eben die verzweifelte Geschichte, Kurt, daß ich gar nicht weiß, welches welche ist.“
„Wie so?“ lachte der junge Mann, „was meinst Du damit?“
„Das ist sehr einfach,“ sagte Alfred. „Hast Du nicht bemerkt, daß die Eine von ihnen an der Schulter eine kleine weiße Schleife trug und die Andere eine seegrüne? Daran hielt ich mich anfangs.“
„Ja gewiß,“ nickte Kurt, „Hulda hatte die seegrüne.“
„War das Hulda?“
„Und weißt Du das nicht?“
„Ich wußte es anfangs, aber ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß ich zuletzt irre wurde, ich hatte es rein vergessen oder verwechselt, und nachher war ich nicht mehr im Stande, sie wieder heraus zu erkennen.“
„Aber wie ist das möglich!“ rief Kurt, „ich wollte Hulda unter Tausenden von Zwillingsschwestern heraus erkennen, und wenn sie sämmtlich gleichfarbige Schleifen trügen.“
„Unsinn,“ sagte Alfred, „Du findest sie eben so wenig wieder wie einen bestimmten Grashalm mitten auf einer großen Wiese.“
„Aber ich versichere Dich, daß mich mein Auge keinen Moment täuschen würde.“
„Ich war wie vor den Kopf geschlagen,“ bemerkte der Lieutenant, „und wenn ich mich einen Augenblick abwandte und sah wieder hin, so mußte ich immer erst nach der Schleife suchen, um die Rechte heraus zu finden.“
„Du wirst also jetzt im Traume Alles doppelt sehen,“ lachte Kurt.
/109/ „Wahrhaftig, Du hast Recht,“ rief Alfred. „Aber sage mir selber, ist das Mädchen nicht bezaubernd?“
„Welches?“ frug lächelnd sein Gefährte.
„Beide!“ stieß Alfred heftig hervor. „Ich kann jetzt noch keinen Unterschied zwischen ihnen machen, den muß erst die Zeit herausstellen; aber sei versichert, zehn Jahre meines Lebens gäb’ ich darum, wenn ich Paula nicht gesehen hätte.“
„Welches war doch Paula?“ frug Kurt unbefangen, „die mit der grünen oder weißen Schleife?“ – Alfred sah ihn verwirrt an.
„Ich will auf der Stelle sterben, wenn ich’s jetzt wieder weiß,“ rief er endlich heftig aus. „Es ist rein zum Verzweifeln, Kurt, und ich muß nur erst sehen, daß ich meine Sinne wieder ein wenig zu einander bekomme. Ueberlaß mich eine Zeit lang mir selber, denn jetzt wirbelt mir der Kopf.“
4.
Schluß.
Acht Tage waren vergangen, und draußen in der Welt war während der Zeit eigentlich nichts Besonderes geschehen, desto mehr dagegen in des alten Oberforstmeisters Hause, wo eine augenscheinliche Veränderung stattgefunden hatte.
Hulda nämlich, sonst fast ausgelassen in ihrer Fröhlichkeit und unerschöpflich heitern Laune, schien ihren Charakter ganz verändert zu haben, denn sie konnte zu Zeiten halbe Stunden lang still und nachdenkend an ihrem Nähtisch sitzen und ihre Arbeit total vergessen, und Paula merkte das am ersten und neckte sie deshalb.
Lieutenant von Bersting sowohl als Kurt von Sternbach hatten sie allerdings noch verschiedene Male besucht, wenn auch nicht wieder gemeinschaftlich, und Paula wußte jetzt, daß gerade dieser junge Lieutenant Hulda’s Courmacher gewesen, während ihr zugleich nicht entging, daß er hier jedesmal in die größte Verlegenheit gerieth, wenn er ihr manchmal zuerst begegnete und /110/ dann nicht gleich wußte, welche der Schwestern er gerade vor sich hätte. Nur in den zwei letzten Tagen schien er es sich gemerkt zu haben, daß Hulda, welches Kleid sie auch trug, eine dunklere Schleife als Paula auf das ihrige befestigte, und er war dadurch sicherer geworden.
„Hulda, Hulda,“ sagte Paula, als sie die Schwester wieder einmal ertappte, wie sie halbträumend an ihrem Nähtisch saß und über ihre Arbeit hinaus starrte, „was ist eigentlich mit Dir? Du bist nicht mehr mein fröhlicher, leichtherziger Schatz von früher. Sollte vielleicht das stehende Heer –“
Ein lichtes, sonniges Lächeln flog über Hulda’s Züge, die sich freilich bei den ersten Worten tief geröthet hatten.
„Das stehende Heer hat nichts damit zu thun, Paula,“ sagte sie dabei, und um ihre Lippen zuckte es wie das Sonnenlicht auf einem murmelnden Bach; „übrigens weiß ich auch gar nicht, was Du willst, denn ich begreife nicht, worin ich mich verändert haben soll. Daß ich zu Zeiten einmal ein wenig ernster bin, ach, Herz, das kommt ja doch wohl überhaupt mit den Jahren.“
„Ja, besonders mit siebzehn,“ lachte Paula; „nein, was die Jahre betrifft, so haben wir alle Beide da wohl noch nicht mitzureden.“
„Wir sind schon siebzehn gewesen, Paula.“
„Ja, vor fünf Wochen, vorgestern war’s gerade ein Monat; aber da Du mir immer – da geht er wieder,“ unterbrach sie sich rasch, als sie zufällig einen Blick aus dem Fenster warf.
„Wer?“ frug Hulda und wurde doch jetzt wirklich blutroth, indem sie unwillkürlich halb von ihrem Stuhl emporfuhr. Paula lachte.
„Nun, Dein schmachtender Lieutenant; er läuft sich ja fast die Füße auf der Promenade da drüben ab. So ein Lieutenant auf Urlaub ist doch wirklich etwas Schreckliches!“
„Mein Lieutenant?“ sagte Hulda, indem sie den Kopf, fast ein wenig böse, abdrehte, „wie kannst Du ihn nur meinen Lieutenant nennen. Ich bin doch kein General!“
„Aber er gehorcht Dir genau so, als ob Du einer wärest.“
„Ach, Du bist thöricht! Er hat eben nichts auf der Gotteswelt zu thun und braucht eine Cur, und da wird ihm der /111/ Doctor wohl die Königsbrücker Straße zur Laufbahn verordnet haben, weil die hübsch lang ist.“
„Jetzt dreht er wieder um,“ sagte Paula, die ihn indessen von der Gardine verdeckt beobachtet hatte „wahrhaftig, ich glaube, er wendet sich dieser Seite zu, dann kommt er auch jedenfalls herauf.“
„Es war doch höchst komisch,“ meinte Hulda, „daß er uns anfangs immer verwechselte. Er kam dabei aus der Verlegenheit gar nicht heraus.“
„Aber jetzt kennt er uns,“ lachte Paula, „er hat es mir neulich verrathen, und zwar an den Schleifen, weil Du ja immer die dunklere trägst.“
„Also das hat er endlich herausgefunden; sieh, sieh, deshalb kam er mir auch seit einigen Tagen so zuversichtlich vor.“
„Er kommt wirklich auf’s Haus zu,“ rief Paula, „dort hält er über die Straße.“
„Dann sei Du so gut und bleib hier,“ rief Hulda, rasch von ihrem Stuhl emporfahrend, „ich muß hinüber zu Großpapa.“
„Oh bitte, liebes Herz,“ rief aber Paula, der Schwester den Weg vertretend, „Deinetwegen kommt er nur hierher, und ich denke gar nicht daran, die Honneurs für Dich zu machen.“
„Beste Paula!“
„Nein, wahrhaftig nicht! Du darfst Deinen Ritter nicht so enttäuschen.“
„Aber er ist gar nicht mein Ritter.“
„Du kannst es nicht leugnen,“ rief Paula, sie neckend, und wollte eben zur Thür hinaus, als Hulda ihr nachrief:
„So laß uns wenigstens die Schleifen tauschen!“
„Wahrhaftig, Du hast Recht,“ rief das junge heitere Wesen, rasch auf den Gedanken eingehend, „dann wird der arme junge Mensch aber ganz confus. Geschwind! da geht schon die Hausthür.“
Mit hastigen Fingern steckte sie Hulda ihre helle Schleife an und glitt dann in das Nebenzimmer, um durch dieses hin dem Nahenden auszuweichen. Es dauerte auch nicht lange, so meldete das Mädchen Herrn Lieutenant von Bersting, und gleich darauf betrat Alfred die Wohnstube der Familie, die /112/ eine so fabelhafte Anziehungskraft auf ihn ausübte, daß er, wie Karl der Große den See nicht meiden konnte, in dem der geheimnißvolle Ring lag, diesen Platz zehnmal täglich umschritt und sehnsüchtige Blicke hinauf warf. Hulda war hier freilich der Talisman, der ihn bannte und immer und immer wieder in dieselbe Straße zog.
Als er das Zimmer betrat und die junge Dame ehrfurchtsvoll begrüßte, hatte der Ausdruck seines Gesichts aber trotzdem etwas Scheues oder Vorsichtiges; er war noch nicht im Stande gewesen, die Farbe der Schleife zu erkennen. Er hätte freilich darauf schwören mögen, daß er Hulda vor sich habe, sich aber doch schon so verschiedene Male getäuscht, um keineswegs sicher zu sein. Im nächsten Moment entdeckte er dabei das helle Band und schien jetzt nicht einmal gesonnen, seine Mütze abzulegen.
„Sie entschuldigen, mein gnädiges Fräulein, daß ich Sie störe. Ihr Herr Papa ist wohl nicht zu Hause?“
„Es thut mir leid,“ sagte Hulda, während sich die kleinen Grübchen wieder reizend zusammenzogen, denn es konnte ihr nicht entgehen, daß der Besuch nach der Schleife gesucht hatte und jetzt völlig enttäuscht war. „Papa ist ein wenig ausgegangen. Er bekam heute Morgen den Besuch eines alten Freundes und führt diesen ein wenig in der Stadt herum.“
„Und Ihre Frau Mama?“
„In ihrer Stube, wünschen Sie sie zu sprechen?“
„Oh nein, bitte sehr,“ sagte Alfred, fast ein wenig zu rasch, „ich – wollte mich nur nach ihrem Befinden erkundigen.“
„Oh, ich danke Ihnen,“ sagte Hulda und mußte an sich halten, um nicht ihren Muthwillen zu verrathen, „es geht ihr ziemlich gut; nur gestern hatte sie ein wenig Kopfschmerzen.“
„Das bedauere ich recht sehr, das Wetter war auch in der letzten Zeit so sehr veränderlich.“
„Finden Sie? Ich dächte, wir hätten prachtvollen Sonnenschein gehabt.“
„In der That, aber die sehr große Hitze,“ sagte Alfred verlegen, denn die Wetterbemerkung war ihm nur so unbedacht entfahren. „Ihre – Ihre Fräulein Schwester ist wohl ebenfalls ausgegangen? Als mich vorhin mein Weg hier vor /113/ über führte, war es mir fast, als ob ich die beiden jungen Damen hier an den Fenstern gesehen hätte, die Straße ist aber so breit, ich kann mich geirrt haben.“
„Oh nein,“ sagte Hulda, „wir waren Beide hier; die Schwester hat aber die Woche in der Wirthschaft und steht ihrer Arbeit vor.“
Das Gespräch stockte wieder; Alfred hatte sich auf eine einladende Bewegung Hulda’s niedergelassen, aber er saß nur auf der Ecke seines Stuhls, als ob er jeden Augenblick wieder aufstehen wollte, und schien sich überhaupt nicht besonders behaglich zu fühlen. Er begann allerdings auf’s Neue eine Unterhaltung, aber es blieb eben bei förmlichen Redensarten und Gemeinplätzen, und Hulda amüsirte sich nur im Stillen über die unverkennbare Verlegenheit des jungen Mannes. Endlich aber ritt er sich selbst in diesen nichtssagenden Bemerkungen fest und stand auf, um Abschied zu nehmen.
„Mein gnädiges Fräulein, wenn ich Sie noch bitten dürfte, mich den lieben Ihrigen auf das Freundlichste zu empfehlen.“
„Ich werde es gewiß ausrichten, Herr von Bersting.“
Alfred athmete hoch auf, als er endlich wieder vor der Thür war, und beklagte nur sein Mißgeschick, Hulda heute nicht getroffen zu haben. In der Schwester Nähe aber, obgleich sie der Geliebten so ähnlich war, daß er die Beiden nicht einmal zu unterscheiden wußte, wenn er sie nebeneinander sah, befiel ihn stets, vielleicht gerade in Folge davon, ein gewisses unheimliches Gefühl. Es war die Form und nicht das Herz, es war, was er hätte ein Trugbild seines Ideals nennen mögen, das immer nur störend mehr als versöhnend zwischen seine Liebe trat.
Eben als er das Zimmer verließ und über den Gang hinüber nach der Ausgangsthür zu wollte, öffnete sich schräg gegenüber die Küchenthür, und Hulda – trug sie denn nicht die dunkle Schleife! – trat heraus. Im ersten Moment freilich, als sie ihn bemerkte, war es fast, als ob sie zurückfahren wollte und sich scheute, ihm zu begegnen – geschah das ihrer Haustracht wegen? – oh, wie Unrecht hätte sie daran gethan, denn gerade darin und mit der schneeweißen Schürze sah sie gar so allerliebst aus.
/114/ Von Bersting war blutroth geworden, als er sie erblickte, aber mit raschen Schritten eilte er auf sie zu, und ihr die Hand entgegenstreckend, sagte er, und seine leuchtenden Blicke bezeugten dabei die Wahrheit seiner Worte:
„Mein gnädiges Fräulein, Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, daß mir wenigstens die kurze Gelegenheit geboten ist, Sie begrüßen zu können.“
„Herr von Bersting,“ sagte die junge Dame lächelnd, „Sie sind sehr gütig.“
„Fräulein Paula,“ fuhr aber Alfred beredt fort, „sagte mir schon, daß Sie heute mit häuslichen Arbeiten sehr beschäftigt wären.“
„Paula?“ erwiderte die junge Dame anscheinend erstaunt. „Sie verwechseln uns Beide wahrscheinlich – Paula bin ich.“
„Sie?“ rief Alfred, jetzt völlig verwirrt gemacht, und sein Blick flog unwillkürlich und zweifelnd nach der dunkeln Schleife, „aber wie ist das möglich – da drinnen Ihr Fräulein Schwester –“
„Ist Hulda, mit der Sie zusammen in Ludwigsroda waren,“ lächelte Paula.
„Ja, aber ich dachte –“ stotterte Alfred.
„Sie dachten? – was?“ frug Paula und sah ihn dabei mit einem fast ein wenig malitiös freundlichen Blick ihrer klaren blauen Augen an.
„Ich – ich dachte, daß die – die Schleifen –“
„Welche Schleifen?“ frug Paula vollkommen unbefangen.
„Nun, die Schleifen, die Sie an der Schulter tragen,“ fuhr Alfred, sich ein Herz fassend, fort, „für Sie eine besondere Bedeutung hätten.“
„Um uns von einander zu unterscheiden?“ lachte Paula jetzt gerade heraus.
„Ich will nicht sagen, das,“ erwiderte der junge Mann verlegen, „aber daß sie doch wenigstens als – als eine Art Abzeichen dienten.“
„Für den Tag vielleicht,“ meinte Paula, „aber wir wechseln häufig damit, und wenn Sie weiter kein Kennzeichen /115/ haben, können Sie sich doch nicht gut, wenigstens nicht sicher danach richten.“
„Aber, mein gnädiges Fräulein,“ sagte Alfred verwirrt, „die ganze letzte Zeit, wo ich das Glück hatte, Ihr Haus besuchen zu dürfen, konnte ich mich doch so vortrefflich nach den Schleifen richten, – daß –“
„Sie manchmal mich als Hulda und Hulda als Paula begrüßten,“ sagte das junge Mädchen, und von Bersting konnte der Spott nicht entgehen, der in den Worten lag. „Sie sind kurzsichtig, nicht wahr?“ setzte die junge Dame noch außerdem hinzu.
„Ich habe Augen wie ein Falke,“ rief Alfred rasch.
„Dann wundert es mich in der That, und ist wenig schmeichelhaft für uns Beide,“ meinte Paula. „Ein Unterschied muß doch in unseren Zügen liegen, denn so ohne Ausdruck sind wir doch nicht wie eine Eierschale.“
„Mein gnädiges Fräulein,“ bat Alfred. „Sie schmähen sich selber. Gerade der lebendige Ausdruck in Ihren Zügen ist es ja, der mich verwirrt, denn unaufhörlich wechselt der vom Heitern zum Ernsten und wieder zurück. Wenn Sie sich nur ein klein wenig verschieden kleiden wollten!“
„Vielleicht in die Landesfarben,“ lachte Paula, „so daß wir nachher in der Stadt nach unserer Couleur die „Grüne“ und die „Weiße“ genannt würden. Ich danke Ihnen, aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen,“ brach sie das Gespräch ab, „denn meine Pflicht ruft mich. Wenn Großpapa zurückkommt und das Essen ist nicht fertig, so zankt er,“ und mit einem freundlichen Kopfnicken huschte sie in eine der Kammern hinüber.
Alfred stieg wie in einem Traume die Treppe hinunter. Unten vor der Hausthür begegnete ihm der Oberforstmeister, aber er sah ihn gar nicht, schritt quer über die Straße hinüber und wanderte so lange in tiefen Gedanken fort, bis er zuletzt eine Hand auf seiner Schulter fühlte und sich angerufen hörte.
„Hallo, Alfred! so in Gedanken? Wo kommst Du her, und – was liegt Dir auf dem Herzen?“
Der junge Mann sah rasch und fast erschreckt auf, den /116/ Freund aber erkennend, nahm er dessen Arm und sagte, ihn mit sich fortziehend:
„Ich werde noch verrückt, Kurt, etwas Derartiges ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passirt.“
„Du bist auch noch sehr jung,“ lächelte der ältere Freund, „aber was ist es, wenn ich fragen darf?“
„Ich komme eben von Rankhorsts und – muß Dir gestehen, daß ich mir erst seit einigen Tagen eines Gefühls klar geworden bin, von dem ich mir selber keine Rechenschaft geben kann.“
„Du liebst Hulda, denke ich, und schwärmst für sie –“
„Ja, und das ist erklärlich, denn wer könnte sie sehen und sie nicht lieben, aber das Unerklärliche dabei bleibt, daß ich gerade das entgegengesetzte Gefühl für ihre Schwester empfinde.“
„Thorheit,“ lachte Kurt, „wie kann man etwas hassen, das genau und zum Verwechseln so aussieht, wie das, was man wirklich liebt?“
„Du nennst gleich den Grund mit,“ sagte Alfred; „es ist eine verzweifelte Geschichte, denn ich bin nicht im Stande, sie von einander zu unterscheiden, und sehe dabei kein Ende ab.“
„Aber Du hast mir doch selbst versichert, daß Du ein vorzügliches Mittel dazu an den Schleifen hättest.“
„Aber die vertauschen sie ja,“ rief Alfred heftig aus, „und ich habe mich jetzt in gegründetem Verdacht, mehrere Male Paula die schönsten Dinge gesagt zu haben, während ich Hulda vernachlässigte“ – Kurt lachte – „aber das Schlimmste dabei ist,“ fuhr der junge Mann erregt fort, „daß sie es absichtlich thun, allein um mich irre zu führen, und diesen Zustand ertrage ich nicht länger.“
„Sollten sie es nicht nur im Scherz gethan haben?“
„Ein schlechter Scherz, der mir das Herz zerreißt,“ erwiderte Alfred düster, „und traust Du mir nicht so viel Seelenkenntniß zu, daß ich die Züge von anderen unterscheiden würde, in denen ich wirkliche Liebe für mich läse. Es sind ein paar Koketten, weiter nichts.“
„Du thust ihnen Unrecht, Alfred.“
/117/ „Lehre Du mich Menschen kennen,“ sagte der junge Mann; ,aber es geht auch nicht anders, eine Entscheidung muß in der nächsten Zeit getroffen werden, oder ich gehe dabei zu Grunde.“
„Du meinst damit, daß Du vernünftig werden wirst.“
„Kurt!“ rief Alfred gekränkt, „wir sind alte treue Freunde, aber geh auch nicht zu weit.“
„Ich will Dich nicht kränken, aber wenn Du Dir Deiner eigenen Gefühle klar und dabei überzeugt bist, in Deinen Jahren einen Hausstand gründen zu können, weshalb sprichst Du nicht einmal offen mit Hulda und hörst dabei, was sie dazu sagt? Ihre Meinung mußt Du doch auch erfahren!“
„Und wenn ich dann wieder aus Versehen an die Falsche komme?“ sagte Alfred in fast komischer Verzweiflung.
„Das wäre freilich ein böser Spaß,“ lachte Kurt, „wenn Du der, die Du verschmähst, ohne es zu wissen, Deine Liebe erklärtest.“
„Ach Kurt,“ sagte Alfred unwillig mit dem Kopfe schüttelnd, „ich weiß ja selber nicht, wie es mit mir steht. Manchmal glaube ich, ich hasse Paula, und dann werde ich auch wieder an mir irre. Ich bin der unglücklichste Mensch, den es auf der Welt giebt.“
„Du redest, als wenn Du sechzig Jahre statt einundzwanzig zähltest.“
„An Erfahrung bin ich’s,“ rief der junge Mann, selber fast von dem überzeugt, was er sagte, „aber laß mich jetzt. Der Kopf wirbelt mir, ich muß mit mir allein sein und erst wieder klar denken können, dann erst werde ich handeln,“ und Kurt’s Arm loslassend, bog er rechts in die nächste Straße ein.
So vergingen mehrere Tage, ohne daß Kurt das Geringste von dem Freunde sah; nur bei Rankhorsts erfuhr er, er habe noch zweimal vorgesprochen, sich dann aber nicht wieder sehen lassen. Kurt suchte ihn jetzt selber verschiedene Male in seinem Quartier auf, fand ihn aber nie zu Hause und hörte das letzte Mal sogar von seinen Wirthsleuten, daß der Herr Lieutenant morgen abzureisen gedenke.
Am nächsten Morgen saß Kurt eben bei seinem Frühstück /118/ und der Zeitung, als es stark an seine Thür pochte und im nächsten Moment auch Alfred auf der Schwelle stand.
„In Reisekleidern?“ rief ihm Kurt entgegen, denn der Freund war wieder in Civil.
„Wie Du siehst, ja, aber ich wollte Dir vorher doch noch Lebewohl sagen.“
„Hast Du schön von Rankhorsts Abschied genommen?“ Alfred erwiderte die Frage nicht gleich, er sah den Freund erst eine Weile starr an; endlich sagte er:
„Erlaube mir, Kurt, Dir ein kleines Gedicht vorzulesen, das ich einmal vor längerer Zeit irgendwo las und mir abschrieb. Vor einigen Tagen kam es mir wieder zufällig, wenn wir in der Welt überhaupt einen Zufall wollen gelten lassen – in die Hände.“
Er nahm ein Blatt Papier aus der Tasche. „Die Ueberschrift,“ sagte er, „ist: „Frau und Schwägerin“, und das Gedicht lautet:
Sie glichen einander in Allem so sehr.
Es gab auf der Welt nichts so Aehnliches mehr.
Genau solch ein Blick – wie der Schnitt ihres Kleides –
Genau solch ein Herz – damals glaubte ich Beides,
Und täglich nur schien es mir mehr einerlei.
Wer von ihnen Frau oder Schwägerin sei.
Doch leider gesteh’ ich – ‘s ist schlimm, aber wahr.
Der Unterschied wurde erst später mir klar,
Und jetzt bin ich endlich dahinter gekommen,
Daß ich – aus Verseh’n nur – die Falsche genommen.
Nun denk’ ich und wünsch’ ich so hin und her.
Daß doch meine Frau meine Schwägerin wär’!
Die Frau? – Papilloten und stets Negligé –
Sie immer frisirt und der Anzug wie Schnee,
Die Frau voller Launen und mürrisch und hitzig –
Sie immer gleich freundlich, zuvorkommend, witzig.
Der Teufel hat sicher, zur Qual nur dem Mann,
Die Schwägerin mit in die Ehe gethan.
Doch giebt es Vollkommenes hier auf der Welt,
Wo Trübsal und Aerger vom Himmel oft fällt?
Die lieblichste Rose muß Dornen verstecken.
Das Licht hat den Schatten – die Sonne selbst Flecken,
Doch das nur ist, was mich am meisten betrübt.
Daß es ohne Frau – keine Schwägerin giebt.“
/119/ „Und der Gefahr willst Du Dich nicht aussetzen?“ lachte Kurt.
„Nein,“ sagte Alfred ganz bestimmt. „Ich war noch ein paar Mal bei Rankhorsts, aber die jungen Damen haben es förmlich darauf abgesehen, mich verwirrt zu machen. Ebenso muß der alte Oberforstmeister mit in das Geheimniß gezogen sein, denn er wollte sich neulich, als ich – als ich, nun, als ich wieder einmal nicht wußte, welchen von den beiden kleinen Teufeln ich vor mir hatte,“ setzte er ärgerlich hinzu, „vor Lachen förmlich ausschütten, und zum Auslachen halte ich mich doch zu gut.“
„Und weißt Du nicht, daß wahre Liebe ewig ist? Erinnerst Du Dich noch der Worte, die Du mir damals auf meine Vernunftgründe entgegnetest?“
„Allerdings,“ sagte Alfred mürrisch; „wahre Liebe muß dann auch einen festen Gegenstand haben, auf dem sie haften kann, und Einem nicht fortwährend vor den Augen herumflirren. Für wahre Liebe gehört ein bestimmter Gegenstand, dem man sie zuwendet, ich gebe Dir aber mein Ehrenwort, daß ich bis auf die Stunde noch nicht weiß, welche von den beiden Schwestern Hulda oder Paula ist. Also lebe wohl!“
„Und Du willst wirklich fort –?“
„Meine Sachen sind schon auf dem Bahnhofe.“
„Und Hulda?“
„Versuch’ Du Dein Glück bei ihr, wenn’s Dich gelüstet; meine besten Wünsche hast Du dazu. Wenn Du aber anfängst, confus zu werden, so erinnere Dich: daß ich Dich vorher wohlmeinend gewarnt habe, und zwar ich, der Jüngere.“
______________
Lieutenant von Bersting, verließ etwa eine Stunde später, ohne sich von Rankhorsts auch nur verabschiedet zu haben, Dresden, um bald nachher wieder in seiner Garnison einzutreten. Drei Monate vergingen auch, ohne daß er von dort das Geringste hörte. Da erhielt er eines Tages einen /120/ Brief mit dem Dresdener Poststempel, und als er ihn öffnete fand er eine gedruckte Verlobungsanzeige.
Hulda von Rankhorst.
Kurt von Sternbach.
Dresden. Großgeringen.
Darunter aber hatte Kurt nur die wenigen Worte geschrieben:
„Am 25. December ist unsere Trauung; wenn Du mir eine Freude machen willst, so komm dazu nach Dresden.
Dein Kurt.
Hulda und Paula lassen freundlich grüßen!“
„Ja wohl,“ sagte Alfred vor sich hin und langsam dazu mit dem Kopfe nickend, „weiter fehlte mir gar nichts. Daß ich wieder als erstes Entrée der Falschen gratulire und die Braut und Schwägerin in einem fort verwechselte. Nein, mein lieber Kurt, ich gönne Dir Dein Glück aus vollem Herzen, aber mich bekommt Ihr nicht wieder dahinein.“ Und ohne Weiteres an seinen Schreibtisch eilend, warf er ein paar Zeilen auf’s Papier, siegelte sie ein und sandte sie augenblicklich zur Post. Der Brief lautete:
Lieber Kurt!
Meine herzlichsten und aufrichtigsten Glückwünsche zu Eurer Verbindung. Was Deine freundliche Einladung betrifft, so bedauere ich in der That, ihr nicht folgen zu können, da mich der Dienst hier an die Scholle bannt. Ich passe auch nicht mehr in fröhliche Kreise; ich habe mich, seit wir uns gesehen, sehr verändert und bin ernst und gesetzt geworden. Erfahrungen reifen den Mann, und ich glaube fast, ich habe klüger gehandelt, als mancher Andere, der mir gerade an Jahren überlegen ist. Ich beabsichtige überhaupt nicht mehr zu heirathen; die Frauen – stammen alle von Eva ab, und ich glaube fast, man hat nie mehr nöthig Jemandem Glück zu wünschen, als wenn er im Begriff steht mit Einer ihrer Töchter vor den Altar zu treten.
Uebrigens sende ich Dir als Hochzeitsgeschenk die Abschrift des kleinen Gedichtes „Frau und Schwägerin“. Ich thu’ es nicht aus Bosheit, sondern nur um Dich auf das vor /121/ zubereiten, was Deiner wartet, wenn Du erst Hulda – ich bin in diesem Augenblick nicht gleich im Stande mich zu erinnern, welche von den beiden Schwestern Hulda ist – die Deine nennst.
Lebe wohl, Kurt, grüße Deine liebe Braut und Deine genau so liebe Schwägerin, und behaltet in freundlichem Andenken
Euern
Alfred von Bersting.
Der Vierzehnte
Erstveröffentlichung: "Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung.- Berlin: L. Schaefer. 1871."
1.
Es war Markttag. Durch die Straßen und in der Nähe der Hauptplätze wälzte sich eine dichte Menschenmenge; Droschken fuhren, Fleisch- und Gemüsenwagen füllten den Fahrweg, während Dienstleute und Köchinnen mit großen, schweren Handkörben die Trottoirs dermaßen beengten, daß man ungestoßen gar nicht – und auf alle Fälle nur sehr langsam vorrücken konnte.
Wem freilich nicht daran lag, rasch von der Stelle zu kommen, dem mochte, wenn sich seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, in den verschiedenen Gruppen mancher stille Genuß geboten werden. Der galante Dienstmann zum Beispiel, der dort mit rother Mütze, rothem Kragen und rother Nase für einen Silbergroschen Honorar dem hübschen Dienstmädchen den Marktkorb nach Hause trägt und sie dabei angenehm zu unterhalten sucht. Eine Menge von Damen dort, die sonst nur in Seide, wie überhaupt eleganter Toilette ausgehen, jetzt aber mit dem „Markthut“ und in bescheidenstem Kattunkleid wahrlich nicht zu ihrem Vorteil gegen die sauberen Köchinnen mit ihren schneeweißen Schürzen, bloßen Armen und netten Hauben abstechen. Dort sucht eine Dame in einer etwas abgetragenen Sammetmantille, unter der sie selber den Korb verborgen hat, sonst aber äußerst vornehm und reservirt, einer Marktfrau drei Pfennige an Blumenkohl abzuhandeln und steckt dabei die derbsten Redensarten der alten Hökerin ruhig ein. Da drüben steht ein Sergeant; er hat sie gefunden, und sie ihren Marktkorb neben sich gestellt, um ihm einige wichtige Mittheilungen zu machen. Beide sind auch in so eifrigem Gespräch begriffen, daß weder er noch sie bemerkt, wie es – ein großes Windspiel nämlich, ein Stück Fleisch von etwa drittehalb Pfund Gewicht vorsichtig und sehr zum Ergötzen einiger beobachtenden Schusterjungen aus dem Korbe zieht und dann in voller Flucht damit die Straße entlang und den Leuten zwischen die Füße rennt.
Dort drüben entwickelt sich ein Hauptskandal: der Marktmeister hat, wie sich herausstellt auf Denunciation – bei einer ziemlich resolut aussehenden Butterfrau einzelne Stücken gewogen, zu leicht befunden und den ganzen Waarenvorrath derselben confiscirt. Die Denunciantin war aber leichtsinnig genug gewesen, sich wieder mit an Ort und Stelle zu wagen und ihre Genugthuung darüber auszudrücken. Arme „Frau Räthin“! sie konnte Gott danken, als sie nur endlich die Reihe, zwischen der sie förmlich Spießruthen lief und von deren Insassen sie mit faulem Obst und kleinen Handkäsen in sinniger Weise beworfen wurde, erst wieder hinter sich hatte, und es bleibt die Frage, ob sie sich je wieder, außer in Verkleidung, auf den Markt wagen darf.
Und welche interessanten Persönlichkeiten trifft man selber unter den alten Marktweibern, die man aber nicht immer nach ihrem Geschäft, und daß sie da um ein paar Pfennige mit Gemüse handeln und sich ereifern, beurtheilen soll. Es sind Frauen unter ihnen, die ihr eigenes Haus und Grundstück mit Garten, wie ein nicht unbedeutendes Vermögen besitzen, von dem sie recht gut und behaglich, ohne weitere Anstrengung und besser als manche Dame in einer Sammetmantille, leben könnten.
Da drüben die dicke Frau mit dem rothen, runden Gesicht, dem kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe, der scharf gestärkten Falbelhaube, die ihren dicken Kopf wie ein Heiligenschein umgiebt, und die nur schlichtweg unter ihren Bekannten „die Lohbergern“ genannt wird, hat ein Vermögen von über /124/ fünfzigtausend Thalern, ein sehr hübsches, wenn auch kleines Haus mit natürlich einer „guten Stube“ und giebt Kaffeegesellschaften, die sich „gewaschen haben“. Aber trotzdem sitzt sie Winter und Sommer, in Sonne und Regen auf ihrem Stand, bei großer Kälte mit einem Kohlenbecken unter den Füßen, bei Hitze mit einem riesigen Strohhut auf dem Kopfe, und verkauft selbst die kleinsten Quantitäten von Gemüse, sogar für einen Dreier Petersilie mit der liebenswürdigsten Geduld – so lange man ihr nämlich die Preise zahlt, die sie fordert; denn handeln läßt sie nicht mit sich, ausgenommen manchmal von einer armen Frau. Gnade Gott aber, wenn ihr eine „Dame“ in einem schlumpigen Seidenkleid einen geringeren Preis bietet!
Mitten durch das Gewühl der Käufer und Verkäufer und quer über den Markt hinüber schritt ein junger, sehr elegant – ja man konnte fast sagen auffallend elegant gekleideter Herr –, denn schwarzer Frack, weiße Weste und Halsbinde mit lichten Glacéhandschuhen, wie sehr sorgfältig gebürstetem Cylinder und sehr blanken Stiefeln paßten eigentlich nicht recht in diese Umgebung und zu so früher Stunde auf die Straße – hatte es doch kaum erst zehn Uhr geschlagen.
Der junge Mann achtete aber gar nicht auf den ihn umtobenden Lärm; er ging unmittelbar nach der Attake mitten zwischen den Butterweibern durch, hörte nicht einmal ihre entrüsteten Ausrufe und Drohungen, und wenn er sie hörte, kümmerten sie ihn nicht. Vollkommen mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, suchten seine Blicke rings umher, so daß er dadurch mit mancher der ihm begegnenden Damen, die ihrerseits ihre Augen auf die Butter hatten, zusammenstieß. Er entschuldigte sich dann allerdings stets sehr artig, jene nahmen aber selten Notiz davon. Sie waren gewohnt, an Markttagen herumgestoßen zu werden, und betrachteten das als etwas zu dem Einkauf Gehöriges.
Jetzt hatte er das eigentliche Getöse des Marktes – wenigstens dessen unmittelbaren Tummelplatz hinter sich und wollte eben in eine Seitenstraße einbiegen, als sein Auge durch einen am Boden liegenden blitzenden Gegenstand angezogen wurde. In dem Moment sah er aber auch, wie ein junges derbes Bauermädel, das einen Korb mit Eiern auf dem Rücken trug, gerade den /125/ Fuß darauf setzen wollte. Mit einem „bitt’ um Entschuldigung“ schob er sie deshalb ein wenig ab, bückte sich rasch und hob den Gegenstand auf.
„Herr Je!“ rief das Mädel erschreckt aus – „was machen Sie denn für Dummheiten?“ Der junge Mann achtete aber gar nicht auf sie, sondern beschaute nur seinen Fund und sah, daß es eine kleine, mit Korallen eingefaßte, aber sonst ziemlich werthlose Broche war, die nur in der Mitte eine Miniatur-Photographie, den Abdruck eines älteren Frauengesichts trug.
Der Schmuck mußte übrigens in demselben Augenblick verloren sein, denn sonst wäre er jedenfalls schon gefunden, oder im andern Fall von der schwärmenden Volksmenge zertreten worden. Unwillkürlich richtete sich der glückliche Finder empor und überflog mit seinem Blick nach rechts und links das Trottoir. Nach der einen Richtung sah er indeß nur Bauerfrauen und Dienstmädchen, von denen keine einen solchen Schmuck getragen haben konnte; nach der andern aber bemerkte er eine junge Dame in einem braunen Seidenkleide und einem ähnlich farbenen Hut auf, die gerade vor einem dort befindlichen Bilderladen stehen geblieben war, um die ausgestellten Kunstblätter zu betrachten. – Eben wandte sie sich aber wieder, um ihren Weg fortzusetzen; der Fremde warf noch einen Blick auf den Schmuck, und es war fast, als ob er den Fund in der Hand wog, dann eilte er ihr nach und hatte sie auch bald überholt.
An ihr vorüberschreitend suchte er ihr Gesicht zu sehen und lüftete dabei unwillkürlich den Hut, zügelte auch seinen Gang so weit ein, daß er dicht bei ihr blieb. Die junge Dame hatte allerdings bis dahin ihm nicht einmal den Kopf zugewandt, nur als sie die Bewegung des Grüßens bemerkte, glaubte sie natürlich im ersten Moment, daß es ein Bekannter ihrer Familie wäre, und erwiderte, indem sie zu ihm aufsah, den Gruß – aber sie erschrak, als sie einen vollkommen fremden Menschen neben sich sah, der augenscheinlich im Begriff stand sie anzureden, und wollte ihm scheu ausweichen.
„Mein gnädiges Fräulein,“ sagte da der Fremde sehr artig – „entschuldigen Sie die Frage, aber haben Sie nicht etwas verloren?“
/126/ „Nein, mein Herr,“ erwiderte das junge Mädchen, verwirrt und blutroth, und schien nicht übel Lust zu haben, in das nächste Haus zu flüchten.
„Auch keinen Schmuck?“ beharrte aber der Fremde, und jetzt zum ersten Mal vergaß die Angeredete das Unerwartete der Ansprache, griff erschreckt oben an ihr Kleid und rief dann mit offenbarer Bestürzung aus:
„Ach mein Gott! meine Broche.“
„Eine kleine Broche.“
„Mit Korallen und einer Photographie.“
„Dann bin ich glücklich genug, sie Ihnen wieder überreichen zu können,“ lächelte der ehrliche Finder, indem er sie ihr mit der rechten Hand, von der er den Handschuh abgezogen, entgegen hielt. „Sie lag kaum vierzig Schritt von hier auf den breiten Steinen und wäre fast zertreten worden.“
„Oh wie dankbar bin ich Ihnen!“ rief die junge Dame, indem sie den Schmuck aus seiner Hand nahm.
„Bitte, mein gnädiges Fräulein,“ sagte der Fremde abwehrend – „es hat mich gefreut, Ihnen einen kleinen Dienst erwiesen zu haben“ und mit einer kurzen Verbeugung verabschiedete er sich und schritt ohne Weiteres den Weg zurück, den er gekommen.
Die junge Dame blieb noch einen Moment wie unschlüssig auf der Straße stehen und sah fast unwillkürlich dem Fremden nach, der sogar jeden Dank verschmähte. Dieser aber schaute nicht mehr zurück; er schien auch in der That den Kopf voll von anderen Dingen und das kleine Intermezzo bald vergessen zu haben.
Vom nächsten Kirchthurm schlug es halb, und er sah nach der eigenen Uhr, um diese mit der Stadtzeit zu vergleichen, mußte aber doch wohl mit seiner Zeit noch nicht gedrängt sein, denn nach einer kleinen Weile drehte er um und wandte sich wieder, trotz seines für den Markt nicht passenden Anzugs, dem dichten Gedränge des Marktes zu, in das er sich auf’s Neue mischte. Fühlte er sich hier draußen in seiner etwas sehr eleganten Kleidung genirt? Die Jungen waren allerdings schon einige Mal auf ihn aufmerksam geworden – aber möglichenfalls hatte er auch bei „vornehmen Leuten“, hohen Gönnern oder /127/ „unteren Beamten“ seine Aufwartung zu machen, war vielleicht sogar bestellt worden, und mußte deshalb nicht allein seine Zeit einhalten, sondern auch in der gehörigen „Form“ erscheinen, da es ihm sonst jedenfalls „verübelt“ worden wäre.
2.
In der Küche der Frau Geheimen Regierungsräthin von Bentlow ging es heute sehr lebhaft zu, denn der Herr Geheime Regierungsrath hatte, allerdings nicht sehr viele, aber dafür desto bedeutendere Personen zu einem Diner eingeladen, und die Wirthin machte deshalb auch die größten Anstrengungen, um die Sache auf das Glänzendste auszustatten.
Zu den erwarteten Gästen gehörten zuerst Se. Excellenz der Herr Minister des Innern von Lobezahn mit Frau Gemahlin und Tochter, dann Oberstaatsanwalt von Vogtheim und Frau, der alte General von Degen mit seiner jungen, sehr liebenswürdigen Tochter, Hauptmann von Selching, Adjutant Sr. Königlichen Hoheit, Fräulein von Bentlow Excellenz, die Schwester des Geheimen Regierungsraths und Staatsdame Ihrer Königlichen Hoheit, und Finanzrath Blum, ein sehr einflußreicher Mann im Staate – also eine ausgewählte Gesellschaft, die es sogar Mühe gekostet hatte zusammen zu bringen.
In höheren Kreisen passen nämlich nicht immer die mit der Familie selber befreundeten Personen auch zu einander – es sind da und dort Rücksichten zu nehmen; man will Niemanden kränken oder nur den geringsten Anhalt zu einem Mißbehagen geben, und es muß da gar so viel vorbedacht und beachtet werden. Die Frau Geheime Regierungsräthin hatte aber einen ganz außerordentlichen Tact in derlei Dingen, einen gewissen Instinct, der sie stets den richtigen Weg führte, und ihr Gatte überließ ihr in solchen Fällen denn auch stets mit dem größten Vertrauen das ganze Arrangement, und zwar /128/ um so lieber, da er sich selber nicht gern aus seiner Ruhe bringen ließ.
Die Frau Geheime Regierungsräthin wirthschaftete heute auch mit einem wahrhaft erstaunlichen Eifer im ganzen Hause herum; zwei Dienstleute mit einem Kunstgärtner waren schon den ganzen Morgen beschäftigt gewesen, um Topfgewächse herbei zu schaffen und den Speisesaal in geschmackvoller Weise zu decoriren; alle Delicatessen, welche die Stadt nur bot, waren angeschafft worden, die feinsten Weine hatte der Geheime Regierungsrath natürlich selber im Keller, und es wurde drei Uhr Nachmittags, bis die geplagte und entsetzlich in Anspruch genommene Wirthin endlich Zeit fand, an ihre eigene Toilette zu denken – allerdings etwas spät – denn um fünf Uhr sollte schon die Tafel sein – und zwei Stunden brauchte die schon in die Jahre hineinragende Dame regelmäßig zu einem solchen Act.
Es hatte eben vier Uhr geschlagen, als der Briefträger in das Gewühl von dienstbaren Geistern einen Stadtpostbrief brachte, den der Geheime Regierungsrath annahm, erbrach, durchlas und dann in der größten Unschuld bei Seite legte. Es war nichts als ein Absageschreiben des Finanzrath Blum, der plötzlich in einer Geschäftssache, – d. h. schon zwölf Uhr Mittags hatte abreisen müssen und nun bat, ihn zu entschuldigen. Der Brief war schon in aller Frühe geschrieben, aber wahrscheinlich in dem Trubel der Abreise nicht gleich auf die Post gegeben, so daß er eigentlich ein wenig spät an den Ort seiner Bestimmung gelangte.
Der Geheime Regierungsrath hielt das für kein Unglück. Auf Einen mehr oder weniger kam es nicht an, und der Finanzrath war außerdem gar kein intimer Freund des Hauses, sondern nur mehr rücksichtshalber eingeladen worden. Er selber hatte nicht recht gewußt weshalb, da aber seine Frau darauf bestanden, fügte er sich eben deren Wunsch und Willen.
Er war noch damit beschäftigt, die verschiedenen Weinsorten zu ordnen und die Leute anzuweisen, in welcher Reihenfolge sie auf die Tafel gebracht werden sollten, als seine Tochter Erna, ein liebes Mädchen von kaum mehr als neun /129/ zehn Jahren, die bis jetzt noch nicht an ihre Toilette gedacht hatte, weil sie immer in einer halben Stunde mit derselben fertig wurde, mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt, über den Vorsaal schritt. Ihr Bruder Karl, der seine Studien beendet und gerade sein Examen gemacht hatte, begleitete sie und trug sehr artig einen Korb mit den verschiedenartigsten, nothwendig gebrauchten Gegenständen.
„Kann ich Dir etwas helfen. Papa?“ sagte Erna, als sie an ihm vorüberging und nur einen Moment neben ihm stehen blieb.
„Nein, mein Herz,“ erwiderte der Geheime Regierungsrath, der, die Brille auf der Nase und einen Zettel in der Hand, eine Batterie von Flaschen herauf beschwor, als ob er ein paar hundert durstige Kehlen und nicht eine kleine ausgewählte Gesellschaft zu versorgen habe – „ich danke Dir. Das hier muß ich Alles allein besorgen, oder es kommt mir nachher Confusion hinein, und von Tisch steh’ ich nicht gern wieder auf, wie Du weißt.“
„Schön, Papa,“ nickte ihm freundlich Erna zu, „dann besorge ich und Karl das Andere – Du siehst, er ist außerordentlich liebenswürdig, und ich denke, daß wir in einer Viertelstunde Alles fertig haben.“
„Gut, mein Kind, gut,“ sagte der Geheime Regierungsrath geschäftig; „apropos, was ich Dir noch gleich sagen wollte, Finanzrath Blum hat eben absagen lassen. Er mußte in Dienstgeschäften verreisen.“
Erna war eben im Begriff gewesen, das kleine Gemach, in welchem der Vater seine Flaschenbatterien aufpflanzte, zu verlassen – Karl war schon in den Speisesaal getreten, um seine Last abzusetzen – aber erschreckt blieb sie in der Thür noch stehen und rief:
„Finanzrath Blum hat abgesagt, Papa? – aber das ist ja doch gar nicht möglich, eine Stunde vor dem Diner – das kann nicht möglich sein.“
„Und weshalb nicht, mein Herz?“ erwiderte ihr Vater, der eben aufmerksam überwachte, wie der eine Lohnbediente den Champagner und Rheinwein in große Kübel mit Eis brachte, aus denen sie dann in silbernen Abkühlern auf die /130/ Tafel geschafft werden sollten. „Der Brief ist allerdings etwas verspätet abgegeben, aber Geschäfte oder vielmehr Dienstangelegenheiten gehen vor und können eines Diners wegen nicht hintangesetzt werden.“
„Aber Papa, dann sind wir ja dreizehn bei Tische!“ rief Erna erschreckt aus, „das geht ja gar nicht!“
„Hm,“ bemerkte der Geheime Regierungsrath, indem er seine Tochter überrascht ansah, und er wußte genau, wie seine Gattin darüber dachte – „dreizehn? Das wäre ja merkwürdig! Wie kommt denn das? – Bist Du abergläubisch?“
„Ach Papa, ich gewiß nicht,“ sagte Erna, „ich würde mich eben so gern mit zwölf wie mit dreizehn Personen zu Tische setzen, aber Mama ist so ängstlich. Da Hofrath Morling schon vorgestern absagte, hatte sie ja nur zu dem Zweck allein den Finanzrath eingeladen – und nun kann der unglückselige Mensch nicht und meldet das im letzten Augenblick!“
„Daran habe ich allerdings gar nicht gedacht,“ sagte der Geheime Regierungsrath bestürzt – „das ist sehr fatal, und ich weiß wahrhaftig nicht, was wir da anfangen wollen.“
„Was ist denn, Papa?“ frug Karl, der eben aus dem Speisesaal zurückkehrte – „was habt Ihr denn, Ihr seht ja Beide so verdutzt aus?“
„Ach, Karl,“ meinte die Schwester, „es ist eigentlich nichts; es hat Jemand abgesagt, und wir sind jetzt gerade dreizehn bei Tische.“
„Gerade dreizehn?“ lachte ihr Bruder, „und was thut das, Schatz? Ihr seid doch nicht etwa abergläubisch?“
„Abergläubisch, ach nein,“ meinte die Schwester, und doch etwas verlegen, „aber die Mutter hat darin ihre eigenen Ansichten; – viele andere Leute haben es ebenfalls nicht gern, und man weiß bei einer solchen Gesellschaft dann nie, wen man vielleicht sehr unangenehm dadurch berührt. Es gehört keinenfalls zum guten Ton, ein Diner von dreizehn Gedecken zu serviren.“
„Ihr seid komische Leute,“ lachte Karl gutmüthig, „aber wenn Euch das wirklich genirt und als unpassend erscheint, dann laßt mich weg – ich mache mir außerdem nichts aus /131/ solchen steifen Diners und schenk’ es mir gerne. Nachher seid Ihr nur zwölf, und Mama kann sich vollkommen beruhigen.“
„Das ist sehr liebenswürdig von Dir, mein Sohn,“ sagte der Geheime Regierungsrath, „aber es geht nicht, denn Deinetwegen besonders habe ich das Diner arrangirt.“
„Meinetwegen, Papa?“ rief Karl verwundert aus.
„Ja, Deinetwegen,“ wiederholte der Vater, „um Dich nämlich der Excellenz, dem Herrn Staatsminister vorzuführen. Du suchst jetzt eine Carrière, und es ist meine Pflicht und Schuldigkeit, Dir darin Vorschub zu leisten.“
„Und soll das bei einem Diner geschehen, Papa?“
„Se. Excellenz lernt Dich wenigstens erst einmal kennen,“ sagte der Geheime Regierungsrath nach kurzer Pause – „und – das Uebrige findet sich dann später.“
„Dann werde ich Kopfweh bekommen, Papa,“ warf Erna ein – „ich weiß, Mama würde unglücklich sein, wenn sie zu dreizehn an einem Tische sitzen müßte.“
„Das geht eben so wenig, mein Kind,“ erwiderte der Vater. „Du weißt, wie Elvira von Degen an Dir hängt, und wir geriethen da in eine Reihe von Lügen hinein, die sich unter keiner Bedingung rechtfertigen ließen.“
„Dann wird es das Beste sein,“ bemerkte Erna, „wir sprechen einmal mit Mama darüber und hören ihre Ansicht, oder wir haben ihr sonst den ganzen Abend verdorben. Sie klagte so schon wieder heute über ihre Nerven.“
Der Geheime Regierungsrath seufzte tief auf, denn der Schrecken aller Schrecken war für ihn gerade das Nervencapitel, das überdies eine bedeutende Rolle in seinem ehelichen Leben spielte. Erna aber hatte Recht; unter diesen Umständen war es geboten, die Mutter von dem unangenehmen Zwischenfall in Kenntniß zu setzen. Es lag allerdings nicht der geringste vernünftige Grund vor, sich bei einem Diner von dreizehn Personen nicht eben so wohl zu fühlen, wie bei zwölf oder vierzehn, aber das, Gemüth der Menschen ist eben unberechenbar.
Erna übernahm es, der Mutter die Nachricht mitzutheilen und sie zu fragen, wie sie darüber beschließen wolle; aber schon nach zwei Minuten wurde der Gatte selber in das Toilettenzimmer citirt, denn der Gegenstand war zu wichtig und drin/132/gend, um nicht gleich und augenblicklich eine Erledigung zu verlangen.
Die Frau Geheime Regierungsräthin saß, mit einem großen weißen Pudermantel um, der ihre ganze Gestalt und ebenso den Stuhl verhüllte, vor dem großen Toilettenspiegel, während ihr Mädchen beschäftigt war, das nicht unschöne und noch sehr reichliche Haar der Dame zu kämmen und zu stecken. Die Frau Geheime Regierungsräthin bedurfte bei ihrer Frisur noch keiner fremden Beihülfe, sonst würde sie auch ihre Familie in die „Geheimnisse“ ihrer Toilette nicht eingeweiht haben.
„Ludwig!“ rief sie aber dem Gatten entgegen, wie er nur kaum das Zimmer betrat (Karl hatte sich ebenfalls dem Zuge angeschlossen), „das ist ja erschrecklich! Der entsetzliche Mensch, der Finanzrath, hat abgesagt?“
„Dienstgeschäfte, liebes Kind – dagegen läßt sich nichts machen.“
„Und so spät, das ist doch höchst unschicklich; aber es sieht ihm ähnlich – es ist einer der rücksichtslosesten Menschen, die ich kenne. Und was fangen wir jetzt an?“
„Und ist es Dir wirklich so unangenehm, zu dreizehn an einem Tische zu sitzen, liebes Herz,“ sagte ihr Gatte, vorsichtig erst einmal vorausfühlend – „ich hielt Dich in dieser Hinsicht für viel zu aufgeklärt, um an einen solchen alten Aberglauben –“
„Aber ich doch nicht,“ rief die Frau Geheime Regierungsräthin, indem sie erst noch einen Blick in den Spiegel warf und sich dann auf ihrem Sitz halb herumdrehte – „ich doch wahrhaftig nicht! Aber Du weißt, wie Excellenz, die Frau Ministerin darüber denkt. Sie wäre außer sich, wenn ihr das hier in unserem Hause geschähe, und ich möchte doch wahrhaftig nicht, daß mir das nachgesagt würde. Es sähe ja genau so aus, als ob ich es nur absichtlich gethan hätte, um sie zu kränken.“
„Aber, mein Kind, wer soll das denken?“
„Lehr’ Du mich die Menschen kennen, Ludwig – lehr’ Du mich die Menschen kennen, und die Excellenz ist überhaupt mißtrauischer Natur und außerordentlich leicht empfindlich.“
„Das ist sie in der That,“ seufzte der Geheime Regierungsrath, „und außerdem, wie man sich erzählt, ein Drache.“
/133/ Aber, Ludwig!“ ermahnte ihn seine Gattin, indem sie ihm einen warnenden Blick zuwarf – er hatte jedenfalls ganz die Gegenwart des Kammermädchens vergessen. Die augenblickliche unglückselige Situation nahm aber vor der Hand all’ ihre Sinne in Anspruch, und ihren Gedanken folgend, murmelte sie halblaut: „Wenn wir es nur noch wenigstens Deiner Schwester absagen könnten; die würde es, unter solchen Umständen, gewiß nicht übel nehmen.“
„Das geht unter keiner Bedingung, Kunigunde!“ rief der Geheime Regierungsrath rasch und fast erschreckt aus. „Du weißt, wie selten wir sie überhaupt bei uns sehen, und sie war schon neulich etwas aigrirt darüber. Sie würde das als eine directe Beleidigung betrachten.“
Die Frau Geheime Regierungsräthin zog die Lippen ein wenig zusammen, erwiderte aber nichts darauf, bis sie endlich stöhnte:
„Dann weiß ich’s nicht – dann muß ich krank werden, denn mit dreizehn können und dürfen wir heute nicht an einem Tische sitzen, oder wir verderben es auf immer mit der Excellenz.“
„Vielleicht weiß ich da einen Rath, Mama,“ sagte jetzt Karl, der indessen nachsinnend in dem durch ausgehangene Kleider und sonstige Toilettengegenstände etwas beengten Raume auf und ab geschritten war, indem er vor der Mutter stehen blieb.
„Du? und welchen?“ frug die Mutter rasch – „Du weißt, daß Du heute nicht bei Tische fehlen darfst.“
„Allerdings, Mama, Papa hat mir den Grund gesagt, aber ich finde doch vielleicht noch eine Aushülfe, so daß wir wieder zu vierzehn sind.“
„Es ist jetzt gar nicht mehr möglich!“ rief die Mutter in Verzweiflung aus. „Du kannst doch nicht daran denken, in kaum einer Stunde vor dem Diner noch irgend wen einzuladen; es wäre so unschicklich wie möglich. Niemand würde es überhaupt annehmen.“
„Und genügte Dir ein Premierlieutenant, Mama?“
„Ein Fähnrich wäre ein Segen Gottes,“ rief die Mutter.
„Schön,“ lachte Karl – „auf der Universität wurde ich mit /134/ einem Lieutenant von Winbach bekannt, ein liebenswürdiger junger Mann, den bei uns einzuführen ich Papa schon um Erlaubniß bitten wollte.“
„Und Du glaubst, daß er käme?“
„Ich weiß es gewiß.“
„Aber er wird jetzt schon dinirt haben.“
„Um ein Uhr, so daß er bis Fünf wieder tüchtigen Hunger hat.“
„Und wo willst Du ihn jetzt finden?“
„Um diese Zeit ist er stets zu Hause.“
„Dann darfst Du aber auch keinen Augenblick mehr säumen, Karl,“ sagte die Mutter, – „gütiger Himmel, es ist schon ein Viertel auf fünf Uhr und meine Frisur noch nicht einmal in Ordnung! – Ludwig, Deinem Finanzrath verzeihe ich das im ganzen Leben nicht.“
„Also rasch an’s Werk, Mama!“ rief Karl lachend, indem er nach der Thür eilte, „ich gebe Dir mein Wort, ich schaffe Dir einen Vierzehnten und kehre nicht ohne ihn zurück.“
Damit verließ er das Haus, und es war ein Glück, daß die Frau Geheime Regierungsräthin jetzt gar keine Zeit mehr hatte, an irgend etwas Anderes als ihre Toilette zu denken, sie würde sonst die kurze Zeit vor dem Diner nur in peinlichster Angst und Aufregung verbracht haben.
3.
Karl versäumte wirklich keine Zeit. Er war allerdings selber noch nicht einmal in voller Toilette, aber er wußte auch, daß er diese in wenigen Minuten beenden konnte. Sein Freund Winbach wohnte außerdem auch nur eine kurze Strecke von ihnen entfernt, und rasch eilte er die Straße entlang, um ihn aufzusuchen.
Dort traf ihn aber wie ein Donnerschlag die Kunde, daß der Herr Lieutenant vor etwa einer halben Stunde ausgeritten sei und die Andeutung gegeben habe, daß er nicht vor sieben /135/ Uhr Abends – wahrscheinlich noch etwas später – zurückkehren würde. – Und was jetzt? – Im Sturm überlegte er nun, wen anders er für ihn, in der nun wirklich drängenden Zeit, auftreiben könne, und die wenigen Freunde, die er hier in der Stadt hatte, ließ er im Fluge an seinem Geiste vorüber gleiten. Aber da half nichts als eine Droschke, und in die warf er sich. – So pünktlich begannen ja auch derartige Diners nie, und Mama hatte Geschick genug, um die Tafel noch für kurze Frist hinaus zu zögern.
Beide Freunde waren Commilitonen von ihm und wohnten zusammen; traf er sie aber auch Beide an, so schadete das nichts, er nahm sie gleich alle Beide mit, denn Einer zu viel machte keinen Unterschied. Unglücklicher Weise wohnten sie aber in einem sehr entlegenen Stadttheil, und der Kutscher hieb erst nach dem Versprechen eines guten Trinkgeldes auf sein Thier ein, daß die alte Droschke nur so über das Straßenpflaster dahin rasselte.
„Pech!“ murmelte aber Karl vor sich hin in den Bart, als er, an Ort und Stelle angelangt, die Wohnung glücklich gefunden und nun auch hier erfahren mußte, daß die beiden jungen Leute, bei dem schönen Wetter heute, einen Spaziergang gemacht hätten und es ganz ungewiß sei, wann sie zurückkehren würden, – keinenfalls aber vor zehn Uhr Abends. – „Pech – heilloses Pech!“ wiederholte er mit zusammengebissenen Zähnen, „und was nun? – habe ich nicht Mama versprochen, daß ich ihr einen Vierzehnten mitbringen würde?“
Hier war nichts mehr zu machen. Er war in dieser Gegend sonst vollkommen unbekannt, und wo sollte er jetzt noch Jemanden finden, der in den wenigen Minuten bereit sein würde, einem Diner beizuwohnen? Und in diese Gesellschaft konnte er auch nicht Jeden einführen.
Am Markt, also nicht weit von ihrem Hause, wohnte ihr Hausarzt, ein noch junger, sehr gebildeter und tüchtiger Mann – daß er an den auch nicht früher gedacht! Das arme geplagte Droschkenpferd mußte den Weg wieder mit erneuter Hast zurücklegen, was es aber gern unter dem irrigen Gefühl that, daß es seinem eigenen Stalle damit entgegen eilte. – /136/ Traurige Täuschung! in der nächsten halben Stunde war es vielleicht schon wieder im nächsten Dorfe.
Am Markt angelangt – und. jetzt fehlten nur noch zehn Minuten an fünf Uhr, bezahlte er die Droschke und stieg zu des Doctors Wohnung zwei Treppen hoch empor. – „Mein lieber Gott,“ betete er unterwegs, als er die Stufen emporstieg, „laß mich nur diesmal den Doctor zu Hause und hungrig finden,“ und mit den Schlußworten zog er schon die Klingel – Niemand kam – noch einmal riß er daran, daß es durch das ganze Haus vibrirte. – Jetzt hörte er Schritte – drinnen ging eine Thür und ein schwerer Schritt wurde laut.
„Gott sei Dank!“ murmelte Karl zwischen den Zähnen, als drinnen ein Schlüssel umgedreht und die Thür geöffnet wurde. Aber nicht des Doctors sehnlich erhofftes Angesicht schaute heraus, sondern der dicke rothe Kopf der Köchin.
„Bitte, schreiben Sie’s nur auf die Tafel da,“ sagte diese, ohne eine weitere Bemerkung oder Frage für nöthig zu halten.
„Der Herr Doctor ist nicht zu Hause?“ rief Karl fast außer sich.
„Ne,“ sagte das Mädchen, – „wenn er wieder zurückkommt, sieht er jedesmal die Tafel an und schreibt sich, was darauf steht, in sein Taschenbuch.“
„Sehr angenehm,“ sagte Karl, indem er sich in Verzweiflung wieder wandte und die Treppe hinunterstieg.
„Wollen Sie’s denn nicht aufschreiben?“ rief ihm das Mädchen nach; Karl gab ihr aber gar keine Antwort – es war rein zum Verzweifeln, und in einer ähnlichen Stimmung fand er sich gleich danach auf der Straße, die er jetzt, vollständig rathlos, seinem elterlichen Hause zu entlang schritt.
„Zum Henker auch,“ murmelte er dabei vor sich hin, – „unser rothes Dienstmann-Institut ist hier ganz vortrefflich eingerichtet, aber vollkommen doch wahrhaftig noch lange nicht, sonst hielte es jedenfalls eine Anzahl von anständigen Leuten in schwarzen Fracks, die als Vierzehnte, oder Taufpathen, oder sonst bei festlichen Gelegenheiten in die Bresche treten könnten! Lumperei überall, wohin man blickt, und nur auf Mamas /137/ Gesicht freue ich mich, wenn ich als Dreizehnter wieder nach Hause komme. – Und wegen solch’ eines albernen Vorurtheils bin ich jetzt über drei Viertel Stunden in der Stadt umher gehetzt – ich wollte, daß Ihre Excellenz die Frau Ministerin –“ er hielt überrascht in seinem eben nicht wohlwollenden Selbstgespräch inne, denn dicht vor ihm, unmittelbar an dem Fenster eines Delicatessenladens, in welchem die interessantesten Dinge, wie Straßburger Gänseleberpasteten, geräucherter Lachs, Aal, ausgeschmückte Fasanen und Truthähne, getrocknete Datteln, überzuckerte Früchte und eine Masse anderer guter Dinge aufgestellt waren, stand ein Herr in voller Toilette, in tadellosem Frack, weißer Cravatte, hellen Glacéhandschuhen, Lackstiefeln – kurz, ein Mensch, wie er ihn gerade in diesem Augenblick brauchte, und betrachtete sich die da drinnen aufgestellten Herrlichkeiten.
Fast unwillkürlich blieb Karl neben ihm stehen und suchte – angeblich ebenfalls die Waarenvorräthe musternd – einen Blick auf das Gesicht des Fremden zu gewinnen, was ihm auch gelang, da sich dessen Aufmerksamkeit ausschließlich mit dem Inhalt des Schaufensters beschäftigte.
Er sah wirklich sehr anständig aus, ja das dunkelgelockte Haar und ein kleiner Schnurrbart gaben dem blassen Gesicht sogar etwas Interessantes. Sollte er ihn wirklich anreden? – Es lag ein gewisser Humor darin, einen wildfremden Menschen zu einem solchen Zweck auf der Straße aufzugreifen; aber trotzdem schien es dem jungen Manne nicht allein undelicat, sondern auch roh, denn durfte er ihm den richtigen Grund angeben? und wenn nicht, welchen andern sonst?
Da schlug es fünf Uhr – Herr des Himmels und der Erden, er selber war noch nicht einmal in voller Toilette und der Vierzehnte fehlte! Aber da stand er! Es half nichts mehr, jede Rücksicht mußte vor der dringenden Nothwendigkeit des Augenblicks schwinden und jedenfalls wenigstens der Versuch gemacht werden, damit er sich selber keine Vorwürfe zu machen brauchte. Zeit hatte er keinenfalls mehr zu verlieren, und seine Mütze lüftend, wandte er sich gegen seinen Nachbar.
Dieser hatte die Bewegung wohl bemerkt, aber wohl nicht /138/ geglaubt, daß sie ihm gelte. Der neben ihm Stehende wollte jedenfalls die Sachen da drinnen, so wie er, in Augenschein nehmen, und er gab ihm deshalb unwillkürlich ein wenig Raum.
„Mein Herr,“ faßte sich da Karl ein Herz und redete ihn mit einer artigen Verbeugung an, „darf ich mir, als vollkommen Fremder, eine Frage an Sie erlauben?“
Der Fremde drehte sich rasch und erstaunt nach ihm um, lüftete aber ebenfalls den Hut. Er hatte wirklich ein intelligentes, wenn auch etwas scharf markirtes Gesicht. „Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?“