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Ost-West-Passat
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Sie rief an und lud ihn ein, mitzufahren zu einem Ärztekongress. Weil Thomas früher in Frankfurt lebte, war er sofort einverstanden, sie zu begleiten. Sie kannten sich flüchtig aus einer Veranstaltung. Aber er hat wenig Geld: Warum nicht bei Frau Doktor einsteigen?
Auf der Fahrt ist ihm fast zum Erbrechen. Und nun sitzt er neben dieser dürren, stolzen, wortkargen Frau und wird unterwegs den Unterhaltungskünstler geben?
Die Fahrt beginnt in Ost-Berlin; Treffpunkt an einer Ecke in Friedrichshain. Es scheint die Sonne. Sie fährt, er heute als Beifahrer. Ab und zu erblickt er ihr Profil. Staunend über die etwas unzugängliche, sehr gepflegte großgewachsene Ärztin für Proktologie. Ob nun morgen unter Mastdarm- oder Enddarmsachverständigen, hier fährt sie ungehindert ein flottes Tempo, da noch keine Verkehrs-Verstopfung stattgefunden hat. Sie fahren Jena an – ihre Tochter studiere hier Psychologie. Die Reisenden werden zu einem gemeinsamen Mittagessen erwartet - von früheren Kollegen von ihr. Erst auf dem Weg Richtung Erfurt erzählt sie ihm, wie man sie nach der Wende ganz gemein „abgewickelt“ habe, als Direktorin einer Poliklinik in Mecklenburg.
Er hat fast Mitleid mit ihr, kann es ihr aber nicht sagen, so starr, so selbstbewusst, wie sie neben ihm das Steuer in der Hand hält. Kaum dass sie ihn eines Blickes würdigt. Viel neugieriger waren auf ihn ihre Bekannten während des Essens in Jena. Sie fahren gemütlich weiter durch den Thüringer Wald. Dann, plötzlich, macht Frau Doktor Halt. Sie blickt ihn an:
„Wollen wir hier übernachten?“
„Ich war noch nie in der Gegend“, antwortet er.
Es sei ein Ort, in dem sie schon zu Oberarzt-Zeiten Kurzurlaub zu machen pflegte, berichtet sie dem Mann aus Berlin-West.
Heute liegen hier Schnee und Eis. Sie stapfen ein wenig herum in diesem hübschen Ort Friedrichroda. Sie stakst neben ihm in hohen Absätzen.
Bald finden sie ein kleineres Hotel, in einem Gässchen. Hier bleiben wir, sagen sich beide. Die Empfangschefin bietet vorhandene Zimmer an; und, ohne auf Thomas zu blicken, tönt Frau Doktor energisch:
„Ein Doppelzimmer.“
Der Mann möchte vor Schreck versinken: Wie, mit dieser Frau – eine ganze Nacht verbringen?
Sie packen ihre Taschen und Koffer und gehen, hintereinander, in den ersten Stock. Er setzt entschlossen seine Tasche auf die Betthälfte an der Tür. Unterdessen reißt Frau Doktor das Fenster zum Lüften auf. Mit der Schlafordnung scheint sie einverstanden. Jetzt beginnen sie darüber zu sprechen, wo und wie sie essen gehen werden. Hier jedenfalls nicht.
Die frisch hereinströmende Luft ist verlockend, hinter den Häusern erhebt sich der Thüringer Wald. Ihm ist nach Volksnähe. In einem einfachen Lokal, schlägt er vor. Einer an der Wand hängenden Speisenkarte ist zu entnehmen, hier in dem kleinen Haus mitten im Zentrum würde es gar nicht billig werden. Also entschließen sie sich, schnell was in der Nähe zu suchen. Sie finden einen Gasthof, ein paar Meter entfernt. Entscheiden sich für Thüringer Klöße, „noch von Hand gerollt“.
Im gemütlichen Gastraum der größere Tisch belegt, von Menschen wie auf einem Betriebsausflug. Leute in ausgelassener Stimmung. Stimmengewirr. Neugierige, freundliche Gesichter, als ihnen serviert wird. Sie hat die Klöße „mit Rehbraten“ und „mit Croutons“ bestellt, er vegetarisch „mit Meerrettichsoße“.
Die beiden Reisenden fragen die Gruppe, woher sie kommt.
Einer jubelt fast: „Von dort, auf der Höhe.“ Er weist aufs Fenster. Da, das Berghotel am Horizont, die Lichter, die im Dunkel zu sehen sind! Es ist das ehemals beliebte FDGB-Hotel aus DDR-Zeiten, erklärt er begeistert. Ganz wie früher gehe es ihnen sehr gut dort. Manche würden 10 Tage bleiben, manche ein paar Wochen.
Es muss der Rennsteig sein auf der Anhöhe.
Frau Doktor scheint die alten Zeiten hier noch zu kennen, guckt indigniert vor sich hin, bis sie und ihr Beifahrer gehen.
Eine große Bettdecke gibt es, sie reicht für beide. Das Bett selber ohne Besuchsritze – ängstlich und misstrauisch wartet er auf sie
Sie bleibt lange im Bad – bis die Spülung geht. Als sie endlich kommt, im Seidenpyjama, die Jacke leicht geöffnet, denkt er: Glücklicherweise hat sie was an. Und, als sie sich im Bett zurechtlegen, weht eine Duftwolke herüber.
Sie liegt neben ihm, bewegungslos, steif. Wie ein erlegtes Wild.
Nach einer Weile fragt sie:
„Ist Ihnen auch kalt?“
„Ich dreh die Heizung auf 2!“
Lange kann er danach nicht einschlafen. Haben sie sich nichts zu sagen? Sind sie beide resigniert? Eigentlich schläft er doch sehr gern mit Frauen. Aber hier packen ihn Wut und Enttäuschung darüber, dicht neben diesem Poliklinik-Boss zu liegen. Es schien ihm im Lokal, dass sie die einfachen Menschen aus der Ex-DDR verachtete. Diese Zicke! Er hat gar keine Lust, sie zu berühren, dicht neben ihr. Auch von ihr kommt kein taktiler Verkehrshinweis.
Dennoch fängt er an:
„Können wir morgen in Bad Hersfeld kurz Halt machen?“
„Da wird kaum Zeit bleiben“, sagt sie schroff und dreht sich um.
Sicher, er versteht, sie müssen um sechs Uhr aufstehen, um über die Landesgrenze zum Proktologenkongress zu gelangen, der mittags beginnt.
Sie machen sich früh reisefertig. Zwischen Zimmer und Hotelausgang fragt sie beinahe schüchtern:
„Finden Sie meine Schuhe passend?“
Der jüngere Mann ist nicht interessiert an modischen Fragen, bejaht aber höflich.
Noch ist es finster. Die dunklen Ränder des Waldes huschen an den Wagenfenstern vorbei. Je näher sie der ehemaligen Ost-West-Grenze kommen, umso heller wird es. Aber auch die Farben scheinen zuzunehmen. Erste Häuser sind zu sehen, mit schmucken Häuserfronten blickt den Fahrenden das Land Hessen entgegen. Er wie aufgeweckt, erzählt der Steuerfrau von früheren Ferienaufenthalten mit seinem Sohn, und auch von Beziehungen zu Frauen in dieser Gegend.
Je näher sie Kassel kommen, umso wunderbarer scheint das Leben. Noch ist es die Zeit, da einzelne Trabis westwärts fahren; die natürlich vom Mercedes überholt werden. Aber da bittet Thomas: „Bitte Hupen“. Und winkt! Der Gruß wird bei Augenkontakt immer erwidert.
Die schlängelnde Autobahn, die malerisch durch Waldgegenden führt, erinnert ihn an Autofahrten Nord-Süd/Süd-Nord, zu Zeiten vor der Wiedervereinigung. Schließlich über Gießen und Friedberg die Ankunft in Frankfurt. Hier geschieht formlos, aber freundlich der Abschied. Ob er wieder mit zurückfahren will? Verabredet wird, dass er sich telefonisch im Hotel, wo der Kongress tagt, meldet.
Nach zwei Tagen seine Neugierde. Aber er muss erst sie treffen, nur über sie hat er Zugang zu den Enddarmexperten. Ein Anruf genügt: In diesem Riesen-Hotelkomplex
reicht es, ihren Namen am Foyer zu nennen: „Frau Doktor Müller-Ebrink“, um im 11. Stock auf sie selbst zu treffen. Sie sieht hier schick, flott, selbstbewusst aus. Diesmal gar nicht kühl drückt sie Erstaunen aus, deutliche Freude auch, dass Thomas wieder mitfahren will.
So geschieht es, dass er noch an der Abschlussveranstaltung der internationalen Creme der Darm-Leute teilnimmt. Bis sie zwei, drei Stunden später die Heimfahrt antreten. Die zu einer Meisterleistung der Fahrtkunst wird: hart am Limit, unbeeinflussbar geht es auch durch Baustellen an der Autobahn bei vorgeschriebenen 60/h mit Tempo 120. Der Beifahrer schließt die Augen. Weltniveau, denkt er spöttisch, wie sie den Westwagen so fährt, dass sie kaum reden könnten, auch wenn sie es wollten.
Am frühen Abend, bei leichtem Schneefall, setzt sie ihn nahe Charlottenburg ab. Sein Groll über den Verlauf, seine Zweifel, ob er den kostenlosen Hotelaufenthalt in der thüringischen Waldgegend annehmen kann: vergessen –weichen der Überraschung, ohne denkbare Zwischenfälle in Berlin angekommen zu sein.
2
Zwei Jahre später. Thomas ruckelt hin und her auf dem Stuhl während eines Kongresses grüner Bundestagsabgeordneter direkt neben dem Brandenburger Tor. Er spürt aus früherer Zeit, was die Stunde geschlagen hat: Spontanthrombose – er hört die Engel singen.
Ein Anruf im nahen Brandenburg bei der bewussten Proktologin. Eine Kongressteilnehmerin bringt ihn. In einem Auto liegend auf der Rückbank übersteht Thomas den Transport mühsam, die baldige OP am Hintern erhoffend. Auf Klingeln wird ihm sofort die Tür geöffnet. Er ist ja angemeldet. Als Notfall. Bevor die Ärztin ihn bittet, Platz zu nehmen, stellt sie ihn einem Mann vor, der zufällig anwesend ist. Auf eine relativ weiche Couch verwiesen, versucht Thomas zu sitzen.
Der dickliche, eher kleine Mann, hat schräg gegenüber Platz genommen. Er stellt sich als Versicherungsvertreter aus Westdeutschland vor und gibt an, „Freund des Hauses“ zu sein.
Geplänkel. Hahnenkampf? Thomas erfährt, dass Frau Doktor auf eine Zeitungsannonce hin diesen Mann kennengelernt hat. Worüber sich Herr Soundso offensiv lustig macht. Auch als sie jetzt wieder auftaucht, hält sich der Hausfreund nicht zurück. Selbstgefällig blickt er die Frau an:
„Hasi, jetzt kannst Du’s ihm zeigen!“, grinst er und lässt den Blick in die Runde schweifen.
Zu Thomas gewandt, mit einem Grinsen: „Und treibt‘s nicht zu toll auf dem OP-Tisch“. Frau Doktor, neben den Männern hantierend, versucht zu lächeln und packt die Sachen für die OP. Aber der Mann ist nicht zu bremsen:
„Ihre OP-Schwestern haben es oft mit Weicheiern zu tun“, erklärt er höhnisch.
Sie fordert nun verlegen grinsend Thomas auf, mit ihr aufzubrechen.
Beiden schallt noch nach: „ Bleib nicht zu lange, Pussi!“
Die Fahrt in ihre Praxis ist nur kurz. Im OP-Raum die üblichen Handgriffe bei einer spontanen Thrombose; Thomas kommt sich wie auf einem Stuhl beim Frauenarzt vor. Die entstandene Blutblase im Enddarm wird geöffnet – ein erleichternder Aderlass. Gut so.
Nach der ambulanten OP bringt Frau Doktor Müller-Ebrink ihren Reisegefährten wie selbstverständlich zur S-Bahn in Richtung Bahnhof Zoo.
„Danke!“, sagt er und sieht sie an.
„Ich hab’s jetzt eilig“, wehrt sie schief lächelnd ab, „ der nächste Patient wartet zuhause, wie Sie wissen!“