Читать книгу Bauchweh und Wetter - Gert Podszun - Страница 3
Bauchweh in der Stadt
ОглавлениеMein Beruf: Verkaufen. Seit Jahren. Daran gewöhnt, das dazu Notwendige selbst zu organisieren: Projektierung, Erstellung von Reiseplänen, Besuchsvorbereitung, Kundenanalyse, Vorbereiten von Meetings, Abfassen von Berichten und Protokollen, die dann nur gelesen werden, um zu beweisen, dass eigentlich alles ganz anders gemeint war.
Heute ist wieder einer dieser Reisetage. Über dem Wolkenbett im Flugzeug sah ich Wolkenpilze, kämpfende Drachen und Klobrillen, blätterte schwitzend in der Zeitung, die kostenlos bereit lag und dann alsbald zerknautscht in den Netzen der Sitze landete.
Landung in Berlin.
Heute habe ich den Leihwagen bei der Gesellschaft gemietet, bei der die augenscheinlich netteste Bedienung saß. Oftmals wirken die Gesichter in den Kabinen etwas muffig. Besonders montags. Sie haben grüne Hütchen auf hinter dem Tresen. Hier ist an ein Getränk nicht zu denken. Sie haben den Service an Bord eingeschränkt. Aus Kostengründen. Was kostet ein Gast?
Unter dem Hütchen leuchtete Lipgloss. Ein Lippenstift, der auf den Lippen glänzt. Rot zieht das Auge augenscheinlich zuerst an. Erst dann erblickte ich unter zwei rasierten Augenbrauen und Maskara-verzierten Wimpern blaue Augen, von denen ich einfach annahm, dass ihre Farbe nicht gefälscht war.
Wie lange werden Sie den Wagen benötigen?
Bis ich um die dicke Litfasssäule herum bin.
Sie hat nicht gelächelt. Wahrscheinlich fand sie meine Anmerkung dümmlich.
Wenn Sie ihn zurückgeben und hier geschlossen sein sollte, können Sie den Schlüssel einfach in dieses Kästchen werfen.
Zur Übergabe der Papiere stand sie auf und beugte sich zu mir. Ich konnte mir die Frage nicht beantworten, ob sie einen Push-up-Büstenhalter trug oder nicht. Ich bevorzuge Natur.
Die Teerdecke der Heerstraße in Berlin wölbte sich mit ihren Rändern nach oben, geriet zu einer Halbschale, wollte den Leihwagen von der Seite neben den unterbrochenen weißen Linien in die Mitte drücken. Wie da noch abbiegen? Linksabbieger bitte einordnen. Wie denn einordnen, wenn die Fahrbahn verrückt spielt?
Eine rote Reklametafel stürzt sich unter dem frühen Abendhimmel von der Häuserwand herunter und langt durch das geöffnete Schiebedach nach mir. Als wenn ich jetzt Durst nach klebriger brauner Brause hätte. Ich werde in der großen Stadt übernachten. Das Hotel liegt in der Nähe der ehemaligen Grenze zwischen zwei real existierenden Gesellschaften gleicher Sprache.
Morgen muss ich nach Rostock. Hansestadt. Mühlendamm.
Heute folge ich den Anweisungen des Navigationsgerätes durch die Stadt. Früher habe ich einen Blick auf den Stadtplan geworfen, die grobe Richtung bestimmt und bin neugierig losgefahren. Da gab es noch die Mauer.
Der Leihwagen steht geschlossen in der Hotelgarage, mein Gepäck ist im Hotelzimmer abgestellt. Ich habe mich frisch gemacht und werde noch ein wenig bummeln. Frisch machen sagte auch der Ausbildungsunteroffizier während der Grundausbildung bei der Bundeswehr, wenn er uns durch das Gelände scheuchte. Auf der anderen Seite der Mauer war es bestimmt ähnlich.
Einen Platz, auf dem ich vor etwa einem Jahr abends in der Sonne saß, erkenne ich wieder. Ein Mann sitzt auf dem Trottoir. An die noch warme Hauswand gelehnt. Er hält einen Plastikbecher zwischen verschmutzten Fingern. Neben ihm liegt eine voll gestopfte Plastiktüte.
Die Bedienung ist freundlich. Sie sächselt. Sie trägt die Uniform des Hauses. Getränk und Essen schmecken. Ich bin zufrieden.
Ein weißes lang gestrecktes Auto fährt langsam vorbei. Ein Brautpaar winkt von drinnen. Wie Zirkus. Eine kostenlose Vorführung. Manche klatschen. Zum Lesen der Zeitung ist es schon zu dunkel. Ich werde noch ein wenig sitzen bleiben, etwas trinken und meinen Sinnen Freiheit gewähren.
Babylonische Stimmen. Von oben fallen die Lichter der Werbung über uns her. Das Aroma des Weines wird aufsteigend mit Kohlenstoffdioxid geschwängert. Die nicht durch Kleidung abgedeckte Haut wird mit Feinstaub angereichert. Meine Zunge streift unbewusst, vielleicht selbstschützend, den Feinstaubanteil von den Lippen ab. Die junge Frau unter dem grünen Hütchen hatte glänzende Lippen. Manche Frauen an den Nachbartischen schminken sich die Lippen nach, nachdem sie Spuren von ihnen auf den Rändern der benutzten Gläser zurückgelassen haben.
Lippenstifte überall, Auch in den Bädern dieser Drei-Millionen-Stadt lagern Lippenstifte. Für jede neue Mode einer. Und in den Handtaschen. Und anderswo, in Taxen, in Handschuhfächern, in Mülleimern. Alle hatten oder haben nur den einen Zweck: einen Mund mit einer uneigenen Farbe zu versehen. Es gibt auch Männer, die die eigene Lippenfarbe verändern. Das soll attraktiv machen. Anziehend. Wie ein Magnet. Und dann schaut man in die Augen und bei den Frauen auf den Busen.
Berlin ist attraktiv. Sagt das Stadtmarketing. Welche Farbe würden Berlins Lippen tragen? Ich würde jetzt gerne die Farbe der Berliner Lippen sehen und die Wärme dieser Lippen spüren, in die Augen eintauchen und mich am städtischen Busen erfreuen.
Das Grau des Alltagsgesichtes dieser Stadt wird in die Untergangsfarbe des im Westen schwindenden Sonnenlichtes eingetaucht. Rhythmisch setzen Ampeln ein kräftigeres Rot in das Gesicht der Stadt. Die dunkelgrauen Straßendecken legen mit zunehmendem Sonnenuntergang schwarzes Maskara an und heben dies in den Kronen der straßenrahmenden Bäume, die nach und nach ihr Grün aufgeben müssen. Die Stadt atmet schwer.
In den Bienenstockhäusern wie in den Villen entlang der breiten Alleen wabert Atem wortloser Einsamkeit neben den spitzen Schreien kurzer Lust. Letzte Atemzüge sinken in die wärmespeichernden Häuserzeilen, zwischen die alten Baumgruppen in den Parkflächen, unter die Gleise der ratternden Metrowagen. Hoffnung steigt auf wie der erste Strahl der die Wolkendecke durchbrechenden Sonne. Von Hoffnung steht dann auch etwas in den Nachrichtenblättern, welche in der großen Stadt auch zur Nacht verteilt werden. Auch die Nachricht von der jungen Frau, die sie heute Morgen aus der Toilette des großen Kaufhauses getragen haben. Weggespritzt von den asphaltierten Wegen und der durchgesessenen Couch fernab elterlicher Fürsorge. Und von der Verfügbarkeit.
Ihr Großmaul reißt die Stadt auf und protzt mit Kubikkilometern von bewältigtem Unrat, prahlt mit den Investitionen zeitlich begrenzten Engagements von global wirtschaftenden Konzernen, preist sich mit den Superstimmen gastierender Opernsänger und Opernsängerinnen für ein paar buntere Nächte, proklamiert die Rettung der obdachlosen Fixer, provoziert weitere Zuwanderungen von Arbeit- und Hilfe-Suchenden und pumpt sich Kapital für die nächste Legislaturperiode.
Stille wohnt in der Stadt. Sie sitzt in der Haut des alten Mannes. Dessen Zorn sitzt hinter einer dieser vielen Hausmauern. Er hat seine Augen auf das Fensterkreuz vor sich fixiert. Er lebt seit seiner Geburt in dieser Stadt. Wurde hier gesäugt. Hat gespielt, gelernt, gearbeitet, gezeugt und ist nun alleine und gekreuzigt an einen Stuhl. Das Grau der Straßen und Häuser, der Gardinen vor dem Fensterkreuz nagen an dem Mann. Seine Stimme ist in den Lärmnebeln entwichen. Seine Augen verlieren sich in dem blühenden Grau. Er hört Stimmen in den Träumen, die Tage und Nächte begleiten. Die Zeit der Antworten ist erstickt. Die Hände greifen lahm nach Nahrung. Und die Haut atmet einen matten schleifenden Geruch aus. Der Zorn will diese Zeit nicht, die man nicht haben kann. Vielmehr besetzt die Zeit Hoffnung und Zorn. Setzt einen da oben in das graue Zimmer mit dem grauen Ausblick.
Laut kreischen die Farben der kurzberockten Tänzerinnen über die breite Straße. Lippenstiftrote Lackröcke, leichte Lässigkeit tanzt in die Zeit der Stadt. Ein Wimpernschlag aus Glück fährt durch den Leib des jungen Weibes und fällt zwischen torkelnden Plastikfetzen in die Abflussrinne neben dem Trottoir.
Es kreißt und modert, lockt und vertreibt, leuchtet und blendet in der Stadt. Aus den Flugzeugen, Bahnen, U-Bahn-Schächten und der Kanalisation, von den Türmen der Gotteshäuser fallen Nachrichten in die Straßenschluchten auf die Treibenden und Getriebenen. Mehr steht da, noch mehr. Und nicht immer genau hinsehen. Lieber auf die Karte des Restaurants. Diese halte ich in der Hand und entscheide mich für ein letztes Glas Rotwein.
Ich werde zum Hotel gehen und den grauen Bettler und seine Bündel nicht beachten. Die Stadt hat irgendwo ein Bett für ihn.
Ich denke an das Ziel von morgen.
Die kurzen Träume ähneln einem Abreißkalender. Aus den hohen Hallen der Fabrik dröhnen die Maschinen nach Aufträgen, die Bildschirme der Computer zeigen Handlungsbedarf, die Heckleuchten der Fahrzeuge auf der nächtlichen Autobahn bilden eine Nabelschnur von einer Stadt zur nächsten, die Zufahrtstraße wölbt sich auf, bildet bald eine Röhre, über mir die Bürgersteige. Die Lichter der Häuser fallen unter mich. Das Gesicht eines wichtigen Kunden schwebt vor mir wie ein Luftballon und verbindet sich mit dem dunkler werdenden Grün der Alleebäume. Blitze zischen aus den Zweigen und erleuchten knallrote Münder am Straßenrand. Riesige Müllautos schlucken den Straßenzug und ich fliege mit in ein abstürzendes Dunkel.
Zum Frühstück nehme ich die Akte des Kunden aus Rostock mit und blättere sie neben dem Kaffee durch. Die Träume habe ich weg geschoben und konzentriere mich auf meine Aufgabe. Planmäßig starte ich den Leihwagen in der Tiefgarage. Schnell werde ich in ihm ein Teil dieser Blechschlange, die sich durch die Strassen von Berlin zieht. Ich folge dem Plan des Navigators wie immer. Sicher finde ich die richtige Autobahnauffahrt. Nach etwa zwanzig Minuten sehe ich schon das Hinweisschild zur Autobahn nach Rostock.
Ich habe mich richtig eingeordnet, kurz mit der Firma telefoniert, damit man weiß, dass alles plangemäß läuft. Wenn es keine besonders großen Unfälle auf der Strecke geben wird, werde ich pünktlich beim Kunden sein.
Vor mir öffnet sich ein Tunnel auf dem Autobahnzubringer. Mit Richtgeschwindigkeit fahre ich hinein.
Es fährt mich. Nie und nimmer könnte ich aussteigen. Die beplankte Straße lenkt mich. Ich bin in einer Kette, gezogen, kenne deren Anfang nicht. Eine Autokette, von der ein Glied schon in Rostock ist und ein anderes aus den Räderwerken Berlins hinausgleitet. Oder geschoben wird. Oder ausgestoßen, weil das Gesicht von gestern am neuen Tag nicht mehr gebraucht wird. Es gibt genug Gesichter. Bis auf die auf den Litfasssäulen, den Leinwänden, den Reklametafeln, den großen Bühnen, in den Stadien. Die werden digitalisiert und gezoomt und gedruckt und gesendet. Bis sie von der einen Stadt in die nächste gespuckt werden und irgendwann nicht mehr nach ihnen gefragt wird.
Ob das Hütchen sich an mich erinnern wird?
Morgen werde ich den Leihwagen zurückgeben.