Читать книгу Sophienlust Extra 9 – Familienroman - Gert Rothberg - Страница 3

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»Nein, nein, ihr könnt diesmal nicht mitfahren!«, rief Andrea von Lehn lachend, als sich die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel um sie drängten. »Nur Severin wird mich nach Maibach begleiten«, fügte sie hinzu und öffnete die Autotür, damit die schwarze Dogge hineinspringen konnte. Stolz legte sich Severin auf den hinteren Sitz.

Waldi legte die Ohren zurück und lief mit eingezogenem Schwanz davon.

Die Dackeline Hexe wartete noch einen Augenblick in der Hoffnung, dass es sich ihr Frauli doch anders überlegen würde. Aber dann schien sie zu begreifen, dass sie ihr Köpfchen nicht durchsetzen konnte. Sie folgte nun ihrem Dackelmann. Die beiden jungen Dackel Pucki und Purzel sprangen bereits wieder vergnügt auf der Wiese umher.

Dr. Hans-Joachim von Lehn kam aus dem Haus. »Andrea, hier habe ich noch eine Liste von Medikamenten, die du mir unbedingt mitbringen musst.«

»Das werde ich tun.« Andrea erwiderte den Blick ihres Mannes verliebt. »Wirst du ohne mich in der Praxis zurechtkommen? Gerade heute ist das Wartezimmer voll von kleinen Patienten.«

»Keine Sorge, mein Schatz, ich werd’s schon schaffen«, erklärte er fröhlich. »Fahr bitte vorsichtig und parke richtig. Sonst bekommen wir wieder einen Strafzettel.«

»Ich werde daran denken«, entgegnete sie sorglos. »Um diese Jahreszeit ist der Fremdenverkehr nicht mehr so stark. Ich werde bestimmt einen Parkplatz bekommen.« Sie winkte ihm zu und stieg in den Wagen.

Lachend kehrte der junge Tierarzt ins Haus zurück. Natürlich würde Andrea ihm heute Nachmittag fehlen, denn sie war sehr beliebt bei seinen vierbeinigen Patienten und auch bei ihren Besitzern. Zudem war sie eine tüchtige Assistentin, die ihm eine unentbehrliche Hilfe geworden war. Hans-Joachim war sehr glücklich, und er würde alles tun, dieses Glück seiner Ehe auch zu erhalten. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer und rief: »Der Nächste, bitte!«

Ächzend erhob sich eine rundliche Dame mit hochroten Wangen. Zärtlich presste sie einen dicken Mops an ihren mächtigen Busen. »Guten Tag, Herr Doktor«, begrüßte sie den Arzt. »Mein Liebling ist seit Tagen ohne Appetit und lehnt selbst jeden Leckerbissen ab. Hoffentlich ist er nicht ernstlich krank!«

»Das werden wir gleich feststellen, liebe Frau Heimann«, erwiderte Hans-Joachim und nahm ihr den Hund ab.

Andrea fuhr währenddessen die von alten Kastanienbäumen gesäumte Landstraße entlang. Noch weilten ihre Gedanken bei ihrem Mann. Hoffentlich wird er auch tatsächlich ohne mich fertig, überlegte sie. Er verlässt sich doch in vielen Dingen ganz auf mich und weiß oft nicht, wo die Medikamente liegen. Aber ich werde mich beeilen. Vielleicht kann ich schon in einer Stunde wieder zurück sein.

Die ersten Häuser von Maibach tauchten jetzt auf. Kurz darauf bog Andrea in die Straße ein, die zum Marktplatz führte. Vor einem der schönen alten Giebelhäuser fand sie noch einen Parkplatz mit Parkuhr. Sie steckte ein Geldstück in den Schlitz und rief dann nach Severin. Die Dogge kam sofort angesprungen und wedelte freudig mit ihrer langen spitzen Rute. »Bleib schön bei Fuß, Severin«, bat Andrea und fuhr dem Hund liebevoll über den Kopf. Brav blieb Severin vor jedem Geschäft sitzen, das Andrea betrat, um einzukaufen.

»Severin, sitz!«, rief Andrea vor der Löwenapotheke und wandte sich um. Die Dogge blieb jedoch stehen, streckte den Kopf vor und lauschte. Dann schoss sie davon, hinein in eine Seitengasse.

»Severin! Severin!«, rief Andrea verärgert. Sie pfiff, aber der Hund kam nicht zurück. »Na, so was«, murmelte sie erstaunt. »Sicherlich hat er den aufregenden Duft einer läufigen Hündin in die Nase bekommen und glaubt nun, ihren Spuren folgen zu müssen.«

Andrea nahm sich vor, Severin gründlich die Leviten zu lesen, und bog in die Gasse ein, in der er verschwunden war. Schon von weitem hörte sie die Dogge kläffen, doch sie konnte sie nirgends sehen.

Andrea eilte weiter und bog in eine andere Seitenstraße ein. Da entdeckte sie den Hund. Er stand mitten auf der Straße und gebärdete sich wie toll.

»Severin! Komm her!«, rief Andrea aufgebracht. Der Hund drehte sich um und kam auf sie zugerannt. Doch auf halber Strecke kehrte er wieder um und bellte von neuem.

Inzwischen waren einige Leute aus den Häusern gekommen. Sie erreichten das Loch, in das Severin hineinbellte, zur gleichen Zeit wie Andrea. Es war ein Gully. Der Deckel lag daneben. Bauarbeiter hatten vergessen, ihn wieder auf den Gully zu legen.

»Mein Gott!«, rief eine der Frauen entsetzt. »Da unten hockt ja ein Kind!«

Andrea beugte sich vor und entdeckte auf dem Grund des Gullys in Schlamm und Wasser ein kleines Mädchen. Auch die anderen Leute schauten hinunter. Ein Polizist befand sich unter ihnen. Er rief: »Ich hole sofort Hilfe.«

Wie gebannt blickte Andrea noch immer hinunter, dann rief sie: »Bleib ganz still! Du wirst sofort heraufgeholt.«

Die großen blauen Kinderaugen schauten nach oben. Entsetzen war darin zu lesen, Entsetzen und Todesangst.

Schon hielt ein Streifenwagen neben dem Gully, Polizisten sprangen heraus. Dann ging alles sehr schnell. Das zitternde und verschmutzte kleine Mädchen stand gleich darauf neben der Dogge, die sich an das kleine Wesen herandrängte.

»Ich kümmere mich um das Kind«, bot Andrea an.

»Die Dogge hat das Kind gefunden!«, rief ein halbwüchsiger Junge.

»Sie hat ihm das Leben gerettet.«

»Ja, so ist es!« Alle blickten nun bewundernd auf den riesigen schwarzen Hund.

»Kennt jemand das Kind?«, fragte Andrea. Doch niemand meldete sich. Da bat Andrea: »Vielleicht könnte ich die Kleine irgendwo etwas säubern?«

»Aber ja, Frau von Lehn!«, rief die Apothekerin. »Kommen Sie nur ins Haus.«

Andrea hob die Kleine ungeachtet ihres Zustandes hoch und trug sie ins Haus. Noch immer hatte das Kind kein Wort gesagt. Andrea schätzte, dass es drei Jahre alt war.

»Was für ein hübsches Kind«, stellte die Apothekerin fest. »Es muss seiner Mutter fortgelaufen sein.«

»Wie heißt du denn?«, fragte Andrea, als sie im Badezimmer waren.

Das Mädchen lächelte plötzlich. Doch mehr geschah vorerst nicht. Andrea reinigte ihren Findling, so gut es ging, und kämmte dann das schulterlange hellblonde Haar. »Ich werde die Kleine erst einmal mitnehmen. Meine Mutter wird schon Rat wissen.«

»Ganz bestimmt«, versicherte die Apothekerin sofort, denn der gute Ruf Denise von Schoeneckers erstreckte sich weit übers Land. Allen war bekannt, dass sie das Kinderheim Sophienlust verwaltete, in dem bisher alle Kinder glücklich geworden waren.

»Bitte, seien Sie so nett und geben Sie mir noch diese Medikamente«, bat Andrea und reichte der Apothekerin den Zettel, den Hans-Joachim ihr ans Auto gebracht hatte.

Severin saß vor der Badezimmertür, während Andrea die Kleine säuberte. Auch später wich er nicht von der Seite des kleinen Mädchens. »Soll ich vielleicht die Polizei anrufen?«, schlug die Apothekerin vor, als sie die Medikamente brachte. »Sicherlich ist das Kind schon als vermisst gemeldet.«

»Die Polizei weiß ja schon Bescheid. Ich habe den Polizisten die Adresse von Sophienlust gegeben.«

Die Apothekerin nickte und begleitete Andrea und das Kind bis zum Wagen. Severin setzte sich neben die Kleine und ließ kein Auge von ihr.

»Keine Sorge, mein Lieber«, sagte Andrea lachend, »sie wird nicht mehr in den Gully fallen.«

Auf dem Weg nach Sophienlust begann das Kind nach seiner Mutter zu rufen. Doch Andrea gelang es, die Kleine zu beruhigen. »Willst du mir denn nicht sagen, wie du heißt?«, versuchte sie es wieder. »Wenn ich deinen Namen weiß, können wir deine Mutti schneller finden.«

»Ich heiße Heidi«, entgegnete das Kind endlich.

»Heidi? Was für ein hübscher Name. Weißt du auch, wie du mit Nachnamen heißt?«

»Heidi«, erwiderte die Kleine lakonisch. »Ich will zu meiner Mutti!«

Severin leckte Heidi über die Wange. Zutraulich patschte das Kind auf den Hals der Dogge. Daraufhin wedelte Severin voller Begeisterung mit dem Schwanz.

Andrea fuhr auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust und hoffte nur, dass ihre Mutti zufälligerweise dort war.

*

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne bahnten sich einen Weg durch die Fensterscheiben des Zimmers im Gasthof »Zum Bären«, in dem sich ein junges Paar befand. Die junge Frau stand mit dem Rücken zum Fenster und blickte auf ihren Mann, der auf dem Bett saß.

»Bitte, Axel, nimm doch Heidi und mich gleich nach Mannheim mit«, bat sie. »Du hast es mir doch fest versprochen.« In ihren schönen blauen Augen schimmerten Tränen. Aber der Mann zeigte kein Mitleid. Er sah auch nicht, wie hübsch seine Frau war. Das seidenweiche lichtblonde Haar war schlicht aus dem Gesicht gebürstet und im Nacken mit einer Spange zusammengehalten. Die kleine gerade Nase und die weichen vollen Lippen erhöhten noch den Liebreiz dieses Frauenantlitzes. Die junge Frau war groß und sehr schlank und trug einen hellbraunen Hosenanzug, der ihr vorzüglich stand. Doch all das bemerkte Axel Holsten nicht mehr.

Elisabeth war dagegen noch genauso verliebt in ihren Mann wie am ersten Tag ihrer Ehe. Er war ein schlanker stattlicher Mann mit aschblonden Haaren und graugrünen Augen. Er gehörte zu dem männlichen Typ, der die Frauen leicht schwachmachte. Schon längst bereute er, dass er seine Freiheit so früh aufgegeben hatte. Es störte ihn auch, dass Elisabeth so anhänglich war. Zugegeben, Elisabeth war bildhübsch. Aber sie langweilte ihn.

Seine dunklen Brauen zogen sich jetzt zusammen.

»Ich kann im Augenblick noch keine Familie in Mannheim brauchen. Erst einmal muss ich mich auf meinem neuen Arbeitsplatz als Werbeleiter einarbeiten. Außerdem habe ich ja auch noch keine Wohnung.«

»Aber ich könnte doch eine suchen. Ich …«

»Du!«, rief er. »Das ist unmöglich. Dich würde man nur übers Ohr hauen. Nein, nein, das mache ich.«

»Axel, ich war lange genug mit dem Kind allein in Ulm. Immer wieder hast du mir versprochen, mich nachkommen zu lassen. Auch diesmal. Hätte ich gewusst, dass du uns noch nicht haben willst, hätte ich doch unsere kleine Wohnung in Ulm noch behalten. Aber nun stehen Heidi und ich auf der Straße.«

»Unsinn!«, rief er ungeduldig und fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte Haar. »Sei doch nicht so lästig!«

»Lästig?«, fragte sie. Dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»Ja, lästig!«, schrie er unbeherrscht. »Das habe ich nun davon, dass ich dich so schnell geheiratet habe. Schließlich bist du Apothekerin und hättest etwas gegen deine Schwangerschaft unternehmen können. Aber nein! Du wolltest das Kind durchaus austragen. Nun habe ich euch beide am Hals!«

»Axel, bitte, sei doch nicht so gemein«, flehte sie. »Ich liebe dich doch. Und du? Hast du nicht immer gesagt, dass du mich liebst?«

»Natürlich liebe ich dich«, lenkte er ein. »Aber deshalb lasse ich mir doch nicht meine neue Stellung verpatzen. Ich brauche in Mannheim meine Freiheit, damit ich mich auf meinen neuen Posten konzentrieren kann. So eine Chance bietet sich mir nicht so schnell ein zweites Mal. Lange genug habe ich gesucht, bis ich endlich eine Stellung fand, in der ich mich als Werbefachmann voll und ganz entfalten kann. Willst du denn, dass ich wieder so wenig wie in Ulm verdiene?« Er zündete sich eine Zigarette an. »Häng dich doch nicht wie ein Klotz an mich«, redete er sich mehr und mehr in Zorn.

Seine Worte trafen sie wie Keulenschläge. Aber es war typisch für sie, dass sie sogleich nach einer Entschuldigung für sein Benehmen suchte. Sie sagte sich, man müsse Axel mit einem anderen Maß messen als andere Männer. Er zähle nun einmal nicht zum Durchschnitt. Sein unruhiges Blut sei sicher auf seine außerordentliche Begabung als Werbefachmann zurückzuführen. Deshalb falle es ihm wohl auch schwer, sich seinen weniger begabten Vorgesetzten unterzuordnen.

Das hatte Axel veranlasst, zu kündigen. Doch seine neue Stellung würde ihm die von ihm gewünschte Freiheit bieten.

»Warum sagst du nichts?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Schau doch nicht wie eine Märtyrerin drein!«

Tief atmete sie ein und zwang sich zur Ruhe. »Axel, aber wo sollen Heidi und ich denn nun bleiben? Ich habe doch …«

»Hör endlich mit dem Gejammer auf, Elisabeth. Natürlich habe ich an euch gedacht. Heute früh habe ich mit dem Gasthofwirt gesprochen. Er vermietet ein Dauerzimmer an euch. Natürlich zu einem vernünftigen Preis. Du weißt ja selbst, dass ich nicht mit irdischen Gütern gesegnet bin.« Er zog die Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und klappte sie auf. »Hier hast du erst einmal fünfhundert Euro. Damit musst du ein Weilchen auskommen. Sobald ich Vorschuss bekommen habe, schicke ich dir Geld.«

»Du hättest mir das alles nur früher sagen müssen. In Ulm hätte ich weniger Geld benötigt. Aber du hast mir geschrieben, ich soll den Mietvertrag auf keinen Fall verlängern und die Möbel einlagern lassen. Auch der Treffpunkt hier in Maibach war allein deine Idee«, hielt sie ihm sanft vor. »Trotzdem werde ich mich bemühen, so sparsam wie möglich zu wirtschaften.«

»Hör endlich mit deinen sanften Vorwürfen auf!«, rief er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, um sich sogleich eine neue anzuzünden.

Elisabeth unterdrückte einen Seufzer. Manchmal war es wirklich sehr schwer, Axels Reaktionen zu verstehen.

Plötzlich vermisste Elisabeth ihre kleine Tochter. »Wo steckt denn Heidi?«, fragte sie. »Sie war doch eben noch hier.«

»Warum regst du dich nur so auf? Heidi ist groß genug, um auf sich selbst aufzupassen.«

»Das finde ich nicht«, erwiderte sie voller Angst. »Sie ist noch nicht einmal vier Jahre alt.«

»Sie ist bestimmt im Hof unten. Auch gestern hat sie mit den Kindern dort gespielt.«

Elisabeth öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. »Nein, Heidi ist nicht bei den anderen Kindern. Ich muss sie suchen.« Sie eilte aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Unten traf sie die Wirtin. »Frau Weinert, haben Sie Heidi gesehen?«

»Nein, Frau Holsten. Aber sie kann ja nicht weit sein«, beruhigte die mütterliche Frau sie, denn sie hatte fünf Kinder großgezogen und genug aufregende Situationen mit ihnen erlebt, die sich letzten Endes doch meist als völlig harmlos herausgestellt hatten.

»Hoffentlich.« Elisabeth ging in die Gaststube. Aber auch dort war das Kind nicht. Schließlich lief Elisabeth auf die Straße und suchte verzweifelt nach ihrer Tochter. Aber vergebens.

Axel erschien. »Hast du Heidi gefunden?«

»Nein, Axel, sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Mein Gott, sie wird doch nicht mit jemandem im Auto mitgefahren sein? Heidi ist so vertrauensselig.«

»Elisabeth, mach dich doch nicht selbst verrückt. Wir werden sie schon finden«, meinte er lächelnd.

Seine Gelassenheit war ihr unverständlich.

»Ich gehe zur Polizei«, erklärte sie und eilte schon davon.

Auf dem Polizeirevier, das sich ganz in der Nähe des Gasthofs befand, erfuhr Elisabeth dann von dem Unfall, der Heidi widerfahren war.

»Wie entsetzlich!«, rief sie erbleichend. »Sind Sie auch ganz sicher, dass ihr nichts zugestoßen ist?«

»Bestimmt nicht, Frau Holsten«, erwiderte der Polizeibeamte gütig. »Bei Frau von Lehn ist das Kind in den besten Händen. Sie hatte vor, die kleine Heidi nach Sophienlust zu bringen. Das ist ein Kinderheim.«

»Bitte, geben Sie mir die Adresse. Ich fahre sogleich hin. Fährt ein Bus dorthin? Oder ein Zug?«

»Wenn Sie wollen, kann Sie ein Streifenwagen mitnehmen. Er fährt sowieso diese Strecke.«

»Vielen Dank«, entgegnete sie und folgte dann dem Beamten in den Hof.

Als Elisabeth in dem Polizeiwagen saß, wunderte sie sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, Axel zu bitten, sie mit seinem Wagen nach Sophienlust zu fahren.

Tiefe Traurigkeit erfüllte ihr Herz. Was war nur aus ihrer Ehe geworden, die sie voller Illusionen eingegangen war? Vom ersten Augenblick an hatte sie sich leidenschaftlich in Axel verliebt gehabt. Er hatte damals in Hamburg als Werbefachmann gearbeitet und ihr immer wieder versichert, wie sehr er sie liebe und dass sie die einzige Frau sei, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen könne. Von Heirat hatte er allerdings nicht gesprochen.

Ein bitteres Lächeln umspielte Elisabeths volle Lippen. Wie unerfahren sie damals noch gewesen war. Axels Fehler hatte sie nicht erkannt. Sie hatte in ihm das Idealbild eines Mannes gesehen.

Doch besonders in den letzten Wochen hatte sie Augenblicke gehabt, in denen sie klar erkannt hatte, dass Axel sehr unberechenbar war. Aber auch in dieser Zeit hatte sie ihn immer noch entschuldigt. Vielleicht hätte sie, nachdem Heidi geboren worden war, wieder in ihrem Beruf arbeiten sollen, als Apothekerin? Ob Axel sie überhaupt geheiratet hätte, wenn Heidi nicht unterwegs gewesen wäre? Das war eine Frage, die sie sich nicht zum ersten Mal stellte.

Zu der Zeit, als der Arzt ihr gesagt hatte, sie sei in anderen Umständen, war Axel beruflich unterwegs gewesen. Zuerst hatte sie sich riesig über ihre Schwangerschaft gefreut, doch je näher die Stunde des Wiedersehens mit Axel gekommen war, desto beklommener war ihr zumute gewesen.

Noch heute hörte sie seine gereizte Stimme. »Was sagst du da?«, hatte er wütend gefragt. »Was sollen wir mit einem Kind? Ich will es nicht haben. Versuch alles, um es loszuwerden.«

»Das ist doch nicht dein Ernst«, hatte sie wie betäubt gerufen. »Du verlangst von mir, dass ich das Kind nicht austrage? Das ist doch gleichbedeutend mit Mord!«

»Was für theatralische Worte!«, hatte er getobt. »Vielleicht willst du mich mit dem Kind erpressen! Vielleicht willst du, dass ich dich heirate!«

»Du brauchst mich nicht zu heiraten. Aber das Kind trage ich aus«, hatte sie erklärt und war davongelaufen in der Meinung, dass es zwischen ihnen aus sei. Doch dann war er zu ihr gekommen, hatte sie um Verzeihung gebeten und war so lieb zu ihr gewesen wie seit langem nicht. Dann hatten sie geheiratet.

Natürlich hatte sie gewusst, dass eine Ehe mit Axel voller Aufregungen sein würde, dass es ein unruhiges Leben sein würde. Denn er war viel unterwegs. Eine Freundin von ihr hatte einmal erklärt, Axel sei ein unverträglicher und rechthaberischer Mensch, deshalb halte er es nirgends lange aus. »Das stimmt nicht«, hatte sie ihn verteidigt. »Er ist der beste Ehemann, den es gibt.«

War er das wirklich?, hatte sie sich später manchmal gefragt. Dass er sie betrog, wollte sie einfach nicht wahrhaben oder seine Seitensprünge zumindest tolerieren.

Elisabeth blickte sich wie eine Erwachende um und dachte nun wieder an ihre kleine Tochter Heidi. Sie machte sich bittere Vorwürfe wegen ihrer Nachlässigkeit dem Kind gegenüber.

Ein Frösteln überlief die junge Frau. Vielleicht war Heidi fortgelaufen, weil Axel und sie gestritten hatten?

Wieder kehrten Elisabeths Gedanken zu Axel zurück. Sie hätte doch mit ihm nach Sophienlust fahren sollen, überlegte sie. Vielleicht machte er sich nun große Sorgen um sie.

Dann dachte sie daran, dass sie keine Stunde mehr glücklich sein könnte, wenn sie Axel verlieren würde. Ihr Leben hatte erst durch ihn wieder einen Sinn bekommen. Denn sie hatte ihre Eltern sehr früh verloren und sich seit deren Tod sehr verlassen gefühlt. Sehnlichst hatte sie sich eine Familie gewünscht. Nun hatte sie eine kleine Familie. Eines Tages würde sie noch ein Kind haben, einen kleinen Jungen. Und Axel würde gewiss mit der Zeit beständiger werden.

Elisabeth fasste wieder etwas Mut. Er braucht mich, dachte sie erleichtert. Bisher ist er jedes Mal, wenn er Ärger hatte, zu mir zurückgekommen. Meine Liebe ist stark genug, um alle weiteren Schwierigkeiten zu überbrücken, sagte sie sich und atmete tief auf. Sobald Axel sich an seinem neuen Arbeitsplatz in dem großen Werk in Mannheim eingearbeitet und eine kleine Wohnung gefunden haben würde, würden sie alle wieder vereint sein. Dann würde alles gut werden.

»Dort vorn ist schon Sophienlust«, riss einer der Polizisten sie aus ihren Zukunftsträumen.

»Aber das ist ja ein Schloss!«, rief Elisabeth überrascht.

»Ja, es sieht aus wie ein Schloss. Es gehörte früher der Baronin Sophie von Wellentin. Sie hat den Besitz ihrem Urenkel Dominik von Wellentin-Schoenecker vererbt. Der Junge ist jetzt fünfzehn Jahre alt. Bis zu seiner Großjährigkeit verwaltet seine Mutter, Frau von Schoenecker, das Gut und Kinderheim. Sie ist mit dem Besitzer von Gut Schoen­eich, Alexander von Schoenecker, verheiratet. Die alte Baronin hatte in ihrem Testament den Wunsch geäußert, dass Dominiks Mutter das Gut in ein Heim für solche Kinder umgestalten solle, die aus irgendeinem Grund die Elternliebe entbehren müssen oder ihre Eltern verloren haben. Seitdem hat Sophienlust den Beinamen: Das Heim der glücklichen Kinder.«

Interessiert hörte Elisabeth zu. Dann aber konnte sie es kaum mehr erwarten, ihr kleines Mädchen wieder in die Arme zu schließen. Als das Polizeiauto durch den Torbogen in den Gutshof einfuhr, begann ihr Herz wie verrückt zu schlagen.

Im Herrenhaus von Sophienlust waren alle um das niedliche kleine Mädchen versammelt, als Elisabeth eintraf. Die Dogge Severin wich auch hier nicht von Heidis Seite, sodass selbst der Bernhardiner Barri es für geraten hielt, sich etwas zurückzuhalten. Denn im Allgemeinen hielt er es für sein Recht, jedes Kind zu bewachen und zu beschützen.

Andrea stand mit ihrer Mutter etwas abseits. Die beiden Frauen überlegten eben, welche Schritte sie einleiten sollten, um Heidis Eltern ausfindig zu machen.

»Mutti, wir zeigen Heidi schnell mal Habakuk«, unterbrach der kleine Henrik das Gespräch der Frauen.

»Das ist ein guter Gedanke«, erwiderte Denise, die jedem Kind dankbar war, das versuchte, das kleine Mädchen von seinem Kummer abzulenken.

Lächelnd blickte sie der Kinderschar nach, die, gefolgt von Severin, in den Wintergarten ging. Heidi schien tatsächlich für ein Weilchen ihre Mutti zu vergessen.

Mit großen leuchtenden Augen stand sie vor dem Aquarium mit den schillernden Fischchen. »Schöne Fische«, stellte sie fest und klatschte dabei in die Händchen.

»Ja, sie sind sehr hübsch«, bestätigte Henrik, der ganz begeistert von der Kleinen war und ebenso wie die anderen Kinder hoffte, dass sie für immer in Sophienlust bleiben würde.

»Heidi, schau mal!«, rief Nick. »Das ist unser Habakuk. Er kann wie ein Mensch sprechen.«

»Das ist aber ein Vogel«, entgegnete Heidi erstaunt. »Vögel können doch nicht sprechen.«

»Und ob dieser Vogel sprechen kann.« Nick trat dicht an den großen Käfig heran. »Habakuk, sag doch endlich was«, bat er.

Aber der Papagei saß stumm da und blinzelte die Kinder listig aus seinen Äuglein an. Ärgerlich fixierte Nick ihn. »Warum blamierst du uns so?«, schalt er.

»Lass mich mal«, bat Pünktchen, ein elfjähriges Mädchen mit langen rotblonden Haaren, dunkelblauen Augen und unzähligen Sommersprossen. »Habakuk ist manchmal genauso schlecht gelaunt wie die Menschen.«

»Blödsinn«, brummte der schwarzhaarige Junge, der es nicht leiden konnte, wenn jemand ihn, egal in welcher Angelegenheit, überflügelte. »Auch bei dir wird er keinen Ton sagen.«

»Abwarten«, rief Pünktchen und wandte sich dem Papagei zu. »Habakuk, schau, wir haben ein neues Kind. Es heißt Heidi. Durch dein Sprechen wirst du Heidi fröhlicher stimmen. Also, Habakuk …«

»Ich will zu meiner Mutti!«, rief die Kleine in die erwartungsvolle Stille hinein und lief zur Tür.

»Bleib da!«, krächzte Habakuk da plötzlich und schlug mit den Flügeln. »Böserrr Schlingel! Braverrr Vogel!«, schnarrte er weiter. »Braves Kind!«

Heidi blieb wie angewurzelt stehen. Zögernd drehte sie sich um. »Papagei?«, fragte sie und steckte den Zeigefinger in den Mund.

»Siehst du, wir haben dich nicht beschwindelt«, triumphierte Henrik.

»Beißt der Papagei?«, fragte Heidi und näherte sich langsam dem Käfig.

»Nein, Heidi, bestimmt nicht«, beruhigte Angelika die Kleine.

»Sag das nicht!«, rief ihre jüngere Schwester Vicky. »Manchmal hackt er kräftig zu.«

»Dummkopf«, wisperte Fabian Schöller dem Mädchen zu. »Wir bemühen uns, Heidi aufzuheitern. Und was machst du? Du machst ihr Angst.«

»Das wollte ich doch nicht.« Vickys Augen schwammen plötzlich in Tränen.

»Ich habe Angst«, erklärte Heidi da auch schon und verzog ihr Mündchen weinerlich. »Ich will zu meiner Mutti.«

»Deine Mutti wird bald kommen«, versuchte Pünktchen sie zu trösten.

»Mutti ist im Hotel«, widersprach Heidi da überraschend.

»Also hast du im Hotel gewohnt!«, rief Nick triumphierend. »Dann werden wir deine Mutti schnell finden. Denn in Maibach gibt’s ja nicht viele Hotels. Wie heißt denn das Hotel, Heidi?«

»Weiß nicht. Vati ist auch da.« Die Kleine lief zur Tür und wollte sie öffnen.

Aber Pünktchen hielt sie zurück.

»Will zu meiner Mutti!«, rief Heidi nun zum zweiten Mal.

Da erschien Andrea. »Heidi, deine Mutti ist gekommen«, teilte sie dem Kind mit.

Severin, der still auf dem Boden gelegen hatte, erhob sich sofort, als Heidi an Andreas Hand den Wintergarten verließ.

Kurz darauf schloss Elisabeth ihr Kind selig in die Arme. Eifersüchtig drängte sich die Dogge an Heidi, sodass die junge Frau erschrocken vor dem großen Hund zurückwich.

»Keine Sorge, Severin tut niemandem etwas«, beruhigte Andrea die Besucherin. »Er scheint zu fürchten, dass Heidi wieder etwas geschehen könnte, und will sie nur beschützen. Er hat schließlich die Kleine im Gully gefunden.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Frau von Lehn«, bemerkte Elisabeth gerührt. Dabei standen ihre Augen voller Tränen.

»Sie müssen Severin danken«, erwiderte Andrea lächelnd.

»Du bist ein braver Hund«, wandte sich Elisabeth an die Dogge, die sie aus klugen Augen anblickte. Doch dann leckte sie blitzschnell über Heidis Gesicht.

»Severin, das darfst du nicht«, ermahnte Andrea den Hund und fügte hinzu: »Er will damit zeigen, dass er auf sie aufpasst.«

»Keine Angst, Severin, meinem kleinen Mädchen wird nichts mehr geschehen. Ich verstehe nur nicht, wie Heidi auf die Straße gekommen ist. Heidi, bitte, sag mir, warum du fortgelaufen bist«, schalt Elisabeth ihr Töchterchen sanft.

»Weil die Miezekatze auch hinausgelaufen ist«, bekam sie zur Antwort.

Denise gesellte sich nun zu ihnen und lud Elisabeth zum Tee ein.

Andrea blickte auf ihre Armbanduhr. »Oje!«, rief sie. »Ich muss auf dem schnellsten Weg heimfahren. Hans-Joachim wartet gewiss schon auf mich.« Sie gab ihrer Mutter einen Kuss und verabschiedete sich dann von Elisabeth und dem Kind.

Als sie Severin rief, rührte sich dieser nicht.

»Nanu, das bin ich ja gar nicht von dir gewöhnt«, staunte Andrea, aber die Dogge drängte sich noch dichter an Heidi heran und schaute ihr Frauchen erwartungsvoll an. »Nein, Severin, das ist unmöglich. Wir können Heidi nicht mitnehmen. Sie gehört zu ihrer Mutti.«

»Du wirst Heidi wiedersehen«, versprach Elisabeth dem Hund. »Außerdem bringe ich dir auch etwas Gutes zu fressen mit.«

Severin erhob sich nur zögernd, aber er folgte Andrea schließlich doch.

Elisabeth ging mit Denise ins Biedermeierzimmer, wo eine der Praktikantinnen, die ihr Pflichtjahr in Sophienlust absolvierten, bereits den Teetisch gedeckt hatte. Heidi wich nicht von der Seite ihrer Mutter. Ängstlich schmiegte sie sich an sie.

Elisabeth wurde allmählich unruhig. Schließlich erklärte sie, sie müsse aufbrechen. »Mein Mann hat keine Ahnung, wo ich bin«, fügte sie entschuldigend hinzu.

»Rufen Sie doch im Gasthof an«, schlug Denise vor. Ihr war die Nervosität der jungen Frau nicht entgangen.

»Vielen Dank, gnädige Frau«, entgegnete Elisabeth sichtlich erleichtert. »Dann kann mich mein Mann hier mit dem Wagen abholen. Der Streifenwagen musste gleich weiterfahren.«

»Jemand von uns hätte Sie auch mit dem Wagen nach Maibach zurückgebracht«, sagte Denise.

»Sie sind so nett zu mir«, stellte die junge Frau leise fest. Auch sie hatte, wie fast alle, sofort Vertrauen zu der noch so jugendlichen und bildhübschen Besitzerin von Sophienlust gefasst.

Elisabeths Herz hämmerte wie verrückt, als sie die Telefonnummer des Gasthofes »Zum Bären« wählte und den Wirt bat, ihren Mann zu rufen.

Lange brauchte sie nicht zu warten. Zwar klang Axels Stimme wie immer, wenn er sich ärgerte, sehr unduldsam, aber er versprach, sie und Heidi in Sophienlust abzuholen.

Nach dem Tee bot Denise ihr an, ihr das Haus zu zeigen.

Elisabeth ging gern auf den Vorschlag ein. Sie bewunderte voller Interesse die vielen Räume. Danach wurde sie von Nick, Henrik und Pünktchen zu den Koppeln geführt. Denise hatte noch einiges im Büro zu erledigen und war froh, dass Nick jetzt die Rolle des Gastgebers übernommen hatte.

Heidi trippelte bei dem Rundgang vergnügt zwischen ihrer Mutti und dem Bernhardiner Barri, der sich nun, nachdem Severin nicht mehr da war, als ihr Beschützer aufspielte.

Nick konnte nicht umhin, immer wieder durchblicken zu lassen, dass Sophienlust und alles, was dazugehörte, später sein Eigentum sein würde. Lebhaft erzählte er jedoch auch von dem Tierheim WALDI & CO. »Seit Kurzem gibt es dort ein Liliput-Pferdchen«, berichtete er. »Es heißt Billy und kommt aus Texas. Meine Schwester Andrea hat es einem Pferdezüchter aus Texas abgehandelt. Ihm ist es gelungen, durch Kreuzungen diese winzige Pferderasse zu züchten. Billy ist nur siebzig Zentimeter hoch. Er hat ein braun-weiß gelocktes Fell und ist bildschön.«

Elisabeth war ganz begeistert von Nick. Seine Natürlichkeit war so herzerfrischend, dass sie für ein Weilchen ihren Kummer vergaß.

»Mutti, warum bleiben wir denn nicht für immer hier?«, fragte Heidi plötzlich.

»Wenn du willst, kannst du bei uns bleiben«, entgegnete Nick sogleich voller Begeisterung.

»Bitte, Heidi, sei nicht so aufdringlich«, ermahnte Elisabeth das Kind.

Die Schwestern Angelika und Vicky Langenbach kamen angelaufen. »Herr Holsten ist da!«, rief Angelika. »Er ist mit Tante Isi in der Halle.«

Elisabeth zuckte zusammen. Nun erst dachte sie wieder an die Auseinandersetzung mit ihrem Mann und an die nächste Zeit, die grau in grau vor ihr lag. Morgen schon wollte Axel nach Mannheim abreisen und Heidi und sie allein in dem Gasthof von Maibach zurücklassen. Genauso gut könnten sie doch alle zusammen in einem billigen Hotel in Mannheim leben. Dann würde sie Axel jeden Tag sehen können …

Auch Heidi wurde nun still. Sie erinnerte sich jäh daran, dass der Anlass ihres Fortlaufens eigentlich nicht die Miezekatze gewesen war, sondern die wütende Stimme ihres Vatis. So lieb sie ihn auch hatte, sie fürchtete ihn manchmal doch sehr, besonders dann, wenn er mit Mutti schimpfte.

Scheu fasste Heidi nach Nicks Hand. Erstaunt und auch ein wenig geniert blickte der Junge auf den blonden Scheitel des kleinen Mädchens hinunter. »Ja?«, fragte er. »Willst du mich etwas fragen?«

»Ja, Nick. Vielleicht können Mutti und ich hierbleiben?«, fragte Heidi so leise, dass nur Nick sie verstehen konnte.

»Von mir aus könnt ihr dableiben.«

»Oh, da ist ja Vati«, rief die Kleine plötzlich mit großen ängstlichen Augen.

Der Ausruf des Kindes gab Nick zu denken. Aller Wahrscheinlichkeit nach fürchtete es sich vor seinem Vater.

Elisabeth wurde das Herz schwer, als sie wieder einmal erleben musste, dass Axel sie wie einen Dienstboten behandelte, während er sich Denise von Schoenecker gegenüber wie ein vollendeter Kavalier benahm. Dass sein Benehmen Denise vor den Kopf stieß, ahnte sie allerdings nicht.

Denise fand Axel unsympathisch, doch sie ließ sich das nicht anmerken. Später jedoch sagte sie zu ihrem Mann: »Manchmal ist es für mich unbegreiflich, dass eine so reizende und liebenswerte Frau wie Elisabeth Holsten einen Mann wie Axel Holsten heiraten kann.«

Auch Nick machte sich so seine Gedanken über Heidis Familienverhältnisse. »Weißt du, Mutti«, meinte er, als er Denise gute Nacht sagte. »Irgendetwas stimmt nicht bei Heidis Eltern. Ich habe das Gefühl, dass Heidi eines Tages nach Sophienlust kommen wird.«

»Das wird sie gewiss einmal, mein Junge, aber nur zu Besuch. Frau Holsten hat mich gefragt, ob sie uns besuchen dürfe.«

Nicks dunkle Brauen runzelten sich. Das war ein Zeichen, dass er intensiv nachdachte. »Weißt du«, begann er wieder, »ich finde es mehr als komisch, dass ein Mann ohne seine Familie sein möchte. Heidi hat mir nämlich erzählt, ihr Vati wolle nicht, dass ihre Mutti und sie bei ihm blieben.«

»Manchmal geht’s nicht anders, Nick.«

»Manchmal schon. Aber in diesem Fall ist es trotzdem sonderbar, dass Herr Holsten Frau und Tochter in einem Gasthof in Maibach zurücklässt, während er sich ein Zimmer in Mannheim mietet. Sie könnten doch genauso gut zusammen in einem billigen Hotel in Mannheim leben, wenn sie schon mit dem Geld knapp sind.«

Denise hielt es für klüger, dieses etwas heikle Thema nicht weiterzuverfolgen. Deshalb blieb sie ihrem Sohn die Antwort schuldig. »Nick, geh jetzt schlafen«, bat sie stattdessen. »Es ist schon fast zehn Uhr.«

»Na ja, dann gehe ich halt ins Bett«, seufzte er. Er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht mehr mit ihm über die Holstens unterhalten würde. Trotzdem war er ganz sicher, dass Heidi eines Tages zu ihnen kommen würde.

*

Elisabeth hatte ihr Töchterchen zu Bett gebracht. Die Kleine schlief während Axels Anwesenheit in einem anderen Zimmer.

Heidi tat alles, um ihre Mutti aufzuhalten, weil sie nicht allein sein wollte. Als Elisabeth ihr dann einen Gutenachtkuss gab, umklammerte die Kleine ihren Hals und bettelte: »Mutti, bitte, lass mich nicht allein. Ohne dich habe ich Angst.«

»Aber warum denn, mein Kleines?«, fragte Elisabeth kopfschüttelnd. »Vati und ich sind doch im Nebenzimmer. Schau, wenn du etwas willst, brauchst du nur an die Wand zu klopfen.«

Heidi ließ ihre Mutter nun zwar los, stieß aber einen so herzerweichenden Seufzer aus, dass sich Elisabeth ein Lachen verkneifen musste.

»Gut, liebe Mutti«, erwiderte Heidi schließlich tapfer. »Aber morgen, wenn Vati nicht mehr da ist, darf ich doch wieder bei dir im Zimmer schlafen?«

»Selbstverständlich, mein Kleines.« Elisabeth drückte den warmen Kinderkörper zärtlich an sich. »Nun schlaf gut, mein Engelchen.«

Lächelnd verließ Elisabeth das Zimmer. Doch draußen auf dem Korridor fiel ein Schatten über ihre Züge. Wieder packte sie quälende Angst vor der Zukunft, die in einem ungewissen Dunkel vor ihr lag. Es war ihr bisher nicht gelungen, Axels Herz zu erweichen. Warum sah er nicht ein, dass Heidi und sie ebenso gut in einem Hotel in Mannheim wohnen konnten? Dort würde sogar die Möglichkeit bestehen, Heidi tagsüber in einem Kindergarten unterzubringen, sodass sie wieder als Apothekerin würde arbeiten können.

Elisabeth nahm sich, als sie nach einem tiefen Atemzug die Tür des Zimmers öffnete, das sie im Augenblick mit ihrem Mann bewohnte, vor, jetzt gleich noch einmal mit ihm zu sprechen.

Axel stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und rauchte. Er hielt es nicht einmal für notwendig, sich umzuwenden.

»Hast du Heidi endlich zu Bett gebracht?«, fragte er plötzlich und drehte sich um. »Sie ist ein verzogenes Balg. Man müsste sie mehr prügeln.«

»Bitte, Axel, sag das nicht«, flehte sie, denn Heidis Erziehung bildete ein weiteres großes Problem zwischen ihnen. »Heidi ist ein zartes Kind und sehr sensibel. Wenn man sie schlägt, kann man bei ihr nur Schaden anrichten. Ich zum Beispiel habe nie Schläge von meinen Eltern bekommen.«

»Dir hätte es auch nicht geschadet!«, stieß er gereizt hervor. Er selbst hatte als Kind Prügel erhalten und war der Ansicht, Strenge schade keinem Kind.

Elisabeth zwang sich zur Ruhe. Streit mit ihm musste sie vermeiden. Sonst würde sie nichts bei ihm erreichen. Ihr schönes Gesicht nahm unbewusst jenen zerquälten Ausdruck an, der Axel oft bis zur Weißglut reizte.

»Mein Gott, du schaust schon wieder wie das Leiden Christi aus!«, rief er auch gleich ungeduldig.

»Axel, warum bist du nur so böse?«, fragte sie fast demütig. Dabei sah sie ihn aus großen Augen an. Jäh schossen ihr die Tränen in die Augen.

»Nun heulst du auch schon wieder!«, fuhr er sie grob an. »Mein Gott, bin ich froh, dass ich dich und Heidi bald nicht mehr am Halse habe.«

Elisabeth schlug die Hände vors Gesicht. Immer reichlicher flossen ihre Tränen. Axel blieb breitbeinig, die Hände in die Hosentaschen gebohrt, vor ihr stehen und sah hasserfüllt auf sie nieder. Wieder einmal sagte er sich, dass die Eheschließung mit dieser Heulsuse ein großer Fehler gewesen war. Er hätte damals auf der Abtreibung bestehen müssen.

Elisabeth spürte seine Nähe und ließ die Hände sinken.

»Axel«, bat sie leise. »Nimm uns mit nach Mannheim. Ich werde wieder Geld verdienen. Wir könnten doch so glücklich sein und …«

»Hör damit auf«, erwiderte er etwas sanfter. »Du kennst mich doch und weißt deshalb, dass mich nichts, aber auch gar nichts von meinem Entschluss abbringen kann. Du bleibst vorläufig mit dem Kind hier.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein blondes Haar. »Warum verdirbst du mir den letzten Abend?« Er setzte sich neben sie. Natürlich war Elisabeth nach wie vor sehr reizvoll und brachte sein Blut immer noch in Wallung. Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. »Komm, sei mein liebes Mädchen«, bat er und suchte ihre Lippen.

Zuerst wehrte sich Elisabeth gegen seine leidenschaftliche Gier, die sie nur zu gut kannte und die sie immer wieder zu seinem willenlosen Werkzeug machte. Seine Arme pressten sie so fest an sich, dass sie kaum atmen konnte. Doch dann wurde er ein zärtlicher Liebhaber, und Elisabeth wollte nichts anderes, als glücklich sein.

Als er dann mit ruhigen Atemzügen neben ihr lag, hätte sie am liebsten das Licht angeknipst, um ihn zu betrachten. Elisabeth lag ganz still da. Ihr Herz war von tiefer Traurigkeit erfüllt, als ahnte sie bereits, dass das nächste Wiedersehen mit ihrem Mann unter für sie sehr entwürdigenden Umständen stattfinden würde.

Erst gegen Morgen fiel Elisabeth in einen bleiernen Schlaf, aus dem sie mit einem Ruck hochfuhr. Heidi stand vor ihrem Bett. Sie war schon fertig angezogen. Seit Kurzem tat sie das schon selbst, worauf sie sehr stolz war.

Elisabeth blickte zur Seite und stellte fest, dass Axel nicht mehr neben ihr lag. Danach durchzuckte sie ein heißer Schreck. Denn Axels Koffer stand nicht mehr auf dem Gestell für Gepäckstücke.

»Wo ist Vati?«, fragte sie wie erstarrt. Dass er ohne Abschied abgefahren war, erschien ihr unmöglich.

»Nicht mehr da, Mutti«, erwiderte die Kleine.

»Dann ist er schon fort?«, fragte Elisabeth benommen und schob die Bettdecke zurück.

»Ja, Mutti, er ist mit dem Auto fortgefahren. Da ist ein Brief für dich. Ich habe von jemandem im Hotel Briefpapier holen müssen. Vati hat dann beim Frühstück unten in der Gaststube an dich geschrieben und auch Geld in den Brief getan«, erzählte Heidi stolz, ohne zu begreifen, wie sehr ihre Mutter durch die Handlungsweise ihres Vaters verletzt war.

Elisabeth riss das Kuvert mit bebenden Fingern auf. Zwei Hunderteuroscheine steckten darin und ein Briefbogen mit wenigen Sätzen.

Liebe Elisabeth«, las sie mit von Tränen verschleierten Augen. »Du hast so tief geschlafen, dass ich Dich nicht wecken wollte. Mir war es sogar lieber, dass ich ohne Abschied abreisen konnte. Du weißt ja, wie sehr ich Tränen verabscheue, und ohne sie wäre der Abschied ja nicht verlaufen. Vorerst lasse ich Dir zweihundert Euro da. Versuche damit so lange wie möglich auszukommen. Ich werde Dir, sobald ich Vorschuss bekomme, wieder Geld schicken. Natürlich kann ich nicht gleich am ersten Tag zu meinem neuen Chef gehen, um ihn darum zu bitten. Das würde einen schlechten Eindruck machen. Ich kann auch nicht so schnell wieder nach Maibach kommen, weil ich mit dem wenigen Geld, das ich noch besitze, ebenfalls sparsam umgehen muss. Viele Küsse, Dein Axel

Elisabeth hatte den Brief im Stehen gelesen. Nun aber zitterten ihr die Beine so stark, dass sie sich hinsetzen musste.

Heidi stand mit ängstlichen Augen neben ihrer Mutti. Scheu tippte sie sie an. »Mutti, sei doch nicht traurig«, bettelte sie.

Elisabeth blickte ihre Tochter wie eine Erwachende an. Auf einmal kam sie sich uralt vor. Jedes frohe Lebensgefühl war in ihr erloschen.

»Ja, mein Engelchen, ich habe ja noch dich«, flüsterte Elisabeth, wobei ein Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg. »Wir beide werden uns immer lieb haben.«

»Ja, Mutti, ich habe dich sehr lieb.« Heidi schmiegte sich fest in die schützenden Arme ihrer Mutter. Sie vermisste ihren Vater nicht sonderlich.

Eigentlich war es ihr viel lieber, wenn sie mit ihrer Mutti allein war. Dann durfte sie neben Mutti schlafen. Ihr Vati schimpfte auch immerzu. Mutti aber war immer lieb zu ihr.

»Du, Mutti«, erzählte sie nun, »Nick hat mir gestern junge Kaninchen gezeigt. Sie sind ganz weiß und haben rosige Ohrmuscheln. Henrik hat gesagt, er würde mir zwei Kaninchen schenken, wenn ich in Sophienlust wohnen würde. Mutti, schau doch mal zum Fenster hinaus«, bat die Kleine. »Der Himmel ist ganz blau. Können wir denn nicht wieder zu den anderen Kindern fahren? Ich möchte auch gern das Tierheim kennenlernen, in dem es ein Pferdchen gibt, das so klein ist wie ein Hund.« Heidi fuhr mit ihrem rechten Händchen über die nassen Wangen ihrer Mutter. »Nicht mehr weinen, liebe Mutti.«

»Ich weine schon nicht mehr.« Unter Tränen lächelte Elisabeth ihr Töchterchen an. Ja, sie wollte heute mit Heidi nach Bachenau fahren, um die junge Frau von Lehn zu besuchen. Wie schön wäre es, wenn sie in ihr eine Freundin finden würde. Dann würde sie nicht mehr so allein sein mit ihren schmerzlichen Gedanken.

Um vieles gefasster verließ sie später mit Heidi das Zimmer. Obwohl sie geglaubt hatte, keinen Bissen hinunterzubekommen, frühstückte sie reichlich. Die frischen goldgelben Semmeln schmeckten ihr ausgezeichnet, und der Kaffee war gut. Auch Heidi ließ es sich schmecken. Aber dann rutschte sie unruhig auf der Bank hin und her. »Wann fahren wir denn los?«, fragte sie.

»Ich werde mit dem Gastwirt sprechen. Sicherlich hat er einen Fahrplan für die Omnibusse, die nach Bachenau fahren. Weißt du, wir müssen sparen, Heidi, und können uns kein Taxi leisten.«

»Das verstehe ich, Mutti.« Heidi atmete auf. Ihr war es gleichgültig, womit sie nach Bachenau und Sophienlust fuhren. Hauptsache war für sie, dass sie überhaupt fuhren.

Elisabeth suchte nach dem Gastwirt. Sie bezahlte das Hotelzimmer für eine Woche im Voraus und erfuhr vom Wirt, dass der Bus in einer Viertelstunde direkt vom Marktplatz abfahren würde.

Dann stand sie mit Heidi an der Bushaltestelle. Der Bus war nur halbvoll. Heidi saß aufgeregt beim Fenster und stand immer wieder auf, um besser sehen zu können. »Wann sind wir denn endlich in Bachenau?«, fragte sie schon zum x-ten Mal, sodass die übrigen Fahrgäste auf sie aufmerksam wurden und die junge hübsche Frau mit dem reizenden kleinen Mädchen lächelnd beobachteten.

Elisabeth hatte vom Busfahrer erfahren, dass sie gleich am Anfang von Bachenau aussteigen mussten. Von dort war es dann nicht mehr weit zu dem Lehnschen Grundstück, auf dem sich die Villa und auch das Tierheim befanden.

Heidis Wangen glühten vor Aufregung, als sie später mit ihrer Mutter die breite Straße mit den alten Kastanienbäumen zu beiden Seiten entlanggingen. »Mutti, dort ist das Tierheim!«, rief sie, als sie ein hohes schmiedeeisernes Tor erblickte, über dem ein ungefähr fünf Meter breites leuchtend rotes Schild mit grüner Schrift angebracht war. »Mutti, was steht darauf?«, fragte die Kleine ungeduldig.

Sophienlust Extra 9 – Familienroman

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