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Die Lehrer sind die besten Kunden

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Ein dickes, schönes, rosiges Stück Eisbein liegt auf meiner Gabel, umrahmt von Sauerkraut und einem Klecks Kartoffelbrei. Da klingelt das Telefon.

Was mach ich nun? Einen Augenblick zögere ich, den leckeren Bissen wieder herunter auf den Teller zu legen, aber mit diesem fetten Stück im Mund kann ich unmöglich am Telefon sprechen. „Ich komme ja schon, ich komm ja schon“, sage ich, während ich vom Tisch aufstehe, um das Gespräch anzunehmen. Mir ist schleierhaft, wie die Leute es immer rauskriegen, wann ich esse, und warum sie genau dann anrufen müssen.

„Hallo, hier ist Gabriele. Wir haben mal zusammen einen Spanisch Kurs gemacht. Erinnerst du dich?“ Nein, Ich erinnere mich nicht und schiele zu meinem Essen, das jetzt vermutlich kalt wird.

„Von Karoline weiß ich, dass du Alphabetisierungskurse machst“.

Das ist wahr, aber worauf sie hinaus will, weiß ich noch immer nicht. „Ich habe gerade einen Anruf bekommen von der Rektorin der Hauptschule Hinterm Anger in Gelsenkirchen. Sie will mich für eine ABM einstellen. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.“ Als ob ich das nicht wüsste. „Aber ich kann das nicht machen. Ich sitze gerade im Examen und habe keine Zeit dafür. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass ich mich um einen Ersatz kümmere, und da habe ich an dich gedacht, weil du doch Alphabetisierung machst. Es geht um Flüchtlingskinder, Roma und andere, aus dem Libanon zum Beispiel. Ganz kapiert habe ich es auch nicht. Suchst du nicht einen Job?“

Soll ich daraus schlau werden? „Hör mal, Gabriele“, sage ich. Ich weiß wirklich nicht, warum du anrufst, und mein sehr leckeres Essen wird gerade kalt. Kannst du nicht mal deutlicher werden?“

„Also, es geht um einen Job, eine ABM an einer Hauptschule. Sie suchen dringend jemanden, weil die Stelle schon bewilligt ist und die Zeit läuft, der ausgesuchte Kandidat ist wohl abgesprungen. Deshalb haben sie mich angerufen, aber ich kann auch nicht. Wenn du Interesse hast, gebe ich dir die Nummer von der Rektorin. Sie ist wirklich sehr nett. Ich würde es ja selber machen, aber wie gesagt, geht jetzt nicht. OK?“

Allmählich dämmert es mir. Hier ist ein Job in Aussicht! Ich bin manchmal einfach sehr schwer von Begriff. „Hast du was zu Schreiben?“ Gabriele lässt nicht locker. „Ich gebe dir mal die Nummer und den Namen der Frau, sie heißt Salberg, ruf sie an, ok?“ Ich tue wie geheißen, hole Stift und Papier und notiere alles brav. Inzwischen ist mein Gehirn auf Touren gekommen, Sauerkraut kann kalt werden, macht nix. Hier ist ein Job in Aussicht! Ein Einstieg in die Arbeitswelt, Menschenskinder, darauf habe ich doch schon so lange gewartet! „Gabriele“, bringe ich heraus, „du bist wirklich nett, das ist toll, dass du an mich denkst, also, gib mal die Nummer!“ „Ruf sie gleich an, ich habe ja selber gerade erst mit ihr gesprochen, sie wird sich freuen!“

Ich schreibe die Kontaktdaten auf und setze mich erst mal wieder an meinen Tisch. Gedankenverloren schiebe ich mir das nur noch mäßig warme Eisbein in den Mund und kaue, während ich nachdenke. Zu lange darf ich jetzt aber nicht warten, schmiede das Eisen, denke ich mir, wische entschlossen den Mund ab und mache mich innerlich bereit für den entscheidenden Anruf.

Und dann geht alles ganz schnell. Frau Salberg redet und redet am Telefon. Von der Frau, die sie kurzfristig hat sitzen lassen, so dass die Stelle jetzt unbesetzt ist. Dass die Stelle zunächst für ein Jahr befristet ist, aber in der Regel und eigentlich immer für ein zweites Jahr bewilligt wird. Dass sie so froh ist, dass ich angerufen habe. Ich selber habe eigentlich nicht sehr viel zu diesem Gespräch beigesteuert, außer ein paar „ja, genau, ach wirklich, meine Güte“ und, „ich habe Sozialwissenschaften studiert und viel Erfahrung mit Alphabetisierung“. Sie wollte mich sofort sehen, am besten noch am selben Tag, aber das ging leider nicht, weil sie Besuch aus dem Ministerium erwarte, also dann Morgen, ob es mir passt?

Und wie es mir passt! Ich sage alles zu, stehe nun vor der Schule und suche den Eingang. Die Straße, an der die Schule liegt, ist nicht sehr vertrauenerweckend. Mülltonnen stehen durcheinander vor den Häusern, manche Fenster haben diese komisch wehenden, halb zerfetzt aussehenden Gardinen, es sieht ungepflegt aus. Grau, keine Bäume oder Sträucher an der Straße, und dann dieser Kasten aus den siebziger Jahren, das ist die Schule. Ein dreistöckiger Flachbau mit großen, quadratischen Fenstern, seitlich davor in zwei Reihen parken ein paar Autos. Das müssen die Lehrerparkplätze sein. Es ist schon nach zwei Uhr nachmittags, da wird wohl nicht mehr viel Unterricht gehalten, es ist ja keine Ganztagsschule.

Rechts und links führen Einfahrten hinter die Schule, und ich bin unsicher, für welche Seite ich mich entscheiden soll. Als ob das nicht egal wäre! Aber ich bin aufgeregt und will unbedingt alles richtig machen und vor allem nicht auffallen.

Ich entscheide mich für den vorderen Eingang links und gelange richtig auf den Schulhof, der von ein paar armseligen Büschen begrenzt wird, die vergeblich versuchen, einen Maschendrahtzaun zu verbergen. Eine breite Treppe aus drei Stufen führt zur Eingangstür, Glas und blau gestrichenes Metall. Ich trete ein. Drinnen ist es leer und ruhig. Der Boden aus gesprenkelten Granitplatten, an den Wänden Schaukästen, die Werke von Schülern ausstellen. Gefaltete bunte Etwas aus Papier, weiße Reliefs aus Pappe, Collagen. Ich höre meine eigenen Schritte quietschen, es sind die Schuhe mit den Gummisohlen, die ich trage. Wo ist bloß das Sekretariat? Immerhin werde ich erwartet, wir sind ja verabredet. Ich schlage den linken Gang ein und suche die Schilder an den Türen ab. Klassenräume sind es, dann, endlich, das Sekretariat.

Die Tür ist verschlossen. Ich klopfe, trete ein, hier sitzt niemand. Eine weitere Tür innen ist nur angelehnt. Entschlossen gehe ich darauf zu und öffne sie, da sitzt eine ältere Dame hinter einem Schreibtisch und telefoniert. Als sie mich sieht, beginnt sie zu strahlen und winkt mich herein. Macht mit der Hand Zeichen, die mir bedeuten sollen, dass sie gleich fertig ist mit dem Telefonat und ich mich schon mal setzen soll. „Ja, sicher, wir sehen uns dann in vierzehn Tagen! Ich freue mich schon. Sie werden begeistert sein!“ Dann legt sie auf. Sie trägt ein graues Kostüm, ganz damenhaft, hat dunkle, glatte Haare im Bubikopfschnitt und eine Brille. Ihr Gesicht ist klein und freundlich. Sie erhebt sich gleich und gibt mir die Hand. „Ich freue mich so, dass Sie es einrichten können“, beginnt sie das Gespräch. Wir sollten uns doch ein wenig kennenlernen. Ich bin begeistert, dass Sie die Erfahrungen im Bereich Alphabetisierung gemacht haben, obwohl es natürlich anders ist, wenn man Kinder vor sich hat. Sie arbeiten mit Erwachsenen, oder?“ „Ich gebe Kurse an der Volkshochschule, für Leute, die es verpasst haben Schreiben und Lesen zu lernen, manchmal auch nur eins von beiden. Meistens können sie ein wenig Lesen, aber mit dem Schreiben hapert es oft.“ „Ja, das passt doch ganz ausgezeichnet! Ich suche hier jemanden, der sich um die Roma Kinder kümmern kann. Stellen Sie sich vor, die sind anscheinend noch nie in eine Schule gegangen! Und Deutsch können sie ja auch nicht. Aber wir haben hier in Gelsenkirchen den Anspruch, dass wir die Schulpflicht auch für die Kinder aus den Flüchtlingsheimen anwenden, nur, in eine normale Klassen können wir sie ja nicht stecken, die mischen alles auf, und das ist auch verständlich. Sehen Sie, es sind Kinder aus dem Kosowo, Flüchtlinge aus Serbien und Kroatien, die Ärmsten der Armen. Wir haben hier eine Auffangklasse, die wird von Frau Schweizer geführt, aber selbst dafür sind diese Kinder noch nicht geeignet. Außerdem hätte ich es gern, wenn hier an dieser Schule Brötchen gebacken würden für ein gesundes Frühstück. Stellen Sie sich vor, viele von den Kindern haben noch nicht gegessen, wenn sie in die Schule kommen! Eine Gruppe der älteren Mädchen geht ins Altersheim und hilft dort freiwillig den alten Menschen, sie gehen mit ihnen spazieren oder kaufen ein, da können Sie auch segensreich mitwirken.“

Ich bin ein wenig verwirrt. Gerade noch bei den Flüchtlingen über Brötchen ins Altersheim...“Das hört sich alles sehr interessant an“ winde ich mich heraus. „Ich würde wirklich sehr gern hier mitarbeiten, und traue es mir auch zu. Aber, bitte, was meinten Sie denn mit den Brötchen?“ Das muss ich doch noch wissen. „Wir haben eine Geschwisterschule ein paar Straßen weiter, das ist die Grundschule, aus der wir dann die Kinder nach der vierten Klasse bekommen. Wir arbeiten im Verbund, auch, was die ABM Stellen angeht. Dort ist ein Kollege von Ihnen, der backt jeden Morgen Brötchen und bietet die dann in der Pause zum Frühstück an. Ich würde mich so freuen, wenn wir das hier an der Schule auch haben könnten! Nötig ist es auf jeden Fall.

Dafür habe ich also studiert, denke ich, um hier morgens Brötchen zu backen? „Das ist sicher eine gute Idee“, sage ich ohne allzu große Begeisterung. Ich könnte ja mal mit dem Kollegen sprechen. Backen kann ich, auch Brötchen, setze ich lahm dazu.“ Es kommt mir schon fast so vor, als ob ich die Stelle bereits hätte. Und so fährt Frau Salberg auch schon fort: „Morgen telefoniere ich sofort mit der Stadt und melde Sie an. Sie können dann dort alle Formalitäten erledigen und den Vertrag unterschreiben. Warten Sie mal, ich gebe ihnen die Nummer von Herrn Ischler. Der ist für die ABMs hier an der Schule zuständig. Und wenn Sie noch Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen. Sie wissen ja, es sollte schnell gehen. Die Stelle ist bereits bewilligt und die Zeit läuft. Je eher Sie anfangen können, desto besser.“ Mit einem gewinnenden Lächeln streckt sie mir wieder ihre Hand entgegen, und ich bin anscheinend entlassen.

Als ich mich dann am nächsten Tag in der Stadtverwaltung wiederfinde, erinnere ich mich wieder daran, wie ich nach dem Abi bei der Post gearbeitet habe. Da musste ich auch zwei Dutzend Papiere unterschreiben, wurde von Pontius zu Pilatus geschickt und am Schluss habe ich einen Eid auf die Verfassung abgelegt. So ging es damals für eine Aushilfstätigkeit bei der Post und heute für die ABM im öffentlichen Dienst an einer Schule ist es genau so. Ich unterschreibe überall und schwöre.

Dann gebe ich meine Kontonummer an, das ist der wahrhaft erhebende Teil der Veranstaltung!

Da diese Anmeldung mit Unterzeichnung den ganzen Vormittag dauert, brauche ich gar nicht mehr in die Schule zu gehen. Ich melde mich kurz telefonisch und berichte, dass ich ab morgen voll und ganz zur Verfügung stehe. Das freudige Gesicht von Frau Salberg strahlt förmlich durch den Telefonhörer.

Und so beginne ich meinen Dienst in der Hauptschule Am Anger dann schon am nächsten Tag. Danke, Gabriele!

Früh gleich schon vor acht bin ich da und gehe ins Lehrerzimmer. Frau Salberg ist stellt mich vor. Das Lehrerzimmer besteht aus U-förmig aufgestellten brauen Tischen, an denen die Lehrer sitzen, Kaffee trinken, in Unterlagen blättern, miteinander reden oder Brote essend Zeitung lesen. Ich mache einmal die Runde, ohne wirklich den Ehrgeiz zu haben, mir die ganzen Namen zu merken. Ich werde von allen freundlich aufgenommen, ganz besonders aber von Frau Schweizer, einer hochgewachsenen Dame mit schwarz-grauem Haarschopf. „Kommen Sie am besten sofort mit, dann übergebe ich Ihnen gleich die Kinder aus dem Libanon und die Roma Kinder. Das sind ja diejenigen, die noch nicht einmal schreiben können. Henriette, in welchen Klassenraum kann Frau Richter denn mit den Kindern heute gehen?“ „Die 12 im ersten Stock müsste frei sein“, kommt prompt die Antwort.

Oh, wie ich mich grusele! Gleich bin ich mit ein paar Kindern in einem Klassenraum eingesperrt und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich mit denen anfangen soll. „Haben Sie vielleicht ein paar Materialien für mich?“ bin ich geistesgegenwärtig genug zu fragen. „Stifte, Papier oder Hefte? Oder bringen die Kinder etwas von zu Hause mit?“

„Gut, dass Sie das ansprechen“, kommt von Frau Schweizer zurück. „Ich will mal rasch schauen, was ich Ihnen da mitgeben kann.“

Mit Heften, Blöcken und Stiften unterm Arm mache ich mich auf zu meiner ersten Stunde.

Ein ohrenbetäubender Lärm dringt uns entgegen, als Frau Schweizer die Klassentür zur Auffangklasse öffnet. Was für ein Tumult! Und er ebbt kaum ab, als wir uns im Türrahmen zeigen! Größere Jungs werfen Papierkugeln durch den Raum, Mädchen kreischen, sie sitzen auf den Tischen oder rennen hysterisch im Raum herum, während sie irgendein Kleidungsstück wie eine Trophäe über dem Kopf schwenken. „Ruhe“, ruft Frau Schweizer mit erstaunlich lauter Stimme, und der Lärmpegel sinkt schlagartig auf ein Gemurmel und Geschiebe von Stühlen und Tischen. „Fatma und Karim, ihr kommt mal her zu mir! Wo sind Kybrie, Hamdi und Tino?“ „Noch nicht da“, kommt es im Chor zurück.

Aber zwei Gestalten habe sich aus der Gruppe gelöst und stehen jetzt vor mir. Ein Mädchen und ein Junge, dunkelhäutig, zart und klein. Mit traurigen, schwarzen Augen blicken sie Frau Schweitzer an, mich streifen sie nur ganz kurz mit ihrem Blick.

„Ah, da seid ihr ja wenigstens!“ Frau Schweizer überantwortet mir die Kinder Fatma und Karim aus dem Libanon, und zu dritt suchen wir unseren neuen Klassenraum Nummer 12 auf.

Es stellt sich heraus, dass die beiden Kinder Geschwister sind, das Mädchen ist die jüngere. Sie sprechen ein wenig Deutsch, genug, um mir meine Fragen beantworten zu können. Wo sie herkommen, wie lange sie schon in Deutschland sind, und ob sie zu Hause schon zur Schule gegangen sind?

Ich erfahre, dass sie in Beirut gewohnt haben, der Hauptstadt des Libanon. Ihr Haus, die ganze Straße und das ganze Viertel, in dem sie lebten, sind in Schutt und Asche aufgegangen. Zunächst haben sie Zuflucht und Unterkunft bei Verwandten bekommen, aber auch deren Haus ist dann bombardiert und zerstört worden. Nach einer Odyssee innerhalb des Libanon sind sie dann nach Deutschland geflohen, wo sie sich seit einem Dreivierteljahr aufhalten.

Sie sind auf gute Schulen gegangen, haben beide Französisch gelernt. Das hilft natürlich beim Deutsch lernen, denke ich, denn sie können unsere Schrift schreiben und lesen, was nicht selbstverständlich ist für arabische Kinder, die, wenn überhaupt, die arabische Schrift zu lesen und zu schreiben lernen.

Diese beiden Kinder werde ich gut unterrichten können, stelle ich schon nach den ersten Stunden fest.Ich stecke mir das Ziel, sie innerhalb einiger Monate so fit zu machen, dass sie ohne weitere Nachhilfe in der Auffangklasse teilnehmen können. Frau Schweizer hat mir Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt.

Die beiden Kleinen sind diszipliniert, zurückhaltend und ein wenig traurig. Sie tun mir wirklich leid, und ich versuche, mein Bestes zu geben an Freundlichkeit und Hilfe.

Als ich schon fast eine Woche an der Schule arbeite, stehen sie auf einmal vor mir, die drei Roma Kinder: Kybrie, das Mädchen, mit etwas vierzehn Jahren die älteste, hochgewachsen, beinahe so groß wie ich, Hamdi, der Kleinste, er muss ungefähr sieben oder acht sein, und Tino, altersmäßig irgendwo in der Mitte. Sie stehen nebeneinander, die Köpfe gesenkt, die Hände zusammengelegt vor dem Körper, die Blicke gehen in Richtung Fußboden, der wirklich interessant zu sein scheint. Hinter ihnen steht Frau Schweizer, die sie alle drei in meine Richtung schiebtund die Kinder in munterem Ton vorstellt.

„Das ist Frau Richter, sie wird sich um euch kümmern und euch unterrichten“, sagt sie. „Hallo Kybrie“, begrüße ich das Mädchen zuerst und strecke ihr meine Hand entgegen. Sie hebt ein ganz klein wenig den Kopf und schielt mich von unten an. Zögernd streckt sie mir ihre Hand entgegen, eine braune, abgearbeitete kleine Hand mit Schwielen und dunklen, lila Flecken, die von Narben durch kleine, längst verheilte Verletzungen kommen. Diese Hand ist sehr viel älter als das Mädchen nach Jahren, geht mir durch den Kopf. Ich drücke sie fest, und sage: „Kybrie, ich bin Frau Richter. Kannst du das sagen? Hallo Frau Richter?“ Jetzt hebt sie den Kopf ein kleines Stückchen weiter hoch und blickt mir fast richtig an. Sie hat olivfarbene Haut, dunkle Augen und dunkle Lippen, die Haare dunkelblond ins Rötliche gehend stehen in alle Richtungen, sie werden scheinbar nicht sehr oft gekämmt. Ihre Kleidung ist sauber, einfach, und aus dem grün-gelben Rock, den sie trägt, schauen zwei verschrammte, dunkle Beine hervor, die in ausgetretenen Schuhen enden. Die Armut steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Hallo Frau Huhn“, bringt sie schließlich hervor. „Frau Huhn? Ich bin Frau Richter, Kybrie, nicht Huhn.“ Sie lächelt, „Frau Huhn“, wiederholt sie, etwas lauter und ganz freundlich. Ich wundere mich, lasse es aber zunächst dabei und wende mich den anderen Kindern zu. Der kleine Hamdi hat seine unterwürfige Haltung auch schon fast aufgegeben und begonnen zu zappeln. Seine Hautfarbe ist richtig dunkel, mit blitzenden, schwarzen Augen, schwarz-glänzendem Haar, das ihm wuschelig um den Kopf steht, in einer zu kurzen Hose und einem ungebügelten Oberhemd sieht er fast etwas verwegen aus. Ich streiche ihm über den Kopf und sage:“Hallo Hamdi, ich bin Frau Richter.“ Er antwortet gar nichts, aber er blickt mich jetzt frei und neugierig an. Der Dritte im Bunde, Tino, sieht am ehesten wie ein deutscher Junge aus, auch er ist schlank, von heller Hautfarbe, die hellbraunen Haare mit einem Seitenscheitel wie mit Wasser gekämmt. Er trägt Hosenträger, die die leicht zu große halblange Hose vor dem völligen Wegrutschen bewahren. Das Misstrauen in seinen Augen ist nicht zu übersehen, ich bin also besonders herzlich, als ich ihm meine Hand zum Gruß reiche.

Folgsam und brav gehen sie im Gänsemarsch hinter mir her in den Klassenraum. Dort setzen sie sich an die Tische, jeder an einen, es ist ja viel Platz. Ich habe geplant, sie getrennt von den beiden Libanesen zu unterrichten, um sie erst einmal kennen zu lernen. Wie es scheint, kommen sie zur Schule, wann sie wollen. Also nicht jeden Tag, und wenn sie kommen, tun sie das meistens kurz vor der ersten großen Pause. Selten sind sie vor neun Uhr da. Das hat Frau Schweizer mir schon gesagt und mich vorgewarnt. „Vielleicht können Sie sie dazu bringen, dass sie morgens pünktlich sind“, bat sie mich.

Die drei Kinder wohnen in einem Flüchtlingsheim am Ende des Stadtteils, und anscheinend nehmen die Eltern es mit dem Schulbesuch nicht sehr genau.

Ich verteile Papier und Stifte und fordere sie auf, ihre Namen zu schreiben. Kybrie lacht. „Frau Huhn!“ sagt sie wieder. Ich antworte „Kybrie! schreib doch bitte deinen Namen auf das Blatt“. Sie scheint nicht zu verstehen, was ich von ihr will. Ich gehe zu ihr, nehme ihre Hand mit dem Stift in die Meine und beginne ein schönes, großes K auf das Blatt zu malen. Ihr Stift ist grün. Sie lässt es geschehen, ihre Hand ist ganz weich in meiner, sie zeigt nicht die geringste Initiative, den Stift selber führen zu wollen. So geht es mit dem ganzen Namen. „Und jetzt du!“ fordere ich sie in munterem Ton auf. Sie blickt mich an, den Stift, dann zieht sie einen Strich auf dem Papier. Es sieht ganz danach aus, als ob das Mädchen in ihrem ganzen Leben noch nie etwas geschrieben oder gemalt hat, noch nie einen Stift in der Hand gehalten hat. Inzwischen hat Hamdi begonnen, viele Punkte auf sein Blatt zu malen, er stupst mit dem Stift auf das Papier, so dass die Mine schon fast abgebrochen ist und auf dem Papier ein schönes Krikelkrakel zu sehen ist. Ich gehe zu ihm und schreibe Hamdi in großen Buchstaben auf sein Blatt, was er aber nur widerwillig geschehen lässt, denn er hat andere Pläne mit dem Stift und will lieber punkten. Tino ist der einzige, der seinen Namen schreiben kann. Ob er noch viel mehr kann, versuche ich in den nächsten Stunden herauszubekommen.

Die drei sind nicht miteinander verwandt, sie kommen aus verschiedenen Teilen des ehemaligen Jugoslawien. Sie können sich untereinander verständigen, aber Tino ist irgendwie anders als die beiden. Er ist zurückhaltender, und er ist auch der Einzige, der schon eine Schule besucht hat. Er kommt aus Serbien, die anderen beiden aus dem Kosovo.

Es dauert aber nicht lange und die Kinder verlieren das Interesse an Stiften, Papier und Namen schreiben. Sie beginnen, sich gegenseitig zu necken, werfen mit den Stiften, und dann gehen sie über Tische und Bänke, ganz im wörtlichen Sinne. Ich kann sie nicht aufhalten. Hamdi und Tino jagen sich durch den Klassenraum, werfen Stühle um, springen auf die Tische und wieder herunter, johlen und kreischen und Kybrie steht dabei, klatscht in die Hände und feuert sie in ihrer Sprache an..

Ich breche ab und gehe mit ihnen nach draußen auf den Schulhof. Diese Unterrichtsstunde hat ungefähr fünfundzwanzig Minuten gedauert.

„Na, wie kommen Sie zurecht? Haben Sie sich schon eingelebt?“ So begrüßt Frau Salberg mich heute morgen, jetzt bin ich schon fast ganze vier Wochen dabei!

Ich bedanke mich und erzähle ein wenig von den Kindern, die schwer zu bändigen sind. „Wir sind ja so froh, dass wir Sie haben“, fährt Frau Salberg fort. „Wir legen doch so viel Wert darauf, kein Kind auszugrenzen und allen den Zugang zur Bildung zu ermöglichen, auch den Flüchtlingskindern, die vielleicht nur eine kurze Zeit bei uns sind. Aber wie Sie ja sehen, ist es bei manchen wirklich ganz unmöglich, sie in den normalen Unterrichtsablauf zu integrieren. Wie schön, dass Sie so gut zurechtkommen!“ Ich freue mich über dieses Lob, aber ich finde eigentlich, dass meine Aktivitäten doch ziemlich begrenzt wirksam sind. Sicher, ich habe rund um den Klassenraum ein Papierband mit dem Alphabeth in Großbuchstaben aufgehängt, die beiden Jungen können ihre Namen schreiben, Kybrie erkennt ihren Namen zwischen anderen heraus, aber es ist immer noch sehr, sehr mühsam.

„Haben Sie eigentlich schon mit Ihrem Kollegen Kontakt aufgenommen wegen des gesunden Frühstücks?“ fährt Frau Salberg munter fort. Ach ja, die Brötchen. Na ja, vielleicht ist das am Ende doch gar keine so schlechte Idee. Die Kinder kommen sowieso nicht vor neun Uhr, und ich könnte versuchen, sie beim Backen mit einzubeziehen. Das wäre mal eine Abwechslung von dem „bitte setz dich auf deinen Platz“, was ich sonst mit den Kindern habe.

„Ja, ich will gleich heute Mittag mal rüber fahren“, sage ich eifrig. „Das ist schön. Wirklich. Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie etwas benötigen!“ kommt noch als Antwort, und schon läuft sie mit ihrem schnellen Schritt weiter ins Lehrerzimmer.

Der Kollege an der anderen Schule ist sehr nett, Volker heißt er. Er zeigt mir seine Küche und wie er jeden Morgen Teig ansetzt für die Brötchen. Die verkauft er dann für dreißig Pfennig in der großen Pause. „Und die Zutaten, woher bekommst du die?“ „Ich strecke alles erst mal selber vor. Mehl und Hefe kaufe ich, Margarine zum Draufschmieren auch, aber wenn ich dreißig Pfennig nehme, dann rechnet sich das, und ich zahle nicht noch drauf. Die Brötchen werden immer alle gekauft, ich mache ungefähr vierzig jeden Tag.“ Interessant.

Frau Salmann möchte anscheinend unbedingt oder zumindest sehr gern, dass es auch Am Anger Brötchen gibt. Warum soll ich ihr den Gefallen also nicht tun? Außerdem gibt mir das die Möglichkeit, während der Dienstzeit die Schule mal zu verlassen und einzukaufen. Je länger ich darüber nachdenke, desto interessanter und vorteilhafter erscheint mir diese Aufgabe.

Ich gehe zu der Hauswirtschaftslehrerin Kruse, die mir die Küche zeigen soll. „Ach, Frau Richter, ja, Sie kümmern sich um die kleinen Flüchtlinge? Wie schön.“

„Ja, aber ich erledige auch noch andere Aufgaben, zum Beispiel dies gesunde Frühstück, das Frau Salberg hier jetzt auch einführen will.“ „Das ist eine gute Idee!“ ruft Frau Krause aus. „Wissen Sie, wir kochen hier zwei Mal in der Woche Mittagessen mit den Klassen sieben und acht. Frühstück wäre auch nicht schlecht, drüben gibt es das ja schon. Wissen Sie was, wenn Sie Zeit haben, können Sie doch heute Mittag mal dazu kommen, wenn ich mit der Sieben den Hauswirtschaftskurs habe, da kochen wir Spaghetti Bolognese. Sie lernen die Küche kennen und können hinterher auch mitessen.“ Ich bin begeistert. Das hört sich wirklich gut an.

Pünktlich um viertel vor elf finde ich mich vor der Küche ein, zusammen mit einer Horde von lachenden, schwatzenden und sich hin und her schupsenden Jugendlichen. Die beachten mich kaum, blicken nur einmal kurz zu mir rüber, als Frau Krause mich vorstellt.

Die Küche ist eine richtige Lehrküche, in vier Reihen stehen jeweils drei Herde mit Backöfen und voll eingerichteten Unterschränken, die alle nötigen Kochutensilien beherbergen, sowie Besteck, Teller und Schüsseln. Die Zutaten für das Essen bringt Frau Krause mit und verlangt eine Mark fünfzig dafür zurück von jedem Kind. Es sind Jungen und Mädchen dabei, sie machen viel Blödsinn zwischendurch, aber es gelingt ihnen doch, die Nudeln in kochendes Wasser zu geben, eine Dose mit geschälten Tomaten zu öffnen, Salz, Zucker und Gewürze dazu zu geben, Öl und Tomatenmark. Zwiebeln schneiden ist ein ganz großes Erlebnis, da gibt es welche, die werden fast ohnmächtig, weil es so in den Augen brennt, und ein Junge schneidet sich in den Finger.

Ich durchstöbere die Küche nach allem, was ich für die Brötchenbackerei benötige. Da stoße ich auf eine große, elektrische Getreidemühle in einem der Seitenschränke.. Es wäre doch sicher noch viel besser, das Mehl selber herzustellen, aus dem ich die Brötchen backe. Dann brauch ich nicht dauern zum Supermarkt und Mehl kaufen. Frischer wäre es auch und würde viel besser schmecken.

Nach dem Essen lasse ich mir von Frau Krause zeigen, wie die Getreidemühle funktioniert. Es ist ganz einfach, und das Mehl, das dabei entsteht, ist leicht, luftig und duftet frisch. So mache ich das!

Ich suche eine Adresse, wo ich in größeren Mengen Weizen kaufen kann und finde eine landwirtschaftliche Großhandlung im Norden, etwas außerhalb der Stadt. Wunderbar, da werde ich mal hinfahren! Der Ausflug dauert anderthalb Stunden und ich komme zurück mit einem fünfzig Kilo Sack Weizen. Einer der Lehrer hilft mir, das Getreide in der Küche zu verstauen. „Was haben Sie dann damit vor?“ kommt die neugierige Frage. Ich kläre ihn auf, dass ich ab morgen Brötchen backen werde und die dann in der ersten großen Pause verkaufe. „Gesundes Frühstück, auf ausdrücklichen Wunsch von Frau Salberg!“ setze ich hinzu. „Ah, das ist ja interessant, da werde ich sicher mal bei Ihnen vorbeischauen!“ kommt als Antwort.

Inzwischen habe ich mir einige Gedanken über mein neues Vorhaben gemacht und einen Ehrgeiz entwickelt. So einfach trockene Brötchen mit Margarine, das ist doch nichts! Ich will es anspruchsvoller, wenn ich mich schon dieser Beschäftigung hingebe. Ich kaufe Sesam, Mohn und Kürbiskerne, Wurst, Käse, Marmelade und Margarine.Das Mehl mahle ich schon am Nachmittag, bevor ich nach Hause gehe.Ich plane sechzig Brötchen, dafür brauche ich drei Kilo Mehl und drei große Schüsseln, um den Teig anzusetzen.

Am nächsten Morgen, oh Wunder, steht Kybrie allein in der Tür der Küche, sie ist doch sonst nie so früh! „Wo sind denn die Anderen?“ frage ich sie, während ich mir mit dem Arm die Haare aus dem Gesicht streiche, meine Hände voller Teig. „Hamdi schlafen“ sagt sie mit einem schiefen Lächeln. „und Tino?“ frage ich weiter. Sie zuckt mit den Schultern. Irgendwie klappt es nicht so gut zwischen Tino und den anderen beiden. Er ist anders. Einmal haben sie sich ganz fürchterlich in die Wolle gekriegt, ich musste sie auseinanderziehen und voneinander trennen, so wild sind sie übereinander her gefallen. Und das, weil sie sich nicht einigen konnten, wie „Ente“ in ihrer Sprache heißt. „Patka“, rief Hamdi immer wieder während er auf das Bild der Ente zeigte. „Patka, Patka, Patka, Patka Patka“ er brüllte und lief ganz rot an. Kybrie fiel ein in den Singsang von Patka Patka. Tino hingegen schrie, Tschirikli, Tschirikli, Tschirikli!“ Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Offensichtlich haben sie unterschiedliche Dialekte und auch unterschiedliche Bezeichnungen in ihren Sprachen. Aber warum sie sich deshalb prügeln müssen? Klar wurde auch, dass Kybrie und Hamdi mehr gemeinsam miteinander haben als mit Tino. Na gut. Was soll ich tun außer ihnen sagen, dass es auf der Welt hunderte von Bezeichnungen für eine Ente gibt. Doch Kinder nehmen das Wort für die Sache, und nicht nur Kinder.

Ich hole Kybrie also zum Brötchen backen dazu. Welche Aufgaben kann ich ihr geben? Ich bitte sie, den Teig zu kneten, der in einer der vier Schüsseln genug gegangen ist. Sie soll sich vorher noch ihre Hände gründlich waschen, dann kann sie loslegen. Ich sehe gleich, dass sie das schon tausendmal gemacht hat. Sie ist sehr bei der Sache, lächelt mich an, während sie den Teig mit gekonnter Bewegung walkt und hin und wieder in die Luft wirft und auf den Tisch klatscht. Super! Wir formen lange Rollen, die werden in Scheiben geschnitten und wahlweise mit der Schnittseite in Mohn, Sesam oder Kürbis getunkt, so dass die Körner daran hängen bleiben. Dann auf ein Blech mit Backpapier gelegt und ab damit in den Ofen. Bald duftet die Küche wunderbar nach frischen Brötchen.

Ich stelle einen Tisch in die Tür zum Flur, darauf will ich die Bleche mit den Brötchen zum Verkauf anbieten. Ich blicke auf die Uhr, es wird knapp. Vor dem Belegen sollten die Brötchen zumindest ein wenig abgekühlt sein, aber was soll´s? Ich schneide Salami auf, lege Käsescheiben bereit, wir schneiden die heißen Brötchen zum Abkühlen auf, schmieren dann wie die Weltmeister, und kurz vor der Pause liegen zwei Bleche fertig bereit, Nachschub ist auch schon vorbereitet.

Kybrie ist riesig stolz. Sie hat schon zwei Brötchen selber gegessen und ist mir eine richtige Hilfe. Beim Verkaufen will sie allerdings nicht mehr dabei sein, sie drückt sich am Tisch vorbei aus der Küche heraus und ist verschwunden. Na gut, ich habe immer noch alle Hände zu tun, es hat gerade zur Pause geklingelt.

Als erstes sehe ich Herrn Kerner von gestern herbei schlendern. Er blickt sehr interessiert über meinen Tisch. „Ja, was nehme ich denn da? Die sehen alle so gut aus!“ Da hat er Recht. Leckere Mohn-, Kürbiskern- und Sesambrötchen liegen appetitlich nebeneinander, mit Salami oder Käse belegt. Er entscheidet sich für Mohn-Salami und ein Kürbiskern-Käsebrötchen. Mittlerweile stauen sich hinter ihm schon Schüler. „Was kosten die?“ „Dreißig Pfennig eins“. Ich kann gar nicht so schnell kassieren, so groß ist die Nachfrage. Als Frau Salberg vor meinem Tisch steht, ist nur noch ein Marmeladenbrötchen übrig. „Das hat ja gut geklappt!“ sagt sie. „und wie lecker die duften! Die Kollegen sind direkt ins Schwärmen geraten!“

Von dem Tag an sind die Brötchen der Hit. Ich mahle am Vortag, setzte bergeweise Teig an und produziere dann morgens achtzig bis neunzig Brötchen, die ich alle loswerde. Ich bekomme Vorbestellungen von den Lehrern, die mit Tüten kommen und bis zu drei Brötchen mitnehmen. Mehr gebe ich nicht ab. Schließlich verdient ihr ja wohl genug Geld, dass ihr ganz normale Preise zahlen könnt, denke ich. Mehr als drei gibt es nicht. Und die Kinder sind auch ganz wild drauf.

Kybrie kommt manchmal mir zu helfen, aber leider nicht sehr häufig. Sie schläft doch auch lieber etwas länger und kommt dann mit den anderen gemeinsam.

Frau Salberg ist jetzt glücklich und ganz zufrieden mit mir. Sie findet meine Brötchen so gut, dass sie beschließt, beim nächsten Besuch des Ministeriums auf ein externes Catering zu verzichten und statt dessen meine selbst gebackenen Brötchen anzubieten. Als Kanapees, versteht sich. Auch darf der Belag etwas aufwändiger sein. „Lachs und Dill, feiner gekochter Schinken und guter Camembert“ schlägt sie vor. Gut, an mir soll´s nicht liegen. Die Herren aus dem Ministerium kommen nachmittags, da bleibt mir morgens genügend Zeit zum Einkaufen und Vorbereiten.

Frau Salberg bittet mich zu sich. „Meinen Sie, ich könnte Sie einmal in das Kaufhaus schicken, um zu schauen, ob es Geschirr von der Marke „Kleine Möwe“ gibt? Ich habe kein vollständiges Service mehr im Hause, und es sieht einfach besser aus, wenn ich den Tisch mit einheitlichem Geschirr eindecken lassen kann. Die Herren stimmen unter anderem mit ab über die Gewährung der ABMs für meine Schule“, setzt sie hinzu. Verstehe. Da lassen wir also nix unversucht. „Gern, sehr gern!“, sage ich und spreche die Wahrheit. Porzellan zu kaufen, das macht doch Spaß. Und wir haben Glück, die „Kleine Möwe“ gibt es sogar im Sonderangebot. Ob ich die Servierplatte nicht auch noch gleich mitnehmen soll, frage ich telefonisch nach. Darauf sehen meine Brötchen noch besser aus.

Ich bin wirklich stolz auf meine drei Platten Kanapees. Schön garniert und reichlich belegt zieren sie den Tisch bereits. „Würden Sie uns dann den Kaffee hereinbringen, wenn alle da sind?“ fragt Frau Salberg dann. Das geht mir eigentlich dann doch zu weit. Brötchen backen für die Schüler, ok. Aber den Ministeriumsleuten Kaffe servieren? Wer bin ich denn? Aber ich kann das nicht wirklich ablehnen.

Nach der sechsten Stunde, als die Schüler das Gelände bereits verlassen haben, füllt sich der Schulhof mit schwarzen, großen Limousinen, aus denen dunkel gekleidete Herren aussteigen, nicht bevor nicht der Fahrer einmal um das Auto gefitscht ist, um ihnen die Tür aufzumachen. „Frau Salberg, Frau Salberg,“ denke ich. Sie hat den Draht zum Ministerium, das steht fest. Vielleicht kommt der Kultusminister sogar höchst selbst? Ich mache den Kaffee auf den letzten Drücker, damit er schön frisch ist, und ich bringe es über mich, mit zwei Kannen bewaffnet den Besprechungsraum zu betreten und den Kaffee auf den Tisch zu stellen. Frau Salberg macht eine kurze Bemerkung über die Brötchen und das gesunde Frühstück, das ich den Schülern bereite, und ich ernte kurze, anerkennende Blicke von den sehr korrekt gekleideten Herren in Anzug und Krawatte. Dann empfehle ich mich.

Freudestrahlend erscheint Frau Salberg im Lehrerzimmer: „Wir haben eine weitere ABM Kraft bewilligt bekommen! Das Ministerium hat kurzfristig zugestimmt!“ Sie blinzelt mir verschwörerisch zu. „Frau Richter, nächste Woche Montag fängt Frau Umutlu bei uns an. Nehmen Sie sie ein bisschen unter Ihre Fittiche und zeigen ihr alles, damit sie sich gut einlebt. Alles Weitere werden wir dann ja sehen.“ Und schon war sie wieder draußen. Das ist eine gute Nachricht. Ich nehme mir sofort vor, sie beim Brötchenbacken mit einzuspannen. Sonya, die neue ABM Kraft, ist eine freundliche, ruhige junge Frau aus einer türkischen Familie. Sie hat Biologie studiert und noch keine Stelle gefunden. Sie ist sofort begeistert dabei, als ich ihr von den Frühstücksbrötchen erzähle. Wir gehen jetzt gemeinsam einkaufen, und sie erzählt mir von ihrer Familie. Sie lebt allein in einer Wohnung, ihre Eltern und ihr Bruder wohnen im selben Stadtteil. Sie ist sehr froh, dass sie hier an der Schule arbeiten darf, und natürlich kann sie gut kochen und backen. Sie fuchst sich gleich richtig gut ein, und ich beschließe, dass ich es ihr überlassen kann, den Teig vorzubereiten. Sie sagt ja, dass es ihr nichts ausmacht, früh aufzustehen und früh mit der Arbeit anzufangen. Umso besser! Wenn ich jetzt morgens in die Schulküche komme, hat sie die Brötchen schon gerollt, und meistens sind auch schon ein paar Bleche belegt oder sogar schon im Ofen. Wunderbar!

Seit einiger Zeit kommen die Roma Kinder nur noch sehr unregelmäßig. Wenn ich es genau bedenke, habe ich Hamdi schon seit mehr als einer Woche nicht mehr gesehen. „Schlafen“, sagt Kybrie, wenn ich sie frage. Aber auch sie kreuzt jetzt nur noch sehr selten auf. Ich beschließe, einen Hausbesuch zu machen und mit den Eltern zu sprechen. Ich erkundige mich nach der Adresse des Flüchtlingsheimes und mache mich auf den Weg.

Ich muss ganz schon weit an den Rand der Stadt fahren, da, wo es sogar bei helllichtem Tag irgendwie unheimlich wird. Verlassene Industrieanlagen, zerfetzte Zäune, kaputte Autoreifen, Baracken und Feldwege, die in seltsame kleine Untergehölze führen, keine normalen Häuser sind mehr zu sehen. Doch, da ist wieder eine Art Siedlung mit Bürgersteigen und dreistöckigen Häusern. Aber ich muss noch immer weiter. Dann biege ich in eine kleine Straße ein, auf der stehen mindestens drei oder vier alte große Mercedesse, dunkelblau und schwarz. Und dann stehe ich vor einem hohen Drahtzaun mit einem Eingangstor. Das ist bewacht von Leuten in einem Turm, die stehen da und lassen keinen rein.

Ich wundere mich sehr, gehe zu den Leuten hin. „Ich komme von der Schule, ich suche die Eltern der Kinder Kybrie, Hamdi und Tino. Die müssen hier wohnen.“ Die Männer blicken mich mit unbewegten Gesichtern an, höchstens eine Art mildes Mitleid kann ich noch erkennen, Mitleid mit mir, die sich in diese Gegend wagt wegen dreier dieser Kinder. Das Flüchtlingsheim ist ein großer, eingezäunter Platz, darauf stehen Wohnwagen, kleine, große, mittlere. Der Platz ist etwas matschig, aber nicht sehr, zum Glück hat es seit etwa drei Tagen nicht geregnet. Ich möchte nicht wissen, wie es hier bei schlechtem Wetter aussieht. Entlang des hohen Zaunes steht eine Reihe Wohnwagen, davor spielen Kinder. Jugendliche lehnen an Autos und rauchen, junge Frauen laufen mit großen Schüsseln voller Wäsche über den Platz, da ist Leben. Ich werde kaum beachtet, wie ich mich so quer vom Tor in Richtung der Wohnwagen bewege, wo die Kinder spielen, aber ich komme mir vor wie in einem Film. Hier ist eine andere Welt, das ist ganz klar. Plötzlich löst sich eine kleine Gestalt und läuft auf mich zu. Hamdi! Ich freue mich richtig, ihn zu sehen.

„Hamdi, warum bist du nicht in der Schule? Siehst du, ich komme jetzt zu euch, weil ihr nicht zu mir kommt. Zeig mir, wo du wohnst und wo deine Eltern sind!“ Hamdi scheint sich auch zu freuen. Er nimmt mich bei der Hand und zieht mich weiter. Jetzt werden auch die anderen Kinder auf uns aufmerksam, sie unterbrechen ihr Spiel und starren uns an. Dann sehe ich Kybrie. Sie hat eine Schürze um und ist dabei, nasse Wäschestücke auszuwringen, die sie dann über das nächstgelegene Möbelstück zum Trockenen hängt. Vor Ihrem Wohnwagen liegt ein schmutziger roter Teppichfetzen. Sie blickt mich ganz verlegen an, als ich mit Hamdi vor ihr stehe. „Arbeite“, sagt sie und nimmt meine beiden Hände. „Frau Huhn!“ jetzt strahlt auch sie. Sie dreht sich zum Wohnwagen um, da steht eine alte Frau in der Tür. Sie sagt etwas und gestikuliert dabei, und wieder verstehe ich nur „Frau Huhn“. Ich gehe zu der Frau und begrüße sie. Sie bedeutet mir, einzutreten. Hamdi drängt sich an uns vorbei und kommt auch mit in den Wohnwagen. Drinnen sehe ich Matratzen auf dem Boden und aufgerollt an den Wänden stehen. Die Böden sind mit dünnem, blauem Teppichboden ausgelegt, es ist sehr eng. Wir setzen uns auf zwei kleine Stühle, die Frau will mit etwas zu Trinken anbieten, ich lehne aber ab. Ich fühle mich hier so entsetzlich fehl am Platz! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man so leben kann. Die Frau trägt mehrere Schichten Röcke und eine Strickjacke darüber, sie sieht alt aus, aber ihr Haar ist nicht grau. Es ist gescheitelt und hängt unter einem lose gebundenen Tuch als dicker Zopf heraus. „Ich krank“, sagt sie „Und was ist mit Kybrie?“ frage ich. „Kybrie gut. Arbeiten. Gut. Tochter von Schwester.“ „Ich bin die Lehrerin der Kinder“, sage ich langsam und deutlich. „Sie müssen in die Schule kommen. Lernen. Verstehen Sie?“ „Ja“, sagt sie. „Schule. Du Lehrerin. Gut.“ „Hamdi ist seit fast zwei Wochen nicht in der Schule gewesen“, fahre ich fort. Und Kybrie auch nicht. Sie müssen kommen. Jeden Tag. Um acht Uhr. Verstehen Sie?“

„Acht Uhr schlafen“, sagt die Frau. „Alle schlafen. Ich krank.“ Ok. Das habe ich verstanden. Ich habe auch verstanden, dass ich von dieser Frau und Mutter nichts erwarten kann. Sie hat vermutlich selber nie eine Schule von innen gesehen. Sie tut mir Leid, das ist alles. Hamdi sitzt die ganze Zeit mit den Händen unter den Oberschenkeln auf einem Hocker neben der Tür und beobachtet uns. „Hamdi, du musst doch in die Schule kommen“, wende ich mich an ihn. „Du musst doch lernen! Schreiben und Lesen und Rechnen. Morgen kommst du wieder, OK? Ich warte auf dich!“.

„Wissen Sie Wo Tino wohnt?“ frage ich noch, bevor ich mich verabschiede. „Tino?“ Sie runzelt die Stirn. Hamdi läuft zu ihr und sagt etwas. „Da, da, andere Seite“, sagt sie und zeigt auf die Wohnwagen gegenüber. „Danke. Und auf Wiedersehen. Alles Gute!“ Kybrie hat sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt und weiter ihre Wäsche ausgewrungen. Ihr Kübel ist jetzt fast leer, und die ganze Umgebung ist mit Wäschestücken übersät. Auf einem alten Kinderwagen hängen ein Kopfkissenbezug und Strümpfe, ein großer Kühlschrank ist mit mehreren Hosen belegt, und über einem mageren kleinen Busch an der Seite des Wohnwagens hängen Unterhemden, T-Shirts, Blusen, so dass fast kein Blatt mehr zu sehen ist. „Kybrie“, sage ich ganz ernst und blicke sie streng an. „Du musst in die Schule kommen. Bring Hamdi mit. Das ist wichtig. Hörst du?“ Ach, so ein Elend, was soll ich da tun, um zu helfen? Das bisschen Schule, die paar Buchstaben, die ich ihnen beibringen kann, wenn sie wenigstens das annehmen würden! „Und jetzt gehe ich noch zu Tino“. Kybrie deutet wie ihre Mutter auf die andere Seite. Hamdi nimmt wieder meine Hand und geht ein Stück mit. Dann, etwa zwanzig Meter vor der Wohnwagenreihe macht er Halt, deutet auf die den Wagen mit der offenen Eingangstür, sagt „Tino“ und dreht bei.

„Hamdi, du kommst morgen!“ rufe ich ihm beschwörend hinterher. Dann laufe ich die paar Schritte zu Tinos Wagen.

Die Eingangstür ist oben rund, sie steht offen und ist von innen braun, was wie Holz aussehen soll. Eine kleine Treppe führt hoch. Ich klopfe an die Tür, um mich bemerkbar zu machen. Da steht Tino auch schon hinter mir. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Von den Kindern spricht er als einziger ein ganz passables Deutsch. „Tino, wo steckt ihr die ganze Zeit“, sage ich streng zu ihm. „Warum seid ihr nicht in der Schule? Sind deine Eltern hier drin?“ Tino nickt. So schüchtern ist er sonst nicht. Er ruft etwas in den Wagen hinein, da steckt ein Mann seinen Kopf heraus. Zunächst sehe ich ein Hütchen mit einer langen Hahnenfeder daran, dann den ganzen Mann. Er ist rund wie eine Kugel, und oben auf seinem Kopf trägt er das grüne Hütchen, gekrönt von der langen, in allen Farben schillernden Hahnenfeder. Tino erklärt ihm , wer ich bin, ich sage wieder:“ Ich bin die Lehrerin“, dann folge ich ihm in den Wohnwagen.

Hier sieht es aufgeräumter aus, es gibt eine Sitzecke mit Tisch und Bänken und Stühlen, ich werde genötigt Platz zu nehmen. Bilder sind an den Wänden, kleine, gerahmte Fotografien und kleine, bunte Wandteppiche. Eine Vase mit roten Plastikrosen steht auf dem Tisch. Der Mann stellt sich nicht vor, aber ich gehe davon aus, dass er Tinos Vater ist. Und da ist noch jemand in dem Wohnwagen, wie ich erst jetzt bemerke. Ein jüngerer, hagerer Mann in weißem Oberhemd, schwarzer Hose, der in einer Ecke sitzt, so, als wolle er nicht gesehen werden. Ich nicke ihm kurz zu. Ob ich Kaffee möchte, fragt mich der Dicke mit der Feder. Ich glaube, es ist nicht verkehrt, hier mal etwas anzunehmen, denke ich und lasse mir eine kleine Tasse geben. Ich komme wieder direkt zur Sache. „Die Kinder müssen in die Schule kommen. Hier in Deutschland gibt es Schulpflicht. Verstehen Sie das?“ Ich bin sicher, dass er das versteht, aber was er davon hält, das weiß ich nicht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass oben, unter der Decke des Wohnwagens an allen Seiten Regalbretter angebracht sind, auf denen Fernseher und Radiogeräte stehen. Er hat mindestens dreißig Fernsehe da stehen, wahrscheinlich will er die verkaufen.

Er ist auf jeden Fall nicht so arm wie die Familie von Hamdi und Kybrie, das sieht man sofort. Er trägt einen dicken Goldring am kleinen Finger, auch im Mund hat er Gold. Wieder fühle ich mich sehr, sehr seltsam und deplatziert. „Tino ist ein guter Junge, er kann auch schon etwas, Ist er schon zur Schule gegangen?“ frage ich schließlich. Der Mann nickt. „Zwei Jahre, in Serbien. Zwei Jahre Schule. Dann weg mit Krieg.“ Ja, ich weiß. Und jetzt soll er sein Kind in die Schule hier stecken und nicht nur lernen lassen, wie man krumme Geschäfte macht, denke ich. „Bitte schicken Sie ihn hin. Das ist wichtig, Er lernt ja gut. Er muss kommen. Jeden Tag.“ So. Mehr kann ich nicht tun. Ob es hilft, wird sich zeigen. Aber dass die Kluft zwischen uns und ihnen so tief ist, das habe ich nicht gewusst.

Jetzt bin ich schon mehr als neun Monate dabei, und die Maßnahme läuft nur noch ungefähr acht Wochen. Frau Salberg versichert mir immer wieder, dass sie alles tut, damit das zweite Jahr ebenfalls bewilligt wird, und dass es bisher immer geklappt habe. Für mich wäre das besonders wichtig, denn als ich angefangen habe, lief die Maßnahme schon über einen Monat, so dass ich, wenn ich kein zweites Jahr bleiben könnte, nicht einmal ein ganzes Jahr gearbeotet hätte und damit auch kein Arbeitslosengeld bekommen würde. Ich hoffe jeden Tag auf gute Nachrichten und darauf, dass die Fäden meiner Chefin wirklich so tief ins Ministerium und in die Arbeitsverwaltung herein reichen, wie es bisher den Anschein hat. Die anderen Lehrer bemerken meine zunehmende Bedrückung und sind sehr nett zu mir. Ich bin jetzt eine gefragte Frau an der Schule. Frau Salberg hat immer wieder neue Ideen, was ich tun könnte. Am Anfang habe ich immer sofort versucht, alles umzusetzen, aber dann habe ich gemerkt, dass ihr Gedächtnis nicht so weit reicht wie ihre Phantasie. Sie hat am nächsten Tag vergessen, was sie vorher vorgeschlagen hat. Manche von ihren Vorschlägen wollte ich auch nicht wirklich gerne in die Tat umsetzen. So fand sie, dass es eine gute Idee wäre, wenn die Kinder aus den achten bis zehnten Klassen einmal in der Woche in ein Altersheim gingen und den alten Leuten etwas vorläsen oder für sie einkauften oder mit ihnen spazieren gingen. Pflichtschuldig habe ich den Kindern den Vorschlag gemacht und einen Termin gesetzt. Ich selber hatte keine Lust dazu. Mir ist einfach nicht danach, fremde alte Leute in Heimen zu besuchen, und den Kindern scheint es ähnlich zu gehen. Ein Mädchen hat sich eingefunden, und das auch nur einmal. Ich bin dann nicht mehr darauf zu sprechen gekommen und habe immer ein bisschen Angst gehabt, Frau Salberg würde das Thema noch einmal aufgreifen, aber das hat sie nicht gemacht. Daraus habe ich dann gelernt, dass ich mir einfach das aussuche, was ich machen will und das andere, wonach mir nicht der Sinn steht, gepflegt ignoriere. Chaos Surfen, nenne ich das bei mir, und es funktioniert gut.

Mittlerweile konkurrieren die Lehrer um mich, bei wem ich mithelfen darf. Die Brötchen sind ein Selbstläufer geworden, darum kümmert sich Sonya vor allem, aber in den Augen der Schüler und der Lehrer bin ich es, die in einem Atemzug mit dem gesunden Frühstück genannt wird.

Mein Leben ist abwechslungsreich. Ich begleite die Lehrer bei Ausflügen in Vergnügungsparks, zum Schlittschuhlaufen, ich helfe Frau Schweitzer in ihrer Auffangklasse, und wenn Hamdi, Kybrie oder Tino sich mal die Ehre geben, bin ich sofort dabei ihnen den nächsten Buchstaben zu vermitteln. Fatima und Karim können inzwischen in der Klasse von Frau Schweizer teilnehmen, sie haben den Anschluss gefunden. So vergeht die Zeit rasend schnell.

Und dann kommt die Hiobsbotschaft: Die Maßnahme wird nicht mehr verlängert. Die Stadt ist knapp mit Geldern, sehr, sehr knapp, es muss gespart werden, und zum ersten Mal in der Geschichte der ABM an der Hauptschule Am Anger wird das zweite Jahr nicht bewilligt. Ich bin verzweifelt und Frau Sahlberg ebenfalls. Sie verspricht mir, dass sie nichts unversucht lassen wird, mir eine Anschlussstelle zu vermitteln, und ich will ihr nur zu gern glauben.

Mittlerweile naht mein letzter Tag. „Gerti, ich möchte dir bei deiner Abschiedsfeier helfen“, sagt Sonya mir, als wir gerade die Bleche abspülen und wieder in die Schränke räumen. „Abschiedsfeier? Wie kommst du darauf?“ Sonya ist ein bisschen verlegen. „Frau Salberg hat mir gesagt, dass am Donnerstag dein letzter Tag ist. Ich dachte, wir können doch ein bisschen feiern. Ich mache Essen. Türkische Salate und so. Ich kann das gut, und würde es gern machen. Wir laden dann alle Lehrer ein und dann hast du eine schöne Verabschiedung.“ Ich bin richtig gerührt. „Ja klar, wenn du Lust hast, dann machen wir das zusammen.“

Sonya macht den Speiseplan, stellt zusammen, was sie braucht und übernimmt auch die Einladungen. Ich stehe ein bisschen fassungslos da, dass sie so viel Aufwand macht, aber schön ist es doch. Wir kaufen Unmengen von Zutaten. Nüsse, Dicke Bohnen, Kichererbsen, Knoblauch, Fladenbrot, Joghurt, Quark, Sesamöl, und sie bringt von zu Hause ihre eigenen Gewürze mit. Wir arbeiten zwei Tage in der Schulküche an dem Festmahl. Alles ist vegetarisch, sie hat Salate und unterschiedliche Pasten aus Körnern, Nüssen, Gemüsen getoastet und ungetoastet, hergestellt, und als dann die Lehrer an meinem letzten Tag nachmittags erscheinen, hört man die erste Viertelstunde nur Ausrufe der Bewunderung und des Erstaunens über das reichhaltige Buffet.

Wir essen und trinken, und dann hält Frau Salberg eine kleine Ansprache. Sie dankt mir für meine Arbeit, hebt mehrmals die hohe Qualität der Brötchen hervor und sagt, wie schade es ist, dass ich sie jetzt verlassen muss. Dann überreicht sie mir einen schönen Blumenstrauß und ein großes Plakat.

Darauf ist eine Sonnenblume zu sehen, und in jedem der gelben Blütenblätter klebt ein Foto von einem der Lehrer. Daneben haben sie Sprechblasen gemalt und- wen wundert 's – die meisten schreiben, wie gut die Brötchen ihnen geschmeckt haben und wie traurig sie sind, dass das jetzt vorbei ist.

Ich bin auch traurig. Aber ich freue mich sehr über so viel Anerkennung und Dank.

Hirschparade

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